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Zweites Buch
Der Morgen

I

Einige Jahre sind vergangen. Christof wird elf Jahre alt. Er setzt seine musikalische Erziehung fort. Er wird bei Florian Holzer, dem Organisten von Sankt Martin, Großvaters Freund, in der Harmonielehre unterrichtet; der sehr gebildete Mann lehrt ihn, daß diejenigen Akkorde und Akkordfolgen, welche er am meisten liebt, Harmonien, die ihm Herz und Ohren sanft liebkosen, die er nicht anhören kann, ohne daß ihm ein kleiner Schauer das Rückgrat hinunterrieselt, schlecht und verboten sind. Wenn er fragt warum, wird ihm nichts anders geantwortet als: die Regel verbietet sie. Da er von Natur aus zuchtlos ist, liebt er sie darum nur um so mehr. Seine größte Freude ist, derartige Beispiele bei großen Musikern, die man bewundert, aufzufinden und sie Großvater oder seinem Lehrer vorzulegen. Großvater antwortet darauf, daß dergleichen bei den großen Musikern bewundernswert sei, und daß Beethoven oder Bach sich eben alles erlauben konnten. Der Lehrer ist weniger nachsichtig, wird böse und sagt beißend, daß das nicht das Schönste wäre, was sie geschrieben hätten.

Christof hat freien Eintritt in Konzerte und ins Theater. Er macht sich mit allen Instrumenten ein wenig vertraut. Auf der Violine entwickelt er sogar bereits annehmbares Können, so daß sein Vater auf den Gedanken gekommen ist, ihm im Orchester ein Pult geben zu lassen. Nach einigen Probemonaten hält er seine Stimme so gut, daß er offiziell zum zweiten Violinisten des Hofmusikvereins ernannt wird. So beginnt er sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und das ist nicht zu früh; denn die Verhältnisse zu Hause verschlechtern sich mehr und mehr. Melchiors Unmäßigkeit hat zugenommen und der Großvater wird alt.

Christof gibt sich von diesen traurigen Verhältnissen Rechenschaft. Er hat bereits das ernste und besorgte Aussehen eines kleinen Mannes. Mutig erfüllt er seine Aufgabe, obwohl sie ihn kaum interessiert und er abends im Orchester vor Müdigkeit fast umfällt, weil es spät ist und er sich langweilt. Als er noch klein war – vor vier Jahren – war sein höchster Ehrgeiz gewesen, diesen Platz, auf dem er heute sitzt, einzunehmen. Heute mag er die meiste Musik nicht, die man ihn spielen läßt. Noch aber wagt er sein Urteil nicht über sie zu formulieren; im Grunde genommen findet er sie dumm; wenn zufällig schöne Sachen an die Reihe kommen, ärgert er sich über die Biederkeit, mit der sie gespielt werden: die Werke, die er am liebsten hat, fangen schließlich an, seinen Nachbarn, den Orchesterkollegen, ähnlich zu sehen, die, wenn der Vorhang gefallen und sie mit Blasen und Kratzen fertig sind, sich lächelnd den Schweiß abwischen, als ob sie eben eine Turnstunde genommen hätten, und sich ruhig ihre belanglosen Geschichten erzählen. Auch seine alte Liebe, die blonde Sängerin mit den bloßen Füßen, hat er in der Nähe wieder gesehen; er trifft sie häufig in der Zwischenpause im Restaurant. Da sie weiß, daß er in sie verliebt war, küßt sie ihn gern. Ihm macht das nicht das geringste Vergnügen: ihre Schminke, ihr Geruch, ihre ungeheuren Arme und ihre Gefräßigkeit widern ihn an; er haßt sie jetzt.

