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Drittes Buch
Jugendzeit

I

Das Haus war in Stille versunken. Seit des Vaters Tod schien alles erstorben. Jetzt, da die lärmende Stimme Melchiors zum Schweigen gekommen war, hörte man vom Morgen bis zum Abend nichts mehr als das einschläfernde Murmeln des Flusses.

Christof hatte sich von neuem in hartnäckige Arbeit gestürzt. In einer stummen Wut schien er sich dafür zu bestrafen, daß er hatte glücklich sein wollen. In seinem Stolz erstarrt, erwiderte er alle Beileidsbezeigungen und zärtlichen Worte mit Schweigen. Stumm spannte er sich an seine täglichen Aufgaben und gab mit eisiger Genauigkeit seine Stunden. Seine Schüler, die das ihm widerfahrene Unglück kannten, waren von seiner Fühllosigkeit verletzt. Die aber, welche älter und in Schmerzen schon etwas erfahren waren, wußten, daß solche scheinbare Kälte bei einem Kinde viel Leid verbergen konnte; und sie hatten Mitleid mit ihm. Er dankte ihnen ihre Anteilnahme durchaus nicht. Selbst die Musik brachte ihm keinerlei Erleichterung. Er übte sie freudlos wie eine Pflicht aus. Man hätte meinen können, daß er eine grausame Genugtuung darin fände, an nichts mehr Freude zu haben oder sie sich auszureden, sich jedes Lebenszweckes zu berauben und dennoch weiter zu leben.

Seine beiden Brüder hatten das Trauerhaus, das sie in seinem Schweigen bedrückte, eilig geflohen. Rudolf war in das Handelshaus seines Onkels Theodor eingetreten und wohnte bei ihm. Was Ernst betraf, so hatte er es schon mit zwei oder drei Berufen versucht und sich endlich auf einem der Rheindampfer anstellen lassen, die zwischen Mainz und Köln den Dienst besorgen; er tauchte nur auf, wenn er Geld brauchte. So blieb Christof mit seiner Mutter allein in dem allzu großen Haus; und die Kargheit der Mittel, die Zahlung gewisser Schulden, die nach des Vaters Tode zum Vorschein gekommen waren, bestimmten sie, so schwer es ihnen wurde, sich ein bescheideneres und weniger kostspieliges Unterkommen zu suchen. Sie fanden eine kleine Wohnung, – zwei oder drei Zimmer im zweiten Stockwerk eines Hauses in der Marktstraße. Die Gegend war laut, im Zentrum der Stadt, fern dem Fluß, fern den Bäumen, fern dem freien Land und allen vertrauten Plätzen. Aber es galt der Vernunft und nicht dem Gefühl zu gehorchen, und Christof fand dabei gute Gelegenheit, sein gramvolles Bedürfnis nach Kasteiung zu befriedigen. Übrigens war der Hauseigentümer, der alte Kanzleirat Euler, Großvaters Freund gewesen und kannte die ganze Familie: das war genug, um Luisens Entschluß zu befestigen; sie sah sich in dem leeren Haus verloren und fühlte sich unwiderstehlich zu denen hingezogen, welche die ihr teuren Wesen noch gekannt hatten.

So bereiteten sie den Auszug vor. Lange kosteten sie die bittere Wehmut der letzten Tage aus, die man im lieben traurigen Heim verlebt, das man auf immer verläßt. Kaum wagten sie sich gegenseitig ihren Kummer einzugestehen; sie empfanden davor Scham oder Angst. Jeder meinte, er dürfe dem andern seine Schwäche nicht zeigen. Bei Tisch, wenn sie ganz allein in dem düsteren Zimmer bei halbgeschlossenen Vorhängen saßen, wagten sie die Stimme nicht zu erheben, beeilten sich mit dem Essen und vermieden, aus Furcht ihre Erregung nicht verbergen zu können, sich anzuschauen. Gleich nachher gingen sie auseinander. Christof ging wieder an seine Berufsarbeit; aber sobald er einen Augenblick frei war, kam er zurück, schlich sich heimlich wieder ins Haus, stieg auf den Fußspitzen in sein Zimmer oder auf den Boden hinauf. Dann schloß er die Tür, setzte sich auf einen alten Koffer oder aufs Fensterbrett in einen Winkel und blieb da, ohne zu denken, indem er sich nur mit dem unbestimmten Summen des alten Hauses, das beim geringsten Schritt bebte, vollsog. Sein Herz erzitterte wie das Haus. Er erspähte angstvoll jeden leisesten Hauch von drinnen oder draußen, das Krachen der Diele, jedes der unmerklichen und vertrauten Geräusche: er kannte sie alle wieder. Sein Bewußtsein schwand, sein Denken wurde von den Bildern der Vergangenheit überspült; erst beim Klang der Sankt Martins-Uhr, die ihn dran erinnerte, daß es Zeit zum Wiederfortgehen sei, tauchte er aus seiner Betäubung empor.

In dem unteren Stockwerk kam und ging leise Luises Schritt. Dann hörte man ihn stundenlang nicht mehr; sie machte keinerlei Geräusch. Christof horchte hinab; er stieg hinunter und war ein wenig unruhig, wie man es nach einem großen Unglück lange bleibt. Er öffnete halb die Tür: Luise wandte ihm den Rücken zu. Sie saß vor einem Wandschrank, inmitten eines Wirrwarrs von Sachen: Kleiderzeug, altem Kram, unvollständig gewordenen Stücken, Erinnerungen, die sie unter dem Vorwand, sie zu ordnen, herausgezogen hatte. Aber die Kraft fehlte ihr: jedes rief ihr etwas wach; sie drehte und wendete sie zwischen den Fingern und begann zu träumen; der Gegenstand entglitt ihren Händen; sie blieb stundenlang mit herabhängenden Armen schlaff und in schmerzhafter Erstarrung verloren auf ihrem Stuhle sitzen.

Die arme Luise verlebte jetzt den besten Teil ihres Lebens in der Vergangenheit – der trüben Vergangenheit, die für sie mit Freuden recht gegeizt hatte; aber sie war so gewohnt zu leiden, daß sie für die geringsten empfangenen Wohltaten Dankbarkeit bewahrte, und die bleichen Lichtschimmer, die hier und da in der Folge grauer Tage aufgeleuchtet waren, ihr schon genügten, diese zu erhellen. Alles Böse, das Melchior ihr zugefügt hatte, war vergessen, sie erinnerte sich nur an das Gute. Die Geschichte ihrer Heirat war der große Roman ihres Lebens gewesen. Hatte sich Melchior durch eine Laune, die er schnell bereute, hineinziehen lassen, so hatte sie sich ihm doch mit ganzem Herzen gegeben. Sie glaubte sich geliebt, wie sie selber liebte; und sie hatte dafür Melchior eine gerührte Dankbarkeit bewahrt. Was er später geworden war, suchte sie nicht zu begreifen. Sie war unfähig, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist; als demütige und gute Frau, die, um zu leben, das Leben nicht zu verstehen braucht, wußte sie nur, diese Wirklichkeit so hinzunehmen, wie sie ist. Was sie sich nicht erklärte, überließ sie Gott ihr aufzuklären. In einer eigentümlichen Art von Frömmigkeit schob sie Gott alle Verantwortung für die Ungerechtigkeiten zu, die sie von Melchior und andern hatte dulden müssen, und rechnete diesen nur das Gute an, was sie von ihnen empfangen hatte. So war ihr nach einem Leben voller Elend keine bittere Erinnerung zurückgeblieben. Sie fühlte sich nur – schwächlich wie sie war – durch all die Jahre der Entbehrungen und Anstrengungen verbraucht; und jetzt da Melchior nicht mehr war, jetzt da zwei ihrer Söhne dem Heim entflohen waren und der dritte sie entbehren zu können schien, hatte sie alle Kraft des Handelns verloren; sie war müde, schlaftrunken, ihr Wille war betäubt. Sie machte eine jener neurasthenischen Krisen durch, die am Abend des Lebens oft tätige und arbeitsame Menschen befallen, wenn ein unvorhergesehener Schlag sie jedes Lebensinhalts beraubt. Sie hatte nicht mehr die Energie, den Strumpf, den sie strickte, zu vollenden, die Schublade, in der sie suchte, in Ordnung zu bringen, aufzustehen, um das Fenster zu schließen: sie blieb sitzen, die Gedanken leer, ohne Kraft – außer der der Erinnerung. Sie war sich ihres Verfalls bewußt, und sie errötete darüber wie über eine Schande; sie mühte sich, ihn ihrem Sohne zu verbergen; und Christof, der im Egoismus des eignen Schmerzes befangen war, hatte nichts gemerkt. Allerdings war er innerlich oft ungeduldig gegen die Schwerfälligkeit, mit der seine Mutter jetzt sprach, handelte und die geringsten Dinge tat. Aber so verschieden diese Art auch von ihrer gewohnten Tätigkeitslust war, er hatte sich bisher nicht darum gesorgt.

An jenem Tage plötzlich wurde er zum erstenmal davon betroffen, als er sie inmitten all des Krams überraschte, der auf dem Boden ausgebreitet, zu ihren Füßen angehäuft lag, ihre Hände füllte, ihre Knie bedeckte. Sie saß mit steifem Hals, den Kopf nach vorn gestreckt, das Gesicht zusammengekrampft und starr. Als sie ihn eintreten hörte, zuckte sie zusammen; die Röte stieg ihr in die weißen Wangen; mit einer unwillkürlichen Bewegung mühte sie sich, die Dinge, die sie hielt, zu verstecken, und stammelte mit verlegenem Lächeln:

»Du siehst, ich mache Ordnung …«

Da packte ihn das ergreifende Bild dieser armen, gescheiterten Seele zwischen den Heiligtümern ihrer Vergangenheit, und er wurde von Mitleid erfaßt. Doch, um sie ihrer Apathie zu entreißen, nahm er einen etwas barschen und scheltenden Ton an: »Vorwärts, Mama, vorwärts, du mußt nicht immer so mitten im Staub, in diesem abgesperrten Zimmer bleiben! Das tut nicht gut. Man muß das abschütteln, man muß mit all dieser Ordnerei ein Ende machen.«

»Ja,« sagte sie gefügig.

Sie versuchte aufzustehen, um die Dinge wieder in ihr Fach zu legen. Aber gleich setzte sie sich wieder und ließ, was sie ergriffen hatte, mutlos fallen.

»Ach, ich kann nicht, ich kann nicht,« seufzte sie, »ich werde niemals damit fertig.«

Er erschrak. Er neigte sich über sie. Er streichelte ihre Stirn mit den Händen.

»Aber Mama, was hast du denn?« sagte er. »Willst du, daß ich dir helfe? Bist du krank?«

Sie antwortete nicht. Ein innerliches Schluchzen überkam sie. Er nahm ihre Hände, er kniete vor ihr nieder, um sie im Halbdunkel des Zimmers besser zu sehen.

»Mama!« sagte er beunruhigt.

Luise lehnte ihre Stirn an seine Schulter und gab sich einem Tränenausbruch hin.

»Mein Kleiner,« wiederholte sie immer wieder, indem sie sich an ihn schmiegte, »mein Kleiner! … Du wirst mich nicht verlassen? Versprich mir, du verläßt mich nicht?«

Sein Herz war von Mitgefühl zerrissen:

»Nein doch, Mama, ich verlasse dich nicht. Wie kommst du denn auf diese Idee?«

»Ich bin so unglücklich! Alle haben sie mich verlassen, alle …« Sie zeigte auf die Dinge, die rings um sie lagen, und man wußte nicht, ob sie von ihnen sprach oder von ihren Söhnen und ihren Toten.

»Du bleibst bei mir? Du wirst mich nicht verlassen? Was soll aus mir werden, wenn du auch fortgehst?«

»Ich gehe nicht fort. Ich sage dir, wir bleiben zusammen. Weine nicht mehr. Ich verspreche es dir.«

Sie weinte weiter, ohne sich Einhalt tun zu können. Er trocknete ihr die Augen mit seinem Taschentuch.

»Was hast du, liebe Mama? Fehlt dir etwas?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was ich habe.« Sie gab sich Mühe, ruhig zu werden und zu lächeln.

»Wenn ich noch so sehr dagegen ankämpfe: um ein Nichts fange ich an zu weinen … Da siehst du, ich fange schon wieder an … Verzeih mir. Ich bin dumm; ich bin alt; ich habe keine Kraft mehr. Nichts macht mir mehr Spaß. Ich bin zu nichts mehr gut. Ich wünschte, ich wäre mit all dem da eingescharrt …«

Er drückte sie wie ein Kind an sein Herz.

»Quäle dich nicht, ruhe aus, denke nichts mehr …«

Nach und nach beruhigte sie sich.

»Es ist so albern, ich schäme mich … Aber was ist das nur, was habe ich?«

Die alte arbeitsame Frau konnte nicht verstehen, warum ihre Kraft plötzlich gebrochen war; und sie war bis ins tiefste davon beschämt. Er tat, als ob er nichts davon merke.

»Ein wenig Übermüdung,« sagte er, indem er versuchte, einen gleichmütigen Ton anzuschlagen. »Das hat nicht viel zu bedeuten, du wirst sehen …«

Aber auch er war beunruhigt. Von Kindheit an war er gewohnt, sie tapfer, resigniert und allen Schicksalsschlägen gegenüber still, widerstandsfähig zu sehen. Und er faßte es nicht, daß sie so plötzlich gebrochen war: er hatte Angst.

Er half ihr, die auf dem Boden verstreuten Sachen aufzusammeln. Von Zeit zu Zeit verweilte sie bei einem Gegenstand; aber er nahm ihn ihr sanft aus den Händen, und sie ließ ihn gewähren.

 

Von diesem Augenblick an machte er es sich zur Pflicht, mehr mit ihr zusammen zu sein. Sobald er seine Tagesarbeit beendet hatte, kam er zu ihr, anstatt sich, wie er es gern tat, bei sich einzuschließen. Er fühlte jetzt, wie sehr allein sie war, und daß sie nicht stark genug war, um es ertragen zu können: es war gefährlich, sie sich selbst zu überlassen.

So setzte er sich abends neben sie ans offene Fenster, das auf den Weg hinausschaute. Das Land verlosch nach und nach. Die Leute kehrten heim. Fern entzündeten sich die kleinen Lichter in den Häusern. Tausendmal hatten sie das gesehen. Bald aber sollten sie es nicht mehr schauen. Ab und zu wechselten sie ein Wort. Mit immer neuer Anteilnahme machten sie sich gegenseitig auf die geringsten bekannten und vorhergesehenen Begebenheiten des Abends aufmerksam. Sie schwiegen lange. Oder Luise rief ohne offenbaren Grund eine Erinnerung, eine unzusammenhängende Geschichte, die ihr durch den Kopf ging, wach. Jetzt, da sie ein liebevolles Herz in ihrer Nähe fühlte, löste sich ihre Zunge ein wenig. Sie gab sich Mühe zu sprechen. Es wurde ihr schwer; denn sie hatte sich daran gewöhnt, abseits von den Ihren zu stehen: sie hielt ihre Söhne und ihren Mann für zu klug, um mit ihr zu plaudern, und wagte nicht, sich in ihre Unterhaltung zu mischen. Christofs sanfte Fürsorge war ihr etwas ganz Neues und unendlich Süßes, aber es schüchterte sie ein. Sie suchte ihre Worte zusammen, hatte Mühe, sich auszudrücken; ihre Sätze blieben unvollendet, dunkel. Manchmal schämte sie sich dessen, was sie sagte; sie schaute ihren Sohn an und hörte mitten in einer Geschichte auf. Er aber drückte ihr die Hand, und sie fühlte sich wieder sicher. Er war von Mitleid und Liebe für diese kindliche und mütterliche Seele durchtränkt, an die er sich als Kind angeschmiegt hatte, und die nun in ihm einen Halt suchte. Und er fand einen schwermütigen Genuß an diesen kleinen, für jeden andern als für ihn interesselosen Schwätzereien, den unbedeutenden Erinnerungen eines stets beschränkten und freudlosen Lebens, die jedoch Luise unendlich wichtig schienen. Manchmal suchte er sie zu unterbrechen; er fürchtete, daß diese Erinnerungen sie noch mehr niederdrücken könnten, und er redete ihr zu, sich ins Bett zu legen. Sie verstand seinen Gedankengang und sagte mit dankbarem Blick zu ihm:

»Nein, wirklich, es tut mir gut; bleiben wir noch ein wenig.«

So blieben sie bis spät in den Abend, bis ringsumher alles entschlafen war. Dann sagten sie sich gute Nacht; sie ein wenig erleichtert, weil sie sich von einem Teil ihrer Leiden befreit hatte; er, das Herz ein wenig schwer von dieser neuen Bürde, welche der, die er schon trug, noch aufgeladen wurde.

