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Man nannte ihn den großen Bären. Er war riesenhaft, breit, dick, mit großen Händen, großen Füßen, ungeheuren Armen und Schenkeln. Seine Hände waren so fett, daß die Knochen im Fleisch verschwanden und Grübchen bildeten.
Seine Finger waren, sagt Burney, »so gebogen und dicht aneinander, wenn er spielte, daß man keine Bewegung, und kaum die Finger selbst wahrnehmen konnte«. Mit seinen krummen Beinen kam er schweren und wiegenden Ganges daher, sehr aufrecht, den Kopf zurückgebogen, unter einer großen weißen Perücke, deren Locken voll über seine Schultern fielen. Sein langes Gesicht hatte Ähnlichkeit mit dem eines Pferdes, später im Alter mit einem Stier und verschwamm in Fett, mit doppelten Wangen, dreifachem Kinn, einet breiten, großen, geraden Nase und roten, aufrechtstehenden Ohren. Er sah den Leuten direkt ins Gesicht, in dem festen Blick ein schelmisches Aufblitzen, einen spöttischen Zug um den großen feinen Mund.
Man erinnere sich des gestochenen Porträts von W. Bromley nach dem Gemälde von Hudson. Er sitzt mit gespreizten Beinen, die eine Faust an der Hüfte, ein Notenblatt in der Hand; den Kopf hoch, das Auge leuchtend, die Brauen sehr dunkel unter der weißen Perücke, zum Ersticken eng in seinen geschlossenen Rock gepreßt, scheint er von Gesundheit, Stolz und Energie überzuströmen.
Nicht weniger interessant, wenn auch unbekannter, ist das schöne gestochene Porträt von J. Houbraken aus Amsterdam nach dem Bilde von F. Kyte 1742. Hier erscheint Händels Anblick ungewohnt, nach der schweren Krankheit, der er fast erlegen wäre und deren Spuren sich auf seinem Gesicht finden. Er ist dick geworden, müde, mit trüben Augen und massivem Antlitz; seine Kraft scheint wie betäubt; er gleicht einem großen Kater, der mit offenen Augen schläft, aber was für ein spöttisches Licht noch in diesem schlummernden Blick! Seine Miene war imponierend und jovial zugleich, gewöhnlich »etwas finster und sauersehend. Wenn er aber einmal lächelte,« sagt Burney, »so war es, wie die Sonne, die aus einer schwarzen Wolke hervorbricht. Aus seinen Zügen strahlten dann auf einmal Verstand, Witz und gute Laune.«
Er steckte voll Humor. Er verstand, schelmisch eine Art Einfältigkeit vorzuschützen, über die die ernstesten Leute lachen mußten, ohne daß er selbst auch nur lächelte. Niemand erzählte besser Anekdoten. »Sein natürlicher Hang zu Witz und Laune, und seine glückliche Gabe, die gemeinsten Vorfälle auf eine ungewöhnliche Art zu erzählen«, gab ihnen eine amüsante Farbe. »Wäre er ein so großer Meister der englischen Sprache, wie Swift gewesen, so würde er ebenso viele witzige Einfälle,
und ziemlich von eben dem Schlage, gehabt haben.« Aber »um recht zu würdigen, was er sagte, mußte man nahezu vier Sprachen beherrschen: Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, die er alle miteinander vermengte«.
Dieses Bild ist entworfen nach den Porträts von Thornhill, Hudson, Denner, Kyte, nach dem Denkmal Roubilliacs in Westminster und nach der Beschreibung von Zeitgenossen, wie Mattheson, Burney, Hawkins und Coxe.
Siehe auch die Händel-Biographien von Schölcher und Chrysander.
An diesem Sprachenbabel trug ebenso seine unstete Jugend schuld, die ihn durch alle Länder Europas geführt hatte, wie sein ungestümes Temperament, das im Gespräch jedes Wort ergriff, wie es ihm gerade kam. Er war wie Berlioz: die Notenschrift ging zu langsam für ihn; er hätte einer Stenographie bedurft, um seinen Gedanken zu folgen. Zu Beginn seiner großen Chorwerke schrieb er die Motive für alle Stimmen vollständig aus; unterwegs ließ er eine nach der andern fallen, und schließlich behielt er eine einzige oder die Bässe allein; er raste geradezu bis ans Ende der begonnenen Arbeit, verschob die Ergänzung des übrigen auf später, und wenn er mit einem Werke fertig war, fing er gleich ein neues an, manchmal zwei zugleich, mitunter auch drei.
Um einen Begriff dieses Arbeitsfiebers zu geben, schildere ich die beiden Jahre 1736-38, in denen Händel sterbenskrank war. Hier die Zusammenstellung:
Im Januar 1736 schreibt er das »Alexanderfest«. Im Februar-März dirigierte er eine Reihe von Oratorien. Im April schreibt er »Atalanta« und das »Wedding Anthem«. Vom 14. August bis 7. September schreibt er »Guistino«, vom 15. September bis 14. Oktober »Arminio«. Im November leitet er eine Opernstagione. Vom 18. November bis 18. Januar 1737 schreibt er die »Berenice«. Im Februar-März dirigiert er einen doppelten Opern- und Oratorienzyklus.
Im April erleidet er einen Schlaganfall; während des Sommers scheint er verloren. Die Bäder von Aachen heilen ihn, er kehrt Anfang November 1737 nach London zurück.
Am 15. November beginnt er »Faramondo«, am 7. Dezember beginnt er das »Funeral Anthem«, das er am 17. Dezember in Westminster aufführen läßt. Am 24. Dezember ist er mit »Faramondo« fertig, am 25. beginnt er »Serse«, den er am 14. Februar 1738 vollendet. Am 25. Februar veranstaltet er die Erstaufführung eines neuen posticcio: »Alessandro Severo«. – Einige Monate später schreibt er »Saul« vom 23. Juli bis 27. September 1738, beginnt »Israel in Ägypten« am 1. Oktober und vollendet ihn am 28. Oktober. In diesem selben Oktober läßt er seine erste Sammlung von Orgelkonzerten erscheinen und liefert dem Verleger die Sammlung der 7 Trios oder zweistimmigen Sonaten mit obligatem Baß op. 5.