Der Großherzog vergaß seinen Hofmusikus nicht. Das kleine Gehalt, das er ihm für diesen Titel bewilligte, wurde ihm allerdings nicht pünktlich bezahlt – er mußte immer darum mahnen – aber von Zeit zu Zeit wurde Christof aufs Schloß befohlen, entweder, wenn dort hervorragende Gäste waren, oder ganz einfach, wenn es Ihren Hoheiten Spaß machte, ihn zu hören. Das traf sich fast immer abends in den Stunden, die Christof lieber hätte allein verbringen mögen. Zuweilen mußte er im Vorzimmer warten, weil das Diner noch nicht beendet war. Die Dienerschaft, die ihn zu sehen gewohnt war, redete ihn vertraulich an. Dann führte man ihn in einen spiegelgeschmückten und lichterhellen Saal, wo steife Menschen ihn mit verletzender Neugierde scharf betrachteten. Er mußte den zu blank gebohnerten Raum durchschreiten, um Ihren Hoheiten die Hand zu küssen. Je größer er wurde, um so linkischer benahm er sich dabei; denn er fand sich lächerlich, und sein Stolz litt. Dann setzte er sich ans Klavier und mußte für diese Schafsköpfe – wie er sie nannte – spielen. Es gab Augenblicke, in denen die Gleichgültigkeit dieser Umgebung ihn während des Spiels derartig bedrückte, daß er drauf und dran war, mitten im Stück plötzlich abzubrechen. Er glaubte sich in einem luftleeren Raum; ihm war, als müsse er ersticken und ins Leere fallen. War er fertig, so überschüttete man ihn mit Glückwünschen. Man setzte ihn durch Komplimente in Verlegenheit. Einer stellte ihn der Reihe nach vor. Ihm schien, man betrachte ihn wie ein fremdartiges Tier, das zur fürstlichen Menagerie gehöre, und die Lobeserhebungen wären mehr seinem Herrn als ihm bestimmt. So glaubte er sich erniedrigt und ergab sich einer krankhaften Empfindlichkeit, unter der er um so mehr litt, als er sie nicht zu zeigen wagte. In den einfachsten Vorkommnissen sah er eine Beleidigung: wenn in einer Ecke des Salons gelacht wurde, meinte er, das gälte ihm; er wußte nur nicht: machte man sich über sein Benehmen oder seinen Anzug oder sein Äußeres, seine Füße oder Hände lustig. Alles demütigte ihn: er fühlte sich gedemütigt, wenn man nicht mit ihm sprach, gedemütigt, wenn man mit ihm sprach, gedemütigt, wenn man ihm wie einem Kinde Bonbons gab, vor allem aber gedemütigt, wenn der Großherzog ihn, wie es zuweilen vorkam, mit fürstlicher Ungeniertheit fortschickte, wobei er ihm ein Goldstück in die Hand drückte. Er fühlte sich seiner Armut wegen unglücklich und weil man ihn als Armen behandelte. Als er eines Tages heimging, bedrückte ihn das empfangene Geld so sehr, daß er es im Vorbeigehen in eine Kellerluke warf. Unmittelbar darauf hätte er Gemeinheiten begehen können, um es wieder zu erlangen; denn zu Hause war man seit mehreren Monaten beim Schlächter die Rechnung schuldig.

Seine Eltern ahnten kaum, wie sehr er unter seinem verletzten Stolz litt. Sie waren über seine Beliebtheit beim Fürsten glückselig. Die gute Luise konnte sich für ihren Jungen nichts Schöneres als diese Abende im Schloß in glänzender Gesellschaft denken. Für Melchior wurden sie ein Vorwand fortgesetzter Prahlereien vor seinen Freunden. Der Glücklichste jedoch war Großvater. Er spielte zwar gern den unabhängigen Geist, den Nörgler, der alle Größen verachtet; aber er war dennoch voller naiver Bewunderung für Geld, Macht, Ehren, kurz für alle sozialen Auszeichnungen; und es war für ihn ein Stolz ohnegleichen, seinen Enkel sich denen nähern zu sehen, die daran teilhatten. Er genoß das, als ob dieser Ruhm auf ihn zurückstrahlte; und trotz aller Bemühungen, unberührt zu scheinen, strahlte sein Gesicht. An den Abenden, an denen Christof aufs Schloß ging, richtete es Hans Michel immer so ein, unter irgendeinem Vorwand bei Luise zu bleiben. Mit kindlicher Ungeduld erwartete er die Rückkehr seines Enkels; und kam Christof heim, fing er mit absichtlich gleichgültiger Miene an, einige nebensächliche Fragen an ihn zu stellen:

»Nun, ging's heute abend gut?«

Oder zärtlich schmeichelnd:

