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Wenn mein Vater am Sonnabend beim Rasieren saß, da mußte ich unter den Tisch kriechen, weil es über dem Tisch gefährlich war.
Wenn mein Vater beim Rasieren saß, wenn er seine Backen und Lippen dick und schneeweiß eingeseift hatte, daß er aussah wie der Stallbub, welcher der Kuhmagd über den Milchrahm gekommen; wenn er dann das glasglänzende Messer schliff an seinem braunledernen Hosenträger und hierauf langsam damit gegen die Backen fuhr, da hub er an, den Mund und die Wangen und die Nase und das ganze Antlitz derart zu verzerren, daß seine lieben, guten Züge schier gar nicht mehr zu erkennen waren. Da zog er seine beiden Lippen tief in den Mund hinein, daß es aussah wie des Nachbars alter Veit, der keine Zähne mehr hatte; oder er dehnte den Mund nach links oder rechts in die Quere, wie die Köhler-Sani tat, wenn sie mit den Hühnern keifte; oder er drückte ein Auge zu und blies eine Wange an, daß er war wie der Schneider Tinili, wenn ihn sein Weib gestreichelt hatte.
Die spaßhaftesten Gesichter der ganzen Nachbarschaft fielen mir ein, wenn der Vater beim Rasieren saß. Und da kam mir das Lachen.
Darauf hatte mein Vater stets liebevoll gesagt: »Gib Ruh, Bübel.« Aber kaum die Worte gesprochen waren, wuchs wieder ein so wunderliches Gesicht, daß ich erst recht herausplatzte. Er guckte in den kleinen Spiegel, und schon meinte ich, sein schiefes Antlitz werde in ein Lächeln auseinanderfließen. Da rief er plötzlich: »Wenn du keine Ruh gibst, Bub, so hau ich dir den Seifenpinsel hinüber!«
Kroch ich denn unter den Tisch, und das Kichern schüttelte mich wie die Nässe den Pudel. Der Vater aber konnte sich ruhig rasieren und war nicht mehr in Gefahr, über seine und meine Grimassen selbst in ein unzeitiges Lachen auszubrechen.
So auch war's einmal an einem Winterabend, daß der Vater beim Seifenschüsselchen saß und ich unter dem Tisch, als sich draußen in der Vorlauben jemand den Schnee von den Schuhen stampfte. Gleich darauf ging die Tür auf, ein großer Mann trat herein, dessen dichter, roter Schnurrbart Eiszapfen trug wie draußen unser Bretterdach. Er setzte sich gleich nieder auf eine Bank, zog eine bauchige Tabakspfeife aus dem Lodenmantel, faßte sie mit den Vorderzähnen, und während er Feuer schlug, sagte er: »Tust dich balbieren, Waldbauer?«
»Ja, ich tu mich ein wenig balbieren«, antwortete mein Vater und kratzte mit dem Schermesser und schnitt ein wahrhaft gottverlassenes Gesicht.
»Na, ist recht«, sagte der fremde Mann.
Und später, als er schon von Wolken umhüllt war und die Eiszapfen bereits niedertröpfelten von seinem Bart, tat er folgende Rede: »Ich weiß nicht, Waldbauer, wirst mich kennen oder nicht? Ich bin vor fünf Jahren einmal an deinem Haus vorbeigegangen und hab beim Brunnen einen Trunk Wasser genommen. Ich bin von der Stanz, bin der Drachenbinderin ihr Knecht. Ich bin da um deinen größeren Buben.«
Mir unter dem Tisch schoß es bei diesen Reden heiß bis in die Zehen hinaus. Mein Vater hatte nur einen einzigen größeren Buben, und der war ich. Ich duckte mich in den finstersten Winkel hinein.
