Peter Rosegger
Die Schriften des Waldschulmeisters
Peter Rosegger

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Urwaldfrieden

Mir ist es schon recht im Walde. Die wenigen Leute, die mich in den Wald gehen sehen, lugen mir nach und können es nicht verstehen, daß ich, ein junger Bursche, so in der Einschicht herumsteige. Ei ja, freilich, ich werde von Tag zu Tag jünger und hebe an zu blühen. Ich genese. Das macht die urtümliche Schöpfung, die mich umwebt.

Gefühlsschwärmerei treibe ich nicht. Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne, der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen. Nur der Einsame findet den Wald; wo ihn mehrere suchen, da flieht er, und nur die Bäume bleiben zurück.

Sie sehen den Wald vor Bäumen nicht. Ja noch mehr, oder zwar noch weniger, sie sehen auch die Bäume nicht. Sie sehen nur das Holz, das zum Zimmern oder Verkohlen, das Reisig, das zum Besen dient. Oder sie machen die grauen Augen der Gelehrtheit auf und sagen: Der da gehört in diese Klasse oder in diese – als wie wenn die hundertjährigen Tannen und Eichen lauter Schulbuben wären.

Mir ist schon recht im Walde. Ich will, solange ich ihn genieße, von seinem Zwecke, wie diesen Zweck die Gewinnsucht der Menschen versteht, kein Wort noch gehört haben; ich will so kindlich unwissend sein, als wär' ich erst heut vom Himmel gefallen auf das weiche, kühle Moos im Schatten.

Ein Netz von Wurzeln umgibt mich, teils saugt es aus der Erde seinen Bäumen die Muttermilch, teils sucht es den Moosboden und den Andreas Erdmann darauf mit sich zu verflechten. Ich ruhe sanft auf den Armen des Netzes – auf Mutterarmen.

Gerade empor ragt der braune Stamm der Fichte und reckt einen Kranz von knorrigen Ästen nach allen Seiten. Die Äste haben lange graue Bärte – so hängen die filzigen Flechtenfahnen nieder von Zweig zu Zweig. Wohl geglättet und balsamtriefend ist die silberig schimmernde Tanne. In den rauhen, furchigen, verschnörkelten Rinden der Lärchen aber ist mit den geheimnisvollen Zeichen der Schrammen die ganze Weltlegende eingegraben, von dem Tage an, als der verbannte Brudermörder Kain zum ersten Male unter dem wilden Astgeflechte der Libanonlärche geruht hat, bis zur Stunde, wo ein anderer, auch ein Heimatloser, den Wohlduft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.

Dunkel ist's wie in einem gotischen Tempel; der Nadelwald baut den Spitzbogenstil. Obenhin ragen die hunderttausend Türmchen der Wipfel; dazwischen nieder auf den schattigen Grund leuchtet, wie in kleine Täfelchen zerschnitten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es segeln hoch oben weiße Wölklein hin und suchen mich zu erspähen, mich, den Käfer im Waldfilz, und wehen mir einen Gruß zu – von... Nein, sie ist geborgen unter stolzem Dach von Menschenhand; ihr Wolken habt sie nicht gesehen, oder habt ihr sie? – Ach, sie wehen von fernen Öden und Meeren.

Da flüstert es, da säuselt es; es sprechen miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.

Eine schneeweiße, große Blüte weht heran; blühen die Nadelwälder denn nicht in den Blutstropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die weiße Blüte? Es ist ein Schmetterling, der sich verirrt von seiner sonnigen Wiese und nun im Dunkel des Waldes angstvoll gaukelt.

Wer bricht aber in den verwachsenen Kronen die Äste entzwei, daß sie krachen und prasseln und in dürren Zweigen niedertänzeln? Ein Habicht braust dahin mit einem grellen Pfiff, und ein armes Waldhuhn muß sein Leben enden. Alle Wildtauben sind auf und girren ihr Sterbegebet – da knallt es, und nieder inmitten des schimmernden, wogenden Kranzes der Tauben stürzt der getroffene Raubvogel. Unterwegs zum Grab will seine Klaue noch ein Opfer haschen, und in dem brechenden Auge funkelt lange noch die Raubgier.