»Da ist unser kleiner Christof, der uns gewiß etwas Neues erzählen wird.«

Oder er dachte sich irgendein Kompliment aus, das ihn kirre machen sollte:

»Grüß Gott, junger Hofkavalier!«

Aber Christof antwortete verdrießlich und gereizt kaum durch ein trockenes »Gutenabend« und setzte sich übellaunig in einen Winkel. Der Alte ließ nicht nach, stellte bestimmtere Fragen, auf die das Kind nur durch Ja oder Nein antwortete. Die andern mischten sich ein und forschten nach Einzelheiten. Christof zog die Stirn immer krauser. Man mußte ihm die Worte einzeln aus dem Munde ziehen, bis Hans Michel wütend aufbrauste und ihm eine Kränkung sagte. Christof antwortete in sehr respektlosem Ton, und es endete mit einem großen Zwist. Der Alte ging, indem er die Tür hinter sich zuschlug. So verdarb Christof diesen armen Leuten, die nichts von seiner schlechten Laune verstanden, alle Freude. Waren sie auch Bedientenseelen und ahnten nicht, daß man anders sein könnte, so war das doch nicht ihre Schuld.

Christof zog sich also in sich selbst zurück; und ohne die Seinen zu verurteilen, fühlte er doch einen Abgrund zwischen ihnen und sich. Zweifellos übertrieb er, was sie trennte; und trotz der Verschiedenheit ihres Denkens hätte er sich ihnen wahrscheinlich verständlich machen können, wenn es ihm gelungen wäre, sich mit ihnen ehrlich auszusprechen. Aber jeder weiß, daß es nichts Schwierigeres gibt als völlige Vertraulichkeit zwischen Eltern und Kindern, selbst wenn sie die zärtlichste Zuneigung zueinander empfinden; denn einerseits verhindert der Respekt ein offenes Aussprechen; und anderseits läßt die irrige Ansicht von der Überlegenheit und Erfahrung des Alters die Eltern kindliche Empfindungen nicht ernst nehmen, wenn diese auch meist ebenso interessant wie die der Großen und fast immer wahrhaftiger als diese sind.

Die Gesellschaft, die Christof zu Hause sah, die Gespräche, die er mit anhörte, entfernten ihn noch mehr von den Seinen.

Da kamen Melchiors Freunde: zum größten Teil Orchestermitglieder, Trinker und Junggesellen; es waren keine schlechten, aber gewöhnliche Menschen. Das Haus dröhnte unter ihrem Gelächter und ihren Schritten. Sie liebten wohl Musik, sprachen aber mit empörender Dummheit darüber. Ihre laute derbe Begeisterung verletzte des Kindes Schamhaftigkeit aufs empfindlichste. Lobten sie so ein Werk, das er liebte, war ihm, als würde er persönlich beleidigt. Er wurde blaß und blässer, trotzte, setzte eine eisige Miene auf und tat, als ob er sich für Musik nicht im geringsten interessiere; wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er sie gehaßt. Dann sagte Melchior:

»Der Bursche hat kein Herz. Er fühlt nicht das geringste. Ich weiß wirklich nicht, woher er das eigentlich hat.«

Zuweilen sangen sie gemeinsam im vierstimmigen Männerchor eins jener teutschen Lieder, die, eins wie das andere, mit feierlicher Einfalt und in platten Harmonien sich schwerfällig – gewissermaßen vierfüßig – fortbewegen. Dann flüchtete sich Christof in das entlegenste Zimmer und schimpfte gegen die Wände an.

Auch Großvater hatte seine Freunde: den Organisten, den Tapezier, den Uhrmacher, den Kontrabaß, alte, schwatzhafte Leute, die immer die gleichen Witze wiederkäuten und sich in endlose Diskussionen über Kunst, Politik oder die Stammbäume der Familien des Landes einließen – viel weniger am Unterhaltungsstoff interessiert als glücklich, schwatzen zu dürfen und jemanden zu finden, mit dem sie reden konnten.

Luise hingegen sah nur einige Nachbarinnen, die ihr Stadtklatsch zutrugen, und hin und wieder irgendeine »gütige Dame«, die unter dem Vorwand, sich für sie zu interessieren, sie für ein bevorstehendes Diner um ihre Dienste bat und sich dabei herausnahm, die religiöse Erziehung der Kinder zu überwachen.