Der Tag des Auszugs kam heran. Am Abend vorher blieben sie länger als gewöhnlich in dem lichtlosen Zimmer. Sie sprachen nicht miteinander. Von Zeit zu Zeit seufzte Luise: »O mein Gott!« Christof versuchte seine Aufmerksamkeit mit tausend kleinen Einzelheiten des Umzugs am nächsten Morgen zu beschäftigen. Sie wollte nicht zu Bett gehen. Er zwang sie zärtlich dazu. Aber er selbst legte sich, nachdem er in sein Zimmer hinaufgestiegen war, noch lange nicht hin. Ans Fenster gelehnt, mühte er sich das Dunkel zu durchdringen, ein letztesmal zu Füßen des Hauses die bewegten Nebelschatten des Stromes zu schauen. Er hörte den Wind in den großen Bäumen von Minnas Garten. Der Himmel war schwarz. Kein Mensch auf der Straße. Ein kalter Regen begann zu fallen. Die Wetterfahnen knirschten. In einem Nachbarhause weinte ein Kind. Die Nacht lastete mit erdrückender Traurigkeit auf Erde und Seele. In die trübselige Stille, die das Geräusch des Regens auf Dächern und Pflaster unterbrach, fielen mit gesprungenem Klang die eintönigen Stundenschläge, die Halben, die Viertel – eines nach dem andern.

Als sich Christof endlich mit erstarrtem Herzen und Körper entschloß, zu Bett zu gehen, hörte er, wie sich das Fenster unter dem seinen schloß. Und auf seinem Lager dachte er schmerzvoll, daß es für die Armen grausam ist, wenn sie an der Vergangenheit hängen; denn sie haben nicht das Recht an eine Vergangenheit wie die Reichen; sie haben nicht Haus, nicht Winkel auf Erden, wo sie ihren Erinnerungen Unterschlupf geben können: ihre Freuden, ihre Leiden, all ihre Tage sind in den Wind gestreut.

 

Am nächsten Morgen überführten sie durch den strömenden Regen ihre armseligen Habseligkeiten in die neue Behausung. Fischer, der alte Tapezier, hatte ihnen ein Wägelchen und sein Pferd geliehen; und er selber kam, um ihnen zur Hand zu gehen. Aber sie konnten nicht alle Möbel mit sich nehmen; denn die Wohnung, welche sie bezogen, war bedeutend kleiner als die alte. Christof mußte seine Mutter überreden, die ältesten und unbrauchbarsten Stücke zurückzulassen. Das gelang nicht ohne Schwierigkeit; die geringsten hatten ihren Wert für sie: ob es ein hinkender Tisch, ein zerbrochener Stuhl war, sie wollte nichts opfern. Fischer, dem seine alte Freundschaft mit Großvater Autorität gab, mußte seine brummende Stimme mit der Christofs vereinen, und er versprach ihr schließlich, als guter Kerl, der ihr Leid verstand, einiges von ihrem kostbaren Gerümpel in Verwahrung zu nehmen, damit sie es eines Tages zurückhaben könnte. Da erst willigte sie mit zerrissenem Herzen ein, sich davon zu trennen.

Die beiden Brüder waren von dem Umzug verständigt worden; aber Ernst war am Abend vorher gekommen, um zu sagen, daß er nicht dabei sein könne; und Rudolf erschien nur gegen Mittag für einen Augenblick; er sah, wie die Möbel aufgeladen wurden, gab einige Ratschläge und ging mit vielbeschäftigter Miene wieder davon.

Der Zug setzte sich durch die kotigen Straßen in Bewegung. Christof hielt das Pferd am Zügel, das auf dem glitschigen Pflaster ausglitt. Luise ging neben ihrem Sohn und suchte ihn vor dem unablässig fallenden Regen zu schirmen.

Und dann kam der düstere Einzug in die feuchte Wohnung, die durch den bleichen Widerschein des Himmels noch trübseliger schien. Sie hätten der Niedergeschlagenheit, die sie bedrückte, nicht stand gehalten, wenn nicht die Aufmerksamkeiten ihrer Wirte gewesen wären. Aber als der Wagen fort war, die Möbel drüber und drunter im Zimmer aufgestapelt standen, als die Nacht sank und Christof und Luise, der eine erschöpft auf einer Kiste, die andere auf einen Sack gesunken waren, hörten sie auf der Treppe ein kleines trocknes Hüsteln: es klopfte an ihre Türe. Der alte Euler trat ein, entschuldigte sich umständlich, daß er seine lieben Gäste störe, und fügte hinzu, daß er hoffe, sie würden, um den ersten Abend ihrer glücklichen Ankunft zu feiern, ihm die Freude machen mit seiner Familie Abendbrot zu essen. Die ganz in ihre Traurigkeit versunkene Luise wollte ablehnen. Christof fühlte sich ebensowenig durch solche Familienzusammenkunft verlockt; aber der Alte bestand darauf, und Christof, der daran dachte, daß es für seine Mutter besser sei, diesen ersten Abend nicht in dem neuen Zuhause allein mit ihren Gedanken zu verleben, zwang sie, zuzusagen. Sie stiegen in das untere Stockwerk hinab, wo sie die ganze Familie versammelt fanden: den Alten, seine Tochter, seinen Schwiegersohn Vogel und seine Enkelkinder, einen Knaben und ein Mädchen, die etwas jünger als Christof waren. Alle bemühten sich um sie, wünschten ihnen Willkommen, erkundigten sich, ob sie müde seien, ob sie mit ihren Zimmern zufrieden seien, ob sie nichts brauchten, und stellten ihnen zehn Fragen, von denen der verdutzte Christof nichts verstand; denn sie sprachen alle auf einmal. Die Suppe war schon aufgetragen: sie setzten sich zu Tisch. Doch der Lärm dauerte fort. Amalie, Eulers Tochter, hatte gleich begonnen, Luise mit allen örtlichen Besonderheiten der Gegend bekannt zu machen, den Gewohnheiten und Vorzügen des Hauses, der Stunde, zu der der Milchmann vorbeikam, der Stunde, zu der sie aufstand, den verschiedenen Lieferanten und den Preisen, die sie zahlte. Sie ließ sie nicht eher los, bis sie alles erklärt hatte. Die betäubte Luise gab sich Mühe, ihren Auseinandersetzungen Interesse entgegenzubringen; aber die Zwischenbemerkungen, die sie zufällig machte, bezeugten, daß sie nichts verstanden hatte, und veranlaßten entsetzte Ausrufe Amaliens und erneuerte Aufklärungen. Der alte Kanzleirat Euler setzte Christof die Schwierigkeiten des musikalischen Berufes auseinander. Christofs andere Nachbarin, Amaliens Tochter, Rosa, sprach seit dem Beginn der Mahlzeit ohne innezuhalten mit solcher Zungenfertigkeit, daß sie nicht Zeit zum Atmen fand: die Luft versagte ihr mitten im Satz; aber es ging gleich wieder weiter. Vogel beklagte sich trübselig über sein Essen. Und es gab deswegen leidenschaftliche Erörterungen. Amalie, Euler, die Kleine unterbrachen ihre Reden, um am Streit mit teilzunehmen; und es erhoben sich endlose Meinungsverschiedenheiten wegen der Frage, ob das Ragout zu viel oder zu wenig gesalzen sei: sie riefen einer den andern zum Zeugen an; und natürlich war keine Ansicht der andern gleich. Jeder zuckte über den Geschmack seines Nachbarn die Achseln und hielt nur den seinen für gesund und vernünftig. Man hätte darüber bis zum jüngsten Gericht streiten können.

Schließlich aber verständigten sich alle miteinander, um gemeinsam über die schlechten Zeiten zu stöhnen. Sie bejammerten herzlich den Kummer Luisens und Christofs, dessen tapferes Verhalten sie in Ausdrücken lobten, die ihn rührten. Sie gefielen sich darin, nicht nur an das Unglück ihrer Gäste zu erinnern, sondern auch an ihres, das ihrer Freunde und aller derer, die sie kannten; und sie waren sich einig, daß die Guten immer unglücklich und daß nur den Egoisten und unanständigen Leuten Freuden vorbehalten seien. Sie kamen zum Schluß, daß das Leben traurig und zu nichts nütze sei, und daß es viel besser wäre, tot zu sein, läge es nicht wie es schiene in Gottes Willen, daß man lebe, um zu leiden. Da diese Gedankengänge mit Christofs augenblicklichem Weltschmerz zusammentrafen, flößten sie ihm größere Achtung für seine Wirte ein, und er schloß vor ihren kleinen Wunderlichkeiten die Augen.

Als er mit seiner Mutter in das ungeordnete Zimmer hinaufstieg, fühlten sie sich traurig und müde, aber etwas weniger einsam. Während Christof, die Augen in die Nacht geöffnet, vor Übermüdung und Straßenlärm nicht schlafen konnte, denn schwere Wagen erschütterten die Mauern, suchte er sich zu überzeugen, daß er hier, wenn nicht glücklicher, so doch weniger unglücklich sei, war er doch unter braven Leuten, die, wenn sie auch ein wenig langweilig waren, dieselben Leiden wie er zu tragen hatten, die mit ihm zu fühlen schienen und die er zu verstehen glaubte.

Aber, nachdem er schließlich gerade eingeschlummert war, wurde er bei Tagesanbruch schon wieder unsanft durch die Stimmen seiner miteinander streitenden Nachbarn und durch das Knirschen der Pumpe geweckt, die eine aufgeregte Hand in Bewegung setzte, um darauf eine große Waschung des Hofes und der Treppe vorzunehmen.

 

Justus Euler war ein kleiner gebeugter Greis mit trüben, unruhigen Augen, einem roten zerknitterten und ausgebuckelten Gesicht, zahnlosem Munde und schlechtgepflegtem Bart, den er unaufhörlich mit seinen Händen zauste. Sehr brav, ein wenig spießbürgerlich und tief anständig, hatte er sich ziemlich gut mit Großvater verstanden. Man behauptete, daß er ihm ähnlich sähe. In der Tat war er von derselben Generation und in denselben Lebensanschauungen aufgewachsen; aber es fehlte ihm das kräftige physische Leben Hans Michels: das heißt, wenn er in vielen Punkten auch noch so sehr wie er dachte, ähnelte er ihm im Grunde kaum; denn viel mehr als Gedanken macht das Temperament die Menschen; und wieviel eingebildete oder wirkliche Unterschiede die Intelligenz auch immer zwischen den Menschen schafft, die große Gliederung der Menschheit ist die zwischen den gesunden und denen, die es nicht sind. Der alte Euler gehörte nicht zu den ersteren. Er redete moralisch wie Großvater; aber seine Sittlichkeit war nicht dieselbe wie Großvaters; sie hatte nicht dessen widerstandsfähigen Magen, dessen Lungen und dessen joviale Kraft. Bei ihm und den Seinen war alles nach sparsamerem und kärglicherem Plan gebaut. Nachdem er vierzig Jahre Beamter gewesen und jetzt pensioniert war, litt er schwer an seiner Tatlosigkeit, die alten Männern so trübselig wird, wenn sie sich für ihre letzten Jahre nicht ein Innenleben aufgespart haben. Alle seine angeborenen oder erworbenen Gewohnheiten, alle Gewohnheiten seines Berufs hatten ihm etwas Zaghaftes und Grämliches verliehen, das in irgendeinem Grad auch bei jedem seiner Kinder wieder auftauchte.

Sein Schwiegersohn, Subalternbeamter der Schloßkanzlei, war ungefähr fünfzig Jahre alt. Er war groß und stark und ganz kahl, trug eine an die Schläfen geklebte goldene Brille und sah blühend aus, glaubte sich aber immer krank und war es wohl auch; denn sein Denken war in der Nichtigkeit des Berufes versauert und sein Körper durch die sitzende Lebensweise verdorben; natürlich hatte er darum lange nicht alle Leiden, die er sich einbildete, aber er war trotz großem und nicht einmal ganz verdienstlosem Fleiß, ja selbst trotz einer gewissen Bildung das Opfer des widersinnigen modernen Lebens geworden und wie so viele an ihre Schreibtische gekettete Angestellte dem Dämon der Hypochondrie verfallen. Einer jener Unseligen, die Goethe »traurige ungriechische Hypochonder« nannte und die er bedauerte, aber sorgfältig mied.

Amalie tat weder das eine noch das andere. Robust, laut und tatkräftig, ließ sie sich von dem Gejammer ihres Mannes wenig rühren; sie rüttelte ihn derb auf. Aber bei immerwährendem Zusammenleben widersteht keine Kraft; und wenn in einer Ehe der eine neurasthenisch ist, sind es großer Wahrscheinlichkeit nach, einige Jahre darauf, alle beide. Amalie mochte sich noch so sehr gegen Vogel ereifern, sie mochte noch so sehr aus Angewohnheit und Bedürfnis weiter keifen: im nächsten Augenblick stöhnte sie, lauter als er, über ihre Lage; und wenn sie so, ohne Übergang, aus dem Schelten ins Jammern fiel, tat sie ihm durchaus nicht wohl; im Gegenteil: indem sie seinen Albernheiten einen betäubenden Widerhall schuf, verzehnfachte sie sein Übel. Sie brachte es schließlich dahin, nicht nur den unglücklichen Vogel, der ganz entsetzt vor der Ungeheuerlichkeit seiner eignen, von diesem Echo zurückgeworfenen Klagen stand, vollends kleinlaut zu stimmen, sondern auch jedermann sonst und sich selbst zu Boden zu drücken. Sie gewöhnte es sich nun ihrerseits an, grundlos über ihre feste Gesundheit zu seufzen, über die ihres Vaters, ihres Sohnes, ihrer Tochter. Es wurde bei ihr zur Manie: je mehr sie davon redete, um so mehr überzeugte sie sich selbst. Der kleinste Schnupfen wurde tragisch genommen; alles wurde eine Veranlassung zur Besorgnis. Mehr noch: ging es einem gut, quälte sie sich im Gedanken an die nächste Krankheit. So verlief das Leben in ewiger Todesangst. Schließlich befand man sich dabei nicht schlechter; und es schien, als trüge dies beständige Gejammer dazu bei, die allgemeine Gesundheit zu erhalten. Jeder aß, schlief, arbeitete wie gewöhnlich; und das häusliche Leben wurde davon auch nicht aufgehalten. Der Tätigkeitsdrang Amaliens war durchaus nicht befriedigt, wenn sie sich selber von morgens bis abends, vom Dach bis zum Keller des Hauses regte: jeder um sie herum mußte alle Kräfte anspannen, und so gab es Möbelgepolter, Dielenwäsche, Parkettgeschrubbe, Lärm von Stimmen und Schritten und ewige Erschütterung und Bewegung.