Ich wiederhole, daß dieses Beispiel den zwei Jahren entnommen ist, wo Händel schwerkrank und dem Tode nahe war; ich bezweifle, daß man in diesen Werken die leiseste Spur einer Erkrankung finden kann.
Nie hätte er Glucks Geduld besessen, der, bevor er zu schreiben begann, einen Akt nach dem andern sorgsam durchging, schließlich das ganze Stück, was, wie er zu Corancez sagte, »gewöhnlich ein volles Jahr kostete und nicht selten eine schwere Krankheit«. Händel komponierte einen Akt, ohne die Fortsetzung des Stückes zu kennen, und mitunter rascher, als der Textdichter es fertig schreiben konnte. Der Dichter Rossi sagt in seiner Vorrede zum »Rinaldo«, daß Händel ihm kaum Zeit gewährt hatte, die Dichtung zu schreiben, und daß das ganze Werk, Dichtung und Musik in 14 Tagen geschrieben wurde (1711). – Für die Komposition des »Belsazar« was das Tempo maßgebend, in dem Ch. Jennens die Akte der Dichtung an Händel ablieferte, zu langsam für den Eifer des Musikers, der beständig drängte und aus Verzweiflung, um seine Zeit nicht zu verlieren, im selben Sommer 1744 seinen großartigen »Herakles« schrieb.
Sein Schaffensdrang war so tyrannisch, daß er ihn schließlich von der übrigen Welt isolierte. »Er ließ sich von keinem unbeträchtlichen Besuch stören«, sagte Hawkins, »und in der Ungeduld, sich von den Gedanken frei zu schreiben, die sein Hirn beständig bedrängten, hielt er sich fast immer daheim eingeschlossen.« Sein Kopf arbeitete unaufhörlich, und er hatte keinen Blick für das, was in seiner Umgebung vorging. Und welche Exaltation, welche Tränenströme, während er arbeitete! Er schluchzte, während er die Arie komponierte: »He was despised.« »The Contre-Temps or the Rival Queans«, aufgeführt am 27. Juli 1727 in Drury-Lane. »Ich habe erzählen hören«, sagt Sheffield, »daß sein Diener, wenn er ihm die Frühstücksschokolade brachte, ihn oft dabei überraschte, wie er weinte und das Papier, auf dem er gerade schrieb, mit seinen Tränen näßte.« In Bezug auf das Halleluja im Messias zitierte er oft die Worte des Paulus: »Ob ich im Leibe gewesen bin oder außer dem Leibe, als ich schrieb, ich weiß es nicht. Gott weiß es.«
Diese ungeheure Fleischmasse wurde oft von Wutanfällen geschüttelt. Er fluchte fast bei jedem Wort. Wenn das Orchester »die große weiße Perücke vibrieren sah, zitterten die Musiker«. Wenn seine Chöre nicht bei der Sache waren, hatte er eine Art, »Chorus!« zu brüllen, daß das Publikum zusammenfuhr. Selbst als der Prinz und die Prinzessin von Wales bei den Oratorienproben in Carlstom House nicht pünktlich waren, nahm er keinen Anstoß, seinen Zorn zu zeigen. Wenn die Hofdamen das Unglück hatten, während der Aufführung zu flüstern, so pflegte er »nicht nur zu fluchen, sondern sie gar bey Namen aufzurufen. Dann aber sagte gemeiniglich die Prinzessin von Wales mit ihrer gewohnten Sanftmuth und Freundlichkeit: ›Stille! stille! Händel ist böse.‹ «
Böse war er nun nicht. »Er war zufahrend, rauh und entscheidend in seinem Umgang und Betragen,« sagt Burney, »aber ohne alle Bösartigkeit und Tücke. Auch war in seinen lebhaftesten Aufwallungen des Zorns und der Ungeduld eine gewisse Laune und Spaßhaftigkeit, die vollends durch sein gebrochenes Englisch noch lächerlicher wurde.« Er hatte die Gabe des Herrschens wie Lully und Gluck; wie bei ihnen verband sich in ihm die Kraft des Zornes, der über Widerstände Herr werden will, mit einer geistvollen Gutmütigkeit, welche die geschlagenen Wunden sofort wieder zu heilen wußte; seine allmächtige Waffe war das Lachen. »Während der Proben war er ein Mann von Autorität; aber in seinen Bemerkungen und selbst in seinem Tadel steckte oft ein Humor von größter Komik.« Als die Londoner Oper ein Schlachtfeld der Anhänger der Faustina und der Cuzzoni war, als die beiden Primadonnen sich mitten in einer von der Prinzessin von Wales besuchten Vorstellung unter dem Toben des Saales in die Haare fuhren, zeigte eine Posse von Colley Cibber, der diese historische Rauferei behandelte, Händel als den einzigen, der seine Ruhe inmitten dieses Hexensabbats behielt. »Meiner Meinung nach«, sagte er, »soll man sie in Frieden kämpfen lassen. Wer sie beruhigen will, schüttet Öl ins Feuer. Wenn sie müde sein werden, wird ihre Wut von selber aufhören.« Und damit der Kampf eher zu Ende wäre, begleitete er ihn mit großen Paukenschlägen. Selbst wenn er zornig wird, fühlt man, daß er im Grunde lacht. So als er die cholerische Cuzzoni, die sich weigert, eine Arie zu singen, um die Taille faßt, zum Fenster schleppt und ihr droht, sie auf die Straße zu werfen, indem er gravitätisch sagt: »Meine Gnädige, ich weiß schon, daß Sie eine Teufelin sind; aber ich bin dero Beelzebub, der Herr aller Teufel.« »Oh! Madame, je sçais bien, que vous etes une veritabie Diablesse; mais je vous ferai scavoir, moi, que je suis Beelzebub, le chef des Diables.« Französisch nach dem Text von Mainwaring. Händel sprach gern Französisch, das er sehr gut beherrschte, und benutzte es fast ausschließlich für seine Korrespondenz, sogar bei Familienbriefen.
