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Der Tag des Festes rückte heran, und damit verstrich auch die Zeit, welche der gelehrte Kongreß sich für seine Beratungen gesetzt hatte. Holmar war nicht wieder erschienen. Adelheid wußte nicht, ob er noch am Orte verweile oder abgereist sei, ohne ihr ein Lebewohl zu sagen. Und an einem Lebewohl wenigstens hing sie heut' mit ganzer Seele. In so bedrängter Stimmung sollte sie jetzt mit vornehmen Leuten, zu welchen sie sich nicht gehörig fühlte, eine Maskerade aufführen, die ihr abgeschmackt, läppisch, widerwärtig erschien. Sie verwünschte den ganzen Kreis, in welchen sie geraten, sie verwünschte ihre eigene Dummheit, sie betrachtete ihr Reitkleid mit einer Regung, die noch verächtlicher war als jene gegen die Phantasiekapuze, in welcher sie durch ihre Jugend hatte wandern müssen.
Auch Metella war nicht des besten Humors. Sie hatte von Tag zu Tag auf Holmars Besuch gerechnet, und er war nicht erschienen. Die verwöhnte junge Frau fand eine solche Vernachlässigung denn doch unverantwortlich, und in dem aufsteigenden Groll gegen ihn beschäftigte sie sich innerlich mehr und mehr mit ihm. Mochte er immerhin »ein bißchen apart«, ein wenig Sonderling sein, so weit durfte das Sonderlingswesen nicht gehen, erst ein Interesse hervorzurufen und darauf die unhöflichste Gleichgültigkeit zu zeigen. Aber er konnte ja auch plötzlich krank geworden sein! Sie verwarf den Gedanken. Davon würde man denn doch gehört haben! Überdies, wer wird denn an einem solchen Vergnügungsorte so leicht krank? Noch dazu ein so stattlicher Mann! Nein, sein Ausbleiben war Ungezogenheit, unverzeihliche Verletzung der gesellschaftlichen Form! – Metella warf nicht minder verstimmte Blicke auf ihr Reitgewand als Adelheid; sie wäre am liebsten ganz von dem Feste weggeblieben. Ja, wenn sich die Freundinnen nur darüber hätten verständigen mögen, sie wären noch im letzten Augenblick froh gewesen, ihre Reitkleider beiseite legen und der Gesellschaft von ihrer Veranda aus nachschauen zu können. Aber die Damen, da sie auch gegeneinander einiges auf dem Herzen hatten, hielten sich jede in ihren Gemächern und rüsteten ihren Anzug in einer Laune, die nichts weniger als festlich war.
Schon harrten die Reitknechte mit den Pferden im Hofe. Die Kavaliere trafen rechtzeitig ein, und die beiden Paare ritten nach dem Versammlungsorte. Wagen auf Wagen rollte an ihnen vorüber, welche nach dem Zielpunkte vorausfuhren; es war ein fröhliches Grüßen herüber und hinüber, man schien von dem Waldfeste viel zu erwarten. Auch bei dem Stelldichein der Berittenen blieben viele stehen, um sie wenigstens abreiten zu sehen. Denn es gab schöne Frauengestalten zu bewundern, darunter einige kühne Reiterinnen, welche die Ungeduld der Rosse eher zu erregen als zu zügeln suchten. Endlich setzte sich der aus acht Paaren bestehende Zug in Bewegung.
»Wenn die nur unterwegs nicht naß werden!« sagte eine prosaische Stimme unter den zurückgebliebenen Spaziergängern. Andere betrachteten die Luftstimmung jetzt erst genauer und bemerkten das Heranrücken eines Gewitters. Aber es konnte noch lange zögern, vielleicht verzog es sich auch. Die Berittenen bemerkten es gar nicht, da sie in einen Waldweg einbogen, der unter dichten Zweigen erquickenden Schatten gewährte. Man war guter Laune und versuchte sich in verschiedenen Schrittweisen. Die Herren wechselten um der Unterhaltung willen wohl einmal die Plätze, um sich nach kurzem wieder zu ihrer Dame zu gesellen. So kam man an einen Kreuzweg, wo sich ein kleiner Streit erhob über die Richtung, welche man einzuschlagen hätte. Der Kavalier, welcher den Zug führte, – ebenso fremd in dieser Gegend wie alle übrigen, – zog eine Waldkarte hervor, und nachdem er sie geprüft hatte, sagte er lächelnd: »Wir sind bei unserer vortrefflichen Unterhaltung überhaupt von der Richtung abgekommen und auf einem starken Umwege begriffen.« Der Sprecher war ein würdiger alter Herr, den man den Irrtum nicht entgelten lassen mochte. Man lachte, beriet sich mit ihm, und folgte seiner ferneren Führung an der Hand der Waldkarte. Plötzlich erdröhnte ein so heftiges Grollen des Wetters, schon in der Nähe, daß man überrascht aufblickte, und als man an einer Lichtung vorüberkam, sah man erst, daß eine dunkle Wolkenwand schon hoch genug stand, um bald die Sonnenstrahlen zu verdecken. Um bei den Damen jeder Bangigkeit vorzubeugen, wurden die Herren nur heiterer, trieben Possen und machten den Wald von Gelächter widerhallen.
Da flog ein Hut vom Kopfe, getrieben von einem Windstoße, der die Wipfel beugte, die Zweige ächzen machte. Ein Rauschen, Prasseln, Heulen fuhr durch den Wald, der Regen ergoß sich in voller Wucht nieder und das mächtige Hagelwetter brach verheerend los. Es streute Blätter, zerrissene Äste, erschlagene Vögel über den Weg, der Sturm rüttelte an den Stämmen, daß die Wurzeln erbebten. Blitzstrahl und Donnergekrach folgten einander unmittelbar, das Gebirge dröhnte unter nicht endendem Widerhall; es war, als ob schwarze, drohende Wetter sich aus allen Himmelsgegenden zusammendrängten. Die Herren hielten sich dicht an der Seite ihrer Damen, um bei einem Scheuwerden ihres Pferdes in die Zügel greifen zu können. Das Lachen hatte aufgehört, denn alle fühlten sich durchnäßt, vom Hagel schmerzhaft überschüttet, und in der fast zur Nacht gewandelten Walddämmerung hatte man die Richtung nochmals verloren. Zwar erschien wiederum eine Kreuzung verschiedener Schneisen, aber die Karte war schwer zu befragen, und man hielt ratlos in der Mitte. Ein Blitzstrahl fuhr in eine Tanne, spaltete sie zur Hälfte nieder und warf Splitter und Äste über den Weg. Die Pferde bäumten sich, eine gefahrvolle Verwirrung brach in der Gruppe der Reiter aus. Und als gleich darauf ein neuer Feuerstrahl mit fürchterlichem Krachen im Walde niederschlug, gehorchten die Pferde keiner Lenkung mehr, jagten von Todesangst gescheucht davon, dahin und dorthin, die Reiter voneinander trennend.
