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In diesen Tagen, welche nun schon in die zweite Woche hinüberreichten, ging dem jungen Mädchen ein Leben innerlich auf, ein Erwachen zu tausend neuen Anschauungen und Gedanken, ein Aufspringen immer neuer Quellen der Empfindung, der Freude, des Genusses, daß sie jetzt erst zu sehen, zu hören, zu lernen, zu denken anfing oder anzufangen glaubte. Wie eng war bisher der Kreis ihres inneren Teilnehmens, wie grau und öde diese innere Welt gewesen! Jetzt brachte ihr jeder Tag hundertfältig Neues. Denn Holmar gehörte dem Leben und der Lebenshoffnung, sein Wissen war nicht auf ein enges Gebiet beschränkt, sein Streben vielseitig, seine Aufmerksamkeit auf alles gerichtet. Er sah in Städten, Straßen, an Gebäuden und sonstigen öffentlichen Werken Dinge, an welchen sie sonst blöde vorübergesehen hatte; er kannte die Gesteine auf den Bergen, die Pflanzen in Tälern und auf Matten; er kannte die Geschichte des Volkes, er erkundigte sich nach Sitten, bürgerlichen und staatlichen Einrichtungen, er merkte auf sprachliche Wendungen und Eigentümlichkeiten. Sie hatte nicht gedacht, daß so Vielerlei und so Getrenntes in einem Kopfe vereinigt werden könne, und doch fühlte sie, daß viel davon mittlerweile auch in ihren Kopf schlüpfte. Sie verdankte ihm unendliche Belehrung, ohne daß er jemals die Miene machte, sie zu belehren. Was ihr reiche Anregung brachte, das warf er wie Gold aus einem Glückssäckel, ohne zu fragen, wer es fände; er tat es oft zwischen scherzendem Übermut und lustigem Gesang. Ihr ging ein glückseliges Leben im Gemüt auf, und sie mochte nicht daran denken, daß diese Gemeinsamkeit einmal aufhören werde.
Was Holmar betraf, so lag ihm nichts ferner, als sich etwa in Adelheid zu verlieben. Er würde über eine solche Möglichkeit gelacht haben, allein er dachte sie gar nicht. Er machte ihr nicht den Hof, wenn er aufmerksam und rücksichtsvoll gegen sie war. Er konnte ihr sogar viele Dienste nicht leisten, zu welchen er erbötig gewesen wäre, weil sie nicht gewöhnt war Dienste zu empfangen, manche Aufmerksamkeiten sogar ablehnte, weil sie nicht gelernt hatte, einen Wert darin zu sehen. Er kam in ein Vertrauensverhältnis zu ihr wie zu einer Schwester, wobei gemeiniglich die Frage, ob sie hübsch oder häßlich sei, gar nicht auftaucht; ja, mehr noch, Adelheid wurde ihm wie ein guter Kamerad, dem er in herzlicher Freundschaft ergeben war. Je mehr die ihm gemessene Reisezeit ablief, desto öfter kam er darauf zu sprechen, wie schade es sei, daß man sich trennen müsse; er aber war es doch, der den Vorschlag machte, in brieflichem Zusammenhang miteinander zu bleiben. Sie zögerte nicht, sondern sprach ihr Ja mit voller Zustimmung aus, und die jungen Freunde besprachen eifrig ihren Briefwechsel, der bei dem voraussichtlich dauernden Wanderleben von Vater und Tochter einiger Vorkehrungen bedurfte, selbst wenn man nicht daran dachte, ihn Herrn Pistorius zu verbergen.
Aber noch ehe die guten Tage vorübergingen, sollte Adelheid eine Mahnung empfangen, ihr Glück innerlich abzuwägen und die Schwingen ihrer Seele zu beschränken. Man näherte sich schon der Grenze der Schweiz, als am Ufer eines Sees, bei dem Landeplatze der Schiffe, Holmar sich angerufen hörte. Er eilte einer Gruppe von Herren und Damen zu, in welcher er Familien aus der Universitätsstadt, die er zuletzt besucht hatte, erkannte. Die Begrüßung war lebhaft, wie sie zu sein pflegt, wenn Bekannte sich unvermutet in der Fremde treffen. Zwei hübsche junge Mädchen in elegantem Reiseanzug zeichneten sich durch sehr lautes Sprechen, Lachen und etwas auffälliges Wesen aus. Holmar schien bei ihnen gut angeschrieben, und wurde eine Weile festgehalten. »Was für einer Eule haben Sie sich denn da angeschlossen?« fragte eine der Damen, ohne ihre Stimme sonderlich zu dämpfen. Holmar sprach alles mögliche Gute von seinen Reisegefährten, und fügte hinzu, daß Adelheid nicht nur geläufig Englisch, Französisch und Italienisch, sondern auch Lateinisch reden, sogar Griechisch lesen könne. Die Damen lachten; da läutete man vom Schiffe, und die bunte geräuschvolle Gruppe verabschiedete sich, um einzusteigen.