»Um meinen Buben bist da?« entgegnete mein Vater, »den magst wohl haben, den werden wir leicht entraten; halt ja, er ist gar so viel schlimm.«
Bauersleute reden gern so herum, um ihre vorwitzigen Kinder zu necken und einzuschüchtern. Allein der Fremde sagte: »Nicht so, Bauer, g'scheiterweis! Die Drachenbinderin will was aufschreiben lassen, ein Testament oder so was, und sie weiß weit und breit keinen zu kriegen, der das Schreiben tät verstehen. Jetzt, da hat sie gehört, der Waldbauer im Vorderschlag hätt so ein ausbündig Bübel, dem solch Ding im kleinen Finger stecken tät; und so schickt sie mich her und läßt dich bitten, Bauer, du sollst die Freundschaft haben und ihr deinen Buben auf einen Tag hinüberleihen; sie wollt ihn schon wieder fleißig zurückschicken und ihm was geben zum Lohn.«
Wie ich das gehört hatte, klopfte ich mit den Schuhspitzen schon ein wenig an den Tischschragen – das täte mir gleich nicht übel gefallen.
»Geh«, sagte mein Vater, da er auf einem Backen bereits glattgekratzt war, »wie könnt denn mein kleiner Bub jetzt im tiefen Winter in die Stanz gehen, ist ja völlig vier Stunden hinüber!«
»Freilich wohl«, versetzte der große Mann, »deswegen bin ich da. Er steigt mir auf den Buckel hinauf, tut die Füß auseinander, legt sie mir zu beiden Seiten an den Rippen nach vorn, wo ich sie anfaß, und mit den Händen halst er mich, wie eine Liebste, daß er nicht mag rückwärts hinabfallen.«
»Versteh's schon«, drauf mein Vater, »ist nicht nötig, daß du mir das Buckelkraxentragen so auslegst.«
»Na, und nachher wird's wohl gehen, Waldbauer, und wenn der Sonntagabend kommt, trag ich dir ihn wieder ins Haus.«
»Je nu, dasselb weiß ich wohl, daß du mir ihn wieder redlich zurückstellst«, sagte mein Vater, »und wenn die Drachenbinderin was will schreiben lassen, und wenn du der Drachenbinderin ihr Knecht bist, und wenn mein Bübel mit dir will – meinetwegen hat's keinen Anstand.«
Diese letzten Worte hatte er bereits mit glattem, verjüngtem Gesicht gesprochen.
Eine kleine Weile nachher stak ich in meinem Sonntagsgewand; glückselig über die Bedeutung, die ich so plötzlich hatte, ging ich in der Stube auf und ab.
»Du Ewiger Jud, du«, sagte mein Vater, »hast mehr kein Sitzfleisch?«
Aber mir ließ es keine Ruhe mehr. Am liebsten hätte ich mich sogleich auf das breite Genick des großen Mannes niedergelassen und wäre davongeritten. Da kam erst die Mutter mit dem Sterz und sagte: »Esset ihn, ihr zwei, ehe ihr fortgeht!«
Umsonst hatte sie es nicht gesagt; ich habe unsern breitesten hölzernen Löffel nie noch so hochgeschichtet gesehen als zur selbigen Stunde, da ihn der fremde, große Mann von dem Sterztrog unter seinen Schnurrbart führte. Ich aber ging in der Stube auf und ab und dachte, wie ich nun der Drachenbinderin ihr Schreiber sein werde.
Als hierauf die Sache insoweit geschlichtet war, daß die Mutter den Sterztrog über den Herd stülpen konnte, ohne daß auch nur ein Brosamchen herausfiel, da hüpfte ich auf das Genick des Mannes, hielt mich am Barte fest und ritt denn in Gottes Namen davon.
Schon ging die Sonne unter; in den Tälern lagen bläuliche Schatten, die fernen Schneehöhen der Almen hatten einen mattroten Schein.