Adelheid sah den Grafen Lindberg in ihrer Nähe mit dem Pferde stürzen, dann sah sie kaum noch etwas, denn sie hatte alle Kraft nötig, sich auf ihrem scheu gewordenen Tier zu halten. Dieses trug sie in rasendem Laufe einer anderen Reiterin nach in eine Seitenschneise, keuchend, an die Bäume rennend, jeden Augenblick in Gefahr zu straucheln und zusammenzubrechen. Glücklicherweise ging die Schneise stark bergan. Die Kräfte der Tiere erschöpften sich, sie kamen zitternd und bebend zum Stehen und wurden mittlerweile ruhiger und wieder lenkbar. Adelheid erkannte Metella, welche blaß und halbtot vor Erschöpfung aus dem Sattel sinken wollte. Sie sprach ihr Mut ein, denn die beiden Frauen, jetzt ganz auf sich selbst angewiesen, brauchten den Rest ihrer Kräfte und brauchten Geistesgegenwart. Für sie war es eine Wildnis, in der sie sich befanden, und dazu goß der Regen noch in Strömen, und immer neue Schauer schienen heraufzuziehen. Sie mußten reiten, wohin der Weg sie eben führte. Endlich wurde ein Zaun von Stangen durch das Gebüsch bemerkbar, dann ein Stück Gartenfeld, ein niedriges Dach – das Häuschen eines Waldhüters war erreicht. An den Fenstern aber zeigten sich Gesichter, Gelächter erscholl von innen. Die Frauen nahmen an, daß ein Teil ihrer Gesellschaft hier ein Asyl gefunden, und hielten vor der Tür. Der Waldhüter half ihnen aus dem Sattel, erklärte aber, daß er die Pferde nirgends unter Dach bringen könne. Metella hörte nicht darauf und eilte über die Schwelle, und Adelheid folgte ihr.
Aus der niedrigen Stube scholl ihnen ein vierstimmiges Lachen halb des Willkommens, halb der Verhöhnung entgegen. Zwei Herren und zwei Damen empfingen die Ankommenden. Sie sprachen französisch, die beiden Herren ebenfalls, doch mit stark überseeischem Akzent. Adelheid und Metella beschlossen nur deutsch zu reden, und zwar mit dem Wirt und seiner Frau, welchen sie das unglückliche Abenteuer mitteilten. Metella war so erschöpft, daß sie auf einen Schemel sank, während Adelheid mit den Hausbewohnern die Möglichkeit beriet, nach der Stadt zurückzugelangen. Sie suchte dabei die boshaften Bemerkungen zu überhören, welche in fremdländischer Zunge von den Mädchen über die »schöne Amazone«, wie sie Adelheid nannten, ergingen. Überdies forderte der Zustand der Toilette der Reiterinnen sie zum Spott heraus. Metella erschien ohne Hut, das Kleid zerrissen; Adelheid entdeckte erst durch die Bemerkungen der Mädchen, daß auch ihr Gewand in üblem Zustande war.
Die andere Gesellschaft hatte von besserem Glück zu sagen. Auch sie war hinausgefahren, um auf das Fest einen Blick, wenn auch nur der Lustigmacherei, zu werfen. Bei guter Zeit ausgerückt, beschlossen sie auszusteigen, um noch einen Waldspaziergang zu machen und ihren Wagen am Zielpunkte wieder zu treffen. Bei dem ausbrechenden Gewitter konnten sie sich noch trocken unter Dach flüchten, wo sie die Lage scherzhaft genug nahmen.
Das Wetter aber tobte ohne Unterlaß fort. Bei jedem Blitz- und Donnerschlag kreischten die Mädchen laut auf, um hinterher in ein schallendes Gelächter auszubrechen. Dazwischen suchte die Frau des Waldhüters ihr schreiendes Kind zu beruhigen, während die jungen Herren ein herausforderndes Spiel mit einem großen Hunde trieben, dessen Gebell das Hauskonzert noch ohrenzerreißender machte. Metella, in Verzweiflung und einer Ohnmacht nahe, saß am Fenster, während Adelheid, neben ihr stehend, in das Regengeriesel hinausblickte.
Die fremdländisch redende Gesellschaft wurde mit der Zeit doch ungeduldig. Und da der Regen, schnell wie er gekommen, aufhören zu wollen schien, hatte man Lust aufzubrechen. Da man von dem Wirte erfuhr, daß es von seiner Wohnung nicht weit nach dem Adlershorst sei, wollte man diesen überreden, den Wagen von dort holen zu lassen. Aber daran war nicht zu denken. Kein Kutscher aus der Stadt würde sich dazu verstehen, hierher zu fahren, behauptete er; eher wolle er den ihrigen nach dem Punkte der großen Straße bestellen, wo sie ausgestiegen waren. Adelheid gab ihm noch den Auftrag, sich zu erkundigen, ob Damen und Herren zu Pferde dort angelangt seien, und in diesem Falle zu melden, daß sie selbst fürs erste geborgen wären. Sie schrieb ihren und Metellas Namen auf ein Stück Papier, welches sich vorfand, indem sie dem Waldhüter noch einschärfte, nachzufragen, ob in irgend einem Wagen Plätze für sie zu finden wären.