*
Sein Leben lang blieb er bewunderungswürdig frei. Er haßte alle Ketten und blieb außerhalb aller öffentlichen Stellungen; denn als eine solche konnte man seinen Titel als Professor der Prinzessinnen nicht ansehen. Die großen musikalischen Stellen am Hofe und die fetten Renten wurden ihm nie zuteil, auch nicht nach seiner Naturalisation als Engländer; statt seiner erhielten sie mäßige Komponisten neben ihm Er war Musiklehrer der königlichen Prinzessinnen mit einem Gehalt von 200 Pfund, das kleiner war als das des Tanzlehrers, wie Chrysander nachweist. Jener hieß Anthony L'Abbé, bekam 240 Pfund und wird immer als Erster auf der Liste genannt. Morice Creen, Organist in Westminster und Doktor der Musik, dem zu Gefallen man 1735 die beiden großen musikalischen Ämter eines Königlichen Musikdirektors und eines Direktors der Königlichen Kapelle vereinigte, die bis dahin von John Eccles und Dr. Croft ausgeübt worden waren, erhielt 400 Pfund., übrigens schonte er diese auch nicht, sondern sprach mit höhnischer Verachtung von seinen englischen Kollegen. Außerhalb der Musik scheint er wenig gelernt zu haben Nach Hawkins hätte er dennoch gründliche Studien gemacht. Sein Vater hätte ihn der Rechtswissenschaft bestimmt, und 1703 wäre Händel noch auf der juristischen Fakultät in Halle inskribiert gewesen wo er den berühmten Thomasius zum Lehrer hatte. Erst mit 18 Jahren widmete er sich endgültig der Musik., und er verachtete Akademien und akademische Musiker. Er wurde nicht Doktor von Oxford, obgleich ihm dieser Titel angeboten worden war. Man sagt ihm folgende Äußerung nach:
»Hätte ich mein Geld ausgeben sollen, um zu werden, was diese Idioten Seine Kollegen Pepusch und Greene. sind? Niemals!«
Als man ihn später in Dublin auf einem Plakat »Dr. Handel« nannte, wurde er böse und ließ schnell in den Programmen verbessern: »Mr. Handel«.
Obgleich er den Ruhm keineswegs verschmähte – in seinem Testament beschäftigt er sich mit seinem Begräbnis in Westminster und setzte sorgsam den Preis für sein eigenes Denkmal fest –, war ihm die Meinung der Kritik völlig gleichgültig. Niemals konnte Mattheson die Auskünfte erhalten, die er für eine Biographie brauchte. Seine jean-jacquische Art empörte die Hofgesellschaft. Diese Weltleute, die von jeher die Künstler gedemütigt haben, ohne daß jene Protest erhoben, waren sehr verstimmt über die hochmütige Rauhbeinigkeit, mit der er sie in Distanz hielt. 1719 schrieb der Feldmarschall Graf Flemming an Händels Schülerin, Fräulein von Schulenburg:
»Mein Fräulein! Ich habe gewünscht, mit Herrn Händel zu sprechen und ihm Ihnen zuliebe einige Freundlichkeit zu erweisen; allein es war unmöglich; ich bat ihn in Ihrem Namen, mich zu besuchen, allein bald ist er nicht daheim, bald ist er unpaß; es will mir scheinen, daß er etwas sonderlich ist, und das sollte er gerade mir gegenüber nicht sein, der ich Musiker bin und mir schmeichle, einer Ihrer treuesten Diener zu sein, mein Fräulein, die Sie wieder die liebenswerteste seiner Schülerinnen sind. Ich wollte Ihnen dies alles sagen, damit Sie nun Ihrerseits beginnen mögen, Ihrem Lehrer einige Lektionen zu geben ...« 6. Oktober 1719, Dresden Französischer Text.
1741 erwähnte ein anonymer Brief an die »London Daily Post« 4. April 1741. Siehe Chrysander. »die öffentlich bezeugte Unzufriedenheit vieler Herren von Rang und Einfluß« gegenüber Händels Betragen.
Außer bei der einzigen Oper »Radamisto«, die er Georg I. widmete – er tat es mit Würde – hielt er sich von der demütigenden und einträglichen Gewohnheit fern, sich mit seinen Werken unter das Protektorat irgendwelcher reicher Leute zu stellen. Erst als er in höchster Not war, als Armut und Krankheit ihn völlig unterjochten, entschloß er sich, ein Konzert zu seinem eigenen Besten zu geben, »zu dieser Form, Almosen zu erbitten«, wie er sagte.
Von 1720 bis zu seinem Tode befand er sich in beständigem Kampfe mit dem Publikum, leitete eine Akademie und bemühte sich, den musikalischen Geschmack einer Nation zu reformieren – oder besser, zu formen. Aber er hat nie die Machtmöglichkeiten Lullys, der absoluter Monarch in der französischen Musik war, besessen, und wenn er sich auch gleich ihm auf die Gunst des Königs stützte, so hatte diese Gunst für ihn bei weitem nicht die gleiche Bedeutung wie für Lully. Er lebte in einem Lande, das Winken von oben keineswegs gehorsam folgte, das sich vom Staat nicht unterjochen ließ, sondern frei blieb, mit einer Neigung zum Frondieren und mit Ausnahme einiger weniger Auserlesener ebenso ungastlich wie fremdenfeindlich war. Fremd aber war er ebenso wie sein hannöverscher König, dessen Schutz ihn mehr kompromittierte als förderte.
Um ihn herum kläffte eine bissige Bulldoggenpresse, unmusikalische Literaten, die auch zu beißen wußten, eifersüchtige Kollegen, eitle Virtuosen, Komödianten, die sich untereinander alles üble antaten, weltliche Klatschgesellschaften, weibliche Kabalen, Patrioten-Verbände. Er war das Opfer von Geldverlegenheiten, die ihn von Tag zu Tag fester umstrickten; fortwährend mußte er neue Stücke schreiben, um die Neugier eines Publikums zu befriedigen, das im Grunde nichts befriedigte, das sich für nichts interessierte; er mußte sich der Konkurrenz der Harlekinaden und der Bärenkämpfe erwehren, mußte schreiben, schreiben, nicht wie Lully, der in Ruhe seine alljährliche Oper vollendet, sondern zwei, drei in einem Winter, die Stücke anderer Komponisten, die er einstudieren und leiten mußte, gar nicht zu zählen. Wo ist ein anderer Meister, der sein Handwerk betrieben hat wie dieser, zwanzig Jahre lang?