Als mein Gaul über die kahlen Weiden aufwärts trabte, da trug ihn der Schnee, aber als er in die Gegend des jungen Lärchenwuchses und des Fichtenwaldes kam, da wurde die Bodenkruste trügerisch und brach ein. Jedoch darauf war er vorgesehen. Als wir zu einem alten, hohlen Lärchenbaum kamen, der sein wildes Geäst recht keck in die Luft hinausstreckte, hielt er an, langte mit der einen Hand in die schwarze Höhlung und zog ein Paar aus Weiden geflochtene Fußscheiben hervor, die er an die Schuhsohlen band. Mit diesen breiten Sohlen begann er die Wanderung von neuem; es ging langsam, denn er mußte die Füße sehr weit auseinanderbiegen, daß er die Scheiben vermitteln (benützen) konnte, aber mit solchen Entenfüßen brach er nicht mehr durch.
Auf einmal, es war schon recht finster und die Sterne leuchteten klar, hub mein Gaul an, mir die Schuhe loszulösen, zog sie zuletzt gar von den Füßen und tat sie in seine aufgebundene Schürze. Dann sagte er: »Jetzt, Bübel, steck deine Pfötelein da in meine Hosentaschen, daß die Zehen nicht herabfrieren.« Meine vorgestreckten Hände nahm er in die seinen und hauchte sie mit dem warmen Atem an – was anstatt der Handschuhe war.
An meinen Wangen kratzte die Kälte, der Schnee winselte unter den Scheiben, so ritt ich einsam fort durch den Wald und über die Höhen. Ich ritt den ganzen langen Grat des Hochbürstling, wo ich nicht einmal zur Sommerszeit noch gewesen war! Ich preßte zuweilen, wenn es schon ganz langsam ging, mein Knie in die Weichen, und mein Gaul ertrug es willig und ging, wie er konnte, und er wußte den Weg. Ich ritt an einem Pfahl vorbei, auf welchem Winter und Sommer der heilige Viehpatron Erhardi stand. Ich kannte den heiligen Erhardi von daheim; ich und er hatten zusammen die Aufsicht über meines Vaters Herden; er war immer viel angesehener als ich, ging ein Rind zugrunde, so hatte ich, der Halterbub, die Schuld; gediehen die andern recht, so hatte er das Lob. – Es tat mir wohl, daß er sah, wie ich es zum Rittersmann gebracht, während er die ewige Weil wie angenagelt auf dem Pfahle stand.
Endlich wendete sich der Lauf, ich ritt abwärts über Stock und Stein einem Lichtlein zu, das unten in der Schlucht flimmerte. Und als so alle Bäume und Gegenden an mir vorübergegangen waren und ich vor mir den dunklen Klumpen mit der kleinen Tafel des Lichtscheines hatte, stand mein guter Christoph still und sagte: »Du liebes Waldbauernbübel! Da du mir fremdem Menschen so unbesonnen gefolgt bist – wohl könnte es sein, daß ich schon jahrelang einen Groll hätt gegen deinen Vater und daß ich dich jetzt in eine Räuberhöhle führte.«
Horchte ich einen Augenblick so hin.
Weil er zu seinen Worten nichts mehr beisetzte, so sagte ich in demselben Ton: »Da mein Vater mich der Drachenbinderin ihrem Knecht so anvertraut hat und da ich so unbesonnen gefolgt bin, so wird der Drachenbinderin ihr Knecht keinen Groll haben können und mich nicht in eine Räuberhöhle führen.«
Der Mann hat nach diesen meinen Worten in seinen Bart gepustert. Bald darauf hub er mich auf einen Strunk und sagte: »Jetzt sind wir bei der Drachenbinderin ihrem Haus.« Er machte an dem dunklen Klumpen eine Tür auf und ging hinein.
In der kleinen Stube war ein Herd, auf dem ein Häufchen Glut lag, ein Kienspan, der brannte, und ein Strohlager, auf dem ein Kind schlief. Daneben stand ein Weib, das schon sehr alt und gebückt war und das im Gesicht schier so blaß und faltenreich aussah wie das grobe Nachtkleid, in das es gehüllt stand.
Dieses Weib stieß, als wir eintraten, einige jauchzende Töne aus, hub dann heftig zu lachen an und verbarg sich hinter dem Herde.