Wenn Adelheid sonst auf die Reisezüge um sie her wenig achtete, so war diesmal ihr Auge schärfer, ihr Gehör gespannter gewesen. Und so war ihr die Frage nach der Eule, der sich Holmar angeschlossen, nicht entgangen. Es gab ihr einen Stich durch das Herz, zumal sie die Schönheit der Mädchen erkannt und Holmars höfliches Wesen gegen sie beobachtet hatte. Gleich darauf kam der junge Mann zurück, nannte die Namen der von ihm Begrüßten und fügte halb lachend hinzu: »Wahrhaftig, ich mußte mich schämen über den Aufzug, in welchem ich den Damen unter die Augen trat! Meine Kleidung ist in abscheuliche Verfassung geraten.« Adelheid fühlte sich durch diese Worte befremdet, sogar etwas verletzt. Sie hatte bis dahin noch nicht gefunden, daß er in seiner Reisekleidung nicht gut aussähe, jetzt wurde sie durch ihn belehrt, daß er vor jenen schönen Tagvögeln gern besser ausgesehen hätte, während er für sie, die häßliche Eule, auch in einem abgetragenen Anzuge sich immer noch gut genug gekleidet dünkte. Sie biß die Lippen aufeinander, denn neben einem schmerzlichen Gefühl stand etwas von Trotz in ihr auf. Sie überließ Holmar dem Gespräch mit dem Vater, und ging in brütender Stimmung hinter ihnen her. Plötzlich kam sie zu innerer Ermannung. Was soll das in mir? fragte sie sich. Ist nicht das ganz Selbstverständliche vorgegangen? Haben wir in unserem abscheulichen Aufzuge ihm nicht ein Recht gegeben, gering zu denken von unseren Anforderungen an äußere Erscheinung? Und was kann er dafür, wenn ein paar hübsche Mädchen ihn anlachen? Daß sie mich eine Eule nennen, ist auch zu begreifen. Aber habe ich nicht dankbar zu sein, daß er die Begleitung der häßlichen Eule nicht verschmäht? Dieser innere Vorgang machte ihr so viel zu schaffen, daß sie beschloß, offen mit ihm darüber zu sprechen. Und kurz darauf, als sie sich auf einige Minuten mit ihm allein sah, begann sie: »Was sagte die schöne junge Dame doch von der Eule, der Sie sich angeschlossen haben?«
Holmar sah sie an, und ein Bedauern ging durch sein Gemüt, daß das Mädchen dergleichen hatte hören müssen. »Wir dürfen solche Reden dem glänzenden Alltagsvolk nicht übelnehmen,« sagte er. »Unsereins dient ihm immer nur zum Spott.«
»Sie auch?« fragte Adelheid, indem sie ihn ungläubig von der Seite ansah.
»Ich auch,« entgegnete er. »Als ich um meiner Subsistenz willen den jüngeren Kindern des Professors Unterricht gab, behandelte mich Fräulein Rosalie nur mit hochnäsiger Herablassung. Ich tat es ihr gleich, und als sie es zu weit trieb, gab ich es ihr gründlich zurück. Seitdem lacht sie mit mir, aus allem aber hört man den Spott heraus. Können Sie sich denken, daß diese Rosalie schon einunddreißig Jahre alt ist? Schon zweimal war sie verlobt – entweder hält es keiner mit ihr, oder sie hält es mit keinem aus. Man fürchtet sie wegen ihrer bösartigen Zunge. Gelernt hat sie wenig, aber sie ist gescheit wie der Teufel. Wie oft hat sie mich einen langweiligen Philister genannt! Von ihr als eine Eule bezeichnet zu werden, kann Ihnen nur zur Ehre gereichen. Denn« – fuhr er munter fort – »ist die Eule nicht der gefiederte Bote und Begleiter der Athene? Wir gelehrten Nachtwächter sollen mit der grauen Freundin, unserer Schutzpatronen, gute Freundschaft halten. Eine Eule darf etwas ganz Ehrwürdiges für uns sein!«
»Ja, das ist auch wahr!« rief Adelheid plötzlich ganz vergnügt. »Ich will mich gern selbst als Eule fühlen, und – o, ich weiß etwas Lustiges! Ich lasse mir ein Petschaft stechen mit einer Eule und siegele damit alle meine Briefe!«
»Ja!« rief Holmar. »Und Sie müssen mir gestatten, daß ich mir das gleiche Zeichen wähle! Dann mögen die Eulen ihren Flug unterwegs kreuzen! Ich habe Ihre Handschrift noch nicht gesehen, mit dem ersten Eulensiegel werde ich sie begrüßen und kennen lernen!« Die jungen Leute wurden sehr heiter bei diesem Plane, und Adelheid fühlte im stillen noch eine kleine Genugtuung. Sie empfand es tröstlich, daß »diese Rosalie« schon einunddreißig Jahre zählte, und es war ihr ganz recht, daß hinter ihrem lachenden Wesen nur eine Verspottung des Freundes verborgen sein sollte, obgleich sie, um dieses Spottes selbst willen, die Dame sehr tief in ihrer Achtung herabsetzte.