Während die vier Fröhlichen bereits vor die Tür traten, die nassen Waldwege betrachteten, in welche sie sich bald wagen sollten, den Hund unter Geschrei und Gelächter durch Wasserlachen und Pfützen apportieren ließen und mehr dergleichen anmutige Possen trieben, saßen Adelheid und Metella allein in der Stube. Beide in gedrücktester Stimmung über ihre eigene Lage, dazu in Besorgnis über das Schicksal der zerstreuten Festgenossen. Denn Adelheid, die den Grafen Lindberg hatte stürzen sehen, vermutete Schlimmeres, während Metella an ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit gerade genug hatte, um endlich in Tränen auszubrechen.
Nach Verlauf einer Stunde kehrte der Waldhüter zurück mit der Botschaft, daß der Wagen für die vier Vergnügten bereits unterwegs sei, um die Gesellschaft an ihrem Aussteigepunkte auf der großen Fahrstraße zu erwarten. Von den Berittenen sei niemand angelangt, auch kein einziges Fuhrwerk mehr am Orte, doch habe er den Zettel für alle Fälle zurückgelassen.
So konnten denn die eleganten Jünglinge mit ihren Damen die Hütte verlassen, bald über Wasserlachen des Weges springend oder fehltretend, immer unter Gelächter und Geschrei, mit denen sie den Wald erfüllten.
Die Freundinnen atmeten auf, als sie sich endlich von dieser Gesellschaft befreit sahen. Aber sie empfanden doch nur eine augenblickliche Erleichterung ihrer Lage. Sie mußten daran denken, einen Wagen aus der Stadt holen zu lassen, denn zu Pferde konnten sie nicht zurückkehren. Der Waldhüter, welcher bereits einen guten Botenlohn von den verschwenderischen jungen Herren empfangen hatte, stellte sich freiwillig den Damen für den Gang nach der Stadt zur Verfügung.
»Da kommen noch zwei!« rief die Frau des Waldhüters, welche, ihr Kind auf dem Arme, durch das Fenster blickte. Zwei Männer unter Regenschirmen wurden zwischen den Baumstämmen sichtbar.
»Holmar –!« rief Adelheid mit einem Ausdruck der Stimme, daß Metella überrascht in ihr Gesicht sah. Sie blickte in Züge, die von Freude verklärt, in Augen, die von innerem Glück erleuchtet waren. Es durchzuckte Metella, denn ihr weiblicher Scharfblick machte eine Beobachtung, die sie nimmermehr erwartet hatte. Sie liebt ihn! Das war ihr plötzlich klar geworden, und ein scharfes Gefühl von Eifersucht und Feindseligkeit ging durch das Herz der jungen Frau. Adelheid war hastig der Tür zugeschritten, um Holmar zu begrüßen. Schnell aber wendete sie sich und stellte sich so, daß sein erster Blick auf Metella treffen mußte. Es geschah. Diese, obgleich in den letzten Tagen nicht gut auf ihn zu sprechen, schritt ihm schnell und freundlich entgegen, ihm dankend für die Hilfe, welche er zuversichtlich bringe. Er bestätigte, daß er einen Wagen für die Damen bereit halte, und stellte seinen Freund Gebhart vor, der sich bescheiden zurückgehalten hatte.
Es ist noch kurz zu erzählen, wie Holmar zu einer Kenntnisnahme des verunglückten Festes gelangt war. Von der Reitpartie hatte er nichts gewußt, da er, mit Gebhart in ganz anderem Gedankenkreise lebend, sich um das Treiben der eleganten Welt nicht bekümmerte. Zufällig befand er sich zur Stunde des ausbrechenden Gewitters mit Gebhart in der Nähe des Kurhauses, in welches sie sich noch flüchten konnten. Hierher gelangten Schlag auf Schlag die Nachrichten, durch welche er von dem Feste erst erfuhr, zugleich daß Adelheid und Metella dabei beteiligt waren. Da hatte man nun zuerst ein lediges Pferd versprengt hereinkommen sehen. Dann eine einzelne Dame, um noch in den Anlagen mit ihrem Tier zu stürzen und halbtot in den Kursaal getragen zu werden. Dann folgten heimkehrende Wagen voll geängstigter Gesichter und zerstörter Toiletten. Zwischen Donner und Hagelschauer ein Paar Reiter ohne ihre Damen, fortgerissen von ihren durchgehenden Pferden. Dann wieder ein Trupp von Reitern, und Wagen auf Wagen, deren Insassen es vorgezogen, vor dem Zielpunkte umzukehren – denn an die Freude im Grünen, zwischen Leinwandzelten, war doch nicht mehr zu denken. Holmar eilte in Adelheids Wohnung. Die Damen waren nicht zurückgekehrt. Unruhig wartete er eine Weile, bald aber trieb es ihn wieder hinaus. Die Gewitter schienen sich entladen zu haben, aber der Regen strömte noch ausgiebig nieder. Holmar beschloß einen Wagen zu nehmen und mit Gebhart nach dem Adlershorst zu fahren. Dort angelangt, fanden sie Adelheids Angabe, daß sie sich in der Hütte des Waldhüters befänden, wohin Gebhart, der hier die Gegend genau kannte, den Führer machen konnte.
Die Damen durften es sich jetzt nicht verdrießen lassen, den nassen Fußweg durch den Wald bis zu seiner Mündung in die Fahrstraße zu Fuße zurückzulegen, und sie waren schnell dazu bereit, innerlich schon erleichtert durch die unverhoffte Hilfe. Holmar war unterwegs sehr aufmerksam gegen Metella, welche um seinen Arm bat und sich zu größerer Heiterkeit, als sie empfand, zu zwingen wußte. Auch im Wagen konnte er sich nur mit ihr unterhalten, da Adelheid stumm und verschlossen dasaß und ihre Züge sich mehr und mehr verschärften, je mehr sich Metella in erkünsteltem Scherz erging. Holmar richtete einen besorgten Blick auf sie und fragte, ob sie ein Unwohlsein empfinde. Sie verneinte es, und es durchschauerte sie doch, als ob sie eine schwere Lüge gesägt hätte.