Den beiden Kindern, welche von dieser lauten Autorität, die niemand frei ließ, ganz erdrückt wurden, schien es natürlich, sich ihr zu unterwerfen. Leonhard, der Junge, hatte ein hübsches unbedeutendes Gesicht und steife Manieren, das junge Mädchen, Rosa, eine Blondine mit recht hübschen blauen und zärtlichen Augen, hätte besonders durch die Frische ihrer zarten Haut und ihren Ausdruck von Güte angenehm gewirkt, wäre ihre Nase nicht ein wenig groß und schief gewesen; sie machte das Gesicht plump und gab ihm einen albernen Zug. Sie ähnelte einem jungen Mädchen von Holbein im Museum zu Basel – der Tochter des Bürgermeisters Meyer –, die mit niedergeschlagenen Augen, die Hände auf den Knien und die farblosen gelösten Haare über den Schultern dasitzt und ein verlegenes und beschämtes Gesicht wegen ihrer anmutlosen Nase macht. Rosa hatte sich bisher deswegen kaum Gedanken hingegeben, und in keinem Fall behinderten sie ihr unermüdliches Mundwerk. Unaufhörlich hörte man sie mit durchdringender, immer atemloser Stimme Geschichten erzählen, als fände sie niemals Zeit alles zu sagen; dabei war sie stets erregt und in vollem Zuge, trotz aller Schelte, die sie sich von ihrer Mutter, ihrem Vater, sogar ihrem Großvater zuzog; die alle brachte sie nämlich zur Verzweiflung – weniger weil sie ewig sprach, als weil sie selbst dadurch im Sprechen beeinträchtigt wurden. Denn diese ausgezeichneten, guten, gerechten, aufopfernden Leute – dieser Ausbund höchster Anständigkeit – besaßen fast alle Tugenden; aber es fehlte ihnen eine, die obenan steht und die den Reiz des Lebens ausmacht: die Tugend des Schweigens.

 

Christof war in geduldiger Stimmung. Seine Kümmernisse hatten seine unduldsame und jähzornige Gemütsart beruhigt. Die Erfahrung, die er an der grausamen Gleichgültigkeit geschmeidig schöner Seelen gemacht hatte, trug dazu bei, ihn mehr den Wert braver, anmutsloser und verteufelt langweiliger Menschen fühlen zu lassen, die dafür vom Leben eine hohe Vorstellung hatten und ihm, weil sie ohne Freude lebten, ohne menschliche Schwäche zu leben schienen. Nachdem er sich nun einmal zur Überzeugung gebracht hatte, daß sie ausgezeichnet seien und ihm gefallen müßten, gab er sich als echter Deutscher alle Mühe zu glauben, daß sie ihm wirklich gefielen. Aber es gelang ihm durchaus nicht: ihm fehlte jener willfährige germanische Idealismus, der nicht sehen will und auch nicht sieht, was ihm zu entdecken peinlich wäre, aus Furcht, die bequeme Ruhe ihres Urteilens und das Behagen ihres Lebens zu stören. Im Gegenteil, niemals fühlte er die Fehler der Menschen tiefer, als wenn er sie liebte, als wenn er sie ohne Einschränkung ganz und gar hätte lieben mögen: er empfand so aus einer Art unbewußter Gerechtigkeit, aus einem unwiderstehlichen Bedürfnis nach Wahrheit, das ihn, ohne daß er es wollte, dem Teuersten gegenüber klarblickender und anspruchsvoller machte. So empfand er auch bald mit dumpfer Pein die Wunderlichkeiten seiner Wirtsleute. Diese trachteten durchaus nicht danach, sie zu bemänteln. Im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich geschieht, stellten sie alles, was sie Unerträgliches hatten, offen zur Schau; und das Beste in ihnen blieb verborgen. Das sagte sich auch Christof; er schalt sich selbst ungerecht, versuchte seine ersten Eindrücke wiederzugewinnen und alle vorzüglichen Eigenschaften, die sie mit soviel Sorgfalt versteckten, aufzufinden.

Er versuchte mit dem alten Justus Euler, der sich nichts besseres wünschte, Gespräche anzuknüpfen. In Gedanken an den Großvater, der ihn geliebt und gelobt hatte, empfand er für ihn eine geheime Sympathie. Aber der gute Hans Michel hatte mehr als Christof die Gabe besessen, sich über seine Freunde Illusionen zu machen; und Christof merkte das sehr. Vergeblich suchte er Eulers Erinnerungen an Großvater kennen zu lernen. Es gelang ihm nur ein verblaßtes und ziemlich karikaturistisches Bild Hans Michels aus ihm hervorzulocken und daneben Brocken völlig unwesentlicher Unterhaltungen. Eulers Berichte fingen unveränderlich so an:

»Wie ich schon deinem armen Großvater sagte …«

An etwas anderes erinnerte er sich kaum. Nichts hatte er gehört, als was er selber geredet hatte.

Vielleicht hatte auch Hans Michel nicht besser zugehört. Die meisten Freundschaften sind nicht viel mehr als ein gegenseitig nachsichtiger Verkehr, um mit einem Andern von sich sprechen zu können. Hans Michel aber war wenigstens, so naiv er sich auch seiner Freude am Schwatzen hingab, stets voller Anteilnahme gewesen, die bereit war, sich nach allen Seiten auszugeben. Er interessierte sich für alles; er bedauerte immer, nicht mehr fünfzehn Jahre alt zu sein, um die wunderbaren Erfindungen der kommenden Generationen mitzuerleben und an ihren Gedanken Teil zu haben. Er besaß jene, vielleicht köstlichste Eigenschaft fürs Leben: die Frische der Neugier, der die Jahre nichts anhaben und die jeden Morgen wieder neu geboren wird. Er hatte nicht genug Talent, um diese Gabe zu verwerten; wie viele talentvolle Leute aber hätten ihn darum beneidet! Die meisten Menschen sterben mit zwanzig oder dreißig Jahren: haben sie die überschritten, sind sie nur noch ihr eigner Widerschein; den Rest ihres Lebens verbringen sie damit, sich selber nachzuäffen, in einer Weise, die von Tag zu Tag mechanischer und fratzenhafter wird, zu wiederholen, was sie zu jener Zeit gesagt, getan, gedacht oder geliebt haben, als sie noch dawaren.

Es war so unendlich lange her, daß der alte Euler dagewesen war, und er war so wenig gewesen, daß, was nun von ihm übrig blieb, sich recht ärmlich und ein wenig lächerlich ausnahm. Außer seinem alten Beruf und dem häuslichen Leben wußte er nichts und wollte nichts wissen. Allen Dingen gegenüber besaß er vollständig fertige Meinungen, die aus seiner Jünglingszeit stammten. Er behauptete, etwas von der Kunst zu verstehen; aber er hielt sich dabei an gewisse geheiligte Namen, die er nicht aussprach, ohne dabei hochtrabende Phrasen nachzubeten: alles übrige war null und nichtig. Sprach man ihm von modernen Künstlern, so hörte er gar nicht zu und redete von andern Dingen. Er nannte sich selbst einen leidenschaftlichen Musikfreund und bat Christof, etwas vorzuspielen. Aber sobald Christof, der sich ein- oder zweimal bereden ließ, zu spielen begann, fing der Alte ganz laut an, sich mit seiner Schwiegertochter zu unterhalten, als verdoppelte die Musik sein Interesse an allem, was nicht Musik sei. Christof stand aufgebracht mitten im Stück auf: niemand merkte es. Nur einige alte Melodien gab es – die einen sehr schön, die andern sehr häßlich, aber alle gleichermaßen geheiligt –, die den Vorzug genossen, eine gewisse Stille und völlige Billigung hervorzurufen. Bei ihnen geriet der Alte von der ersten Note an in Verzückung, und die Tränen traten ihm in die Augen, weniger aus dem Vergnügen, das er dabei empfand, als aus dem, das er einstmals dabei empfunden hatte. Christof wurden diese Melodien schließlich zum Greuel, obgleich einige unter ihnen, wie die Adelaide von Beethoven, ihm lieb gewesen waren: der Alte trillerte beständig die ersten Takte daraus, und unterließ nicht zu erklären, daß »das Musik wäre«, indem er sie verachtungsvoll mit »dieser ganzen verdammten modernen Musik, die keine Melodien habe« verglich. Allerdings kannte er keine einzige moderne Melodie.

Sein gebildeterer Schwiegersohn kümmerte sich um die künstlerischen Zeitströmungen; aber das war noch schlimmer; denn seine Urteile waren allein von seiner beständigen Nörgelsucht bestimmt. Es fehlte ihm dabei weder an Geschmack noch an Intelligenz; aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, etwas Modernes zu bewundern. Er hätte ebensogut Mozart und Beethoven verachtet, wenn sie seiner Zeit angehört hätten, und das Verdienst von Wagner und Richard Strauß anerkannt, wären sie seit hundert Jahren tot. Ein grämlicher Instinkt in ihm weigerte sich zuzugeben, daß es noch heute, bei seinen Lebzeiten, große lebende Männer geben könne: diese Vorstellung behagte ihm nicht. Er war durch sein verfehltes Leben so verbittert, daß er sich am liebsten überredet hätte, es sei für alle verfehlt, es könne gar nicht anders sein, und die, welche das Gegenteil glaubten oder vorgaben, wären entweder Einfaltspinsel oder Schwindler.

So sprach er auch von jeder neuen Größe nur im Ton bitterer Ironie; und da er durchaus nicht dumm war, gelang es ihm schon beim ersten Augenblick, die schwachen und lächerlichen Seiten einer Berühmtheit zu entdecken. Jeder neue Name erfüllte ihn mit Mißtrauen; bevor er noch irgend etwas von ihm kannte, war er gewillt ihn abzuurteilen – weil er ihn nicht kannte. Wenn er für Christof Sympathie empfand, war es, weil er meinte, daß dies menschenscheue Kind das Leben so wie er als schlecht empfinde und im übrigen ohne geniale Gaben sei. Nichts nähert kleine kränkelnde und unzufriedene Seelen einander mehr als die Feststellung gemeinsamer Ohnmacht. Ebenso steuert nichts so sehr dazu bei, denen, die gesund und lebensfähig sind, die Lust an Gesundheit und Leben zurückzugeben, als der Zusammenschluß dieses albernen Pessimismus Mittelmäßiger und Kranker, die, weil sie nicht glücklich sind, das Glück der anderen ableugnen. Christof bewies das. Die trübseligen Gedanken waren ihm freilich vertraut; aber er wunderte sich, sie auch in Vogels Mund zu finden und sie kaum wiederzuerkennen: mehr noch, sie wurden ihm ärgerlich; er wurde davon abgestoßen.

Besonders aber wurde er durch Amaliens Wesen aufgebracht. Die gute Frau tat schließlich nichts anderes als Christofs Theorien über die Pflicht anzuwenden. Bei jeder Gelegenheit führte sie dieses Wort im Munde. Sie arbeitete ohne Unterlaß und wollte, daß jeder wie sie schaffe. Ihre Arbeit bezweckte nicht, sie oder andere glücklicher zu machen: im Gegenteil. Man konnte fast sagen, ihre Hauptobliegenheit wäre, allen eine Plage zu sein und das Leben so unangenehm als nur möglich zu gestalten, damit es geheiligt werde. Nichts hätte sie dazu bewegen können, einen einzigen Augenblick den heiligen Dienst des Haushalts zu unterbrechen, dies unverletzliche Amt, das bei so vielen Frauen die Stelle aller andern menschlichen und sozialen Pflichten einnimmt. Sie hätte sich verloren geglaubt, wenn sie nicht an denselben Tagen, in denselben Stunden das Parkett gebürstet, die Fenster gewaschen, die Türklinken geputzt, die Teppiche aus Leibeskräften geklopft und Stühle, Tische und Schränke umgestellt hätte. Sie prahlte geradezu damit. Man hätte glauben können, daß es sich um ihre Ehre handle. Und ist vielen Frauen die Ehre nicht etwas ganz Ähnliches, was sie auch aus demselben Geist verteidigen? Sie ist ihnen eine Art Möbelstück, das man blank halten muß, ein gut gewachstes Parkett, kalt, hart – und glatt.

Die Erfüllung ihrer Lebensaufgabe machte Frau Vogel nicht liebenswürdiger. Sie klammerte sich an die Nichtigkeiten des Haushalts wie an ein von Gott gegebenes Gesetz. Und sie verachtete alle, die es nicht wie sie machten, die sich Ruhe ließen, die es verstanden, zwischen ihrer Arbeit das Leben ein wenig zu genießen. Sie drang bis in Luisens Zimmer vor und störte die arme Frau auf, wenn sie sich mitten in ihrer Arbeit von Zeit zu Zeit niedersetzte, um zu träumen. Luise seufzte, aber fügte sich mit verlegenem Lächeln. Glücklicherweise wußte Christof nichts davon: Amalie wartete, bis er ausgegangen war, um solche Einfälle in ihre Wohnung zu machen; und bisher hatte sie ihn direkt auch nicht angegriffen: er hätte es sich nicht gefallen lassen. Er fühlte sich ihr gegenüber in einem Zustand latenter Feindseligkeit. Was er ihr am wenigsten verzieh, war ihr Lärm. Der rieb ihn auf. War er auch in sein Zimmer eingeschlossen – einen kleinen niederen Raum, der nach dem Hof sah –, hatte er das Fenster hermetisch abgesperrt und litt unter Luftmangel, nur um nicht das Wirtschaftsgetöse des Hauses zu hören, so gelang es ihm selbst dann nicht im geringsten, ihm zu entgehen. Unwillkürlich verfolgte er gespannt und mit überreizter Aufmerksamkeit die geringsten Geräusche von unten; und wenn die schreckliche Stimme, die alle Wände durchdrang, nach momentaner Ruhe sich von neuem erhob, packte ihn die Wut: er schrie, stampfte mit dem Fuß und rief ihr durch die Mauer einen Schwall von Flüchen zu. In dem allgemeinen Getöse merkte man nicht einmal etwas davon: man meinte, er komponiere. Er wünschte Frau Vogel zu allen Teufeln. Weder Respekt noch Achtung hielt dem stand. In solchen Augenblicken schien ihm, er würde Klugheit, Anständigkeit und alle übrigen Tugenden, falls sie zuviel Lärm machten, gern für die schamloseste und dümmste Frau hergegeben haben – wenn sie nur schwieg.