In diesem immerwährenden Kampf machte er niemals Konzessionen, schloß keine Kompromisse, übte keine Rücksichten, weder auf seine Darstellerinnen noch auf ihre vornehmen Beschützer, auf Tagesschreiber und die ganze Clique, die das Glück des Theaters und den Ruhm oder den Untergang des Künstlers in Händen hat. Er trotzte der Londoner Aristokratie. Es war ein harter, unerbittlicher und von Seiten der Gegner unvornehm geführter Krieg. Es gab kein noch so kleinliches Mittel, das nicht benutzt wurde, um ihn dem Bankrott zuzutreiben.
1733 blieben, nach einem Kampf mit der Presse und den Salons, die Konzerte völlig leer, in denen Händel seine ersten Oratorien aufführte, und damit war ihr Ruin besiegelt. Schon beglückwünschte man sich, daß der entmutigte Deutsche im Begriff sei, in sein Vaterland zurückzukehren. 1741 ging die Kabale der Gesellschaft so weit, daß sie kleine Gassenjungen mietete, um in den Straßen die Konzertplakate Händels abzureißen, und »sie benutzte tausend andere ebenso abscheuliche Mittel, um ihm Schaden zu bereiten« Brief vom 4. April an die London Daily Post.. Wahrscheinlich hätte Händel nun doch Großbritannien verlassen, wenn er nicht in Irland unerwarteten Anhang gefunden hätte, wo er ein Jahr lang blieb. Im Jahre 1745, nach seinen Meisterwerken »Messias«, »Samson«, »Belsazar«, »Herakles« erhob die Kabale heftiger als jemals ihr Haupt. Bolingbroke und Smollet erzählen von dem Übereifer, mit dem gewisse Damen ihre Feste, Tees, Amateurvorstellungen gerade an den Tagen, und noch dazu ungewöhnlicherweise in der Fastenzeit, veranstalteten, an denen Händels Konzerte angekündigt waren, damit seine Zuhörer ausbleiben sollten. Horace Walpole findet die Mode drollig, in die italienische Oper zu gehen, während Händel seine Oratorien aufführt. Siehe Schoelcher.
Genug, Händel war ruiniert; wenn er später doch wieder hochkam, so war es aus Ursachen, die mit der Kunst nichts zu tun haben. 1746 geschah, was mit Beethoven 1813 nach der »Schlacht bei Vittoria« und seinen patriotischen Gesängen aus Anlaß der Erhebung Deutschlands gegen Napoleon geschehen war: Händel wurde plötzlich nach der Schlacht von Culloden und den zwei patriotischen Oratorien »Occasional Oratorio« und »Judas Makkabäus« ein nationaler Barde. Von diesem Augenblick an war der Sieg errungen, die Kabale mußte schweigen; er gehörte jetzt zu England, der britische Löwe stand zu ihm. Aber wenn sein Ruhm nunmehr von England nicht mehr bestritten war, so hat er ihn doch teuer bezahlen müssen, und es war nicht das Verdienst des Londoner Publikums, wenn Händel nicht in Kummer und Elend am Wege niederbrach; zweimal hat er Konkurs gemacht 1735 und 1745.; einmal sank er, vom Schlage getroffen, auf den Ruinen seines Unternehmens zusammen 1737.. Aber immer erhob er sich wieder, und niemals gab er nach. »Er hätte nur einige Konzessionen machen müssen, um seine Kräfte wieder zu sammeln, aber seine ganze Natur wehrte sich dagegen ...« Gentleman's Magazine 1760. »Er haßte alles, was seine Freiheit einschränken konnte, er war unnachgiebig in allem, was die Ehre seiner Kunst betraf. Er wollte seinen Erfolg nur sich selbst danken.« Coxe. Ein englischer Karikaturist hat ihn unter dem Titel »Die verzauberte Bestie« dargestellt, wie er ein Band mit Füßen tritt, auf dem geschrieben steht: »Pensionen, Pfründen, Adel, Freundschaft«. Und über diesem ganzen Zusammenbruch lächelte er sein überlegenes Lächeln eines klassischen Pantagruel. Als er sich eines Abends vor einem leeren Konzertsaale sah, sagte er: »Desto besser wird die Musik klingen!«
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Die gewaltige Natur mit ihrer Heftigkeit und ihren Ausbrüchen von Zorn und Genie ward dennoch gebändigt von einem souveränen Willen. In ihm war der innere Friede, der sich mitunter bei Kindern aus späten und starken Ehen findet
Händels Vater zählte dreiundsechzig Jahre, als Georg Friedrich geboren wurde.. Solange er lebte, behielt er in seiner Kunst diese tiefe, ruhige Heiterkeit. In den Tagen, in denen seine vergötterte Mutter starb, schrieb er »Poro«, diese schöne, glückliche, sorglose Opernmusik.
Hier die Daten des Todes und Begräbnisses seiner Mutter: 27. Dezember 1730 und 2. Januar 1731. Ich füge folgende Daten bei, die Händel auf die Handschrift des »Poro« eingezeichnet hat:
Den ersten Akt des Poro vollendet: 23. Dezember 1730.
Den zweiten Akt vollendet: 30. Dezember 1730.
Den dritten Akt vollendet 16. Januar 1731. Das schreckliche Jahr 1737, in dem er in tiefster Not und sterbenskrank war, ist eingerahmt von zwei Oratorien voll Jubel und wuchtiger Kraft, dem »Alexanderfest« (1736) und »Saul« (1738), und ferner von dem heiteren Glanz der Opern »Giustino« (1736), voll sanfter schäferlicher Anmut, und »Serse« (1738), mit seinen komischen Zügen.