»Das ist die Drachenbinderin«, sagte mein Begleiter, »sie wird gleich zu dir reden, setz dich dieweilen auf den Schemel da neben dem Bett und tu deine Schuh wieder an.«
Ich tat es, und er setzte sich daneben auf einen Holzblock.
Als das Weib still geworden war, trippelte es am Herd herum, und bald brachte es uns in einer Tonschüssel eine graue, dampfende Mehlsuppe und zwei beinerne Löffel dazu. Mein Mann aß würdevoll und beharrlich, mir wollte es nicht recht munden. Zuletzt stand der Knecht auf und sagte leise zu mir: »Schlaf wohl, du Waldbauernbub!« und ging davon.
Und als ich in der schwülen Stube allein war mit dem schlummernden Kind und dem alten Weib, da hub es mir schon an, recht unheimlich zu werden. Doch nun trat die Drachenbinderin heran, legte ihre leichte, hagere Hand an meine Wange und sagte: »Dank dir Gott, unser lieber Herr, daß du zu mir gekommen bist! Es währet kein halbes Jährlein noch, seit mir meine Tochter ist gestorben. Das da« – sie deutete auf das Kind – »ist mein junger Zweig, ist ein gar lieber Wurm, wird mein Erbe sein. Und jetzt hör ich schon wieder den Tod anklopfen an meiner Tür; ich bin halt schon an die achtzig Jahr. Mein Leben lang hab ich gespart – mein Sargbett will ich mir wohl erbetteln von guter Leute Herzen. Mein Mann ist früh gestorben und hat mir das Drachenbinderhäusel, wie es genannt wird, zurückgelassen. Meine Krankheiten haben mir das Häusel wieder gekostet – sind's aber nicht wert gewesen. Was ich hinterlaß, ist meinem Enkelkind zu eigen. In sein Herz geht's heut noch nicht hinein, und in die Hand geben kann ich's keinem Menschen. So will ich's schreiben lassen, daß es bewahrt ist. Durch den Schulmeister in der Stanz will ich's nicht tun, und der Doktor kann's ohne Stempelgeld nicht machen. So haben die Leut vom Waldbauernbuben erzählt, der wär so hochgelehrt, daß er auch ohne Stempel einen Letzten Willen wüßt zu schreiben. Und so hab ich dich von weiten Wegen bringen lassen. Morgen tu mir die Lieb, und heute geh zur friedsamen Ruh.«
Sie geleitete mich mit dem brennenden Span in eine Nebenkammer; die war nur aus Brettern geschlagen. Ein Lager von Heu und eine Decke aus dem dicken Sonntagskleid des Weibes war da, und in einem Winkel stand ein kleiner brauner Kasten mit zwei Türmchen, in welchen Glöcklein schrillten, sooft wir auf den wankenden Fußboden traten. Die Drachenbinderin steckte den Span in ein Turmfenster, segnete mich mit einem Daumenkreuz, und bald darauf war ich allein in der Kammer.
Es war kalt, ich fröstelte vor dem Winter und vor dem Weibe, das meine Gastfrau war; aber noch ehe ich mich ins Nest verkroch, machte ich mit Neugierde die Tür des Kirchleins auf. Eine Maus huschte heraus, die hatte eben an dem goldpapierenen Altar und der pappenen Hand des heiligen Joseph ihr Nachtmahl gehalten. Es waren Heilige und Englein da und bunte Fähnlein und Kränzlein – ein lieblich Spiel. Ich meinte, das sei gewiß der alten Drachenbinderin ihre Pfarrkirche, weil das Weiblein doch schon viel zu mühselig sei, um nach Stanz zum Gottesdienst zu wandern. Ich betete vor dem Kirchlein mein Abendgebet, worin ich den lieben Herrgott bat, mich in dieser Nacht recht zu beschützen; dann löschte ich den Span aus, daß er nicht zu den Turmfenstern hineinbrennen konnte, und legte mich hernach in des lieben Gottes Namen auf das Heu. – Mir kam es vor, als wäre ich losgerissen von mir selber und ein gelehrter Schreiber in einem fernen kalten Haus, während der wahrhaftige Waldbauernbub gewiß daheim in dem warmen Nestlein schlummerte.