 

Dieser Haß gegen den Lärm brachte ihn mit Leonhard zusammen. Inmitten der allgemeinen Aufregung blieb einzig der junge Mensch immer ruhig und erhob niemals mehr als gewöhnlich die Stimme. Er sprach gemessen und richtig, wählte alle seine Worte und beeilte sich nicht. Die brodelnde Amalie hatte nicht Geduld zu warten, bis er fertig war; alle entsetzten sich wegen seiner Langsamkeit. Er aber ließ sich durchaus nicht rühren. Nichts brachte ihn aus seiner Ruhe und seiner respektvollen Höflichkeit. Christof fühlte sich um so mehr zu ihm hingezogen, als er gehört hatte, daß Leonhard sich dem geistlichen Stande weihen wolle; das machte ihn besonders neugierig. Gerade damals befand sich Christof in religiöser Beziehung in einem recht sonderbaren Zustand: er wußte selbst nicht, wie er eigentlich fühlte. Niemals hatte er Zeit gehabt, ernsthaft darüber nachzudenken. Er war nicht gebildet genug und viel zu sehr von der Schwierigkeit seiner Existenz in Anspruch genommen, um sich analysieren zu können und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Heftig wie er war, fiel er aus einer Übertreibung in die andere, von ganzem Glauben in vollständiges Leugnen, ohne sich darum zu bekümmern, ob er dabei im Einklang mit sich selber sei oder nicht. War er glücklich, dachte er kaum an Gott, war aber ziemlich geneigt, an ihn zu glauben. War er unglücklich, so dachte er an ihn, glaubte aber kaum: es schien ihm unmöglich, daß ein Gott Unglück und Ungerechtigkeit guthieße. Im übrigen beschäftigten ihn diese schwierigen Fragen sehr wenig. Im Grunde war er zu religiös, um viel an Gott zu denken. Er lebte in Gott und hatte nicht nötig, an ihn zu glauben. Das tut den Schwachen, den Geschwächten, den bleichsüchtigen Leben not. Die sehnen sich nach Gott wie die Pflanze nach der Sonne. Der Sterbende klammert sich ans Leben. Warum aber soll der, welcher in sich Leben und Sonne trägt, sie außer sich suchen?

Christof hätte sich wahrscheinlich niemals mit diesen Dingen beschäftigt, wenn er allein gelebt hätte. Aber die Verpflichtungen des sozialen Lebens brachten ihn dahin, seine Gedanken auf jene kindischen und überflüssigen Probleme zu lenken, die einen unverhältnismäßigen Platz in der Welt einnehmen und in denen man Partei ergreifen muß, weil man sich nun einmal bei jedem Schritt daran stößt. Als ob eine gesunde, edle, von Kraft und Liebe überströmende Seele nicht tausend wichtigere Dinge zu tun hätte, als sich darüber zu beunruhigen, ob Gott sei oder nicht! … Wenn es sich wenigstens nur darum handelte, an Gott zu glauben! Aber man muß an einen Gott von der und der Größe, Form, Farbe und Rasse glauben! Doch daran dachte Christof gar nicht erst. Jesus nahm in seinem Denken fast gar keinen Raum ein. Nicht etwa, weil er ihn nicht liebte: dachte er an ihn, so liebte er ihn. Aber er dachte nie an ihn. Manchmal warf er sich das vor, grämte sich deswegen und verstand nicht, warum er nicht mehr von ihm gefesselt wurde. Dabei beobachtete er die religiösen Formen; die Seinen taten es, sein Großvater hatte unaufhörlich die Bibel gelesen; er selbst ging regelmäßig zur Messe; er ministrierte dort in gewissem Sinn, da er Organist war; und er erfüllte diese Aufgabe mit vorbildlicher Gewissenhaftigkeit. Aber es wäre ihm beim Hinausgehen aus der Kirche sehr schwer gefallen anzugeben, an was er gedacht habe. Er machte sich ans Lesen der Heiligen Schrift, um seine Vorstellungen zu klären, und er fand Vergnügen, ja selbst Genuß daran, aber als an einem schönen, merkwürdigen Buch, das von andern nicht wesentlich verschieden ist und das heilig zu nennen, niemandem einfallen sollte. Offen gesagt: war ihm Jesus sympathisch, so war es ihm Beethoven noch viel mehr. Und an der Orgel in Sankt Florian, wo er den Sonntagsgottesdienst begleitete, war er viel mehr mit seiner Orgel als mit der Messe beschäftigt, und an den Tagen, an denen die Kapelle Bach spielte, war er frömmer als an den Tagen, da sie Mendelssohn spielte. Gewisse Zeremonien erfüllten ihn mit leidenschaftlicher Inbrunst. Aber war es wirklich Gott, den er dann liebte, oder etwa nur die Musik, so wie es ihm ein unvorsichtiger Priester eines Tages neckend gesagt hatte, ohne zu ahnen, in welchen Aufruhr sein Scherz Christof stürzte. Ein anderer hätte gar nicht acht darauf gegeben und hätte nichts an seiner Lebensweise geändert – wie vielen Menschen ist es bequemer, gar nicht zu wissen, was sie denken! Christof aber wurde von einem Bedürfnis nach peinlicher Wahrhaftigkeit geplagt, das ihm bei jeder Gelegenheit Skrupel einflößte. Von dem Tage an, wo er sie zum erstenmal empfand, war es ihm unmöglich, sie abzuschütteln. Er marterte sich, er meinte mit doppelsinniger Falschheit zu handeln. Glaubte er oder glaubte er nicht? … Er hatte keine Möglichkeiten, weder materielle noch intellektuelle – denn es gehört Wissen und Muße dazu –, um die Frage allein zu entscheiden. Und dabei mußte sie entschieden werden, wollte er nicht unter dem Gedanken leiden, ein Gleichgültiger oder ein Heuchler zu werden. Er war aber ganz unfähig, eines oder das andere zu sein.

Er versuchte schüchtern, die Menschen, die ihn umgaben, auszuhorchen. Alle trugen sie selbstsichere Mienen. Christof brannte danach, die Gründe ihres Glaubens zu kennen. Es gelang ihm durchaus nicht. Fast niemals gab man ihm eine bestimmte Antwort: immer waren es Ausflüchte. Einige behandelten ihn als hochmütig im Geiste und sagten, daß sich darüber überhaupt nicht reden ließe, daß tausend klügere und bessere Leute als er ohne zu zweifeln geglaubt hätten, daß er es nur ebenso wie sie machen solle. Einige setzten sogar eine verletzte Miene auf, als läge eine persönliche Beleidigung darin, ihnen solche Fragen zu stellen; und doch waren das vielleicht nicht die, die ihrer Sache am sichersten waren. Andere zuckten die Achseln und meinten lächelnd: »Pah, es kann nicht schaden, wenn man glaubt!« Und ihr Lächeln sagte: »Und es ist so bequem! …« Die verachtete Christof mit aller Kraft seines Herzens.

Er hatte versucht, seine Zweifel einem Priester anzuvertrauen; aber der erste Schritt hatte ihn entmutigt. Er konnte nicht ernsthaft mit ihm diskutieren. So leutselig der Geistliche auch war, er ließ ihn doch höflich fühlen, daß keinerlei wirkliche Gleichstellung zwischen ihm und Christof bestehe; es schien von vornherein abgemacht, daß seine Überlegenheit unbestritten sei und daß der Meinungsaustausch, ohne taktlos zu werden, nicht die Grenzen überschreiten dürfe, die er ihm zog. So war es ein ganz ungefährliches Paradestückchen. Wenn Christof darüber hatte hinausgehen wollen und Fragen stellen, auf die zu antworten dem würdigen Mann nicht gefiel, hatte er sich ihm mit gönnerhaftem Lächeln und irgend welchen lateinischen Zitaten entzogen und ihn väterlich ermahnt zu beten, damit Gott ihn erleuchte. Christof fühlte sich durch diesen Ton höflicher Überlegenheit gedemütigt und verletzt. Er hätte, mit Recht oder Unrecht, um keinen Preis der Welt noch einmal bei einem Priester Hilfe gesucht. Er gab gerne zu, daß diese Menschen ihm durch die Intelligenz und ihren heiligen Titel überlegen waren; in ernsthaften Diskussionen aber zählen weder Überlegenheit noch Minderwertigkeit, weder Titel noch Alter noch Name: nichts gilt als die Wahrheit, vor der alle Welt gleich ist.

So war er denn glücklich, einen jungen Menschen seines Alters zu finden, der glaubte. Er selber wünschte sich nichts Besseres als glauben zu können; und er hoffte, daß Leonhard ihm gute Vernunftgründe dafür nennen könne. Er versuchte sich ihm zu nähern. Leonhard nahm das mit gewohnter Sanftmut, doch ohne Eifer hin: Eifer kannte er nicht. Da man im Haus keine zusammenhängende Unterhaltung führen konnte, ohne in jedem Augenblick durch Amalie oder den Alten unterbrochen zu werden, schlug Christof nach dem Essen einen Abendspaziergang vor. Leonhard war zu höflich, um nein zu sagen, obgleich er gern losgekommen wäre. Denn seine schläfrige Natur hatte Angst vor dem Gehen, vor dem Gespräch und allem sonst, das ihn eine Anstrengung kosten konnte.

Christof wußte nicht recht, wie er die Unterredung eröffnen solle. Nach zwei oder drei ungeschickten Sätzen über gleichgültige Dinge stürzte er sich mit einer etwas brutalen Plötzlichkeit in die Frage, die ihm am Herzen lag. Er fragte Leonhard, ob er wirklich Priester werden wolle und ob er das aus Neigung tue. Leonhard warf befremdet einen verstörten Blick auf ihn; als er aber sah, daß Christof keinerlei feindselige Absicht hatte, beruhigte er sich:

»Ja,« antwortete er, »wie könnte es anders sein?«

»Ach,« meinte Christof, »Sie sind recht glücklich!«

Leonhard hörte aus Christofs Ton einen Anflug von Neid heraus und fühlte sich dadurch angenehm geschmeichelt. Er änderte sogleich seine Art, wurde offenherzig, sein Gesicht hellte sich auf.

»Ja,« sagte er. »Ich bin glücklich.«

Er strahlte.

»Wie machen Sie das nur?« fragte Christof.

Bevor Leonhard antwortete, schlug er vor, sich auf eine ruhige Bank in einem Klostergang von Sankt Martin niederzusetzen. Von dort sah man eine Ecke des kleinen, mit Akazien bepflanzten Platzes und dahinter die Stadt und das in Abenddunkel gebadete Land. Der Rhein floß zu Füßen des Hügels dahin. Ein alter, verlassener Friedhof, dessen Gräber in einer Flut von Unkraut ertranken, schlief neben ihnen hinter seinem verschlossenen Gitter.

Leonhard begann zu reden. Er sprach mit vor Zufriedenheit leuchtenden Augen davon, wie köstlich es sei, dem Leben zu entfliehen, die Stätte gefunden zu haben, die in Gegenwart und Zukunft Schutz bietet. Christof, der noch aus frischen Wunden blutete, fühlte diesen Wunsch nach Ruhe und Vergessen leidenschaftlich nach; aber er war ihm doch mit einem Bedauern gemischt. Er fragte mit einem Seufzer:

»Wird es Ihnen nicht dennoch schwer, so ganz aufs Leben zu verzichten?«

»Oh,« meinte der andere seelenruhig, »wonach sollte man sich zurücksehnen? Ist das Leben nicht traurig und häßlich?«

»Es hat auch manches Schöne,« sagte Christof und schaute in den schönen Abend.

»Einiges Schöne, ja; aber wenig.«

»Dies Wenige ist aber für mich noch viel!«

»Nun, meinetwegen, es bleibt doch immer eine einfache Verstandesrechnung. Auf der einen Seite ein wenig Gutes und viel Übel; auf der andern auf Erden weder Gutes noch Übles und später die ewige Seligkeit: kann man da zaudern?«

Christof war von diesem Rechnungsschluß nicht sehr eingenommen. Ein so kalkuliertes Leben schien ihm recht ärmlich. Indessen bemühte er sich, sich zu überzeugen, daß hierin die Weisheit läge.

»Also,« fragte er mit ein wenig Ironie, »es liegt keine Gefahr vor, daß Sie sich durch eine Stunde des Vergnügens verführen lassen?«

»Welcher Unsinn! Wenn man doch weiß, daß es sich nur um eine Stunde handelt und später um alle Ewigkeiten!«

»Sie sind also dieser Ewigkeit ganz sicher?«

»Natürlich.«

Christof fragte ihn weiter aus. Ein Schauer von Sehnsucht und Hoffnung durchrann ihn. Wenn Leonhard ihm endlich untrügliche Beweise des Glaubens erbringen könnte! Mit welcher Leidenschaft wollte er selbst auf die ganze übrige Welt verzichten, um ihm zu Gott zu folgen.

Zunächst nahm Leonhard, der sehr stolz auf seine Apostelrolle und im übrigen davon überzeugt war, Christof spreche seine Zweifel nur um der Form willen aus und würde geschmackvoll genug sein, bei den ersten Gegengründen die Waffen zu strecken, seine Zuflucht zu der Heiligen Schrift, der Autorität der Evangelien, den Wundern, der Überlieferung. Aber er begann mißmutig zu werden, als Christof, nachdem er ihm einige Minuten zugehört hatte, ihn unterbrach, indem er sagte, daß er mit Fragen auf eine Frage antworte, und daß er ihn nicht darum gebeten habe, ihm das, was gerade der Gegenstand seiner Zweifel wäre, auseinanderzusetzen, sondern ihm die Mittel zu geben, sie zu zerstreuen. Leonhard mußte also feststellen, daß Christof bedeutend kränker sei, als er schien, und daß er so anmaßend sei, sich nur mit Gründen der Vernunft überzeugen lassen zu wollen. Jedoch meinte er noch, Christof spiele wohl nur den Freigeist (er konnte sich nicht verstellen, daß man es aufrichtig sein sollte). So ließ er sich denn nicht entmutigen und im starken Bewußtsein eben erworbener Kenntnisse rief er seine Schulweisheit zur Hilfe. Er kramte in buntem Durcheinander, mit mehr Gewichtigkeit als Ordnung, seine metaphysischen Beweise für die Existenz Gottes und der unsterblichen Seele aus. Christof mühte sich mit gespanntem Geist und vor Anstrengung krauser Stirn schweigend ab, ihm zu folgen; er ließ ihn seine Sätze wieder von vorn beginnen, versuchte mit zähem Willen ihren Sinn zu durchdringen, sie sich einzugraben, den Schlußfolgerungen nachzugehen. Plötzlich aber brauste er auf, erklärte, daß man sich über ihn lustig mache, daß all dies nur Spitzfindigkeiten seien, Scherze von Schönrednern, die Worte fabrizierten und die sich hinterher vergnügt einbildeten, daß diese Worte Wirklichkeiten seien. Der gekränkte Leonhard verbürgte sich für den guten Glauben seiner Autoren. Christof zuckte die Achseln und meinte fluchend, wenn nicht Schwindler, seien sie verdammte Literaten; und er verlangte andere Beweise.