»... La calma del cor, del sen, dell' alma«, sagt eine Arie am Ende des gelassenen »Giustino« ... Das war in jenem Augenblick, in dem Händels Kopf vor Sorgen zu bersten drohte! Die Antipsychologen mögen triumphieren, die da behaupten, es sei für das Verständnis eines Kunstwerkes ganz unnötig, das Leben seines Schöpfers zu kennen. Aber sie mögen nicht zu früh jubeln: denn das eben ist das Entscheidende für die Beurteilung Händelscher Kunst, daß diese Kunst völlig unabhängig von seinem Leben war. Wenn ein Beethoven seine Leiden und Leidenschaften in Werken voller Leid und Leidenschaft ausströmt, so ist das zu verstehen. Aber daß der kranke, von Sorgen gepeitschte Händel sich durch heitere und frohe Werke zerstreuen konnte, das beweist ein fast übermenschliches seelisches Gleichgewicht. Wie verständlich ist es darum, daß Beethoven, als er sich anschickte, das Lied an die Freude zu schreiben, von Händel fasziniert wurde. Beethoven schrieb 1824: ›Händel ist der größte Komponist, der je gelebt hat. Ich würde mein Haupt entblößen und auf seinem Grabe niederknien.‹ Er sagte von seiner Musik: ›Das ist das Wahre.‹ Bekanntlich wollte er nach der Neunten Symphonie große Oratorien in der Art der Händelschen schreiben. Er mochte den Mann mit neidvollen Blicken ansehen, der schon jenen Zustand der Überlegenheit über sich und die Dinge der Welt erreicht hatte, den Beethoven anstrebte und zu dem er erst nach leidenschaftlichen Bemühungen gelangen sollte. Diese Bemühungen müssen wir bewundern; sie sind ungeheuer, in der Tat. Aber ist nicht die Ruhe, mit der Händel sich auf diesen Höhen erhält, ebenso verehrungswürdig? Man hat sich zu sehr daran gewöhnt, seine Heiterkeit als die phlegmatische Gleichgültigkeit eines englischen Athleten anzusehen.
»Er zieht aus blutigroten Fleisches Saft
Die Nahrung für sein Werk voll Mut und Kraft.«
Maurice Bouchor. – Die beständige Verausgabung von Energie und die unaufhörliche Arbeit erklären die krankhafte Gefräßigkeit Händels. Seine Zeitgenossen verspotteten in sehr verletzender Art diesen Riesen, der drei Menüs bestellte und auf die Frage, wo seine Gesellschaft sei, erwiderte: ›Die Gesellschaft bin ich.‹ Aber es ist ganz begreiflich, daß ein so ungeheurer Arbeiter seine Kräfte stützen mußte, und es scheint, daß ihm diese Gewohnheit nicht schlecht bekommen ist was dafür spricht, daß sie für ihn nötig war. Ganz richtig sagt Mattheson, es sei ebenso lächerlich, Händels Essen und Trinken mit dem eines gewöhnlichen Menschen zu vergleichen, als wenn man fordere, die Tafel eines Londoner Großkaufmannes möge die gleiche sein wie die eines Schweizer Bauern.
Man kann sich die Nervenanspannung und die übermenschliche Willenskraft nicht vorstellen, die er brauchte, um diese Ruhe zu bewahren. In manchen Augenblicken versagt die Maschine vollständig. Die prachtvolle Gesundheit des Körpers und der Seele wird bis in die Wurzeln zerrüttet. 1737 fürchteten Händels Freunde, daß er seinen Verstand für immer eingebüßt habe. Es war nicht die einzige derartige Krise in seinem Leben. Als 1745 die Feindschaft der englischen Gesellschaft sich gegen seine Meisterwerke »Belsazar« und »Herakles« richtete und ihn zum zweiten Male vollständig ruinierte, umnachtete sich sein Geist abermals. Nur der Zufall eines kürzlich veröffentlichten Briefwechsels hat uns darüber berichtet. William Barclay-Squire: »Händel 1745«. Veröffentlicht in der H.-Riemann-Festschrift, 1909, Leipzig. Die Gräfin von Shaftesbury schreibt am 13. März 1745:
»Mit schmerzlicher Freude ging ich zum »Alexanderfest«. Die Tränen kamen mir beim Anblick des großen unglücklichen Händel, der abgezehrt, finster und niedergeschlagen am Klavier saß, das er nicht mehr spielen konnte. Es macht mich sehr traurig zu denken, daß diese Leuchte sich im Dienste der Musik verzehrt hat.«
Am 29. August des gleichen Jahres schreibt der Reverend William Harris an seine Frau:
»Händel auf der Straße getroffen, ihn angesprochen und mich in Erinnerung gebracht. Du hättest sicherlich gelacht, wenn Du seine sonderbaren Bewegungen gesehen hättest. Er sprach sehr viel von seinem schlechten Gesundheitszustand.«
Dieser Zustand dauerte sieben oder acht Monate. Am 24. Oktober schreibt Shaftesbury an Harris:
»Der arme Händel sieht ein wenig besser aus. Ich hoffe, daß er wieder völlig genesen wird, obgleich sein Verstand ganz in Unordnung war.«
Er genas vollständig, da er schon im November sein »Occasional Oratorio« schrieb und um weniges später seinen »Judas Makkabäus«. Aber es ist klar, daß er beständig über einem Abgrund schwebte. Nur mit seiner ganzen Kraft erhielt er sich darüber, und er, das gesündeste aller Genies, war oft nur eine Spanne weit vom Wahnsinn entfernt. Und dabei, ich muß es wiederholen, sind uns diese vorübergehenden Störungen nur durch den Zufall eines veröffentlichten Briefwechsels enthüllt worden. Es mag viele andere geben, von denen wir nichts ahnen. Vergessen wir das nicht und entsinnen wir uns, daß Händels Ruhe nur eine ungeheure Ausgabe stürmischster Leidenschaftlichkeit maskiert. Der gleichgültige, phlegmatische Händel ist nur eine Fassade. Wer ihn so sieht, hat ihn nie verstanden, ist nie in diese Seele eingedrungen, die durchschüttert wurde von Ausbrüchen von Stolz, Leidenschaft, Zorn und Glück, diese Seele, die zuzeiten wie halluziniert war. Die Musik aber war für ihn eine reine Region, in die er die Stürme seines Lebens nicht tragen wollte; wenn er sich ihnen dennoch hingibt, so geschieht das gegen seinen Willen, dann wird er von dem Delirium des Sehers fortgewirbelt – so erscheint ihm der Gott Mosis und der Propheten in seinen Psalmen und Oratorien – oder sein Herz reißt ihn in Augenblicken des Mitleids und Erbarmens fort, doch stets ohne die geringste Sentimentalität Im »Funeral Anthem«, im »Foundling Anthem« und an einigen Stellen der letzten Werke, der »Theodora«, des »Jephtha«..