Als ich endlich im Einschlafen war, hörte ich drinnen in der Stube wieder das kurz ausgestoßene Jauchzen und bald darauf das heftige Lachen.
Was ergötzt sie denn so sehr, und wen lacht sie aus? – Ich fürchtete mich und sann auf Flucht.
Ein Standbrett wäre doch 'leicht ausgehoben – aber der Schnee!
Erst gegen Morgen schlief ich ein und träumte und träumte von einer roten Maus, die allen Heiligen der Kirche die rechte Hand abgebissen habe. Und zum Turmfenster sah mein Vater mit den eingeseiften schiefen Backen heraus, und er hielt einen brennenden Span im Mund; ich schluchzte und kicherte zugleich und hatte heiße Angst.
Als ich endlich erwachte, meinte ich, ich wäre in einem Käfig mit silbernen Spangen, so strahlte das weiße Tageslicht durch die aufrechten Bretterfugen. Und als ich hinausging vor die Tür des Hauses, da staunte ich, wie eng die Schlucht und wie fremd und hoch und winterlich die Berge waren. Im Hause schrie das Kind und jauchzte wieder die Drachenbinderin.
Bei der Frühsuppe war auch mein Gaul wieder da; aber er sagte schier kein Wort, er sah nur auf sein Essen, und als dieses gar war, stand er auf, setzte seinen großmächtigen Hut auf und ging gegen Stanz hinaus zur Kirche.
Als das Weib das Kind beruhigt, die Hühner gefüttert und andere Dinge des Hauses getan hatte, schob es den Holzriegel vor die äußere Tür, ging in die Kammer und hub mit den kleinen Glocken des Kirchleins zu läuten an.
Dann entzündete sie zwei Kerzen, die am Altare standen, und dann tat sie ein Gebet, wie ich meiner Tage kein ergreifenderes gehört habe. Sie kniete vor dem Kirchlein, streckte die Hände aus und murmelte:
»Von wegen der Marterwunden deiner rechten Hand, du kreuzsterbender Heiland, tu meine verstorbenen Eltern erretten, wenn sie noch in der Pein sind. Schon der Jahre ein halbes Hundert sind sie in der Erden, und heut noch hör ich meinen Vater rufen um Hilf mitten in der Nacht. – Von wegen der Marterwunden deiner linken Hand laß dir empfohlen sein meiner Tochter Seel. Sie hat kaum mögen die Welt anschauen, und wie sie dem lieben Gatten das Kindlein in die Hand will legen, da kommt der bittere Tod und tut sie uns begraben. – Von wegen der Marterwunden deines rechten Fußes will ich dich bitten wohl im Herzen für meinen Mann und für meine Blutsfreund und Guttäter und daß du den Waldbauernbuben nicht wolltest vergessen. – Von wegen der Marterwunden deines linken Fußes, du kreuzsterbender Heiland, sei auch eingedenk in Lieb und Gnaden all meiner Feinde, die mich mit Händen haben geschlagen und mit Füßen haben getreten. Dich haben verblendete Menschen gekreuzigt bis zum Tode, und hast ihnen auch wohl vergeben. – Von wegen der Marterwunden deines heiligen Herzens sei zu tausend- und tausendmal angerufen: Du gekreuzigter Gott, schließe mein Enkelkind in dein göttliches Herz. Sein Vater ist bei den Soldaten in weitem Feld, ich hab 'leicht kein langes Verbleiben, du mußt dem Kind ein Vormund sein, ich bitte dich...!«
So hat sie gebetet. Die roten Kerzen brannten so fromm.
Ich hab gemeint zur selben Stund: Wenn ich der lieb Herrgott wäre, ich stiege herab vom Himmel und tät das Kind nehmen in meine Händ und tät sagen: Auf daß du's siehst, Drachenbinderin, ich halt's an meinem Herzen warm und will sein Vormund sein! Ich wollte ihm wachsen lassen weiße Flügel, daß es könnt fliegen in das schönste Land.