Der Tag der Trennung kam heran. Adelheid hatte sich mit Fassung darauf gerüstet. Blieb ihr doch die Aussicht auf den brieflichen Verkehr mit dem Freunde. Und daß ein Wiedersehen ausgeschlossen sein sollte, das konnte sie sich nicht denken. Anders nahm Herr Pistorius den Abschied. Er war unwillig, daß derjenige ihn verlassen wollte, der vierzehn Tage lang geduldig alle seine Gespräche ausgehalten hatte. Er, der nicht eigentlich einen Lebenszweck hatte, außer der andauernden Erziehung seiner Tochter, konnte sich nicht in die Lage eines anderen versetzen, der einer Tätigkeit entgegenging und keine Geldmittel besaß; oder, wenn er eine solche Lage schon zugeben mußte, so mißbilligte er sie sehr, insofern sie seinen persönlichen Wünschen entgegenstand. Er beschloß noch einen Angriff auf Holmar zu machen. Unter vier Augen bot er ihm eine ansehnliche Geldsumme, für die er sich verpflichten sollte, auf eine bestimmte Zeit bei ihm zu bleiben. Holmar, der im Verlauf der Tage zu der Überzeugung gekommen war, daß Herr Pistorius ein ziemlich wohlhabender Mann sein müsse, sah ihn bei diesem Anerbieten erstaunt, ja mit Entrüstung an. Hätte der Alte eine ansprechendere Form gewählt und ihm etwa vorgeschlagen, auf ein oder einige Jahre als sein Reisebegleiter die Welt in größeren Kreisen zu betrachten, wer weiß, ob der Plan nicht etwas Verlockendes für den jungen Mann gehabt hätte. Aber dieses plumpe Darbieten einer bestimmten Summe brachte ihn im Innersten auf. Der Stolz des hoffnungsreichen Armen trat der Anmaßung des bedürftigen Reichen hart gegenüber. Holmar nahm sich zusammen, dankte, lehnte ab und fügte hinzu, daß er Pflichten gegen sich selbst habe, welchen er sich nicht entziehen könne. Dieses Gespräch störte das Einvernehmen der letzten gemeinsamen Stunden. Herr Pistorius, der jemand haben mußte, an dem er seine üble Laune auslassen konnte, wendete diese gegen seine Tochter, haderte mit ihr, schalt sie und bereitete ihr unangenehme Auftritte. Ein tiefes Mitleid ging durch Holmars Gemüt, und um ihr etwas Gutes zu sagen, rief er: »Im nächsten Sommer, wenn meine Schulferien kommen, geben wir uns irgendwo ein Stelldichein, und reisen wieder ein paar Wochen zusammen!« Adelheids Augen wurden weit, der Alte aber griff das Versprechen auf, und in schnell verbesserter Laune rief er: »Richtig! Wir gehen zusammen nach Neapel, studieren den Ausbruch des Vesuv und den Untergang von Pompeji mit dem Plinius in der Hand!« Holmar lachte und ließ das dahingestellt sein. Die Stimmung war wieder besser geworden, und man nahm Abschied, um verschiedene Wege einzuschlagen.
Adelheid, für die es nicht viel zu packen gab, da sie immer gerüstet sein mußte, irgendwohin abzureisen, hatte ihren Vater nach Ägypten zu begleiten. Denn in der Schweiz war Herr Pistorius mit zwei aus Afrika kommenden Engländern in ein Gespräch geraten, und sofort zu der Überzeugung gelangt, daß er seine Tochter an Ort und Stelle über den Bau der Pyramiden zu unterrichten habe. Ihretwegen hätte es ebensogut zum Studium des Walfischfanges nach Norden gehen mögen, als zu den Pyramiden. Sie brachte dem Wechsel von Ort und Gegend, dem Gehen und Bleiben jetzt die frühere Gleichgültigkeit entgegen. Aber ein inneres Gut nahm sie doch mit sich, einen Schatz von Anregungen, Gedanken, Erinnerungen, den Beginn eines Wandels ihrer Anschauungen, ihres ganzen Wesens. Und es war ihr lieb, daß sie auch mit dem Vater von ihrem Freunde sprechen konnte. Zwar sie selbst brachte die Rede nicht leicht auf ihn, dagegen tat es der Alte und mit häufigem Bedauern, daß der junge Mensch nicht so viel Vernunft habe annehmen wollen, mit ihm zu reisen.
Wenn Herr Pistorius einen bestimmten Plan hatte, pflegte er schnell und geradenwegs auf sein Ziel loszugehen. Adelheid war bald in Ägypten, mußte mit äußerster Anstrengung mit auf die Pyramide des Kekrops klettern, und auf dunklem Wege in das Innere derselben kriechen. Sie betrachtete diese Dinge jetzt mit aufmerksameren Augen, und sie glaubte erst sehen gelernt zu haben. In Kairo siegelte sie den ersten Brief mit dem Eulenpetschaft, der nach einer kleinen Stadt in Mitteldeutschland gerichtet war. In Triest auf der Rückreise fand sie, wie verabredet worden, das Eulenzeichen des Freundes. Sie erfuhr, daß er als Lehrer am Gymnasium angestellt sei, und sich sofort eine wissenschaftliche Arbeit vorgenommen habe, die ihn in seiner Einsamkeit für manches entschädige. Nun gingen die Briefe rascher hin und wieder, und zwar sehr ausführlich, wie es bei dem Beginn einer Korrespondenz zu geschehen pflegt. Holmar schrieb an sie wie an einen Studienfreund, dessen Teilnahme für alles vorausgesetzt wird. Und da Adelheid ihre Briefe durchweg »die Eule« unterzeichnete, redete er sie auch wohl als »liebes Eulenschwesterchen« an. Im Frühjahr machte Herr Pistorius eine längere Rast in Florenz, wo er in den Bibliotheken notwendig etwas über Macchiavelli aufsuchen mußte. Im Juni war er schon bis Basel vorgeschoben, welches für Adelheids Erziehung in betreff der altdeutschen Malerei wichtig wurde. Zu Ende des Monats hieß er seine Tochter an Holmar schreiben und an sein Versprechen mahnen. Wenn es nicht nach Pompeji sein könnte, so schlage er eine Reise nach dem südlichen Frankreich vor, um die sehr bedeutenden und wichtigen römischen Überreste gemeinsam zu prüfen.