All mein Lebtag hab' ich keine so merkwürdige Webematte gesehen wie dieses bunte, wunderbare Flechtwerk des Moosbodens. Das ist ein Wald im kleinen, und in dem Schoße seines Schattens ruhen vielleicht wieder Wesen, die wie ich das ewige Gewebe der Schöpfung betrachten. Hei, wie die Ameisen eilen und rennen, wie sie mit ihren haardicken Armen der kleinen Dinge kleinste umklammern, mit ihrem ätzenden Saft alles Feindliche zu vergiften meinen; sie wollen gewiß auch noch die Welt gewinnen vor dem Jüngsten Tag.

Ein glänzender Käfer hat ihnen lange zugesehen, er denkt verächtlich über die mühsam Kriechenden, denn er selbst hat Flügel. Jetzt flattert er übermütig empor, und funkelnd kreist er hin, und plötzlich ist er umgarnt und gefesselt in Stricken. Die Spinne hat an diesem Dinge schon lange still und emsig gearbeitet; ein Schleier, wie zarter keiner geflochten wird auf Erden, ist des strahlenden Käfers Leichenkleid geworden.

Die Vöglein im Geäste wollen auch ihr Kunstwerk stellen, sie flechten, wo das Reisig am dichtesten ist, aus Halmen und Zweigen ein Wiegenkörbchen für ihre liebe Jugend. Und wenn ihnen die Sonne just recht am Himmel steht, so singen und jauchzen sie bei ihrer Arbeit, daß es in allen Nadeln und Bäumen widerklingt, sonst aber hocken sie im Nest und schnäbeln und legen die zarten, buntstreifigen Eier.

Ob es denn wahr ist, daß sich derselbe eine rote Faden fortspinnt durch alle Geschlechter des Menschen- und Tierreiches bis hinab zum allerkleinsten Wesen? Ob denn alles nach dem einen und selben Gesetze geht: was der König Salomon getan auf seinem goldenen Throne, und was die träge sich wälzende Raupe tut unter dem Stein? Das möcht' ich wohl wissen.

Husch, dort hüpft ein Hase, bricht sich der gekrönte Hirsch Bahn durch das Gestrüppe. Jeglicher Strauch tut auch so geheimnisvoll, als ob er hundert Leben und Waldgeister in sich verberge. Jetzund höre ich das Läuten der Hummel. Wenn in diesen Wäldern einmal eine Kirche gebaut würde und eine Glocke auf den Turm käme – so müßte sie klingen. – Auf dem Erdgrunde liegen die scharf geschnittenen Schattengestalten, und darüber hin spinnen sich die Saiten des Lichtes. Und die Finger des Waldhauches spielen in diesen Saiten.

Ich trete hinaus in die Lichtung. Ein zitternder Lufthauch rieselt mir entgegen, schmeichelt mit den Locken, küßt die Wangen, daß sie sich röten. Hellgrünes Heidegebüsch mit den roten Blütenglöckchen der Beeren hier, und dunkelglänzendes Preiselbeerkraut, der immergrüne Lorbeer unserer Alpen für den würdigen Dichter des Waldes, so einer zur Welt geboren wird. Die Waldbiene surrt herum auf den Sträuchern und jedes Blatt ist für sie ein gedeckter Tisch.

Und über dieser dämmernden, duftenden Flur erhebt sich ein schwarzer Strunk, mit dem gehobenen Arm seines kahlen Astes trotzig dem Himmel drohend, weil dieser durch einen nächtlichen Blitzstrahl ihm das Haupt gespalten. Und es erhebt sich dort graues, zerklüftetes Gestein, in dessen Spalten sich behendig die Eidechse birgt und die schimmernde Natter, und an dessen Fuße die zierlich durchbrochenen Blätter der Farnkräuter und die blauen, allfort grußschwankenden Hütchen der Enziane wuchern. Weiterhin, wo sich die Quelle befreit und aus ihrem dunkelschattigen Grunde schimmert, wachsen an ihrem Ufer die tausend Herzen des Sauerklees und der heilsamen Wildkresse, die der Hirsch so gerne pflückt und das Reh, auf daß sie ihre Lunge nicht verlasse zur Stunde der Flucht.

An der Lehne neben Dornstrauch und wilden Rosen liegt, vom Sturme hingeworfen, seit vielen Jahren das Gerippe einer Fichte, schier weiß wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln auf, wie einst ihr Wipfel, und eine Schnecke hat sich verirrt in einen starren Zweig der Wurzel hinaus und kann ihren Weg zum Erdreich kaum finden.