In seiner Kunst sah er das Leben aus weiter Höhe und Ferne an, wie Goethe. Unsere moderne Empfindsamkeit, die sich hemmungslos auszuströmen und darzubieten liebt, begreift das nicht mehr. Es scheint uns, als herrschte in diesem Reich der Kunst, das menschlichen Zufälligkeiten unerreichbar ist, ein allzu gleichmäßiges Licht. Es sind die Gefilde der Seligen, in denen man vom Leben ausruht, in denen man sich aber zuweilen nach dem Leben sehnen mag. Ist indessen der Anblick dieses Meisters nicht ergreifend, der heiter inmitten aller Leiden seines Daseins bleibt, dessen Stirn von Klarheit leuchtet und in dessen Herzen die gemeine Sorge keinen Zugang findet?
Ein Mensch, der so ausschließlich seiner Kunst lebte, hatte nicht das Zeug, Frauen zu gefallen, und er hat sich auch leicht damit abgefunden. Dennoch fand er in ihnen seine begeistertsten Anhänger und seine giftigsten Gegner. Englische Pamphlete haben sich über eine seiner Anbeterinnen erheitert, die ihm zur Zeit seines »Giulio Cesare« unter dem Pseudonym Ophelia eine Lorbeerkrone schickte mit einem Huldigungsgedicht, das ihn nicht nur als größten Musiker, sondern auch als den größten englischen Dichter seiner Zeit feierte. Von den Weltdamen, die den traurigen Ehrgeiz hatten, ihn zu minieren, ist schon die Rede gewesen. Händel blieb gegen Liebe und Haß gleichgültig.
Als er mit zwanzig Jahren in Italien weilte, hatte er einige vorübergehende Neigungen, deren Spuren in den »Italienischen Kantaten« erhalten sind So in der Kantate: »Partenza di G. F. Händel«, 1708.. Angeblich hatte er in Hamburg eine Liebesgeschichte, als er zweiter Geiger im dortigen Opernorchester war. Er verliebte sich in eine Schülerin, ein junges Mädchen aus guter Familie, und wollte sie heiraten, allein die Mutter erklärte, daß sie niemals die Zustimmung zur Heirat ihrer Tochter mit einem Geigenkratzer geben würde. Später, als die Mutter starb und Händel berühmt wurde, ließ man ihn wissen, daß die Hindernisse beseitigt seien; allein er antwortete, die richtige Zeit sei vorüber, und, so erzählt sein Freund Schmidt, der als romantischer Deutscher das Bedürfnis fühlt, die Geschichte ein wenig auszuschmücken, »die junge Dame verfiel in ein Siechtum, welches ihrem Leben bald ein Ende machte«. – Etwas später, in London, taucht ein neues Heiratsprojekt mit einer vornehmen jungen Dame auf, gleichfalls einer Schülerin, aber diese aristokratische Persönlichkeit wünschte, daß er seinen Beruf aufgäbe. Der empörte Händel löste entschlossen ein Verhältnis, welches die großen Fähigkeiten seines Geistes eingeengt haben würde. Siehe Chrysander und Coxe's Anekdoten von Händel und Schmidt. Hawkins erzählt: »Seine Wünsche nach Geselligkeit waren nie sehr stark, und daher kommt es wahrscheinlich, daß er Junggeselle blieb; man sagt, er habe keinerlei Verkehr mit Frauen gehabt.« Schmidt, der ihn viel besser kannte als Hawkins, erklärt dagegen, Händel sei keineswegs ungesellig gewesen, aber sein wütendes Unabhängigkeitsbedürfnis fürchtete Erniedrigung und scheute die unlösbaren Fesseln.
An Stelle der Liebe kannte und übte er die Freundschaft. Er wußte Anhänglichkeit von rührender Tiefe zu erwecken, wie die jenes Schmidt, der 1726 sein Vaterland und seine Familie verließ, um ihm zu folgen, und sich bis zu seinem Tode nicht mehr von ihm trennte. Seine Freunde fanden sich unter den besten Geistern der Zeit: so der kluge Dr. Arbuthnot, hinter dessen scheinbarem Epikureertum sich eine stoische Menschenverachtung verbarg und der in seinem letzten Briefe an Swift das wunderbare Wort fand: »Der Welt zuliebe den Pfad der Ehre und der Tugend verlassen, das ist die Welt nicht wert.« Händel hatte auch einen tiefen und pietätvollen Familiensinn, der ihn nie verließ Namentlich liebte er eine Schwester, die 1718 starb, und seine Mutter, deren Tod 1730 erfolgte. Später übertrug er seine Zuneigung auf die Tochter seiner Schwester, Johanna Friederika, geborene Michaelsen, der er auch sein ganzes Hab und Gut hinterließ. und dem er in einigen ergreifenden Figuren Gestalt lieh, so in der guten Mutter im »Salomon« und im »Joseph«.
Aber seine schönste und reinste Empfindung war die Mildtätigkeit. In diesem Lande, das im 18. Jahrhundert eine prachtvolle Bewegung menschlichen Solidaritätsgefühls sah Die Gründung von Hospitälern und Wohltätigkeitsanstalten. Diese Bewegung, um die Mitte des 18. Jahrhunderts in ganz Großbritannien bewundernswert stark, erreichte ihren Höhepunkt in Irland., war er einer der wärmsten Anwälte der Unglücklichen. Seine Großmut erstreckte sich nicht auf jene allein, die er persönlich kannte, wie auf die Witwe seines einstigen Lehrers Zachau, sie strömte sich beständig im reichsten Maße aus, zum Besten aller wohltätigen Anstalten und besonders für zwei, die seinem Herzen nahestanden: das Hilfswerk für arme Musiker und das für verlassene Kinder.