Es dunkelte bereits, und es war Zeit, daß man nach Hause gelangte, denn den Frauen wurden die durchnäßten Gewänder empfindlicher. Metella reichte, nachdem sie ausgestiegen, Holmar die Hand, dankte für die Hilfe und schlüpfte in ihre Gemächer. Adelheid wollte das gleiche tun, wurde aber durch Holmar zurückgehalten »Nicht einmal die Hand reichen Sie mir?« sagte er. »Warum begegnen Sie mir mit so absichtlicher Kälte?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann entgegnete sie mit lebhaft erregtem Tone: »Es ist nicht Kälte, sondern Unbeholfenheit meiner Natur! Ich tadele mich selbst, eine Torheit begangen zu haben, und verstehe Ihre Mißbilligung, daß ich mich in eine Gesellschaft begeben habe, in die ich nicht gehöre. Es ist ein Glück, daß ich dabei zu Schaden gekommen bin!«
»Ich habe nichts zu mißbilligen, Adelheid, was Sie tun,« sagte Holmar. »Und wenn ich es täte – was brauchen Sie darauf Gewicht zu legen? Sie haben sich nach Ihrem Wesen und Charakter Ihr Leben bestimmt vorgezeichnet, so daß ich nur respektieren kann –«
»Hüten Sie sich vor Unwahrheiten!« rief sie nur noch erregter. »Respekt vor meinem Denken und Handeln? Vor meinem Charakter? Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie davon nichts empfinden! Wenn Sie nicht einmal mehr Tadel, nicht einmal Mißbilligung für meine Torheit fühlen, dann ist Gleichgültigkeit an die Stelle Ihrer Freundschaft getreten, und Sie beleidigen mich durch Heuchelei, wenn Sie noch den besorgten Freund spielen!« Der Ausdruck der Sprecherin hatte etwas geradezu Leidenschaftliches angenommen, wie Holmar noch nie bei ihr erkannt hatte. Sie fühlte es, erschrak über sich selbst und eilte an ihm vorüber in ihr Zimmer.
Holmar ging nachdenklich nach Hause. Sie entfaltet immer neue Seiten, dachte er, und ist eine noch reicher angelegte Natur, als ich in ihr zu kennen glaubte. Das neu entdeckte leidenschaftliche Wesen konnte ihm nicht mißfallen, da es ihre Neigung zu ihm deutlich genug verriet. Er glaubte sogar herauszufühlen, daß ein Zug von Eifersucht gegen die schöne Freundin dabei mitspiele. Aber Holmar war nicht der Mann, eine kleine Intrige anzuspinnen, um, was er liebte, zu quälen und dadurch den Widerstand zu brechen. War er höflich gegen die schöne Frau gewesen, so lag ihm ganz fern, ihr den Hof zu machen, ihr lügnerisch zu huldigen, während der Freundin seine Gedanken und Empfindungen gehörten. Er fühlte, daß sie seinem Dasein notwendig geworden. Was ihm seine verstorbene Gattin niemals hätte bieten können, Gleichartigkeit der geistigen Interessen, eine innere Gemeinsamkeit im höchsten Sinne, das trat ihm in der Jugendfreundin entgegen, und darauf verzichten zu sollen, erfüllte ihn mit quälendem Schmerz. Die Verstorbene war fast noch ein Kind, als er sie zum Altare geführt, und blieb es während der fünf Jahre, da er mit ihr glücklich gewesen. Auch seine Jahre gehörten damals noch dem Jünglingsalter an, und er entbehrte noch nichts dabei, wenn sie von seinen Arbeiten und seinen Studien nichts wissen wollte. Oder war er wirklich einmal ein wenig ungehalten, daß sie auch gar keinen Sinn für sein Innenleben hatte und nur ihr eigenes kleines spielerisches Dasein gelten ließ, so war doch der Unwille schnell vorüber, denn ihr Wesen war gar zu reizend, und er liebte sie von ganzem Herzen. Inzwischen hatte sich sein eigenes Wesen vertieft, sein Geist bereichert, und bei dem ersten Wiedererscheinen Adelheids wußte er, daß er in ihr die ebenbürtige Seele gefunden, deren er für sein ferneres Leben bedurfte. Wie hätte er sich mit dem Gedanken befreunden mögen, von ihr zurückgewiesen zu werden?
Inzwischen hatte Adelheid sich schnell und umsichtig in andere Kleider geworfen. Sie fürchtete nicht, durch das Abenteuer in Wind und Regen körperlich Schaden genommen zu haben, denn sie hatte von Jugend auf ärgere Stürme ertragen gelernt, war immer gesund geblieben und nie anders als gesund gewesen. Um so ängstlicher fühlte sie sich im Gemüt ergriffen. Wenn sie in der Hütte des Waldhüters durch einen einzigen Ausruf ihre Leidenschaft verraten hatte, so empfand sie, daß Metella ihr zugleich mit raschem Blick auf die Spur gekommen war. Und sie konnte es sich nicht mehr verhehlen, daß die immer bekämpfte Neigung zu einem leidenschaftlichen Sturm in ihrer Seele erwachsen war. Hoffnungsloser, so glaubte sie, je später es geschah, und je mehr sie selbst getan, den Freund von sich abwendig zu machen. Und als sie nun die Aufmerksamkeit ansehen mußte, mit welcher Holmar für Metella allein besorgt zu sein schien, sagte sie sich wieder: Da ist es, das immer Gefürchtete! Wo die Schönheit in meiner Nähe erscheint, gibt sie mir den Todesstreich! Nur für sie wird der Mann Augen haben! Die arme Eule mag ihren Flug wie immer vereinsamt durch die Welt richten! Und ist es ihm zu verargen? Habe ich nicht zweimal die gute Meinung seines Herzens zurückgewiesen! Mit elenden, aufgeputzten, leeren Verstandesworten – zweimal zurückgewiesen! Wenn er sich jetzt von mir wendet und das Schönere für sich begehrt, wie darf ich ihn tadeln? Und dennoch – die Verstandesgründe wollten eben auch dafür bei Adelheid nicht mehr Stich halten. Ein Strom von Tränen brach aus ihren Augen, sie fühlte sich in ihrem ganzen Wesen erschüttert.