Als Leonhard mit Verblüffung merkte, daß Christof unheilbar krank sei, interessierte er sich nicht mehr für ihn. Es fiel ihm ein, daß man ihm geraten habe, seine Zeit nicht mit Ungläubigen zu verlieren, – wenigstens wenn sie dabei beharrten, nicht glauben zu wollen. Das hieße Gefahr laufen, sich selbst, ohne irgendwelchen Vorteil für den andern, zu verwirren. Besser wäre es, den Unglücklichen dem Willen Gottes anheimzustellen, der ihn, wenn es ihm bestimmt sei, schon erleuchten werde; wenn dem aber nicht so war, wie wollte man dann wagen, dem Willen Gottes zu widerstreiten? Leonhard versteifte sich also nicht darauf, den Streit auszudehnen. Er begnügte sich mit Sanftmut zu sagen, daß für den Augenblick nichts zu tun sei, daß kein Vernunftgrund fähig sei, den Weg zu zeigen, solange man ihn nicht sehen wolle, und daß man beten und die göttliche Gnade anrufen müsse: nichts sei ohne sie möglich; man müsse sie ersehnen, man müsse, um zu glauben, wollen. Wollen? dachte Christof bitter. Also wird Gott sein, weil ich wünsche, daß er sei! Und der Tod wird also nicht sein, weil es mir gefallen wird, ihn zu verneinen! … Ach! … Wie ist das Leben leicht für die, welche nicht das Bedürfnis haben, die Wahrheit zu schauen, für die, welche die Gabe haben, sie so zu sehen, wie sie es möchten, sich angenehme Träume zu spinnen oder weich zu schlafen! Christof war sicher, in einem solchen Bett niemals zu entschlummern …

Leonhard fuhr fort zu sprechen. Er war auf sein Lieblingsthema zurückgekommen: auf die Wonne des beschaulichen Lebens; und auf diesem gefahrlosen Feld war er unerschöpflich. Mit seiner eintönigen Stimme, die vor Vergnügen bebte, zählte er die Freuden eines Lebens in Gott auf, das außerhalb der Welt, über ihr dahinflösse, fern dem Lärm, von dem er mit einem unerwarteten Ausdruck von Haß sprach (er verabscheute ihn fast ebensosehr wie Christof), fern aller Gewalt, fern der Bosheit, fern den kleinen Miseren, an denen man alltäglich leidet – immer im warmen und sichern Nest des Glaubens, von dem aus man in Frieden das Elend der fremden und fernen Welt betrachtet. Als Christof ihn so sprechen hörte, wurde ihm der Egoismus dieses Glaubens klar. Leonhard spürte es; eilig erklärte er sich näher. Solches Leben der Betrachtung wäre kein müßiges Leben. Im Gegenteil: man schaffe durch das Gebet mehr als durch das Tun: was wäre die Welt ohne Gebet? Man sühne für andere mit, man belade sich mit ihren Sünden, biete ihnen die eignen Verdienste, man vermittele zwischen Welt und Gott. Christof lauschte ihm schweigend, mit wachsender Feindseligkeit. Er empfand in Leonhard die Heuchelei dieser Verzichtleistung. Er war nicht ungerecht genug, sie bei allen Gläubigen vorauszusetzen. Er wußte sehr wohl, daß solche Lebensverneinung bei einer kleinen Anzahl eine Unfähigkeit zu leben bedeutet, eine herzergreifende Verzweiflung, eine Anrufung des Todes, – daß sie, bei einer noch kleineren Zahl, eine leidenschaftliche Verzückung ist … (wie lange dauert sie? …). Aber ist sie bei den meisten Menschen nicht allzu oft eine kalte Berechnung von Seelen, denen mehr an ihrer Ruhe gelegen ist, als am Glück der andern oder an der Wahrheit? Wie müßten die wahrhaftigen Herzen unter der Entweihung ihres Ideals leiden, wenn sie sich das klar machten! …

Der ganz glückliche Leonhard entwickelte jetzt die von seiner göttlichen Hühnerstange gesehene Schönheit und Harmonie der Welt: unten war alles düster, ungerecht, schmerzensvoll; oben wurde alles klar, licht, geordnet; die Welt glich einem wundervoll aufgezogenen Uhrwerk …

Christof hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Er fragte sich: »Glaubt er oder glaubt er, daß er glaube?« Sein eigner Glaube jedoch, seine leidenschaftliche Glaubenssehnsucht war nicht erschüttert. Die Minderwertigkeit einer Seele, die ärmlichen Gründe eines Dummkopfs wie Leonhard konnten ihr keinen Abbruch tun …

Die Nacht senkte sich über die Stadt. Die Bank, auf der sie saßen, lag im Dunkel; die Sterne flammten auf, ein weißer Nebel entstieg dem Strom, die Heimchen zirpten unter den Friedhofsbäumen. Die Glocken begannen zu klingen: zuerst, ganz allein, die hellste; sie befragte wie ein klagender Vogel den Himmel; dann vermählte sich ihrer Klage die zweite, eine Terz tiefer; endlich kam in der Quinte die dunkelste, die ihnen Antwort zu geben schien. Die drei Stimmen verschmolzen. Am Fuß der Türme war es wie das Gesumme eines mächtigen Bienenschwarms. Luft und Herz erbebten. Christof hielt den Atem an und dachte, wie ärmlich die Musik der Musiker gegenüber diesem Ozean von Tönen ist, in dem tausend Wesen murmeln: das ist die wilde Fauna, die freie Welt der Klänge gegenüber der von dem Menschenverstand katalogisierten, gezähmten, kalt eingeordneten Welt. Und er verlor sich in dieser uferlosen, grenzenlosen, klingenden Unendlichkeit …

Als das mächtige Gemurmel zu Ende war, als die letzten Schwingungen in der Luft hinstarben, wachte Christof auf. Er schaute verstört um sich … Er erkannte nichts wieder. Alles um ihn her, in ihm war verändert. Gott war nicht mehr … Ebenso wie der Glaube, ist auch oft der Verlust des Glaubens eine Wirkung der Gnade, ein plötzliches Licht. Die Vernunft hat damit nichts zu tun; es genügt ein Nichts: ein Wort, ein Schweigen, ein Glockenton. Man geht spazieren, man träumt, man ist auf nichts gefaßt. Plötzlich bricht alles zusammen. Man ist allein; man glaubt nicht mehr.

Der entsetzte Christof konnte nicht fassen, warum, wie sich das zugetragen hatte. Es war wie der Eisbruch eines Stromes im Frühling …

Leonhards Stimme fuhr weiter fort, eintöniger als die Stimme einer Grille zu klingen. Christof vernahm sie nicht mehr, er vernahm nichts mehr. Die Nacht war vollends da. Leonhard hielt inne. Von Christofs Reglosigkeit überrascht, von der späten Stunde beunruhigt, schlug er vor, heimzukehren. Christof antwortete nicht. Leonhard faßte ihn am Arm. Christof fuhr auf und schaute Leonhard mit verwirrten Augen an.

»Christof, wir müssen zurück,« sagte Leonhard.

»Geh zum Teufel!« schrie Christof voller Wut.

»Mein Gott! Christof, was habe ich Ihnen getan?« sagte der bestürzte Leonhard verängstigt.

Christof kam wieder zu sich.

»Ja, du hast recht, mein Guter,« meinte er in sanfterem Ton. »Ich weiß nicht, was ich rede. Geh zu Gott! Geh zu Gott!«

Er blieb allein. Sein Herz war voll höchster Not.

»Ach mein Gott! mein Gott!« schrie er, indem er die Hände ineinander krampfte und den Kopf leidenschaftlich zum schwarzen Himmel hob. »Warum glaube ich nicht mehr? Warum kann ich nicht mehr glauben? Was ist mit mir geschehen? …«

Es war ein zu großes Mißverhältnis zwischen dem Einsturz seines Glaubens und dem Gespräch, das er eben mit Leonhard gehabt hatte: es war klar, daß dieses Gespräch ebensowenig daran Schuld trug, wie Amaliens Gezänk und die Lächerlichkeit seiner Wirte die Ursache der Erschütterung waren, die sich seit einigen Tagen in seinen sittlichen Anschauungen vorbereitet hatte. Das waren nur Vorwände. Der Aufruhr kam nicht von außen. In ihm war der Aufruhr. Er fühlte in seinem Herzen sich unbekannte Ungeheuer regen, und er wagte nicht sich über die eigenen Gedanken zu beugen, um seinem Übel ins Gesicht zu schauen … Seinem Übel? War es ein Übel? Sehnsucht, Trunkenheit, wollüstige Bangigkeit durchströmten ihn. Er gehörte sich selbst nicht mehr an. Vergeblich suchte er sich in seinem Stoizismus von gestern zu versteifen. Alles krachte mit einem Schlage. Er hatte plötzlich die Empfindung der weiten Welt, der glühenden, wilden, unermeßlichen Welt, … wie sehr flutet sie doch über Gott hinaus! …

Es war nur ein Augenblick. Aber das ganze Gleichgewicht seines alten Lebens war von nun an dahin.

 

Nur einem Mitglied der ganzen Familie hatte Christof keinerlei Beachtung geschenkt: das war die kleine Rosa. Sie war nichts weniger als schön; und Christof, der selber weit davon entfernt war, schön zu sein, war der Schönheit anderer gegenüber sehr anspruchsvoll. Er besaß die ruhige Grausamkeit der Jugend, für die eine Frau nicht existiert, wenn sie häßlich ist – wenigstens wenn sie noch nicht über das Alter hinaus ist, wo sie zärtliche Gefühle einflößen könnte, und nicht etwa nur noch ernsthaft friedliche und sozusagen religiöse Empfindungen für sie vorhanden sind. Rosa tat sich übrigens durch keinerlei besondere Gaben hervor, obgleich sie nicht unintelligent war; doch sie war dafür von einer Geschwätzigkeit, die Christof davonjagte. Weil er es nicht der Mühe für wert hielt, sie näher kennen zu lernen, hatte er sie niemals angeschaut.

Dabei war sie mehr wert als viele junge Mädchen; in jedem Fall mehr als die so sehr geliebte Minna. Sie war ein gutes kleines Mädchen ohne Koketterie und Eitelkeit, das bis zu Christofs Ankunft nicht gemerkt hatte, daß es häßlich war, oder sich nicht darum gekümmert hatte. Denn um dergleichen sorgte man sich rings um sie her durchaus nicht. Wenn der Großvater oder die Mutter es ihr etwa einmal im Schelten sagten, lachte sie nur: sie glaubte es nicht oder legte dem keine Bedeutung bei; und die andern auch nicht. So viele ebenso Häßliche und Häßlichere hatten jemand gefunden, der sie liebte! Die Deutschen sind in bezug auf physische Unvollkommenheiten von einer glücklichen Nachsicht: sie bringen es fertig, sie nicht zu sehen; sie können sogar dahin kommen, sie mit wohlwollender Phantasie zu verschönen, indem sie unerwartete Beziehungen zwischen dem Gesicht, das sie sehen wollen, und den herrlichsten Exemplaren menschlicher Schönheit herausfinden. Es hätte nicht allzu großer Überredungsgabe bedurft, um den alten Euler zu der Erklärung zu veranlassen, daß seine Enkelin die Nase der Juno Ludovisi habe. Glücklicherweise war er ein zu großer Brummbär, um Komplimente zu machen; und die ihrer Nasenform gegenüber gleichgültige Rosa setzte ihren Ehrgeiz nur in die Ausübung der berühmten Haushaltspflichten, so wie das des Hauses Brauch war. Sie hatte alles, was man sie gelehrt hatte, wie das Evangelium hingenommen. Da sie kaum ausging, hatte sie wenig Vergleichsmöglichkeiten, bewunderte daher harmlos die Ihren und glaubte, was diese sagten. Bei ihrer hingebenden, vertrauensvollen und leicht zufriedenen Natur suchte sie sich dem grämlichen Ton des Hauses anzupassen und sprach die pessimistischen Ansichten, die sie hörte, gefügig nach. Sie besaß das aufopferndste Herz, – dachte immer an andere, suchte Freude zu bereiten, Sorgen zu teilen, Wünsche zu erraten, nur weil es ihr, ohne einen Gedanken an Gegenleistung, Bedürfnis war, zu lieben. Natürlich nutzten das die Ihren aus, obgleich sie gut waren und Rosa liebten; aber man ist stets versucht, die Liebe derer zu mißbrauchen, die einem ganz ergeben sind. Man war an ihre Aufmerksamkeiten so gewöhnt, daß man ihr keinerlei Dank wußte: was sie auch tat, man erwartete noch mehr. Überdies war sie ungeschickt, linkisch, hastig, hatte heftige und jungenhafte Bewegungen und Zärtlichkeitsausbrüche, die Katastrophen herbeiführten: einmal ein zerbrochenes Glas, ein andermal eine umgeworfene Karaffe oder eine laut zugeschlagene Tür; alles Dinge, die die Empörung des ganzen Hauses gegen sie entfesselten. So wurde die Kleine beständig angefahren und schlich sich dann in einen Winkel fort, um zu weinen. Doch währten ihre Tränen kaum lange. Gleich zeigte sie wieder ihr lachendes Gesicht und nahm ihr Geschwätz wieder auf, wobei sie gegen keinen auch nur einen Schatten von Groll bewahrte.

Christofs Ankunft wurde für ihr Leben ein bedeutsames Ereignis. Sie hatte oft von ihm sprechen hören. Christof spielte im Stadtklatsch eine Rolle: er war eine Art lokale Berühmtheit; sein Name klang in den häuslichen Unterhaltungen oft wieder, besonders zu der Zeit, als der alte Hans Michel noch lebte, der, stolz wie er auf seinen Enkel war, bei allen Bekannten sein Lob sang. Rosa hatte den jungen Musiker ein- oder zweimal im Konzert gesehen. Als sie hörte, daß er bei ihnen wohnen werde, klatschte sie in die Hände. Es wurde ihr wegen dieses Mangels an Haltung eine strenge Rede gehalten, so daß sie ganz verwirrt wurde. Sie konnte nichts Böses dabei finden. In einem so eintönigen Leben wie dem ihren, war ein neuer Gast eine unerwartete Zerstreuung. Sie verbrachte die letzten Tage vor seiner Ankunft in fiebernder Erwartung. Sie war in Todesangst, daß das Haus ihm nicht gefallen könnte, und sie mühte sich, die Wohnung so gut aussehend wie möglich zu gestalten. Sie trug sogar als Willkommengruß am Morgen des Umzugs einen kleinen Blumenstrauß auf den Kamin. Sie selber jedoch hatte keinerlei Anstalten getroffen, um vorteilhaft zu erscheinen. Und der erste Blick, den Christof auf sie warf, genügte ihm, um sie häßlich und geschmacklos zurechtgemacht zu finden. Sie hatte durchaus nicht denselben Eindruck von ihm, obgleich sie gute Gründe dafür gehabt hätte. Denn der abgezehrte, abgehetzte und ungepflegte Christof war noch häßlicher als gewöhnlich. Aber Rosa, die unfähig war das geringste Schlechte, von wem es immer sei, zu denken, Rosa, die ihren Großvater, ihren Vater und ihre Mutter für vollkommen schön hielt, kam es gar nicht in den Sinn, Christof anders zu sehen, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und so bewunderte sie ihn von ganzem Herzen. Es schüchterte sie sehr ein, ihn als Tischnachbarn zu haben: und unglücklicherweise drückte sich ihre Schüchternheit in jenem Wortschwall aus, der ihr vom ersten Augenblick an die Sympathie Christofs verscherzte. Sie merkte es nicht, und dieser erste Abend blieb in ihrem Leben eine leuchtende Erinnerung. Sie hörte, nachdem die andern zu sich hinaufgestiegen und sie allein in ihrem Zimmer war, die Schritte der neuen Gäste über ihrem Haupte; und das Geräusch hallte freudig in ihr wider: das Haus schien ihr aufzuleben.