The Society of Musicians war im Jahre 1738 von einer Gruppe der hervorragendsten Londoner Künstler gegründet worden, um verarmten Kollegen und ihren Familien zu Hilfe zu kommen. Alte Musiker bekamen zehn Schilling pro Woche, Witwen sieben. Man trug auch Sorge für ein anständiges Begräbnis. Händel war, so übel es ihm oft erging, großmütiger als alle andern. Am 20. März 1739 dirigierte er zum Vorteil der Gesellschaft auf seine Kosten das »Alexanderfest« nebst einem neuen Orgelkonzert, das er für diese Gelegenheit geschrieben hatte. Am 28. März 1740, mitten in seiner bösesten Zeit, dirigierte er »Acis und Galatea« und die kleine Cäcilienode. Am 18. März 1741 veranstaltete er eine für ihn sehr lästige Galavorstellung des »Parnasso in Festa« mit Dekorationen und Kostümen und fünf Solokonzerten, die von den berühmtesten Instrumentalisten ausgeführt wurden. Er stiftete tausend Pfund, den höchsten Betrag, der bei der Gesellschaft einging.
Was das Foundling Hospital anbetrifft, das 1739 von dem alten Seemann Thomas Coram »zur Hilfeleistung und Erziehung verlassener Kinder« gegründet worden war, »so kann man sagen,« schrieb Mainwaring, »daß es Händel seine Existenz und sein Aufblühen verdankte«. In der Musical Times vom 1. Mai 1902 sind sehr viele Dokumente über das Foundling Hospital und Händels Direktionstätigkeit enthalten. Händel schrieb 1749 sein schönes »Anthem for the Foundling Hospital« zu dessen Gunsten. 1750 wurde er zum governor (Administrator) dieser Anstalt gewählt, nachdem er ihr eine Orgel gestiftet hatte. Es ist bekannt, daß sein »Messias« zum ersten Male und auch in der Folge fast immer zugunsten wohltätiger Veranstaltungen aufgeführt wurde. Die erste Aufführung in Dublin, am 12. April 1742, fand zum Besten der Armen statt. Das Erträgnis wurde gleichermaßen unter die Hilfsgesellschaft für Schuldgefangene, das Armenhospital Freispital, 1726 von sechs Chirurgen gegründet. und das Mercersche Krankenhaus verteilt. Als der Erfolg des »Messias« sich – nicht ohne Widerstände – in London bestätigt hatte, beschloß Händel, ihn alljährlich zum Besten des Findelhauses aufzuführen. Selbst als er schon erblindet war, dirigierte er noch die Aufführungen. Von 1750 bis zum Todesjahre Händels 1759 brachte der »Messias« dem Institut der verlassenen Kinder 6955 Pfund Sterling ein. Händel hatte seinem Verleger Walsh verboten, etwas aus dem Werke zu veröffentlichen, dessen erste Ausgabe erst 1763 erschien, und er vermachte dem Hause eine Kopie der Partitur mit allen Stimmen. Er hatte eine andere der Hilfsgesellschaft für Schuldgefangene in Dublin gegeben mit der Erlaubnis, »sie zu ihren Gunsten zu verwerten, wie es ihr gut scheine«.
Diese Liebe zu den Armen hat Händel einige seiner zartesten Stücke eingegeben, darunter einige Stellen des »Foundling Anthem«, die voll der rührendsten Güte sind, oder den ergreifenden Anruf der Waisen und verlassenen Kinder, deren herbe, klare Stimmen sich ganz einsam, wie entblößt, inmitten eines Triumphgesanges im »Funeral Anthem« erheben, um Zeugnis für die Mildherzigkeit der verstorbenen Königin abzulegen.
Fast auf den Tag ein Jahr vor Händels Tode findet man im Register des Foundling Hospital den Namen einer kleinen Maria Augusta Händel, geboren am 15. April 1758. Das war ein verlassenes Kind, dem er seinen Namen gegeben hatte.
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Die Güte war sein wahrer Glaube. Er liebte Gott in den Armen.
Im übrigen war er wenig religiös in der strengen Bedeutung des Wortes – und wurde es erst am Ende seines Lebensweges, als ihn seine Blindheit völlig von dem Umgang mit Menschen abschloß und ihn fast ganz isolierte. Hawkins sah ihn, in den drei letzten Jahren, hingegeben an dem Gottesdienst in seiner Gemeinde (St. George, Hanover Square) teilnehmen, wo er »auf den Knien lag und in seiner Stellung und seinen Gebärden die tiefste Andacht ausdrückte«. Während seine? letzten Krankheit sagte er: »Ich möchte am Karfreitag sterben, damit ich die Hoffnung hätte, mich mit meinem Gott, meinem lieben Herrn und Heiland, am Tage seiner Auferstehung zu vereinigen.« Er starb am Morgen des Charsamstag.
Sonst im Leben und zur Zeit seiner vollen Kraft ging er indessen wenig in die Kirche. Er war als Lutheraner geboren und antwortete römischen Einflüssen, die ihn zu sich bekehren wollten, nicht ohne Ironie, »daß er in dem Glauben, in dem er auferzogen sei, auch sterben wolle, gleichviel ob er richtig oder falsch sei« Mainwaring.. Dennoch nahm er später keinen Anstoß daran, sich der englischen Kirche unterzuordnen, der er im übrigen für ziemlich ungläubig galt.
Seine Seele war religiös, wie immer sein Glaube auch sein mochte, und er hatte einen hohen Begriff von den moralischen Aufgaben der Kunst. Nach der ersten Londoner Aufführung seines »Messias« sagte er einem vornehmen Herrn: »Es täte mir leid, Mylord, wenn ich den Menschen Vergnügen bereitete; mein Ziel ist, sie zu bessern.« Zitiert von Schoelcher.
Solange er lebte, war sein moralischer Charakter allgemein und öffentlich anerkannt, wie Beethoven stolz von sich sagte.
Brief an den Wiener Magistrat vom 1. Februar 1819. Selbst in seiner umstrittensten Zeit erkannten klarblickende Bewunderer den sozialen und moralischen Wert seiner Kunst. Ein 1745 in englischen Zeitungen veröffentlichtes Gedicht rühmte die wunderbare Macht der Musik des »Saul«, Schmerzen zu lindern, indem
sie den Schmerz verklärte. Ein am 18. April 1739 an die »London Daily Post« gerichteter Brief sagte, »ein Volk, das die Musik des »Israel in Ägypten« mitfühlte, hätte nichts zu fürchten, wenn auch der Feind drohend vor den Toren stünde«
Der Text lautet genau: »... wenn die Macht der Papisten gegen uns wäre«.