Der junge Gymnasiallehrer schrieb umgehend zurück: Er anerkenne die Wichtigkeit der südfranzösischen Römerbauten; von größerer Bedeutung aber sei es für ihn, daß er nur über eine sehr schmale Reisekasse zu verfügen habe, die ihm nichts als einen kleinen Ausflug verstatte. Er denke sich nach Dresden zu begeben und werde sich freuen, wenn er mit den Freunden unter Kunstwerken und in den Elbgegenden umherschweifen könnte. Herr Pistorius brummte, Adelheids Herz jubelte, und abends eilte sie mit dem Vater nach dem Bahnhofe, um morgens dem Freunde schreiben zu können: Wir sind schon da!
Sie war dankbar, sie rechnete es ihm hoch an, daß ihm wirklich ein Wiedersehen willkommen war. Die Armut und Einschränkung, in der er lebte, geistig immer mit großen Plänen und Hoffnungen erfüllt, erschien ihr poetisch und ehrwürdig zugleich; seine rege Tätigkeit bewundernswürdig gegenüber dem dilettantisch gelehrt tuenden, zerstreut zwecklosen Leben, welches sie mit ihrem Vater zu führen hatte. Und als der Freund nun kam, wie glücklich war sie, daß die goldenen Tage sich erneuern sollten. Sie fand ihn stattlicher und gesetzter geworden. In das glatte Bubengesicht vom vergangenen Sommer war ein jugendlicher blonder Schnurrbart gekommen, in welchem sie zum erstenmal die Bedeutung dieses männlichen Schmuckes bewunderte. Holmar dagegen fand seine Freundin so ziemlich unverändert, nur daß die Gesichtsfarbe etwas lebhafter, ihr Wesen etwas rascher und freier geworden war. Ihre Kleidung mochte eine neue sein, aber sie zeigte noch immer denselben unbeschreiblichen Zuschnitt, halb Soldatenmantel, halb Mönchskapuze. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich zu schmücken; sie war so gewöhnt, in dieser Tracht einherzugehen, sie sah überdies die Vorteile derselben ein, bei dem rastlos umherfahrenden Leben mit dem Vater, daß sie nicht mehr daran dachte, ihre Tracht zu verändern, Holmar machte diesmal wenig Umstände mit Herrn Pistorius, da er keine sonderliche Achtung für ihn, eher geheimen Groll gegen ihn hegte. Mit Adelheid allein wollte er Kunst und Natur genießen, daher suchte er den Alten oft in der Bibliothek festzusetzen. Es war nicht schwierig und so blieb den Freunden schöne Stunden, in welchen Adelheid sorglos und gern den Arm Holmars annahm, um sich von ihm führen zu lassen. In einem rein freundschaftlichen, kameradschaftlichen Verhältnis blieben sie auch jetzt, und Adelheid war damit zufrieden und glücklich, sie bewahrte ihre Gedanken vor Hoffnungen, daß es jemals ein anderes werden könne. Innerlich befestigter war es aber bei diesem Wiedersehen doch geworden. Auch bei Holmar, dem es erschien, als könne er kaum noch ein Geheimnis vor der Schwester haben.
Und als sie sich zum zweiten Male getrennt hatten, flogen die Briefeulen wieder um so lebhafter durch die Welt, denn durch die neue Anknüpfung schienen die Freunde innerlich nur bereichert und um so ausgiebiger gestimmt.
Wohin Herr Pistorius im Laufe des nächsten Jahres reiste, ist gleichgültig. Er war im Süden und im Norden, beschäftigt mit eitel geschäftslosem Müßiggang. Die Sommerferien kamen, Adelheid war brieflich darauf vorbereitet, daß der Juli kein Wiedersehen bringen werde, da Holmar von »übermäßiger Arbeit und gar keinem Reisegeld« schrieb. Und es verging ein drittes Jahr, da wurde der Freund an einen anderen Ort und in eine höhere Stellung versetzt, Vorgänge, die ihm eine Sommerreise nicht erlaubten. Bald wurden die Briefe seltener, und zwar auch von Adelheids Seite.
Sie wollte dem Freunde nicht klagen, daß sie einen schweren Stand mit dem Vater hatte. Aus ihrem unterwürfigen, sklavisch erzogenen Gehorsam mußte sie sich mit der Zeit zu einiger Entschiedenheit ermannen, denn die Wunderlichkeiten des Alten nahmen in auffallender Weise zu. Oft sah sie sich gezwungen, ihm mit ihrer besseren Einsicht energisch entgegenzutreten. »Von wem du das gelernt hast, weiß ich auch!« schrie Herr Pistorius sie eines Tages an. – »Wenn du es errätst,« entgegnete sie mit Ruhe, »so wirst du an mir nicht mißbilligen, was du bei ihm vernünftig gefunden hast.« Und der Alte grollte und brummte, ließ es aber schließlich gelten.
Es kam schlimmer mit ihm. Er, der bis zu seinem fünfundsechzigsten Jahre völlig gesund und rüstig gewesen, wurde in Mailand von einem Schlagfluß niedergestreckt. Er war körperlich und geistig gelähmt. Adelheid übernahm mit pflichtvollster Ausdauer die Pflege und Wartung an seinem Lager, monatelang, schon über ein Vierteljahr, und es war kein Absehen, wie es sich wenden würde.