Am folgenden Morgen sah sie zum ersten Male mit besorgter Aufmerksamkeit in den Spiegel. Und ohne sich noch von der Größe ihres Unglücks Rechenschaft zu geben, fing sie an, es zu ahnen. Sie versuchte ihre Züge einen nach dem andern zu beurteilen; aber es gelang ihr nicht. Sie hatte traurige Ahnungen. Sie seufzte tief auf und hätte ihre Kleidung gern irgendwie geändert. Aber sie brachte es nur fertig, sich noch häßlicher zu machen. Zum Überfluß begann sie mit lästigem Eifer, Christof mit ihren Zuvorkommenheiten zu langweilen. In ihrem kindlichen Wunsch, ihre neuen Freunde fortwährend zu sehen und ihnen zu dienen, lief sie in jedem Augenblick treppauf und treppab, schleppte jedesmal einen unnützen Gegenstand herbei, drang darauf, helfen zu wollen, unter beständigem Lachen, Schwatzen und Schreien. Einzig die ungeduldig rufende Stimme ihrer Mutter konnte ihren Eifer und ihre Reden unterbrechen. Christof machte ein saures Gesicht. Ohne die guten Vorsätze, die er gefaßt hatte, wäre er zwanzigmal aufgebraust. Zwei Tage hielt er Stand, am dritten schloß er seine Türe ab. Rosa klopfte, rief, – verstand endlich, ging verwirrt wieder hinunter und fing nicht noch einmal an. Er erklärte, als er sie sah, daß er mit einer dringenden Arbeit beschäftigt sei und sich nicht stören lassen könne. Sie entschuldigte sich bescheiden. Über den Mißerfolg ihres unschuldigen Entgegenkommens konnte sie sich nicht täuschen: es hatte seinem Ziel genau zuwidergearbeitet und ihr Christof entfremdet. Er gab sich nicht mehr Mühe, seine schlechte Laune zu verbergen; er hörte nicht einmal mehr zu, wenn sie sprach, und verhehlte seine Ungeduld nicht. Sie fühlte, daß ihr Geschwätz ihn ärgere, und es gelang ihr mit aller Willensanstrengung, sich einen Teil des Abends still zu verhalten; aber es ging doch über ihre Kräfte: plötzlich platzte sie wieder heraus, und die Worte überstürzten sich rasender als je. Christof stand mitten in einem ihrer Sätze auf und ließ sie sitzen. Sie war ihm deswegen nicht böse; sie zürnte sich selbst und nannte sich dumm, langweilig, lächerlich; alle ihre Fehler schienen ihr ungeheuerlich, sie wollte sie bekämpfen; aber sie war vom Fehlschlag ihrer ersten Versuche entmutigt und sagte sich, daß sie nichts vermöge, daß sie nicht die Kraft habe. Dennoch versuchte sie es von neuem.

Aber sie hatte ja noch andere Mängel, gegen die sich nichts tun ließ: wie sollte sie ihre Häßlichkeit bekämpfen? Sie konnte sich darüber nicht mehr forttäuschen. Die Gewißheit ihres Unglücks war ihr eines Tages ganz plötzlich geworden, als sie sich in dem Spiegel schaute: es war wie ein Blitzstrahl gewesen. Natürlich übertrieb sie sich das Übel noch und sah ihre Nase zehnmal größer, als sie war; sie schien ihr das ganze Gesicht einzunehmen; sie wollte sich nicht mehr sehen lassen und hätte sterben mögen. Aber in der Jugend ist solch eine Gewalt des Hoffens, daß dergleichen Verzweiflungsausbrüche nicht lange dauern. Sie überredete sich später, daß sie sich sicher täusche; sie versuchte es zu glauben und sie kam für Augenblicke sogar dazu, ihre Nase sehr normal, ja eigentlich ganz hübsch zu finden. In ihrem weiblichen Instinkt suchte sie nun, allerdings recht ungeschickt, nach irgendwelchen kindlichen Hilfskniffen, einer Frisur, welche die Stirn weniger frei ließ und die Mißverhältnisse des Gesichtes nicht so merkbar machte. Dabei hatte das bei ihr nichts mit Koketterie zu tun; nicht ein Liebesgedanke war ihr in den Sinn gekommen, es sei denn ohne ihr Wissen. Sie verlangte so wenig: nichts als ein wenig Freundschaft. Und selbst dieses Wenige schien Christof nicht geneigt, ihr schenken zu wollen. Rosa meinte, sie würde vollkommen glücklich sein, wenn er ihr nur beim Zusammentreffen freundschaftlich und mit ein wenig Güte Guten Tag und Gute Nacht gewünscht hätte. Aber Christofs Blick war für gewöhnlich so hart und kalt! Sie war von ihm wie erstarrt. Zwar sagte er ihr keine Unfreundlichkeiten, aber sie hätte Vorwürfe diesem grausamen Schweigen vorgezogen.

Abends saß Christof am Klavier und spielte. Er hatte sich in einer engen Mansarde in der höchsten Höhe des Hauses eingerichtet, nur um etwas weniger vom Lärm gestört zu werden. Rosa lauschte ihm unten voller Inbrunst. Sie liebte Musik, obgleich ihr Geschmack, der niemals gebildet wurde, schlecht war. Solange ihre Mutter da war, blieb sie in einer Zimmerecke über ihre Arbeit gebeugt und schien in ihre Tätigkeit vertieft. Ihre Seele aber hing an den Tönen, die von da oben kamen und von denen sie nichts verlieren wollte. Sobald sie das Glück hatte, daß Amalie zu einem Wege in die Nachbarschaft ausging, sprang sie sofort mit einem Satz auf, warf die Arbeit von sich und kletterte mit klopfendem Herzen zur Mansarde empor. Sie hielt den Atem an und drückte ihr Ohr an die Tür. So blieb sie, bis Amalie heimkehrte. Sie ging auf den Zehenspitzen und nahm sich in acht, keinerlei Geräusch zu verursachen; da sie aber nicht sehr geschickt war und außerdem stets in Eile, war sie immer nahe daran, die Treppe hinunterzupurzeln. Und einmal, als sie wieder mit vorgebeugtem Körper, das Ohr ans Schlüsselloch gedrückt lauschte, verlor sie das Gleichgewicht und stieß mit der Stirn an die Tür. Sie war so entsetzt, daß ihr der Atem ausging. Das Spiel brach jäh ab: sie fand nicht mehr die Kraft, sich davonzumachen. Sie richtete sich auf, als die Türe sich öffnete. Christof sah sie, warf ihr einen wütenden Blick zu, schob sie darauf ohne ein Wort brutal zur Seite, stieg voller Zorn die Treppe hinab und ging aus. Erst zum Essen kam er wieder, schenkte ihren trostlosen Blicken, die um Verzeihung flehten, keinerlei Beachtung, tat, als sei sie gar nicht vorhanden, und hörte mit dem Spielen für mehrere Wochen vollständig auf. Rosa vergoß darüber im geheimen reichliche Tränen; keiner merkte etwas davon. Keiner achtete auf sie. Sie flehte inbrünstig zu Gott: … um was? Sie wußte es nicht recht. Es war ihr Bedürfnis, ihre Kümmernisse jemandem anzuvertrauen. Sie war sicher, daß Christof sie verabscheute.

Trotzalledem aber hoffte sie. Es war ihr genug, wenn er ihr irgendwelche Zeichen von Anteilnahme gab, wenn er anzuhören schien, was sie sagte, wenn er ihr freundschaftlicher als sonst die Hand drückte …

Einige unbedachte Worte der Ihren lenkten ihre Phantasie vollends auf trügerische Fährte.

 

Die ganze Familie war voller Sympathie für Christof. Der große sechzehnjährige Junge, der so ernst und einsiedlerisch lebte, eine so hohe Vorstellung von seinen Pflichten hatte, flößte ihnen allen eine Art Hochachtung ein. Seine manchmal ausbrechende schlechte Laune, sein hartnäckiges Schweigen, seine düstere Miene und seine barschen Manieren konnten in einem Hause wie diesem durchaus nicht Aufsehen erregen. Selbst Frau Vogel, die jeden Künstler als einen Nichtstuer ansah, wagte nicht, wie sie wohl Lust gehabt hätte, ihn anzugreifen und ihm vorzuwerfen, daß er am Abend Maulaffen feil hielte, wenn er stundenlang unbeweglich an seinem Mansardenfenster zum Hof hinuntergebeugt stand, bis die Nacht gekommen war; denn sie wußte, daß er sich den übrigen Tag mit Stundengeben abarbeitete: sie ging, wie auch die andern, höchst behutsam mit ihm um – wegen eines Hintergedankens, den niemand aussprach und um den alle wußten.

Rosa war es aufgefallen, wie ihre Eltern Blicke wechselten und geheimnisvoll flüsterten, wenn sie mit Christof sprach. Zuerst gab sie nicht acht darauf. Dann wurde sie neugierig und aufgeregt; sie brannte darauf, zu wissen, was sie sagten, aber sie wagte nicht, danach zu fragen.

Eines Abends, als sie auf eine Bank im Garten gestiegen war, um zum Wäschetrocknen eine Schnur zwischen zwei Bäume zu spannen, stützte sie sich, als sie wieder zur Erde sprang, auf Christofs Schulter. Gerade in diesem Augenblick traf ihr Blick den ihres Großvaters und Vaters, die, den Rücken an die Hausmauer gelehnt, dasaßen und ihre Pfeife rauchten. Die beiden Männer tauschten ein Augenzwinkern, und Justus Euler sagte zu Vogel:

»Das wird ein nettes Paar geben.«

Auf einen Ellenbogenstoß Vogels hin, der merkte, daß das junge Mädchen lauschte, ließ er die Bemerkung höchst geschickt (so meinte er wenigstens) unter einem tönenden »hm hm« verschwinden, das geeignet war, jede Aufmerksamkeit zwanzig Schritt in der Runde darauf zu lenken. Christof, der ihm den Rücken kehrte, merkte nichts. Rosa aber wurde dermaßen aufgestört, daß sie auf ihren Sprung nicht achtgab und sich den Fuß verrenkte. Sie wäre gefallen, wenn Christof sie nicht aufgehalten hätte, wobei er leise über diese ewige Ungeschicklichkeit fluchte. Sie hatte sich sehr weh getan; aber sie ließ sich nichts merken, dachte auch kaum daran, sondern nur an das, was sie eben gehört hatte. Sie flüchtete in ihr Zimmer; jeder Schritt war ihr ein Schmerz; sie riß sich zusammen, damit man ihr nichts ansähe. Sie war in eine wonnevolle Verwirrung getaucht. Sie sank auf den Stuhl zu Füßen ihres Bettes und verbarg das Gesicht in den Decken. Das Gesicht brannte ihr; die Tränen standen in ihren Augen, und doch lachte sie. Sie schämte sich, hätte sich in die Erde verkriechen mögen, brachte es nicht fertig, ihre Gedanken auf etwas zu richten. Ihre Schläfen hämmerten, ihr Knöchel verursachte ihr stechende Schmerzen, sie fühlte sich wie betäubt und voller Fieber. Undeutlich vernahm sie die Geräusche von draußen, das Geschrei der in den Straßen spielenden Kinder; und des Großvaters Worte klangen in ihren Ohren nach; ein Schauer überlief sie, sie lachte ganz leise, errötete, das Gesicht immer noch in den Daunen verborgen, sie betete, dankte, wünschte, fürchtete, – sie liebte.

Ihre Mutter rief sie. Sie versuchte aufzustehen. Beim ersten Schritt fühlte sie einen so unerträglichen Schmerz, daß sie beinahe in Ohnmacht fiel; ihr schwindelte. Sie meinte sterben zu müssen, hätte sterben mögen und wollte gleichzeitig mit allen Kräften ihres Wesens leben, leben für das verheißene Glück. Endlich kam ihre Mutter, und das ganze Haus war bald in Aufruhr. Wie gewöhnlich gescholten, dann verbunden und ins Bett gelegt, ließ sie alles Fühlen in dem dumpfen Rauschen ihres körperlichen Schmerzes und ihres inneren Glückes hinsterben. Die geringsten Erinnerungen dieses teuren Abends blieben ihr heilig. Sie dachte nicht an Christof, wußte nicht, was sie dachte. Aber sie war glücklich.

Am folgenden Morgen kam Christof, der sich für den Unfall etwas verantwortlich hielt, um nach ihr zu sehen; und zum ersten Male bezeigte er ihr einen Schimmer von Herzlichkeit. Sie war dafür von Dankbarkeit durchströmt und segnete ihre Schmerzen. Ihr ganzes Leben lang hätte sie leiden mögen, um ihr ganzes Leben solche Freuden auszukosten. Mehrere Tage mußte sie ausgestreckt, ohne sich zu rühren, liegen bleiben. Sie brachte sie damit hin, die Worte des Großvaters wieder durchzudenken und sie sich zu überlegen; denn es waren ihr Zweifel gekommen. Hatte er gesagt: »Das wird« …

oder

»Das würde …«?

Oder war es etwa möglich, daß er gar nichts dergleichen gesagt hatte? – Ja, er hatte es gesagt, sie war dessen sicher … Wie! Sahen sie denn nicht, daß sie häßlich war und daß Christof sie nicht leiden konnte? … Aber es tat so gut, zu hoffen! Sie glaubte schließlich, daß sie sich vielleicht getäuscht habe, daß sie nicht ganz so häßlich sei, wie sie meinte; sie richtete sich in ihrem Stuhl auf, um sich in dem ihr gegenüber aufgehängten Spiegel zu sehen: sie wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Ihr Großvater und ihr Vater mußten doch besser urteilen können als sie: man kann sich selber nicht beurteilen … Mein Gott! Wäre es möglich! … Wenn zufällig … wenn ohne daß sie's ahnte, wenn … wenn sie hübsch wäre! Vielleicht übertrieb sie sich auch die wenig herzlichen Gefühle Christofs. Allerdings kümmerte sich der gleichgültige Junge nach den Zeichen von Anteilnahme, die er ihr am ersten Morgen nach dem Unfall erwiesen hatte, nicht mehr um sie; er vergaß, nach ihr zu sehen; aber Rosa entschuldigte ihn: er hatte soviel zu tun! Wie hätte er an sie denken sollen? Man durfte einen Künstler nicht wie andere Männer beurteilen … Jedoch konnte sie trotz aller Verzichtleistung nicht umhin, wenn er an ihr vorüberging, mit Herzklopfen auf ein warmes Wort zu warten. Ein einziges Wort, ein Blick … ihre Phantasie tat das übrige. Liebe braucht im Anfang so wenig Nahrung! Genug, wenn man sich sieht, wenn man sich im Vorübergehen streift; in dieser Zeit durchströmt die Seele solche Traumkraft, daß sie allein beinahe genügt, sich ihre Liebe zu schaffen; ein Nichts versetzt sie in Rausch, den sie kaum so stark fühlen wird, wenn sie endlich den Gegenstand ihrer Wünsche besitzt und im selben Maß als sie befriedigter, auch um so anspruchsvoller geworden ist. – Rosa lebte, ohne daß irgend jemand davon wußte, ganz und gar von einem, in allen Teilen von ihr erdichteten Roman: Christof liebte sie heimlich und wagte es ihr aus Schüchternheit nicht zu sagen oder auch aus irgendeinem andern törichten, romanhaften und romantischen Grunde, welcher der Phantasie dieses sentimentalen Gänschens gefiel. Darauf baute sie nun endlose Geschichten auf, die völlig sinnlos waren: sie wußte das selbst, wollte es aber nicht wissen; sie belog sich voller Wollust, indessen sie Tage und Tage lang über ihre Handarbeit gebeugt saß. Sie vergaß darüber zu sprechen: ihr ganzer Wortschwall hatte sich in ihr Inneres ergossen, wie ein Fluß, der plötzlich unter der Erde verschwindet. Dort aber nahm er seine Rache. Das war eine Überschwemmung von Reden, stummen Unterhaltungen, die niemand als sie vernahm! Manchmal sah man ihre Lippen sich regen, wie bei Leuten, die beim Lesen zum besseren Verständnis die Silben leise herbuchstabieren müssen.

Wachte sie aus ihren Träumen auf, war sie glücklich und traurig zugleich. Sie wußte wohl, daß die Dinge nicht so lagen, wie sie sie sich eben erzählt hatte. Aber ein Widerschein des Glückes blieb ihr doch zurück, und sie ging vertrauensvoller ans Leben. Sie gab die Hoffnung nicht auf, Christof zu gewinnen.