Es scheint, daß Händel selbst starken Eindruck von diesen Worten empfing. Als sieben Jahre später England von den papistischen Truppen überflutet wurde und die Armee des Prätendenten Karl Eduard bis an die Tore Londons vordrang, nahm Händel, der gerade mit dem »Occasional Oratorio«, dieser großen epischen Hymne an das bedrängte Vaterland und den schützenden Gott, beschäftigt war, in den dritten Teil des Werkes die schönsten Stellen aus dem »Israel« auf..
Keine andere Musik strömt eine solche Glaubenskraft aus. Dieser Glaube versetzt Berge und läßt wie Mosis Stab aus dem Felsen verhärteter Seelen die Quellen der Unendlichkeit strömen. Es gibt Stellen in den Oratorien, Aufschreie der Auferstehungsseligkeit, die ein lebendiges Wunder sind, wie Lazarus, der sich aus dem Grabe erhebt. So wenn im zweiten Akt der »Theodora« Chor: »Er sah den Jüngling ruhn«. Gottes machtvolles Gebot inmitten eines Todesschweigens ertönt:
»Steh«! rief sein Wort: der Jüngling steht empor.«
Oder in der »Trauerhymne« der berauschte, in seiner Seligkeit fast schmerzvolle Aufschrei der unsterblichen Seele, die sich vom Irdischen befreit und die Arme dem Herrn entgegenstreckt Chöre: »Doch ihr Nam lebt immerdar«, der mit den Trauerchören abwechselt: »ihr Leib kommt im Grabe zur Ruh«. Das Motiv hat Händel einer Motette eines alten deutschen Meisters im 16. Jahrhundert, seines Namensbruders Handl (Jakobus Gallus), entnommen: »Ecce quomodo, moritur justus«. Eine einfache rhythmische Veränderung hat genügt, um dem alten Choral Flügel zu geben, ihm einen ekstatischen Schwung zu verleihen, der plötzlich abbricht, als könne er, gleichsam nach Atem ringend, nicht mehr sprechen. Achtmal kehrt dieser Aufschrei im Verlauf des Werkes wieder..
Nichts aber kommt an seelischer Größe dem Chor gleich, der den zweiten Akt des »Jephtha« abschließt. Nichts läßt den heroischen Glauben Händels so erkennen wie die Geschichte dieses Werkes.
Als er es am 21. Januar 1751 zu schreiben begann, war er vollkommen gesund, trotz seiner Sechsundsechzig Jahre. Er schrieb den ersten Akt in einem Zuge innerhalb von zwölf Tagen. Nirgends ein Zeichen von Leiden, nie war sein Geist freier und von seinem Stoff unberührter gewesen Einige Arien der Iphis sind auf Tanzrhythmen aufgebaut; im ersten Akt »The smiling dawn« auf einem Bourée-Rhythmus; im zweiten »Welcome as the cheerful light« auf einer Gavotte.. Im Verlauf des zweiten wurde sein Blick mit einem Male trüb. Die anfangs so klare Handschrift wird undeutlich und zitterig Man kann die Fortschritte des Leidens genau in der Handschrift verfolgen, deren Faksimile Chrysander in der großen Breitkopfschen Ausgabe 1885 veröffentlicht hat.. Auch die Musik nimmt einen schmerzvollen Charakter an Diese Veränderung beginnt im zweiten Akt bei dem Entsetzensschrei Jephthas, als er seine Tochter zum Empfang herankommen sieht. Dann folgen eine Reihe schmerzvoller Arien Jephthas, der Mutter und des Verlobten der Iphis, dann ein Quartett, in das die Eltern der Iphis ihre Klagen mischen. Diesen Klagen antwortet die reine Stimme der Iphis, die sie tröstet, in einem Rezitativ, das den Himmel zu öffnen scheint, dann in einer schlichten Arie von mutiger Gelassenheit, hinter der sich der Schmerz und die Angst verbergen. Die Erregung steigert sich; Jephtha hat eine rezitativische Arie, die an die des Agamemnon in der »Iphigenie in Aulis« erinnert; zum Schluß stockt das Rezitativ, verlangsamt sich, scheint in Schmerz und Entsetzen zu ersterben; einige Phrasen könnten von Beethoven sein. Zum Schluß erhebt sich der Chor, inmitten dessen die Krankheit Händel zu Boden schlug.. Er hatte eben den Schlußchor des zweiten Aktes begonnen: »Wie hart, wie dunkel, Herr, ist dein Beschluß«, hatte die Introduktion vollendet, ein Largo mit pathetischen Modulationen, als er aufhören mußte. Er schreibt unten auf die Seite:
»Bis hierher, den 13 Februar 1751, verhindert worden wegen des Gesichts meines linken Auges.«
Zehn Tage unterbricht er die Arbeit, am elften notiert er in seinem Manuskript:
»Den 23. dieses etwas besser worden, wird angefangen.«
Er setzt Worte in Musik, die wie eine tragische Anspielung auf sein eigenes Schicksal sind:
»Unser Glück kehrt sich in Klage ... Licht und Glanz versinkt in Nacht.«
In fünf Tagen schleppt er sich mühsam bis zum Schluß dieses düstern Chors, der in dem Dunkel, das um ihn ist, eines der überwältigendsten Bekenntnisse der Macht des Glaubens über den Schmerz darstellt – er, dem früher fünf Tage genügten, um einen ganzen Akt zu schreiben! Am Ende dieses düsterwogenden Stückes murmeln einige Tenor- und Baßstimmen unisono leise:
»Wie's Gott auch fügt ...«
Sie zögern einen Augenblick, scheinen Atem zu schöpfen, und plötzlich bekennen alle Stimmen zusammen mit unerschütterlicher Überzeugungskraft:
»... ist's gut!«
Das ganze Heldentum Händels und seiner mutvollen Kunst, die von Tapferkeit und Glaubensfeuer glüht, lodert noch einmal auf in diesem Schrei eines sterbenden Herkules.