Nach einiger Zeit trat die Aufwärterin ein und brachte die Nachricht, daß Metella krank sei, und man nach dem Arzte geschickt habe. Adelheid nahm ihre Fassung zusammen und beschloß hinüberzugehen.
Metella fühlte sich durch die erlittenen Anstrengungen körperlich wie gelähmt und lag, in warme Decken gehüllt, auf dem Sofa. Aber ihre Erschöpfung hinderte sie nicht vor aufregenden Gedanken. Daß Adelheid Holmar liebte, konnte ihr nicht unerklärlich erscheinen, aber sie grollte sich selbst, daß sie diese Neigung nicht früher entdeckt, sie grollte noch mehr, daß Adelheid sich damit vor ihr mit so viel Kunst versteckt hatte. Wenn sie dafür Holmars Aufmerksamkeit mit seiner Koketterie auf sich selbst zu lenken suchte, so erschien ihr dies vorerst als eine ganz berechtigte Strafe. Daß dieser Mann die Neigung einer Person wie Adelheid erwidern könne, war ihr ganz unwahrscheinlich – und doch machte ihr die Frage zu schaffen. Er gefiel ihr, und sie war Weltkind genug, für sich erobern zu wollen, was ihr gefiel. Unbekannt mit allem, was zwischen beiden sich bereits abgespielt, unbekannt mit einer vertiefteren Herzensneigung, gewohnt an nur oberflächliches Hinleben auch der Empfindungen, wollte sie ein Interesse nicht aufgeben, dem sie nun einmal Wert beigelegt hatte. Sie schätzte Adelheid aufrichtig, aber der Hoffnung, einen Triumph über sie zu feiern, konnte sie doch nicht entsagen. Ohne Adelheid als Nebenbuhlerin zu fürchten, war sie doch eifersüchtig auf sie, daß sie liebte, wo sie selbst – aber nein, diesen Schluß machte Metella eigentlich doch nicht! Denn ob sie diesen Mann liebe, so ernstlich liebe, daß sie für das Leben ihm hätte gehören mögen, die Frage lag noch außer dem Bereich ihres Denkens.
Adelheid trat ein, zugleich mit dem Arzte. Er zeigte sich über das verunglückte Fest unterrichtet, hatte sogar einige der dabei zu Schaden Gekommenen bereits in seiner Behandlung. Manches konnte er erzählen, was den Frauen bisher unbekannt geblieben. Ein eigentlich schweres Unheil sei noch glücklich verhütet worden, nur daß der russische Herr eine Rippe gebrochen und Graf Lindberg sich ein wenig am Fuße verletzt habe. An Folgen von Erkältung könne bei den kühnen Reiterinnen wohl hier und da noch etwas in Aussicht stehen. Metellas Zustand erklärte er für unbedenklich, verordnete ein leichtes Präservativ und riet ihr, zu Bette zu gehen. Nachdem er sich empfohlen, tauschten die Freundinnen nur wenige Worte. Sie hatten einander heut' nichts zu sagen und trennten sich.
Auf den schweren Gewittertag folgte eine Nacht, bald verdunkelt durch zerrissene Wolkenbildungen, die als Nachzügler dem Hauptheer hastig folgten, bald von Sternen wieder durchglänzt, wie in der Menschen Träumen und Gedanken Finsteres und Freundliches miteinander wechselt. Frisch und kühl war der Morgen, und der Sonnenschein begann die letzten Spuren des Regens von den Gartenbäumen zu tilgen. Auch heut' schritt Adelheid schon früh durch die Kiesgänge, da Metella und Boso noch schliefen. Sie war, wie immer um diese Zeit, ungestört mit ihren Gedanken.
Da trat ein Bote zu ihr, welcher ihr einen Brief überreichte. Sie nahm ihn – und ein freudiger Schreck durchzuckte sie. Der Brief trug das Eulensiegel! Das beglückende Zeichen, unter dem sie in ihrer Jugend eine Fülle von Beseligung empfangen! Wie oft hatte sie Briefe mit dem Eulensiegel in den fernsten Gegenden von der Post geholt, Briefe, die sie nicht verbarg, noch zu verbergen brauchte! Heut' war es ihr wie einem siebzehnjährigen Mädchen, welches den ersten geheimnisvollen Brief empfängt, der streng verhehlt und nur bei verschlossener Tür erbrochen werden darf. Sie eilte in das entlegenste Boskett des Gartens, um ihn zu lesen. Holmar schrieb: »Wenn Sie diese Zeilen empfangen, bin ich bereits unterwegs, da ich nach M. reise, wo ich möglicherweise eine Woche bleiben muß. Meine Kinder sind zwar in der Familie Gebhart wohl aufgehoben, dennoch wäre es mir tröstlich, wenn Sie einmal nach ihnen sehen wollten. So viel, hoffe ich, werde ich als alter Freund von Ihnen noch erbitten dürfen. Auf Wiedersehen.«
Adelheid fühlte sich wie berauscht durch diese Zeilen, in welchen doch nicht viel stand. Aber er sprach von Wiedersehen! Noch niemals hatte sie einen Brief Holmals an die Lippen gedrückt, heut' tat sie es mit einem Gefühl der Dankbarkeit, der Freude, wie sie kaum noch empfunden hatte. Bald war sie gerüstet, im Hause Gebhart ihren Besuch zu machen und die Kinder zum Spazierwege mit sich zu nehmen.
Metella erhob sich gegen Mittag, sie fühlte sich nicht gerade unwohl, aber matt und verstimmt. Sie fragte, ob Besuch dagewesen sei. Nur Graf Lindberg hatte fragen lassen, wie sie sich befinde, und seinen Besuch in Aussicht gestellt, sobald sein Zustand es erlaube. Sonst war niemand dagewesen – Metella wunderte sich darüber. Adelheid kam zu Tische und schien recht heiter, worüber Metella noch verdrießlicher wurde.