Wo kein Weg geht, dort geht der meine – wo es am steilsten ist, wo das Gestrüppe der Erlenbüsche und Dornsträucher am dichtesten ist, wo die Hundsbeere wächst, wo die Natter raschelt im gelben Buchenlaub des vergangenen Jahres. Wildhühner erschrecken vor mir und ich vor ihnen, und meine Füße sind das Elementarunglück der Ameisen, und mein vordringender Körper ist die Geißel Gottes den Spinnen, deren Bau zugrunde geht an diesem Sommertage.

Es ist eine Lust, so in die Wildnis zu dringen, ins Dämmerige und Ungewisse hinein; was ich ahne, reizt mich mehr als das, was ich weiß; was ich hoffe, ist mir lieber als das, was ich habe. Vielleicht geht es anderen auch so.

Ich stehe am Rand einer Wiese, die von jungem Fichtenwald umfriedet ist. In meiner nächsten Nähe, aus dem Dickicht, ist ein Tier aufgefahren, welches in Sprüngen über die Wiese hinsetzt und am jenseitigen Rande stehenbleibt. Es ist ein Reh. Dort steht es nun, hält hoch seinen Kopf und lauert. Ich halte mich wie ein Baumstrunk. Ich dürste sonst nicht nach Blut, es wäre denn bisweilen nach dem der Trauben – aber jetzt folge ich einer angeborenen Neigung des Menschen, hebe meinen Wacholderstock, lege ihn an die Wange, wie ein Gewehr, und ziele gegen die Brust des Wildes. Das steht dort, etwa hundertundzwanzig Schritte von mir entfernt, und blickt zu mir herüber. Es weiß recht gut, daß ein Wacholderner nicht losgeht. Endlich hebt es zu grasen an. Ich setze den Stock wieder zur Erde und trete weiter auf die Wiese hinaus. Das Reh hebt rasch sein Haupt, und ich meine, jetzt und jetzt werde es davonstieben. Aber es eilt nicht, es leckt an seinem Hinterkörper, und mit seinem Fuße kraut es sich hinter den Ohren – dann sieht es mich wieder an und beginnt zu grasen.

»Rehlein«, sage ich, »du vergissest den schuldigen Respekt gegen den Menschen! Hältst du mich nicht für fähig, dir gefährlich zu werden? Mich wundert's, hierzulande streifen Jäger und Wildschützen. Du scheinst sonst kein heuriger Hase zu sein, stellst dich aber sehr unerfahren. Unter uns Leuten würde man ein solches Betragen Dummheit nennen.«

Das Tier grast ganz allmählich gegen mich heran, hält nicht selten ein, um mich anzuschauen, wirft aber stets erschrocken den Kopf in die Höhe, sooft es von irgendeiner ändern Seite ein Geräusch hört, und bereitet sich zum Sprunge. Es muß was wittern, denn einmal macht es ein paar große Sprünge, wodurch es mir aber noch um mehrere Schritte näher kommt. Dann beruhigt es sich wieder und grast mit Hast und Lust. Die Ohren sind immer gespitzt, und das ganze Wesen ist ein Bild ängstlicher Wachsamkeit und Fluchtbereitschaft.

»Du weißt es doch«, sage ich – »daß du in Feindesland bist? Keine Minute sicher vor dem Schuß – das muß wohl recht bange machen.«

Ich rücke ihm allmählich näher; das Reh beachtet es nicht und grast mir entgegen. Oft hält es ein und sieht mich an mit Ruhe und Vertrauen, während es jeder anderen Richtung mit ängstlichem Mißtrauen zu begegnen scheint.

»Mich freut es ungemein«, sage ich, »daß du mir nicht abgeneigt bist. Es läßt sich nicht leugnen, daß ich zu jenen Ungeheuern gehöre, die auf zwei Beinen gehen. Aber alle Zweibeinigen sind nicht gefährlich. Ich schon gar nicht, ich habe vorhin ein oder zwei Verslein gedichtet, wenn ich sie dir vorsagen darf...«

Da macht das Tier im Schreck einen weiten Sprung abseits.

»Es wäre nicht lang gewesen«, sage ich bedauernd, daß ich das Reh verscheucht, aber es kommt mir grasend bald wieder näher.