Aber ich bin der lieb Herrgott nicht gewesen.
Nach einer Weile sagte das Weib: »Jetzt heben wir zu schreiben an.« – Aber wie wir wollten zu schreiben anheben, da war keine Tinte, keine Feder und kein Papier. Allmiteinander hatten wir darauf vergessen.
Die Alte stützte ihren Kopf auf die flache Hand und murmelte: »Das ist schon ein Elend!«
Ich hatte einmal das Geschichtchen gehört von jenem Doktor, der in Ermangelung der Dinge sein Rezept an die Stubentür geschrieben. 's war hier der Nachahmung wert, fand sich aber keine Kreide im Haus. Ich wußte mir keinen Rat, und ich schämte mich unsagbar, daß ich ein Schreiber ohne Feder war.
»Waldbauernbub«, sagte das Weib plötzlich, »'leicht hast du's auch mit Kohlen gelernt?«
Ja, ja, mit Kohlen, wie sie auf dem Herde lagen, das war ein Mittel.
»Und das ist in Gottes Namen mein Papierblatt«, versetzte sie und hob die Decke eines alten Schrankes empor, der hinter dem Ofen stand. In dem Schranke waren Lodenschnitzel, ein Stück Linnen und ein rostiger Spaten. Als die Drachenbinderin bemerkte, daß ich auf den Spaten blickte, wurde sie völlig verlegen, deckte ihr altes Gesicht mit der braunen Schürze und murmelte: »'s ist doch eine Schande!«
Mir fuhr's ins Herz; ich hielt das für einen Vorwurf, daß ich kein Schreibzeug bei mir habe.
»Du wirst mich rechtschaffen auslachen, Waldbauernbub!« lispelte die Alte, »aber tu ja nichts Schlechtes von mir denken; ich kann halt nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich bin schon gar soviel ein mühseliger Mensch.«
Jetzt verstand ich vielleicht: Das arme Weib schämte sich, daß es den Spaten nicht mehr handhaben konnte und daß dieser also rostig geworden.
Ich suchte mir am Herd ein mildes Stück Kohle – die Kiefer ist so gut und leiht mir die Feder, daß ich das Testament, oder was es sein wird, der alten Drachenbinderin vermag aufzuschreiben.
Als also der graufarbige Schrank offenstand und ich bereit war, auf die Worte des Weibes zu hören und sie zu verzeichnen, daß sie nach vielen Jahren dem Enkel eine Botschaft seien – da tat die Alte neben mir plötzlich ein helles Aufjauchzen. Eilig wendete sie sich seitab, jauchzte zwei- und dreimal und brach zuletzt in ein heiseres Lachen aus. Ich zerrieb in der Angst die Kohle zwischen meinen Fingern und schielte nach der Tür.
Als das Weib eine Weile gelacht hatte, war es still, tat einen tiefen Atemzug, trocknete sich den Schweiß, wendete sich zu mir und sagte: »So schreib. Hoch werden wir nicht zählen, fang aber doch an in der oberen Eck.«
Ich legte die Hand auf die oberste Ecke des Deckbrettes.
Hierauf sprach das Weib folgende Worte: »Eins und eins ist Gott allein. – Das, du Kind meines Kindes, ist dein eigen.«
Ich schrieb diese Worte auf das Holz.
»Zwei und zwei«, fuhr sie fort, »zwei und zwei ist Mann und Weib. Drei und drei das Kind dabei. Vier und fünf bis acht und neun, weil die Sorgen zahllos sein. – Bet, als wenn du keine Hand; arbeit, als wenn dir kein Gott bekannt. Trage Holz und denk dabei: Kochen wird mir Gott den Brei.« –
Als ich diese Worte geschrieben hatte, senkte die Drachenbinderin den Deckel auf den Schrank, versperrte ihn sorgsam und sagte zu mir: »Jetzt hast du mir eine große Guttat erwiesen, jetzt ist mir ein schwermächtiger Stein vom Herzen. Diese Truhe da ist das Vermächtnis für mein Enkelkind. – Und jetzt kannst du sagen, was ich dir geben soll für deinen Dienst.«
Ich schüttelte den Kopf, wollte nichts verlangen, gar nichts.