Ohne es sich einzugestehen, wagte sie sich ans Werk. Mit der Instinktsicherheit, die eine große Zuneigung verleiht, wußte das ungeschickte und unwissende kleine Mädchen mit dem ersten Schlag den Weg zu finden, auf dem sie das Herz ihres Freundes treffen konnte. Sie wandte sich nicht direkt an ihn. Aber sowie sie geheilt war und von neuem durch das Haus streifen konnte, schloß sie sich Luise an. Der geringste Vorwand war ihr gut genug. Sie erfand tausend kleine Dienstleistungen für sie. Ging sie aus, versäumte sie nie, Besorgungen für sie zu übernehmen; sie ersparte ihr die Wege zum Markt, die Verhandlungen mit den Lieferanten, sie holte ihr Wasser aus der Pumpe im Hof, sie besorgte sogar einen Teil ihrer Wirtschaft, wusch die Fenster, bürstete den Fußboden, trotz aller Widersprüche Luisens, die sich schämte, nicht selbst alles zu tun, aber doch so müde war, daß sie nicht die Kraft fand, sich den Hilfeleistungen zu widersetzen. Christof war den ganzen Tag abwesend. Luise fühlte sich verlassen, und die Gesellschaft des zärtlichen und geräuschvollen jungen Mädchens tat ihr wohl. Rosa nistete sich bei ihr ein. Sie brachte ihre Handarbeit mit und sie fingen zu plaudern an. Das Mädchen suchte mit ungeschickter List das Gespräch auf Christof zu lenken. Von ihm reden zu können und seinen Namen zu hören, machte sie glücklich; ihre Hände bebten, und sie vermied, die Augen zu heben. Luise, die sich nichts Besseres wünschte, als von ihrem lieben Christof zu reden, erzählte Kindheitsgeschichtchen von ihm, die nichtssagend und ein klein wenig lächerlich waren. Aber sie brauchte nicht zu fürchten, daß Rosa sie so ansah. Ihr war es unsägliche Freude und Rührung, sich Christof als kleines Kind mit allen Torheiten und Holdseligkeiten dieses Alters vorzustellen; die mütterliche Zärtlichkeit, die in jedem Frauenherzen lebt, vermengte sich ihr wonnevoll mit der andern Zärtlichkeit; sie lachte aus warmem Herzen und hatte feuchte Augen. Luise war von der Teilnahme, die ihr Rosa erwies, bewegt. Sie ahnte dunkel, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging, und sie zeigte nichts davon; aber sie freute sich darüber; denn sie allein im Hause fühlte den Wert dieses Herzens. Manchmal hielt sie im Sprechen inne, um sie anzuschauen. Rosa sah, durch die Stille erstaunt, von ihrer Arbeit auf. Luise lächelte ihr zu. Rosa warf sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit in ihre Arme und verbarg das Gesicht an Luisens Brust. Dann fingen sie wieder zu arbeiten und zu plaudern an, als wäre nichts geschehen.

Luise, die für Rosas Aufmerksamkeiten dankbar war und ihren kleinen Plan verfolgte, geizte nicht mit Lobeserhebungen der jungen Nachbarin, wenn Christof des Abends heimkehrte. Christof war von Rosas Güte gerührt. Er sah, was sie Gutes an seiner Mutter tat, deren Gesicht heiterer wurde; und er dankte ihr mit großer Wärme. Rosa stotterte und entfloh, um ihre Verwirrung zu verbergen: auf diese Weise erschien sie Christof tausendmal klüger und anziehender, als wenn sie gesprochen hätte. Er sah sie mit weniger voreingenommenem Blick an und machte keinen Hehl aus seiner Überraschung, in ihr Eigenschaften zu finden, die er nicht vermutet hatte. Rosa merkte das; sie fühlte seine wachsende Sympathie und dachte, daß diese Sympathie zur Liebe führe. Mehr als je gab sie sich ihren Träumen hin. Im schönen Machtbewußtsein der ersten Jugend war sie nahezu überzeugt, daß alles, was man mit ganzer Seele wünscht, sich zuletzt erfüllen muß. – Wieso war ihr Wunsch übrigens so unvernünftig? Hätte Christof nicht mehr als jeder andere für ihre Güte empfänglich sein müssen, für ihr zärtliches Bedürfnis, sich aufzuopfern?

Aber Christof dachte gar nicht an sie. Er achtete sie; aber sie nahm in seinem Denken keinerlei Raum ein. Er war im Augenblick mit ganz anderem beschäftigt. Christof war nicht mehr Christof. Er kannte sich selbst nicht mehr. Eine mächtige Arbeit ging in ihm vor, war dabei, alles aus ihm herauszufegen, ihn bis zum Grund des Wesens aufzuwühlen.

 

Christof empfand eine äußerste Schlaffheit und Ruhelosigkeit. Ohne Ursache fühlte er sich matt, hatte einen schweren Kopf; Augen, Ohren und alle Sinne waren ihm trunken und mit Brausen erfüllt. Es war ihm unmöglich, sein Denken auf irgend etwas zu bannen. Der Geist sprang in erschöpfender Fieberhaftigkeit von Gegenstand zu Gegenstand. Dieses fortwährende Flattern von Bildern machte ihn ganz schwindlig. Zuerst schob er es der Übermüdung und den erschlaffenden Frühlingstagen zu. Aber der Frühling verstrich und das Übel verschlimmerte sich nur.

Er litt unter dem, was die Poeten, die nur mit zierlicher Hand an die Dinge rühren, die Regungen der Jünglingszeit nennen, die Pagengefühle, das Erwachen des Liebesverlangens in der jugendlichen Seele. Als ob die furchtbare Krisis, in der das ganze Wesen aus den Fugen geht und stirbt und in allen seinen Teilen wiedergeboren wird, als ob diese Erdumwälzung, in der alles: Glauben, Denken, Handeln, das gesamte Leben bereit scheint, sich aufzugeben, und sich in schmerz- und freudvollen Zuckungen neu schmiedet, auf eine Kinderei zurückzuführen wäre.

Sein ganzer Körper und seine ganze Seele goren. Er beobachtete sie, ohne die Kraft zum Kampf zu haben, mit einer Mischung von Neugier und Ekel. Er begriff nichts von allem, was in ihm vorging. Sein ganzes Wesen zersetzte sich. Tagelang verbrachte er in schwüler Betäubung. Zu arbeiten war ihm eine Qual. Nachts litt er unter drückendem und zerrissenem Schlaf, ungeheuerlichen Träumen, stoßweis aufdrängendem Begehren: die Seele eines Tieres war in ihn gefahren. Glühend und in Schweiß gebadet betrachtete er sich mit Entsetzen. Er versuchte die unreinen und wahnsinnigen Gedanken von sich abzuschütteln, und er fragte sich, ob er im Begriff sei, wahnsinnig zu werden.

Der Tag wurde ihm keine Zuflucht gegen seine tierischen Gedanken. Er fühlte sich in diesen Untiefen der Seele sinken: nichts, woran er sich halten durfte; keine Schranke, die er gegen das Chaos aufrichten konnte. Alle seine Rüstungen und Festungen, deren vierfache Schutzwehr ihn so stolz umgeben hatte: sein Gott, seine Kunst, sein Stolz, seine sittliche Kraft, alles stürzte übereinander, bröckelte Stück für Stück von ihm ab. Er sah sich nackt, gebunden hingestreckt, ohne die Möglichkeit einer Bewegung, wie ein Leichnam, auf dem das Geschmeiß wimmelt. Plötzlich fuhr er dann in Empörung auf: was war aus seinem Willen geworden, auf den er so stolz war? Vergebens rief er ihn herbei: es kam nur zu Anstrengungen, wie man sie im Schlaf macht, wenn man weiß, daß man träumt, und sich aufwecken will. Es gelingt einem nichts anderes, als wie eine Bleimasse von Traum zu Traum zu rollen und nur erstickender die Gelähmtheit der gefesselten Seele zu empfinden. Zuletzt fand er es weniger qualvoll, gar nicht zu kämpfen. Er ergab sich mit apathischem und mutlosem Fatalismus in seinen Zustand.

Der regelmäßige Strom seines Lebens schien unterbrochen. Entweder er ergoß sich in unterirdische Schluchten oder er schien dicht daran, ganz zu versickern; dann wieder strömte er mit sprudelnder Wildheit empor. Die Kette der Tage war zerrissen. Inmitten der eintönigen Ebene der Stunden öffneten sich gähnende Löcher, in die die Seele hinabstürzte. Christof verfolgte dies Schauspiel, als wäre es ihm fremd. Alles und alle – und er selber – wurden ihm fremd. Mechanisch ging er weiter seinem Beruf nach, tat seine Pflicht, und es war ihm dabei, als müsse der Mechanismus seines Lebens von einem Augenblick zum andern stille stehn: das Räderwerk war verbogen. Bei Tisch neben seiner Mutter und seinen Wirtsleuten, im Orchester, inmitten der Musiker und des Publikums höhlte sich plötzlich eine Leere in sein Gehirn: er schaute verblüfft auf die grinsenden Masken, die ihn umgaben, und er begriff nichts mehr. Er fragte sich:

»Was für ein Zusammenhang besteht zwischen diesen Wesen und –?«

Er wagte nicht einmal auszusprechen:

»… und mir.«

Denn er wußte nicht mehr, ob er überhaupt existierte. Er sprach, und seine Stimme schien ihm aus einem andern Leibe zu tönen. Er bewegte sich, und er sah seine Gebärden wie von fern – von hoch oben – von einer Turmspitze. Mit irrer Miene strich er sich über die Stirn. Er war nahe daran, Tollheiten zu begehen.

Wenn er allen Augen ausgesetzt war, dann gerade mußte er sich am meisten zusammennehmen. Zum Beispiel an Abenden, an denen er ins Schloß ging, oder wenn er öffentlich spielte. Plötzlich überfiel ihn der übermächtige Drang, irgendeine Fratze zu schneiden, eine Ungeheuerlichkeit auszusprechen, dem Großherzog eine lange Nase zu machen oder dem Hinterteil einer Dame einen Fußtritt zu geben. Einen ganzen Abend lang, während er das Orchester dirigierte, kämpfte er gegen die unsinnige Lust, sich vor aller Welt auszuziehen; und sowie er versuchte, gegen diese Idee anzugehen, war er von ihr wie besessen; er mußte alle seine Kraft zusammennehmen, um ihr nicht zu unterliegen. Nachdem er diesen albernen Kampf bestanden hatte, stand er in Schweiß gebadet und mit leerem Hirn da. Er wurde wirklich verrückt. Wenn er nur daran dachte, daß er irgend etwas nicht tun solle, so war das genug, daß eben dies mit der rasend machenden Beharrlichkeit einer fixen Idee sich ihm aufdrängte.

So verlief denn sein Leben zwischen zermürbenden Anstrengungen und Abstürzen ins Leere. Ein wütender Wind in der Wüste. Woher kam er? Was bedeutete diese Tollheit? Aus welchem Abgrund stiegen diese Wünsche auf, die ihm Glieder und Hirn verrenkten? Er war wie ein Bogen, den eine gewalttätige Hand bis zum Zerspringen spannt – welchem unbekannten Ziele zu? – und gleich darauf wie ein totes Stück Holz fortwirft. Wessen Beute war er? Er wagte es nicht zu ergründen. Er fühlte sich besiegt, gedemütigt, und er mochte seiner Niederlage nicht ins Gesicht schauen. Matt war er und feige. Jetzt verstand er die Menschen, die er einst verachtet hatte: die, welche die peinliche Wahrheit nicht sehen wollten. Wohl fühlte er sich in solchen Stunden der Leere von Entsetzen erstarrt, wenn ihn die Erinnerung an die Zeit überfiel, die dahinging, an die verlassene Arbeit, die verlorene Zukunft. Aber es erfolgte darauf keinerlei Aufschwung; und seine Feigheit fand in der verzweifelten Bejahung des Nichts Entschuldigungen; es war ihm eine bittere Wollust, sich diesem Nichts hinzugeben wie ein Wrack der Stromschnelle. Wozu kämpfen? Es gab ja weder Schönes noch Gutes, weder Gott noch Leben noch irgendein Sein. Wenn er auf der Straße ging, verlor er plötzlich den Boden; keine Erde war mehr da, keine Luft, kein Licht, nicht einmal er selbst: nichts war da. Er sank, sein Kopf zog ihm gewaltsam die Stirn nach vom; kaum konnte er sich noch gerade vor dem Fall bewahren. Er meinte, daß er auf der Stelle vom Blitz getroffen sterben müsse. Er meinte, er sei gestorben …

Christof bekam eine neue Haut. Christof bekam eine neue Seele. Er sah die verbrauchte und verwelkte Seele seiner Kindheit hinsinken und ahnte noch nicht, daß ihm eine frische, jüngere und kräftigere wuchs. Wie man im Lauf des Lebens den Körper ändert, so ändert man auch die Seele; und die Umwandlung vollzieht sich nicht immer langsam in langen Tagen: es gibt kritische Stunden, in denen mit einem Schlage sich alles erneut. Im herangewachsenen Menschen erwacht eine neue Seele. Der alte Adam stirbt. In solchen Stunden der Angst glaubt das Geschöpf, alles sei zu Ende. Und doch steht alles im Anfang. Ein Leben stirbt. Ein anderes ist schon geboren.

 

Eines Nachts saß er allein beim Kerzenschein, aufgestützt an seinem Tisch, in seinem Zimmer. Er wandte dem Fenster den Rücken zu. Er arbeitete nicht. Seit Wochen konnte er nicht arbeiten. Alles wirbelte in seinem Kopf. Alles hatte er auf einmal in Frage gestellt: Religion, Kunst, Moral, das ganze Leben. Und in dieser allgemeinen Auflösung seines Denkens erhielt sich keinerlei Ordnung, keinerlei Gesetz; er hatte sich über einen wahllos aus der wunderlichen Bibliothek Großvaters oder aus der Vogels zusammengeschleppten Bücherhaufen hergemacht: theologische Schriften, wissenschaftliche, philosophische Bücher, oft sogar unvollständige; da er noch alles zu lernen hatte, verstand er nichts von allem; kein Buch brachte er zu Ende; er verlor sich mitten darin in Abschweifungen, endlosem Umherblättern, das ihm nur Müdigkeit, Leere und Trostlosigkeit hinterließ.

So saß er auch an jenem Abend in dumpfer, gedankenleerer Betäubung versunken. Alles im Hause schlief. Sein Fenster stand offen. Kein Hauch wehte vom Hof. Dicke Wolken erstickten den Himmel. Christof schaute wie ein Stumpfsinniger zu, wie die Kerze unten im Leuchter verflackerte. Er brachte es nicht fertig, zu Bett zu gehen. Er dachte an nichts. Er fühlte, wie sich die Leere von Augenblick zu Augenblick tiefer höhlte. Er zwang sich, nicht in den Abgrund zu schauen, zu dem er sich hinsehnte; und wider seinen Willen neigte er sich über den Rand, senkte die Augen in die Tiefen der Nacht. In der Leere regte sich das Chaos, in wimmelnden Nebelschatten. Todesangst durchrann ihn, ein Schauer überlief seinen Rücken; er klammerte sich an den Tisch, um nicht zu fallen. Er stand in krampfhaftem Erwarten namenloser Dinge, eines Wunders, eines Gottes …

Plötzlich ergoß sich hinter ihm im Hof, wie eine Schleuse, die sich öffnet, eine Sintflut von Wasser, ein schwerer, breiter, gerader Regen. Die reglose Luft erzitterte. Der trockne, ausgedörrte Boden erklang wie eine Glocke. Und der ungeheure Geruch der glühenden und wie ein Tier warmen Erde, der Duft von Blumen, Früchten und liebesheißen Leibern stieg wie ein Krampf der Raserei und Freude auf. Christof stand wie gebannt, in seinem ganzen Wesen angespannt und erschauerte in allen Eingeweiden. Er zitterte … der Schleier zerriß. Ein blendendes Licht. Beim Blitzschein sah er in der Tiefe der Nacht, sah – wurde Gott. Der Gott war in ihm; Er durchbrach die Decke des Zimmers, die Mauern des Hauses; Er machte die Grenzen des Wesens bersten; Er füllte den Himmel, das All, das Nichts. Die Welt stürzte in Ihn gleich einem Katarakt. Auch Christof wurde in Schreck und Wonne dieses Zusammenbruchs mit in dem Wirbel fortgerissen, der Naturgesetze wie Strohhalme fortfegte und zermalmte. Der Atem verging ihm, er war trunken von diesem Niedersturz in Gott … Gott-Abgrund! Gott-Strudel! Flammenstoß des Seins! Orkan des Lebens! Tollheit des Lebens, – ohne Ziel, ohne Zaum, ohne Grund, – nur um der Freudenraserei des Lebens willen!