»Es ist nicht schlau von dir, daß du mich kränktest. Das Lied ist für meinen Schatz gemacht. Es lebt irgendwo eine, die ich im Grunde des Herzens liebhabe, aber kein Mensch ahnt es, und sie selber auch nicht. Da habe ich ihr denn diese Verse gedichtet. Sie müssen aber wieder vergessen werden. – Wie hältst du's in solchen Sachen?«

Das Tier tritt mir wieder um zwei Schritte näher und hebt zu schnuppern an. Da wird mir ganz vorwitzig zumute.

»Liebes Reh!« sage ich und halte ihm die Arme entgegen. »Ich kann nicht sagen, wie du mich anmutest. Hätte ich was bei mir, ich schösse dich nieder. – Nein, von mir fürchte nichts. Ich schieße nimmer. Du atmest dieselbe Luft wie ich, dein kleines Auge sieht denselben Sonnenschein wie ich – dein Blut ist so warm wie das meine – warum soll ich dich umbringen? – Einmal habe ich zwar zu mir gesagt: Bist ein niederträchtiger Bursch'! – 's ist schon lange vorbei und seither manches geschehen, was dafür, und manches, was dawider spricht. Aber aus Passion bringe ich nichts um. In der Notwehr ist's was anderes, da achte ich kein Leben, außer das meine; und wenn ich Hunger habe und eine Büchse, so schieße ich dich doch nieder, da hilft dir alles nichts.«

Trotz alledem kommt das Rehlein immer näher auf mich zu. Ich stehe wie eine Säule da und zehn Schritte vor mir das Tier und sieht mich an. Es ist mir schier unheimlich. Das muß kein rechter Mensch sein, zu dem das Wild sich gesellt...

»Du bist neugierig«, sage ich, »wie sich so einer von der Nähe anschaut. Nun, betrachte mich nur recht. Aber diese Lappen aus Leinwand und Wollenzeug gehören nicht dazu. In Wahrheit sehen wir anders aus. Und wenn du uns sähest so nackt und bloß, wie du selber bist, alle Angst und Furcht müßtest du vor uns verlieren. Von Haus aus können wir nicht schießen, können nicht so laufen wie du, können uns nicht nähren von diesem Kraute, können nicht wohnen im Dickicht. So armselig sind wir. Wir – so heißt es – hätten es wohl einmal gekonnt, aber in dem Maße, als unsere Vernunft gewachsen, sei unser Körper abhängig geworden, sei fein und empfindlich und verweichlicht und schwächlich geworden. Und wenn es so fortgeht, löst sich der ganze Mensch in Geist auf; dieser wieder muß vergehen, wie die Flamme stirbt, wenn Docht und Öl verzehrt sind. – Dann sind wir fertig, und ihr kommt an unsere Stelle.«

Der ganze aschgraue Leib des Tieres ist schön, kräftig und geschmeidig; wenn es den Kopf recht hoch erhebt, ist es fast stolz und seine Augen sehen so klug und gutmütig auf mich her.

»Ich weiß nicht«, sage ich, »ob denn du auch immer suchest, ohne zu wissen, was; ob du dich abmühest Tag und Nacht, um ein Gut zu erreichen, das dich dann, wenn du es besitzest, doch nicht befriedigt. Ich weiß nicht, ob der Haß es ist, der dich belebt, der Ehrgeiz, der dich peitscht, die Liebe, die dich unglücklich macht, die Lust, die dich tötet. Bei uns ist es so. – Nun stehen wir beide uns gegenüber und blicken uns an. Bedauere ich dich, oder bedauerst du mich? Du hast und genießest voll, was du haben und genießen kannst; uns werden die süßen Freuden des Herzens von der Erbarmungslosigkeit des Verstandes und auch der Vorurteile vergällt. Unser Fühlen artet in Denken aus, und das ist unser Unglück. Wollen wir noch was Gutes haben, so müssen wir uns euch nähern. – Was? Du schüttelst das Haupt, du verneinst es, Reh? Du möchtest am Ende gar auch ein Mensch sein? Nein, so weit bist du noch nicht vorgeschritten, daß du unzufrieden wärest. Deine Not ist der Jäger, so wie die unsere – der Mensch. Uns drohen die größten Gefahren von unseresgleichen. Ist dir das neueste Wochenblatt schon zu Gesichte gekommen? Ei so, du liesest keine Blätter, du frissest sie. Ist auch gesünder, nur vor Druckblättern hüte dich, die sind giftig. Sie wären es nicht, aber sie saugen das Gift aus dem Boden, auf dem sie stehen, aus der Luft, die sie umweht, aus der Zeit, der sie dienen. – Gottlob, daß sie in den Winkelwäldern nicht wachsen. Da wächst der Sauerklee, und das ist was für dich, und der Pilzling, das ist was für mich. Übrigens, mein liebes Ricklein, wie lange werden wir denn hier stehenbleiben? Wie stehts mit dem Ausderhandfressen?«

Ich reiße Gras aus dem Boden, ein Geschäft, das mein Reh mit Kennerauge verfolgt.