Da empfing sie einen Brief aus Deutschland. Unter dem Eulensiegel zeigte ihr Holmar – seine Verlobung an. Er habe, teilte er mit, seiner geliebten Braut so viel von seinem Schwesterchen erzählt, daß sie der Freundin einen Gruß von ganzem Herzen zurufe. – Adelheid ließ den Brief aus den Händen fallen. Ein Krampf ging durch ihr Herz, und was sie sich selbst nicht zugestanden, zerriß mit leidenschaftlichem Schmerz die Fesseln, die sie sich auferlegt hatte. Sie durfte dem Freunde nicht grollen, denn sie wußte ihm nichts vorzuwerfen. Aber sie fühlte, daß die Welt in ihrem Inneren zusammenbrach, daß sie nun nichts, gar nichts mehr ihr Eigen nannte. Tränen hatte sie nicht, um so grausamer wühlten in ihr Verbitterung, Groll, Lebensverachtung, Selbstanklage, alles, was ein stets unterdrücktes Gemüt plötzlich zur völligen Hoffnungslosigkeit erwachen läßt. Auch als der erste Sturm ihrer Empfindungen ausgetobt, wurde ihre Seele nicht freier. Die ganze Öde ihres verlorenen Daseins ohne Jugend, ohne Schmuck des Lebens, ohne ein Band des Verständnisses zu Menschen, breitete sich vor ihr aus, dazu der Blick in eine Zukunft von gleich trostloser Öde. In solcher Gemütslage hatte sie die Pflichten der Tochter am Krankenbette zu erfüllen, allein, in der Fremde. Zwar erlaubten die Verhältnisse alle Hilfe und Bequemlichkeit, aber der Kranke hatte von seinen Lebensgeistern gerade so viel Eigensinn bewahrt, um jede Handreichung, die nicht von seiner Tochter kam, heftig zurückzustoßen; zwar war sie nirgends heimisch und immer in der Fremde gewesen, jetzt aber fühlte sie den Mangel von Haus und Herd, von menschlicher Teilnahme immer bitterer. Dieser Dienst in der Krankenstube bei Tag und Nacht drohte geistig und körperlich aufreibend zu werden. Aber sie nahm alle Energie zusammen, sie wollte nicht unterliegen, sie beschloß, des inneren und äußeren Elends Meister zu werden. Sie erfüllte ihre Pflichten, ohne Dank zu ernten oder auch nur zu erwarten, sie lernte selbständig zu verfügen über Vermögens- und sonstige Verhältnisse, ihr Charakter hatte jede Gelegenheit, sich festzustellen und auszuprägen. Noch ein ganzes Jahr währte ihre Sorge am Krankenlager, bis der Tod den Unglücklichen erlöste.
Adelheid hatte den Brief Holmars und die Grüße seiner Braut nicht zu entgegnen vermocht. Sie tat es erst, als sie dem Jugendfreunde zugleich den Tod ihres Vaters anzeigte. Und zwar geschah dies von England aus, wohin sie eine Einladung, die erste in ihrem Leben, angenommen hatte.
Darüber waren viele Jahre vergangen.
Nun ging wieder die akademische Ferienzeit an, und mit ihr zogen, wie in jedem Jahre, Musensöhne mit Ränzel und Stock durch die Berge, und ernste Kathedergesichter klärten sich auf, um in der Natur Erquickung zu suchen.
Ein Mann mit zwei Knaben stieg am heißen Nachmittag eines Augusttages den etwas steinigen Waldweg hinauf. Die Kinder schienen zwar nicht ermüdet, dennoch blickte der Vater zuweilen bedauernd auf den älteren, welcher, nicht so kräftig gebaut, sich mehr an seiner Seite hielt, während der jüngere meist einige Schritte voraus war. Der Weg sollte die Fahrstraße, welche sich in breiten Windungen um den Bergrücken zog, um ein bedeutendes abschneiden und erwünschten Schatten für die Fußreisenden bringen. Nun stieg er hart genug an, führte durch niedrigen Baumwuchs oder durch Strecken, von welchen der Wald zurücktrat, so daß man sich der Sonnenglut häufiger ausgesetzt sah, als des Schattens genoß. Endlich traten die Bäume naher zusammen, zugleich aber wurde der verengerte Pfad durch Gestein und Wurzeln beschwerlich. Der Vater nahm seinen Ältesten bei der Hand, um ihn zu unterstützen, indem er das jüngere Bürschlein seiner eigenen, kräftigeren Gelenkigkeit überließ. »Wir sind oben! Heißa! Da ist die Fahrstraße! Wir sind oben!« rief der Kleine. In einigen Minuten war man wirklich am Ziele und konnte unter Buchenzweigen einige Minuten ausruhen. »Das hat uns müde gemacht, nicht wahr?« sagte der Vater, indem er sich die Stirn trocknete. »Nein, gar nicht!« rief der Jüngere, hin und her hüpfend, um seine noch frischen Kräfte zu zeigen, während der Ältere, seine Müdigkeit zwar auch leugnend, sich an den Stamm eines Baumes lehnte. »Und nun,« begann der Kleine, »sind wir in zehn Minuten bei dem guten Wirtshause, das hier sein soll, und dann gibt es etwas zu trinken! Aber, nicht wahr, erst muß etwas Butterbrot gegessen werden auf die Erhitzung, das gibt eine bessere Grundlage!« – Der Vater lachte. »Jawohl,« sagte er, »die gute Grundlage von einem Butterbrot ist bei meinem Puck immer die Hauptsache! Titus, da liegt ein breiter Stein,« so wendete er sich zu dem Älteren; »setz dich ein wenig nieder!«
Es war ein stattlicher, noch jugendlich aussehender Mann, mit charaktervollen Gesichtszügen und hellbraunem Vollbart. Die Kinder, in Grau gekleidet, mit Stulpenstiefelchen und Strohhüten, trugen ihre kleinen Ränzel auf dem Rücken wie der Vater sein ziemlich starkes. Titus und Puck nannte er sie, nicht weil sie so getauft, sondern weil ihm ihre Namen zu lang waren, und die scherzhafteren sich nun einmal im Hause eingebürgert hatten. Nach kurzer Rast war das Dreiblatt wieder auf der Wanderung und bald vor dem Wirtshause angelangt, vor dessen Tür man Tische und Stühle unter Bäumen fand. Es war ein hübscher Platz. Die Fahrstraße, welche vorüberführte, hatte hier ihren Höhepunkt erreicht, um sich nach zwei Seiten abwärts zu senken. Dem Wirtshause gegenüber war der Wald gelichtet und gab dem Auge den Blick in die breite Gebirgslandschaft frei. Es war kein prunkendes Hotel. Fuhrleute und Handwerksburschen durften getrost einkehren. Zuweilen stiegen auch einmal Gäste aus dem großen besuchten Badeorte, den man unten in der Ferne erkannte, hier ab, um neben der Aussicht sich mit Milch und Brot zu begnügen.