»So gut schreiben lernen und so weit herreisen und eine ganze Nacht harte Kälte leiden und zuletzt nichts dafür nehmen wollen, das wär sauber!« rief sie. »Waldbauernbub, das kunnt ich nicht angehen lassen.«
Ich blinzelte durch die offene Tür ein wenig in die Kammer hinein, wo das Kirchlein stand. Das wäre eine prächtige Heiligkeit für mein Bettlein daheim. – Da roch sie's gleich. »Mein Hausaltar liegt dir im Sinn«, sagte sie, »Gotteswegen, so magst du ihn haben. Man kann's nicht versperren wie die Truhe, das liebe Kirchel, und die Leut täten mir's doch nur verschleppen, wenn ich nicht mehr bin. Bei dir ist's in Ehren, und du denkst wohl an die alte Drachenbinderin zur heiligen Stund, wenn du betest.«
Das ganze Kirchlein hat sie mir geschenkt. Und das war jetzt die größte Seligkeit meiner ganzen Kindschaft.
Gleich wollte ich es auf die Achsel nehmen und forttragen über die Alpe zu meinem Haus. Aber das Weib sagte: »Du lieber Närrisch, das kunnt wohl auf alle Mittel und Weis nicht sein. Kommt erst der Knecht heim, der wird einen Rat schon wissen.« Und als der Knecht heimgekommen war und mit uns das Mittagsbrot gegessen hatte, da wußte er einen Rat. Er band mir das Kirchlein mit einem Strick auf den Rücken, dann ließ er sich nieder vor dem Holzblock und sagte: »Jetzt, Bübel, reit wieder auf!«
Saß ich denn das zweitemal auf seinem Nacken, steckte die Füße in seine Hosentaschen und umschlang mit den Händen seinen Hals. Die Alte hielt mir das erwachende Kind noch vor, daß es mir das Händchen hinhalte, sagte Worte des Dankes, schoß hinter den Ofen und jauchzte.
Ich aber ritt davon, und an meinem Rücken klöpfelten die Heiligen in der Kirche, und in den Türmen schrillten bei jeder Bewegung die Glöcklein.
Als der Mann mit mir emporgestiegen war bis zu den Höhen des Bürstling und sich dort wieder die Schneescheiben festband, da fragte ich ihn, warum denn die Drachenbinderin allfort so jauchze und lache.
»Das ist kein Jauchzen und Lachen, liebes Waldbauernbüblein«, antwortete mir der Mann, »die Drachenbinderin hat eine böse Krankheit zu tragen. Sie hat jahrelang so ein Schlucksen gehabt, wie es eins bei Verkühlungen oder sonstwie bekommen kann; sie hat nicht darauf geachtet, hat die Sach übergehen lassen, und so ist nach und nach, wie der Bader sagt, das Krampfschreien und das Krampflachen daraus geworden. Jetzt ballt sich ihr Eingeweide zusammen, und wenn sie in der Erregung ist, so hat sie die starken Anfälle. Sie kann schier keine Speisen mehr vertragen und sieht den Tod vor Augen.«
Ich entgegnete kein Wort, blickte auf die schneeweißen Höhen, auf den dämmrigen Wald und sah, wie wir an dem reinen Sonntagnachmittag sachte abwärts stiegen gegen mein Heimathaus. Ich dachte, wie ich die Kirche, die ich zum Vermächtnis bekommen, nun aufstellen wolle in der Stube und darin Gottesdienst halten, und daß jetzt Vater und Mutter den weiten Weg nach dem Pfarrdorf nicht mehr zu machen brauchten.
Mein guter Gaul schritt geduldig dahin, und allweg klingelten hinter mir die Metallglöckchen in den Türmen.
Was läuten sie? ... Die alte Drachenbinderin ist gestorben.