– Knallt ein Schuß. Ein kurzes Pfeifen ist durch die Luft gegangen, das Reh hat einen Sprung gemacht – und läuft nachher mit vollster Entfaltung seiner Schnellkraft über die Wiese und schnurgerade ins Dickicht hinein.

Im nahen Gestämme verzieht sich langsam der schwefelige Rauch. Ich eile, den Wildschützen zu suchen, um ihn dem Gericht zu überliefern, weil er geschossen, und um ihn freizubitten, weil er nicht getroffen. – Ich sehe weder den Schützen noch das Reh, und ich bin rasend in dem Gedanken, das Reh könne mich für den Mitschuldigen, für den Verräter oder gar für den Meuchelmörder halten, und ich will in seinen Augen weder ein schlechter Freund noch ein schlechter Schütze sein.

– Was nützt all das? Der Schwärmer hält nicht vor; im Spätherbste, wenn mir, wie ich es verhoffe, der Rehbraten auf den Tisch kommt, werden die freundschaftlichen Gefühle sicherlich wieder erwachen, aber nicht aus dem Herzen werden sie kommen, sondern aus dem Magen. –

Der Mensch kann ein Schelm werden, und das ist bisweilen gut. Es hat ja nicht gar lange angehalten. Bald ist wieder was anderes da.

Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt heran oder das Schellen und Meckern einer Ziege. Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wacholdersträuchern mag er nichts zu schaffen haben, die Nadeln stechen, die blauen Beeren sind bitter. Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube oder, was ihm lieber ist, in den Mund. Dann pflückt er das schmale, spitzige Blatt vom Bocksbartkraut, führt es zur Lippe und bringt durch dasselbe einen Pfiff hervor, der weithin hallt in den Hängen und den in der Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das ist dem Völklein des Waldes das Zeichen seiner Brüderlichkeit.

Durch das Himbeergestrüppe windet sich ein Waldrauchsammler, der aus dem Ameisenhaufen die Harzkörner hervorschafft. Aus diesen Harzkörnern bereitet er den Weihrauch, das wundersame Korn, dessen Wolkenschleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß sie hinsinken vor das Opferbrot und den Herrn sehen.

Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brombeerlaub wuchert die Süßwurzel; das ist des Hirtenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin nascht gerne davon, auf daß sie eine klingende Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der Sennin – merk' ich – geht es oft sonderbar, wohl hat sie viele, gar rechtschaffen viele Worte auf der Zunge, aber das rechte für ihre Herzenslust ist nicht dabei, und so drückt sie sich denn anders aus und singt ein Lied ohne Worte, das sie hier, so weit es klingt, den Jodler heißen.

Ich ziehe durch einen von Wildwässern des Kares ausgerissenen Hohlweg abwärts, Bäume und Sträucher wölben ihn zu einer Laube. Ein kühler Lufthauch fächelt, da stehe ich am Ufer eines Waldsees. Finstere Gewände und schlanke braune Stämme des Urwaldes schließen ihn ein. Oh, so still – so still ist's über dem See. Das verlorene Blatt einer Buche oder Eiche raschelt heran, ich höre jenes ewige Klingen der tiefsten Lautlosigkeit.

Es ist wo ein Glöcklein im Weltenraum, wir wissen nicht: im Erdengrund hernieden oder im Sternenkranze – das ruft uns allerwege. Und zur geruhsamen Stund' erfaßt unsere Seele den traulichen Klang und sehnt sich... und sehnt sich – – –

Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten, Verlassenen, Verfolgten – Weltmüden; du einziges Eden, das dem Glücklosen noch geblieben!-

Horch, Andreas! Hörst du noch das Klingen und Hallen des wortlosen Liedes? Das ist das Jauchzen der Hirten in ihrem Paradiese. – Hörst du auch das ferne Pochen und Schallen? Das ist der Holzhauer mit der Axt – der Engel mit dem Schwerte.


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