Auch in den nächsten Tagen ging Adelheid ihrer Wege, ohne über Gehen und Kommen Rechenschaft zu geben. Sie brauchte es nicht, Metella aber empfand es wie eine Beleidigung, daß sie es nicht tat. Doch wußte sie sich Zwang anzulegen und schwieg. Mehrere Tage vergingen. Die Freundinnen, welche ganz unabhängig voneinander lebten, sahen sich wohl bei Tische, konnten es aber zu einer Unterhaltung, wie sie sie sonst geführt hatten, nicht bringen.
Am vierten Tage erschien Graf Lindberg, noch mühsam am Stocke gehend. Er sprach seine Beschämung aus über das verunglückte Fest, von der Verzweiflung der Unternehmer, die sich für das Mißlingen gleichsam verantwortlich fühlten. Er war allein mit Metella, sprach artig und gewinnend, und die junge Frau konnte nicht verkennen, daß er auch wohl noch wärmer zu sprechen beabsichtigte. Boso kam hereingesprungen, und auch mit ihm wußte sich der Graf in liebenswürdiger Weise abzugeben. Er bat um den Besuch des Knaben, und Metella mußte die gute Kameradschaft gestatten.
Als aber Metella am sechsten Tage der meldenden Dienerin lebhaft entgegensah und wie alle Tage hören mußte: Graf Lindberg gebe sich die Ehre, diese Rosen zu senden – Graf Lindberg bitte um die Erlaubnis, Boso da und dorthin mitnehmen zu dürfen – Graf Lindberg lasse fragen, ob die gnädige Frau – da verlor Metella die Geduld, und sie mußte sich wieder sagen, solch eine Aufführung wie die des Professors Holmar sei denn doch skandalös! Zu Mittag, als die Freundinnen ohne den Knaben (er war mit dem Grafen zu einem Vogelschießen in die Nachbarschaft gefahren) zu Tisch saßen, ließ Metella einige recht spitze Bemerkungen gegen die gute Lebensart der Herren Gelehrten fallen. Adelheid verstand sofort, brachte das Gespräch auf Holmar und erklärte, daß er nicht wie andere nur um gesellschaftlicher Zerstreuungen, sondern um wissenschaftlicher Beziehungen willen hierher gekommen sei, welche ihn auch bereits auf eine neue Reise fortgeführt hätten. Das letzte glaubte Adelheid getrost hinzufügen zu können, da sie einen solchen Zweck seines Ausfluges mit Bestimmtheit annahm.
»Verreist?« rief Metella überrascht. »So, so! Hat er Sie davon benachrichtigt?«
»Brieflich, ja!« entgegnete Adelheid. »Zugleich mit der Bitte, mich seiner Kinder anzunehmen. Ich tue das gern und gehe täglich mit ihnen ins Freie.«
Metella erwog im stillen, ob es ihr lieber gewesen, wenn er ihr die Kinder empfohlen hätte, und sie kam schnell zu der Überzeugung, daß es ihr schrecklich gewesen wäre, die beiden in Buben verkleideten Mädchen viel um sich zu haben. Adelheid eignete sich besser zur Aufseherin, das mußte sie eingestehen. Und als die Freundin sie aufforderte, sie auf ihrem Nachmittagsspaziergang mit den Kindern zu begleiten, dankte Metella, da sie Briefe schreiben wolle.
Das tat sie freilich nicht, obgleich sie sich sehr zu langweilen anfing. Da blieb nichts übrig, als einen Besuch zu machen. Schon war sie gerüstet, als sie durch die Gartenpforte jemand eintreten sah, der ihr vorkam, als müßte sie ihn schon einmal gesehen haben. Es war Herr Gebhart, welcher, nähertretend, sich ihr noch einmal vorstellte. Sie bat um Entschuldigung, ihn nicht gleich erkannt zu haben, und da es ihr in diesem Augenblicke von Interesse war, sich mit ihm einmal zu unterhalten, nötigte sie ihn, unter der Veranda Platz zu nehmen. Die schöne Frau war so artig, daß Gebhart sich durch sie lebhaft angeregt fühlte. Und als nun selbstverständlich die Rede bald auf Holmar kam, ließ er seiner Freundschaft, Verehrung, ja Bewunderung desselben die Zügel schießen. Er schilderte das Leben, Streben und Arbeiten des Freundes: wie er ganz und gar der Wissenschaft angehöre, wie nur diese allein Interesse für ihn hätte; wie das Leben und Treiben der Welt ihm gar nichts gelte, Gesellschaften ohne Wert für ihn seien, wie die Studien sein ganzes Innere ausfüllten. Die Nächte hindurch zu arbeiten, sich mit ein paar Stunden Schlaf zu begnügen, dann von früh bis spät seiner Lehrtätigkeit anzugehören, das sei ihm leicht und mache sein ganzes Glück aus. – So fuhr Gebhart fort, die großartige Weltverachtung und reine Gelehrtennatur des Freundes immer höher steigernd. Freilich ging er viel weiter, als er verantworten konnte, und zeichnete ein Bild des von ihm Bewunderten, über welches dieser vielleicht gelacht haben würde. Aber in seiner Hochachtung für die Bedeutung desselben verstand er sich für die Schilderung nur auf diejenigen Züge und Eigenschaften, die ihm selbst als die höchsten und verehrungswürdigsten erschienen. Metella verfolgte seine Rede mit Erstaunen, und ein Lächeln des Mitleids ging durch ihr Antlitz. »Aber verzeihen Sie, gnädige Frau,« begann Gebhart wieder, »mein Besuch galt eigentlich Fräulein Pistorius.« Metella erhob sich freundlich und benachrichtigte ihn, daß Adelheid ausgegangen sei. »O, dann kann ich es auch wohl an Sie ausrichten, gnädige Frau!« sagte Gebhart. »Holmar schreibt mir, er werde möglicherweise ein paar Tage länger ausbleiben, ich solle inzwischen mich einmal nach Fräulein Pistorius erkundigen und ihr einen Gruß bringen.«
Herr Gebhart war kein Diplomat, noch auch sich einer diplomatischen Sendung bewußt. Er kannte nicht die älteren Beziehungen Holmars zu Adelheid, er kannte die letztere nur als die angenehme und gelehrte Dame (als solche hatte der Freund sie ihm bezeichnet), welche täglich aus seinem Hause Holmars Kinder zum Spaziergang abholte. So konnte er ja wohl der schönen Frau, die er schon in der Gesellschaft des Fräulein Pistorius gesehen hatte, seinen Auftrag anheimgeben. Sie versprach ihn auszurichten, und entließ ihn freundlich herablassend.