Während der Vater und die Kinder sich an ganz derber Kost, Brot, Käse und Bier, für die Anstrengungen der Wanderung schadlos hielten, kam ein Wagen von der Seite des Badeortes langsam den Weg herauf. Die Insassen, zwei Damen und ein Knabe, alle drei in der gewähltesten und feinsten Sommerkleidung, mochten auf einer Spazierfahrt begriffen sein. Eine der Damen, eine sehr schöne Frau, saß bequem zurückgelehnt und ließ sich lächelnd unterhalten von der Nachbarin, welche, während sie sprach, ein lebhaft beobachtendes Auge für alles, was die Umgebung bot, zu behalten schien. Der Fußreisende, eben beschäftigt, seinen Kindern von neuem zuzuteilen, richtete einen gleichgültigen Blick nach dem Wagen. Plötzlich aber leuchtete sein Auge auf. Er warf Messer und Brot hin und stürzte über den Weg, dem Wagen entgegen. Die Pferde, scheu gemacht, bäumten sich, die schöne Frau, in Furcht vor dem Überfall eines Wegelagerers, schrie auf, der Mann aber griff in die Zügel der Pferde und brachte sie mit kräftiger Hand zum Stehen. Da ertönte es aus dem Wagen: »Holmar! Er ist es wahrhaftig! Kutscher, still gehalten! Wir steigen aus!«
»Aber um Gottes willen, Adelheid!« rief die schöne Frau. »Warum müssen wir denn –?« »Verzeihen Sie, liebe Metella!« unterbrach die andere. »Es ist ein Freund von mir. Überdies findet sich hier ein Aussichtspunkt – wir wollen kurze Rast machen.«
Holmar hatte bereits den Kutschenschlag geöffnet, schüttelte dem Fräulein Pistorius die Hand, und wurde der schönen Frau v. N. vorgestellt.
Diese wußte nicht, wie ihr geschah, um eines unbekannten Mannes willen den Wagen verlassen zu müssen, und hob die Schleppe ihres luftigen Gewandes von der staubigen Straße auf. Aber sie war gewöhnt, sich der Freundin zu fügen, und sah sich nur nach ihrem Knaben um, welcher prüfend zu den Kindern des Fremden hinüberblickte.
»Dennoch ertappt!« flüsterte Holmar neben Fräulein Pistorius. »Meine Spione waren Ihnen auf der Ferse, und jetzt bin ich in Person wieder da!«
»Nun gut!« sagte sie. »Sie finden mich noch als dieselbe, und ich hoffe – wir stören einander die Muße nicht!« Sie sprach es mit besonderer Betonung und einem etwas strengen Blicke. »Aber,« fuhr sie munterer fort, »was haben Sie denn da für ein paar graue Männlein bei sich?«
»Nun, meine Kinder sind es!« entgegnete er.
Sie richtete ihre Augen vorwurfsvoll auf ihn. »In Buben verwandelt?« rief sie. »Holmar, wissen Sie, was solche Verkleidungen – himmlischer Vater! Titus und Puck in Hosen und Jacken! O, ihr armen Dinger!« Sie eilte auf die Kinder zu, und diese, sie erkennend, liefen ihr mit offenen Armen entgegen. Die schöne Frau aber stand dabei und lichtete halb belustigte, halb mißbilligende Blicke auf die Gruppe.