 

Als sich der Aufruhr löste, fiel Christof in einen tiefen Schlaf, wie er ihn seit langem nicht gekannt hatte. Bei seinem Erwachen am nächsten Morgen drehte sich ihm alles im Kopfe. Er fühlte sich zerschlagen, als hätte er getrunken. Im Grund des Herzens aber bewahrte er einen Abglanz des düstern und mächtigen Lichtes, das ihn am Abend vorher niedergeworfen hatte. Er suchte es von neuem in sich zu entzünden. Vergeblich. Je mehr er es verfolgte, je mehr entglitt es ihm. Von da an war seine ganze Energie beständig angespannt, um die Erscheinung jenes Augenblickes wieder zu beschwören. Unnützes Bemühen. Die Entzückung folgte dem Befehl des Willens nicht.

Jedoch dieser Anfall geheimnisvoller Trunkenheit blieb nicht vereinzelt; er wiederholte sich mehrmals, wenn auch niemals mit der Stärke des ersten Males. Immer aber glitt die Vision in Augenblicken vorüber, wo Christof sie am wenigsten erwartete, in kurzen plötzlichen Sekunden, in eines Blickes, einer Armbewegung Dauer, bevor er noch Zeit fand, sich klarzumachen, daß sie es war; und er fragte sich dann, ob er nicht geträumt habe. Nach der Flammenkugel, die in jener Nacht gebrannt hatte, war es jetzt ein leuchtender Staub aus kleinen flüchtigen Lichtscheinen, die das Auge im Fluge kaum wahrnehmen konnte. Aber öfter und öfter tauchten sie auf. Schließlich umgaben sie Christof mit einem beständigen und breiten Lichthof, in dem sich sein Geist auflöste. Alles, was ihn von diesem Halbtraum abhalten konnte, ärgerte ihn. Es war ihm unmöglich zu arbeiten; er versuchte es nicht einmal mehr. Jede Gesellschaft war ihm widerlich, und mehr als jede andere die seiner Nächsten, selbst die seiner Mutter, weil sie sich größere Rechte an seine Seele anmaßten.

Er ging außer Hauses, gewöhnte sich, seine Tage draußen zu verbringen, und kehrte erst zur Nacht heim. Er suchte die Einsamkeit freier Felder auf, um ihnen seine Trunkenheit zu schenken wie ein Besessener, der durch nichts aus dem Wahn seiner fixen Ideen aufgestört sein will. – Aber in der freien, läuternden Lust, in der Berührung der Erde löste sich der Krampf, und seine Gedanken verloren ihr gespenstisches Aussehen. Sein Rausch verringerte sich dadurch nicht: eher verdoppelte er sich; aber es war nicht mehr ein gefahrvoller Wahnsinn des Geistes, sondern eine gesunde Trunkenheit des ganzen Seins: des Körpers und der Seele, die von Kraft überschäumten.

Er entdeckte die Welt neu, als habe er sie nie gesehen. Eine zweite Kindheit begann. Ihm war, als sei ein Zauberwort gesprochen worden, ein: »Sesam, öffne dich!« – Die Natur flammte in Heiterkeit. Die Sonne kochte. Der Himmel schien flüssig und breitete sich wie ein durchsichtiger Strom. Die Erde röchelte und dampfte in Wollust. Pflanzen, Bäume, Insekten, und was da sonst an unzähligen Wesen lebt, waren wie züngelnde Flammen des großen Lebensfeuers, das wirbelnd in die Luft stieg. Alles schrie vor Wonne.

Und dieses Glück war sein eigen. Diese Kraft gehörte ihm. Er gehörte zum Ganzen. Bisher, selbst in den glücklichen Kindheitstagen, in denen er die Natur mit brennender und begeisterter Neugier betrachtet hatte, waren ihm die Geschöpfe wie kleine abgeschlossene Welten erschienen, die ihn erschreckten oder belustigten, die keinerlei Beziehung zu ihm hatten und die er nicht verstehen konnte. War es überhaupt gewiß, daß sie fühlten, daß sie lebten? Es waren fremde Mechanismen; und Christof hatte es mit unbewußter Kindergrausamkeit manchmal fertig gebracht, die unglücklichen Insekten zu zerreißen, ohne daran zu denken, daß sie litten, nur um sich an ihren drolligen Zuckungen zu belustigen. Erst der sonst so ruhige Onkel Gottfried hatte ihm eines Tages empört eine unglückliche Mücke, die er folterte, aus den Händen reißen müssen. Zuerst hatte der Kleine zu lachen versucht; dann war er, von des Onkels Erregung angesteckt, in Tränen ausgebrochen: er fing zu begreifen an, daß sein Opfer wirklich lebe, ebensogut wie er, und daß er ein Verbrechen begangen habe. Aber wenn er auch seitdem um nichts in der Welt den Tieren wehtun mochte, so empfand er doch für sie keinerlei Sympathie; er ging an ihnen vorüber, ohne je zu versuchen, dem nachzuspüren, was in solch einer kleinen Maschine vorging; eher fürchtete er sich davor, es sich vorzustellen: es kam ihm wie ein böser Traum vor. – Und jetzt erhellte sich mit einem Male alles. Diese kleinen dunklen Lebewesen wurden ihrerseits zu Lichtherden.

Ins Gras gewühlt, das von Geschöpfen wimmelte, im Schatten der von Insekten summenden Bäume schaute Christof dem fieberhaften Tun der Ameisen zu, den langfüßigen Spinnen, deren Gang einem Tanzen glich, den sich bäumenden Heuschrecken, die seitwärts daher hüpften, den schwerfälligen und eiligen Käfern, den kahlen und rosigen nackten Würmern mit ihrer elastischen, weiß marmorierten Haut. Oder er lauschte mit geschlossenen Augen, die Hände unterm Kopf verschränkt, dem unsichtbaren Orchester, den in rasender Runde rings um die duftenden Tannen in Sonnenstrahlen tanzenden Insekten, den Fanfaren der Mücken, den Orgeltönen der Wespen, den wilden Bienenschwärmen, die in den Wipfeln des Gehölzes wie Glocken schwangen, dem göttlichen Gemurmel sich schaukelnder Bäume, dem holden Schauer des Windhauchs in Zweigen und dem zarten Rauschen des wallenden Grases, das wie der Hauch ist, der die klare Stirn eines Sees kräuselt, wie das Rascheln eines leichten Kleides und verliebte Schritte, die näherkommen, vorüberstreifen und in der Luft verschweben.

All diese Geräusche, all diese Rufe vernahm er in sich selber. Von dem kleinsten bis zum größten dieser Geschöpfe, überall rann derselbe Lebensstrom: auch ihn umspülte er. So war er einer der Ihren, war von ihrem Blute, vernahm das brüderliche Echo ihrer Freuden und Leiden; ihre Kraft strömte in seine über, so wie ein Fluß von tausend Bächen geschwellt wird. Er tauchte ganz in ihnen unter. Seine Brust war immer nahe am Zerspringen unter der Wucht der allzu überschwenglichen, allzu starken Luft, die ins verschlossene Haus seines erstarrten Herzens hereinbrach und alle Fenster sprengte. Der Wechsel war ein zu plötzlicher: nachdem er überall das Nichts gefunden hatte, nachdem er nur mit seinem eigenen Dasein beschäftigt gewesen, und das ihm gleichsam entglitten war und sich wie eine Regenwolke aufgelöst hatte, fand er nun überall das Sein ohne Ende und ohne Maß – nun, da er nichts weiter ersehnte, als sich selbst zu vergessen, um im All wieder aufzuleben. Ihm war, als stände er aus dem Grabe auf. Voller Wollust schwamm er im uferbreit hinströmenden Leben; und von ihm getragen, glaubte er sich vollkommen frei. Er wußte nicht, daß er es weniger als je war, daß kein Wesen frei ist, ja das Gesetz selber nicht, welches das All regiert; daß der Tod allein – vielleicht – befreit.

Aber die Schmetterlingspuppe, die aus der erstickenden Scheide schlüpfte, dehnte sich mit Wonne in ihrer neuen Hülle und hatte noch nicht Zeit gefunden, die Schranken ihres neuen Gefängnisses zu erkennen.

 

Eine neue Folge von Tagen begann. Tage in Fiebergold, geheimnisvoll und verzaubert, wie die, in denen er als Kind die Dinge eins nach dem andern zum ersten Male entdeckte. Vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang lebte er in einer beständigen Vision. Alle seine Beschäftigungen wurden vernachlässigt. Der gewissenhafte Junge, der durch Jahre hindurch, selbst wenn er krank war, nie eine Stunde oder Orchesterprobe versäumt hatte, fand jetzt in jedem Augenblick schlechte Ausreden, um der Arbeit zu entgehen. Er schämte sich nicht, zu lügen und hatte deswegen keinerlei Gewissensbisse. Die stoischen Gesetze, unter die er bisher sein Leben mit Freuden gezwungen hatte: Rechtschaffenheit, Pflicht, erschienen ihm jetzt ohne Wahrheit, ohne Berechtigung. Ihr eifersüchtiges Herrschertum brach sich an der Natur. Die gesunde, starke, freie, menschliche Natur, das war die einzig gültige Tugend: zum Teufel mit allem übrigen! Man konnte ja über alle die kleinlichen Regeln vorsichtiger Politik nur mitleidig lachen, welche die Welt mit dem Namen Moral auszeichnet und in denen sie das Leben einzusperren sich anmaßt. Lächerliche Maulwurfshügel, Ameisengewimmel! Das Leben wird sie schon bald zur Vernunft bringen. Es braucht nur vorüberzuschreiten, und alles ist fortgefegt …

Oft überfiel den vor Lebensenergie fast berstenden Christof eine Art Zerstörungswut, eine Lust zu brennen, zu brechen, in blinden gewaltsamen Taten der Kraft, die ihn erstickte, freien Lauf zu lassen. Solche Anfälle endeten gewöhnlich in plötzlichen Entladungen: er weinte, warf sich zur Erde, umarmte den Boden, hätte seine Zähne, seine Hände hineingraben, sich an ihr sättigen, sich ihr vermengen mögen; er bebte in Fieber und Begehren.

Eines Abends ging er am Waldrand spazieren. Seine Augen waren vom Lichte berauscht, sein Kopf schwindelte; er ging in jenem Zustand der Begeisterung, darin jedes Wesen und jedes Ding verklärt erscheint. Das samtene Abendlicht tat seinen Zauber dazu. Strahlen aus Purpur und Gold webten unter den Bäumen. Phosphoreszierende Scheine schienen der Ebene zu entsteigen. Der Himmel war wollüstig und sanft wie Augen. In einem benachbarten Feld heuete ein Mädchen. In kurzem Hemd und Rock, mit nacktem Hals und Armen, harkte sie das Gras zu Haufen zusammen. Sie hatte eine kurze Nase, breite Wangen, eine runde Stirn und ein Taschentuch über den Haaren. Die sinkende Sonne rötete ihre braune Haut, die gebranntem Ton glich und die letzten Sonnenstrahlen aufzusaugen schien.

Christof war wie behext. Er lehnte an einer Buche und schaute mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit zu, wie das Mädchen sich der Waldgrenze näherte. Alles übrige war verschwunden. Sie achtete nicht auf ihn. Einen Augenblick hob sie ihren gleichmütigen Blick: er sah ihre harten Augen in dem gebräunten Gesicht. So nah ging sie jetzt an ihm vorüber, daß, als sie sich niederbeugte, um die Gräser zusammenzuraffen, er zwischen dem halboffenen Hemd einen blonden Flaum auf Nacken und Rückgrat sah. Das dunkle Begehren, das sein Inneres schwellte, brach mit einem Schlage aus. Er warf sich von hinten auf sie, packte sie um Hals und Leib, bog ihr den Kopf zurück, grub seinen Mund in ihren halboffenen Mund. Er küßte die trocknen aufgesprungenen Lippen, stieß an ihre Zähne, die ihn zornig bissen. Seine Hände liefen über ihre derben Arme, über ihr schweißgetränktes Hemd. Sie wehrte sich. Er preßte sie enger an sich, er hatte Lust, sie zu würgen. Sie riß sich los, schrie, spuckte, wischte sich die Lippen mit der Hand und überhäufte ihn mit Schimpfworten. Er hatte sie losgelassen und floh quer durch die Felder. Sie warf ihm Steine nach und ließ weiter eine Litanei schmutziger Zurufe gegen ihn los. Er errötete weniger über das, was sie sagen oder denken mochte, als um dessentwillen, was er selber dachte. Das Plötzliche und Unbewußte seiner Tat erfüllte ihn mit Schrecken. Was hatte er getan? Was würde er noch tun? Was er davon begriff, flößte ihm nur Ekel ein. Und gleichzeitig lockte ihn dieser Ekel. Er stritt gegen sich selbst und wußte nicht, auf welcher Seite der wahre Christof stand. Eine blinde Macht war über ihn hergefallen, er floh sie vergebens: denn er floh nur sich selbst. Was wollte sie mit ihm tun? Was würde er morgen tun … in einer Stunde, – in der Spanne Zeit nur, die er brauchte, um dies beackerte Land zu durchlaufen, auf den Weg zu gelangen? … Würde er auch nur hinkommen? Würde er nicht innehalten, zurücklaufen, auf dies Mädchen los? Und dann? … Er dachte an die trunkene Sekunde, wo er sie an der Kehle gepackt hatte. Alle Taten waren möglich. Alle Taten waren einander gleich. Ein Verbrechen selbst … Ja selbst ein Verbrechen … Er keuchte im Aufruhr seines Herzens. Als er den Weg erreicht hatte, hielt er inne, um zu atmen. Weit unten sprach das Mädchen mit einer anderen, die ihr Geschrei herbeigerufen hatte, und die Fäuste in die Hüften gestemmt schauten sie zu ihm hin und lachten laut heraus.

Er kehrte heim. Er schloß sich mehrere Tage ein und rührte sich nicht. Selbst in die Stadt ging er nur, wenn er dazu gezwungen war. Furchtsam vermied er jede Gelegenheit, außerhalb der Tore zu kommen, sich in die Felder zu wagen: er hatte Angst, dort wieder dem Wahnsinnsodem zu begegnen, der wie ein Windstoß in Gewitterschwüle in ihn eingefallen war. Er meinte, die Mauern der Stadt könnten ihn davor bewahren. Er dachte nicht, daß dem hineinschlüpfenden Feinde ein unmerklicher Spalt zwischen zwei geschlossenen Läden, schmal wie ein Blick, genügt.


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