Metella machte den beabsichtigten Besuch fürs erste nicht, sondern zog es vor, sich eine Weile allein in dem engeren Bereiche des Gartens zu ergehen. Die Schilderung eines Gelehrtenlebens, wie sie sie eben empfangen, machte sie nachdenklich. Es erschien ihr unsagbar dürftig, arm, farblos und in keinem Sinne anziehend. Ein solches Dasein teilen zu müssen – die Aussicht hätte etwas Grausenerregendes für sie gehabt. Und merkwürdig war ihr, daß ein so stattlicher Mann sich in solcher Staub- und Moderluft wohl fühlen, daß er darin gedeihen konnte. Und sie kam mittlerweile zu der Ansicht, daß dieser Mann auch sonst wohl einen schlechten Geschmack haben möge. Daß seine Beziehung zu Adelheid auf etwas mehr als bloßer Jugendfreundschaft beruhen müsse, wurde ihr immer deutlicher. Zwar regte sie es auf, daß sie seinen ersten Besuch und seine Hilfe beim Gewitter in erster Reihe auf sich selbst bezogen hatte, aber je mehr sie die Dinge betrachtete, kam sie zu der Überzeugung, daß sie sich eine Blöße doch eigentlich nicht gegeben. Das bißchen Koketterie verstand sich ja von selbst. Etwas davon konnte man auch einmal an einen Gelehrten oder Schulmeister wenden. Überdies war Metella im Innersten doch eine gutmütige Seele. Wenn Adelheid glücklich werden konnte, warum sollte sie es ihr nicht gönnen? Und warum sollte es denn nötig sein, daß Adelheid nur einen mordhäßlichen oder uralten Mann heiratete? Sie fühlte plötzlich wieder herzliche Neigung für die Freundin und beschloß, sich ihrer Sache anzunehmen.
Metellas Mädchen kam mit einem resedafarbigen Billett, welches der Jäger des Grafen Lindberg, der zugleich Boso zurückgebracht, übergeben hatte. Der Graf bat sich die Erlaubnis aus, ihr am anderen Morgen seine Schwester, die Stiftsdame von A., welche vor einer Stunde angekommen, vorzustellen. Metella gab die Zeit an, wo sie zum Empfang der Gäste bereit sein werde, und hörte darauf dem Geplauder Bosos zu, welcher Wunderdinge zu erzählen hatte. Tags darauf aber schmückte sie sich zum Empfang des Grafen und der Stiftsdame auf das sorgfältigste und schönste und sah bezaubernd aus.
Eine Woche war nach der Abreise Holmars vergangen. Jeden Tag wanderte Adelheid mit den Kindern in den Wald. Dort lagerte man sich an einsamen Stellen, sie erzählte Geschichten, hatte auch wohl ein Buch bei sich, aus welchem sie eine hübsche Geschichte lesen ließ oder selbst vorlas. Man sammelte Blumen, jagte und tummelte sich, und Adelheid war von diesen Genüssen so beglückt, daß sie die Stunde oft ungeduldiger erwartete als die Kinder. Heut' aber führte sie ihre Pfleglinge zu einem besonderen Festtage hinaus, denn es war ein in ihrem Leben unvergeßlicher Jahrestag. Sie hatte sie für den ganzen Tag mitgenommen. In einer Mühle gab es ein einfaches Mittagsmahl, und Wiesen, Wald und Hügel lagen in erquickender Stille. Auf einer Anhöhe am Waldessaum sitzend, blickte sie über das anmutige Bild, während die Kinder den Anger hinuntergesprungen waren, da es am Wiesenrande schönere Blumen gab, denn sie wollten einen Kranz winden.
Adelheid ließ die Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Heut' war die Wiederkehr des Tages, da sie mit Holmar zuerst in Sturm und Schneegestöber auf Alpenhöhen zusammengetroffen war, des Tages, den sie als den Wendepunkt ihres ganzen inneren Daseins betrachtete. Er war ihrem Leben ein Festtag, den sie im stillen immer gefeiert hatte, selbst in Zeiten, da sie hart und streng gegen sich mit Freuden und Hoffnungen gebrochen zu haben glaubte; es war der Geburtstag ihres Gemütes, der ihr nicht aus der Erinnerung kam. In wie verschiedenen Gegenden der Welt, in welchen Lebenslagen, in welchen Stimmungen hatte sie ihn schon gefeiert! Immer älter fühlte sie sich geworden, unendlich weit schien jenes erste Erlebnis in die Vergangenheit zu rücken! Gescholten und getadelt hatte sie sich, daß an diesem Festtage ihre alten Empfindungen immer noch erwachen wollten, während sie sich das ganze Jahr über dagegen gesichert glaubte. Heut' schalt und tadelte sie sich nicht und lebte getrost ihren Erinnerungen. Gescholten und getadelt hatte er sie, daß sie ihr inneres Leben freventlich zerstöre durch Härte gegen sich selbst, und sie atmete auf bei dem Gedanken, daß er es anders verlange, daß sie nicht alt, daß sie noch jung sein sollte! Wie war es nur möglich gewesen, fragte sie sich selbst, sich immer so alt zu fühlen? Heut' war ihr jung zumute, von Herzen jung; jung für die Kinder, jung für sich selbst und jung – nun jedenfalls für Gottes schöne Welt! Und wie sie da saß, heiter um sich blickend, sah sie auch aus wie ein junges Mädchen.