In der Tat, die Kinder waren Mädchen in Knabenkleidern. Auch ein beobachtendes Auge würde Puck für einen ganz derben, kleinen Buben gehalten haben. Titus gegenüber konnte man zweifeln, ob ein Knabe in der Verkleidung stecke. Nicht zum erstenmal trugen die Kinder diese Tracht, daher sie sich ganz frei darin bewegten; beide, acht- und siebenjährig, waren so einverstanden mit der bequemen Reisekleidung, daß sie sich keine andere wünschten. Fräulein Pistorius aber kam nicht so schnell über die Sache hinweg und beklagte die Kleinen, daß sie in solchem Aufzuge durch die Welt laufen müßten. Puck lachte. Holmar aber begann: »Sie kennen meine Verhältnisse. Zu Hause konnte ich die Kinder nicht lassen. Einen Reisekoffer voll Weiberkleider mitzuschleppen, auf jeder Station weiße Röcke waschen zu lassen, in jedem Wirtshaus eine Jungfer zu Rate zu ziehen – womöglich Nadel und Zwirn selbst in der Tasche zu führen, danach trug ich kein Verlangen. Ein einziger derber Bubenanzug ist dagegen ganz zweckmäßig, und selbst ein Loch in den Hosen braucht nicht ängstlich genommen zu werden. Wir sind schon einmal so umhergestiefelt und haben uns vortrefflich dabei befunden.« – »Ja!« rief Puck, im Sitzen auf und nieder wippend. Ein Blick Holmars aber streifte den Sohn der schönen Frau, dessen Anzug freilich im stärksten Gegensätze zu dem der Mädchen stand. Der Knabe, schön wie seine Mutter, war in auserlesen zierliche Tracht, schneeweiß und farbig – ein Amor nach der neuesten Modezeitung – gekleidet.
Fräulein Pistorius, welche ihre Augen mit einem traurigen Ausdruck auf die Kinder richtete, entgegnete: »Für sich mögen Sie recht haben, Holmar. Ob es für die Kinder, ob überhaupt recht getan ist, wäre zu erörtern.« Und zu Metella gewendet, fuhr sie fort: »Ja, was lassen wir uns denn hier geben? Der Herr Wirt scheint große Hoffnungen auf uns zu setzen, denn er dienert angelegentlich um uns her.« Boso, Metellas Knabe, befahl Schokolade. Der Wirt zuckte bedauerlich die Schultern, und Puck lachte laut auf, um dann einen herzhaften Biß in sein Butterbrot zu tun. Ein Glas Milch für den Knaben und ein Glas Bier für den Kutscher waren dann der Leistungsfähigkeit des Hauses angemessener. Schnell tauschte man einige Mitteilungen aus, wobei Fräulein Pistorius und Holmar fast allein die Rede wechselten. Daß die Damen den benachbarten Badeort zum Sommeraufenthalt gewählt, war dem Reisenden nichts Neues mehr, dagegen erzählte er zur Überraschung des Fräuleins, daß er sich auf dem Wege nach demselben Ziele befinde. Eine Anzahl gleichstrebender Gelehrter habe sich diesen Ort zur Versammlung ausersehen, um über die Gründung einer Zeitschrift miteinander zu verhandeln und sich womöglich zu verständigen. »Wir drei Fußgänger werden eher an Ort und Stelle sein als die Damen,« schloß Holmar, »wenn Sie Ihre Spazierfahrt noch weiter ausdehnen. Der Weg kann nur noch eine Stunde betragen, und wir schreiten tapfer zu.« Das Fräulein war nahe daran, den Vorschlag zu tun, Holmar möge ihr die Kinder in den Wagen geben; aber sie sahen sehr staubig aus, Metella hätte es vielleicht auch nicht gern gesehen – und noch aus anderen Gründen verwarf sie die gutmütige Regung. In den Augen der Freundin las sie überdies den Wunsch, der Sitzung bald ein Ende zu machen. Sie erhob sich, und Holmar begleitete die Damen zum Wagen. Er wartete eine Einladung nicht erst ab, sondern sagte beim Abschied: »Ich werde mich beeilen, meine Aufwartung zu machen!«
Es verstand sich von selbst, daß, als der Wagen das Wirtshaus hinter sich hatte, die schöne Frau halb lachend begann: »Nun sagen Sie mir nur, Adelheid, warum wir hier förmlich Station machen mußten? Dachte ich doch Wunder, was sie mit dem Manne zu verhandeln hätten!« Die Angeredete zog die Augenbrauen in die Höhe und schien nach einer schicklichen Einleitung zu suchen; Metella aber fuhr fort: »Ich erschrak im ersten Augenblick vor ihm, trotzdem – er ist eigentlich eine sehr angenehme Erscheinung! Wie aber kommt ein so junger Mann schon zu den zwei großen Kindern?«
»Früh geheiratet,« entgegnete Adelheid; »mit fünfundzwanzig Jahren! Jetzt etwa fünfunddreißig Jahre alt und – Witwer!«
»Witwer!« rief Metella halb beklagend, halb verwundert. »Dann verstehe ich schon eher die Verkleidung der Kinder. Aber unschicklich finde ich sie doch!«
»Mehr als das!« sagte das Fräulein. »Unrecht ist es, gefährlich, es kann zum Unglück für die Kinder werden! Ich habe dergleichen an mir selbst erfahren!«
»Sie? In gleichem Aufzuge mußten Sie einst –?«
»Nein, in Hosen und Stulpenstiefeln mußte ich nicht, eigentlich mußte ich etwas noch Schlimmeres. Als wandelnder Reisekoffer ging ich bis zu meinem dreiundzwanzigsten Jahre einher, als bloßes Bücherfutteral kletterte ich auf die Berge, Türme und Pyramiden, als leibhaftiger Mantelsack spazierte ich durch die elegante Welt der Hotels. Meine einstige Laufbahn als zweibeiniges Gepäckstück ist mir ja immer noch anzumerken!«
Metella fing laut an zu lachen. »Adelheid!« rief sie, »Sie sind und bleiben ein Original!«
Adelheid zuckte die Schultern. »Wenn Sie wüßten,« sagte sie, »wie wenig mich diese Bezeichnung freut! Aber das tut nichts. Wenn mir jemand sagt, deine Nase ist krumm, so muß ich das auch gelten lassen, denn wie die Verhältnisse waren, so hat sie eben krumm werden müssen, und ich muß mit dem Haken durch die Welt zu kommen suchen. Eine Eule ist auch ein Vogel – sozusagen!«
Die schöne Frau lachte noch mehr. »Gehen Sie doch!« rief sie. »Erzählen Sie mir lieber noch etwas von dem Manne – Holmar heißt er? Was ist er denn?« »Haben Sie nie etwas gehört von seinen berühmten Forschungen über das Zeitalter –«
»Gott bewahre mich!« rief Metella unterbrechend. »Sie wissen, ich bin nicht gelehrt wie Sie! Also ist er wohl Professor?«
»An der Universität zu B.,« nickte Adelheid. »Bereits ein Lumen in seiner Wissenschaft!«
»Nun, und wie haben Sie denn seine Bekanntschaft gemacht? Auch so durch gelehrte Beziehungen?«
»Eigentlich – ja! Aber unsere Bekanntschaft ist schon alt. Wir waren Jugendfreunde. Bei Lebzeiten meines Vaters trieben wir allerhand gelehrtes Zeug zusammen. Nachher, wie das so geht, kamen wir auseinander.«
»Haben Sie seine Frau gekannt?«
»Nein, auch nie gesehen.«'
»Aber die Kinder kannten Sie doch? Sie liefen Ihnen ja mit offenen Armen entgegen! Lassen Sie sich doch nicht alles so abfragen! Der Mann wird uns besuchen, man muß also doch wissen –«
»Nun ja, Kindchen! Es sind ja auch keine Geheimnisse. Also, da seine Frau starb, war ich in Rom, wo mir Bekannte davon Mitteilung machten. Es sind fünf Jahre her. Er jammerte mich tief mit seinen zwei Würmchen! Mittlerweile kam ich wieder nach Deutschland und erkundigte mich nach ihm. Ich erfuhr, daß er eine uralte Tante ins Haus genommen – wozu ihm denn auch nicht zu gratulieren war, da ihm keine besondere Erleichterung dadurch zuteil wurde. Vor einem Jahre hatte nun die alte Person die Schwachheit, zu sterben, und zwar zu einer Zeit, da beide Kinder am Scharlachfieber darniederlagen. Dieses Elend in der Familie ging mir denn doch nahe, und kurz, ich faßte mir ein Herz, rückte ihm ins Haus und erklärte ihm, ich würde bleiben, bis die Kinder wieder hergestellt wären. So wurde die alte Freundschaft erneuert.«
»Das sieht Ihnen ähnlich, Adelheid.« sagte Metella mit Anerkennung. »Und hätte er Sie nicht gern für immer bei seinen Kindern behalten?«
»Daß ich dafür nicht passe,« meinte Adelheid, »hatte ich bereits eingesehen. Bleiben! Verweilen! Festen Fuß fassen! Wie wäre das bei mir noch möglich! Da ich Ihnen schon mancherlei aus meinem früheren Leben mitgeteilt habe, werden Sie verstehen, daß ich mich als eine Art von Perpetuum mobile fühle. Lange Rast ist mir nicht mehr möglich. Und überdies – ich wünsche, daß Holmar sich wieder verheirate.«
Metella fand diesen Wunsch gerechtfertigt, und es fiel ihr nicht im leisesten auf, daß Adelheid sich vorweg aus der Reihe derjenigen auszuschließen schien, welche er wohl heiraten könnte. Denn wie sie die Freundin gleich überaus schätzte, so glaubte sie dieselbe doch ihrer Gesichtsbildung nach, in ihrem Wesen, in ihrer befremdlich gelehrten Bildung, in ihrem Urteil über die Männer, endlich in ihren Lebenswünschen und Forderungen weit entfernt von allem, was Neigung einflößen oder in ihr selbst eine Neigung wecken könnte. »Er war also noch Student, als Sie seine Bekanntschaft machten?« fragte Metella nach kurzer Pause.
»Er war's nicht mehr,« entgegnete Adelheid, »sah aber noch so aus, und zwar wie man dergleichen nicht alle Tage sieht. Und jetzt, mit fünfunddreißig Jahren – Sie sagten selbst, daß Sie ihn für jünger gehalten hätten. Ich war eigentlich niemals jung; jetzt aber, diesem Manne gegenüber, wird mir klar, daß ich alt, uralt bin!«
Sie lachte dabei; die schöne Frau aber erschrak förmlich und warf ihr ein halb unwilliges: »Nun, nun!« entgegen. Denn sie wußte wohl, daß sie und Adelheid gleichen Alters waren, und sie selbst fühlte sich noch jugendlich genug, zumal ihre gesellschaftliche Stellung ihr ein Recht dazu gab.
»Ja so!« rief Adelheid verstehend und noch herzlicher lachend, indem sie die Hand der Freundin ergriff. »Kindchen! das ist bei Ihnen etwas anderes. Sie sind noch sehr jung und werden es noch lange bleiben. Ich aber wurde schon vor zwanzig Jahren zum Altsein zugerichtet, und es hat so trefflich gefruchtet, daß ich jetzt mindestens zwanzig Jahre älter bin als Sie!« Sie lachte dabei ganz vergnügt, aber die schöne Frau konnte nicht mitlachen, da ihr solche Gespräche überhaupt unheimlich waren. Sie wußte den Gegenstand zu wechseln, und bald kam man auf die Beratung über einen größeren Ausflug, zu welchem die Damen heut' erst in der Gesellschaft aufgefordert worden waren.