Da erhoben die Kinder von der Wiese her ein Freudengeschrei und kamen den Hügel herauf. »Titus! nicht so laufen!« rief eine männliche Stimme hinter Adelheid, deren Klang sie freudig durchschauerte. Sie sprang auf und schritt Holmar entgegen, der von der Mühle hergekommen war. Er schüttelte ihr herzhaft die Hand und umarmte seine Kinder, von welchen er den eben fertig gewordenen Kranz zum unverhofften Willkommen empfing. Nachdem er sich hatte berichten lassen, wie sie inzwischen gelebt, und selbst einige kurze Mitteilungen über seinen Ausflug gegeben, sagte er: »Und nun, Titus und Puck, geht nach der Mühle und bestellt uns ein Abendessen! Helft der Frau Müllerin ein wenig dabei! Wir kommen bald nach!« Die Kinder sprangen davon, er aber fuhr fort: »Einen Augenblick lassen Sie uns noch rasten!« Er lagerte sich auf das blühende Heidekraut am Abhang. Adelheid nahm zwei Schritte von ihm auf einer Rasenstufe Platz. Der Kranz lag zwischen ihnen.
»Adelheid!« begann er, »wissen Sie, was heut' für ein Tag ist?«
»Der zwanzigste August,« entgegnete sie.
»Ja, aber für uns bedeutet er auch etwas! Heut' vor vierzehn Jahren sahen wir uns zum ersten Mal!«
»Holmar! Das haben Sie nicht vergessen?«
»Wie sollte ich! Und ist es nicht ähnlich heut' wie damals? Auf dem Hügel sitzen wir und blicken hinaus in die Landschaft. Wir hatten an jenem Tage schnell Bekanntschaft gemacht, wir waren sogar miteinander ein bißchen durchgegangen. Ich holte Ihnen Alpenrosen – wissen Sie noch?«
»Die Reste des Straußes bewahre ich noch heut', und den Tag feiere ich in jedem Jahre!«
»Die Erinnerung war mir stets geblieben,« sagte Holmar wie aus brütendem Nachsinnen heraus. »Aber neue Eindrücke verschleierten sie. Hier ist ein Geständnis unnötig, mein Handeln hat es bewiesen. Ich war zu jung und unstet, um innerlich schon etwas zu erfahren. Ich lernte nach Jahren diejenige kennen, welche mein Weib wurde, und ich liebte sie sehr. Ich verlor sie, und war sehr unglücklich!«
Holmar schwieg eine Weile, und Adelheid wendete ihr Gesicht nach der Seite, um ihre hervorquellenden Tränen zu verhehlen. Dann begann er von neuem: »Jahre vergingen, da kamen Sie in mein Haus als Hilfebringerin, als guter Geist. Sie brachten mir die Jugenderinnerungen wieder, Sie brachten mir mehr, viel mehr, und ich erkannte, daß ich durch Sie ein neues Leben, alles, alles empfangen konnte. Sie widerstrebten meinen Wünschen. Das war Klugheit und Stolz, Adelheid, aber Sie durften auch wohl noch klüger und stolzer sein. Es gibt auch eine Schönheit des Gemüts, welche die der äußeren Wahrnehmung nicht zu scheuen hat. Schönheit und Jugend! sind sie denn vergänglich? Wer beide empfindet, hat beide. Vierzehn Jahre sind vergangen, seit wir zum ersten Mal so zusammensaßen. Sind wir darum alte Leute geworden? Adelheid, ich glaube, wir sind noch sehr jung! Jung genug, um etwas zu wagen. Man wagt, wozu man die Notwendigkeit in sich fühlt. Ich sage Ihnen heute zum dritten Mal, daß ich Sie liebe und Ihre Hand begehre. Weisen Sie mich heute ab, so komme ich zum vierten Mal, zum fünften, sechsten Mal, und so lange, bis Sie die Überzeugung haben, daß ich nicht abzuweisen bin. Denn ich sage Ihnen, Adelheid, Sie müssen mein Weib werden – Sie müssen!«
»Holmar!« begann sie in tiefster Bewegung. »Ich glaube auch, daß ich es muß! Seit ich das Eulenzeichen aus unserer Jugend wiedersah, wußte ich, daß ich es muß! Nicht der Überredung weichend, nein, erweckt vom tiefsten Rufen in meiner Seele! Ja, ich bekenne es, grenzenlos elend wäre ich gewesen, hätte mir das Zeichen, das Sie mir nochmals gegeben, nicht eine Hoffnung übrig gelassen!«
Er sprang auf und bedeckte ihre Hand, die sie ihm darreichte, mit heißen Küssen. Dann nahm er den Kranz, setzte sich neben sie und drückte ihn auf ihr Haupt. »Nimm ihn!« sagte er. »Es ist meine erste Gabe – meine Kinder haben ihn gewunden, und ich – habe in dieser Stunde nichts Besseres!«
Adelheid zitterte vor Glücksgefühl, und der verklärte Glanz ihrer Züge gab ihr einen Ausdruck, daß sie mit Schöneren wetteifern konnte. »Es ist der erste Kranz, den ich trage!« entgegnete sie. »Ich will ihn behalten, da er deine erste Gabe ist. Aber er macht mich demütig in meinem Glücke – tief demütig!«
»Stolz will ich dich!« rief er. »Stolz darfst du sein, Adelheid!«
»So will ich es, Holmar! Stolz auf dich, auf mein Glück – mein unerhörtes Glück!«
Sie waren aufgestanden, und Adelheid schlang ihre Arme um den Hals des geliebten Mannes, der sie noch mit dem Entzücken des Jünglings umfing.
Am Waldesrande dahinschreitend, ließen sie im Gespräch an sich vorübergehen, was sie erlebt, was sie noch zu erleben hofften. »Eins versprich mir!« rief Adelheid; »meine erste Bitte!«
»Sie ist schon gewährt!«
»Laß die Kinder bald wieder aus der Hülle schlüpfen, die ihnen nicht gebührt! Sie sind ja nicht in der gleichen Lage wie ich, da ich in meiner Eulentracht mich von allem Weiblichen entfernen mußte; aber dennoch, laß sie wieder Mädchen sein!«
»Sie sind dein!« rief er fröhlich. »Erziehe sie! Kleide sie! Was du tust, wird das Richtige sein. Da kommen sie angesprungen! Wir zögern ihnen zu lange. So laß uns als glückliche Leute zusammen den Jahrestag unserer Erinnerung feiern, zugleich den Jahrestag unserer Vereinigung für alle Zeiten!«