Jedoch von allen Besuchern war Christof keiner unsympathischer als sein Onkel Theodor, Großvaters Stiefsohn, ein Sohn aus der ersten Ehe der Großmutter Clara, welche Hans Michels erste Frau gewesen war. Er war Teilhaber eines großen Handelshauses, das geschäftliche Verbindungen mit Afrika und dem äußersten Osten unterhielt. Er stellte ganz den Typus eines jener Deutschen neuen Stils dar, die mit Vorliebe den alten Idealismus der Rasse spöttisch verschmähen und siegestrunken mit Kraft und Erfolg einen Kultus treiben, der beweist, daß sie nicht gewohnt sind, unter diesem Zeichen zu leben. Da es aber unmöglich ist, die jahrhundertalte Natur eines Volkes plötzlich zu ändern, kam der zurückgedrängte Idealismus immer wieder in der Sprache, im Benehmen, in den moralischen Anschauungen, in den Goethezitaten anläßlich der geringsten häuslichen Begebenheiten wieder zutage; und so entstand durch das bizarre Bemühen, die ehrbaren Prinzipien des alten deutschen Bürgertums mit dem Zynismus dieser neuen Laden-Condottieri in Einklang zu bringen, ein sonderbares Gemisch von Gewissenhaftigkeit und Eigennutz, ein Gemisch, das einen recht widerlichen Geruch von Heuchelei an sich hat, – die darauf hinausläuft, aus deutscher Kraft, Geldgier und Interessensucht das Symbol alles Rechtes, aller Gerechtigkeit und aller Wahrheit zu gestalten.

Christofs Anständigkeit wurde dadurch aufs tiefste verletzt. Er vermochte nicht zu beurteilen, ob sein Onkel recht habe; aber er verabscheute ihn und sah in ihm seinen Feind. Auch Großvater liebte dergleichen nicht und empörte sich gegen solche Taktik; aber er wurde in der Diskussion rasch durch Theodors Redegewandtheit erdrückt, dem es keine Mühe kostete, die edelmütige Naivetät des Alten ins lächerliche zu ziehen, und es endete damit, daß Hans Michel sich seines guten Herzens schämte. Um zu zeigen, daß er nicht gar so rückständig sei, wie man glaubte, versuchte er dann ebenso wie Theodor zu sprechen. Das aber klang in seinem Munde so falsch, daß es ihm selbst peinlich war. Wenn er auch im Grunde anders dachte, so flößte ihm Theodor doch Achtung ein; er hatte Respekt vor seiner praktischen Geschicklichkeit, die er um so mehr beneidete, als er sich selbst dazu absolut unfähig wußte. Für einen seiner Enkel träumte er eine ähnliche Lebensstellung. Melchior hegte ebensolche Gedanken und ersah Rudolf dazu aus, den Spuren seines Onkels zu folgen. So trachtete jedermann im Hause danach, dem reichen Verwandten, von dem man Gefälligkeiten erwartete, zu schmeicheln. Der nutzte die Situation, da er sich nötig sah, aus, um den großen Herrn zu spielen; er mischte sich in alles, gab seine Ansicht über alles ab und nahm sich keine Mühe, seine vollkommene Verachtung für Kunst und Künstler zu verbergen; er prahlte vielmehr damit, da es ihm Vergnügen machte, seine musikalischen Verwandten zu demütigen; und er machte bald über den einen, bald über den andern schlechte Witze, die man aus Feigheit belachte.

Besonders gern wurde Christof zur Zielscheibe der Spöttereien seines Onkels gewählt; und der war nicht geduldig. Er schwieg und biß mit böser Miene die Zähne zusammen. Der andere amüsierte sich über seine stumme Wut. Aber als Theodor ihn eines Tages bei Tisch über Gebühr quälte, spuckte Christof, außer sich, ihm ins Gesicht. Daraus wurde eine schreckliche Geschichte. Die Beleidigung war so unerhört, daß der Onkel anfangs vor Schrecken stumm blieb; in einer Sturzflut von Schimpfworten fand er die Sprache wieder. Christof saß, vor Entsetzen über seine Tat wie versteinert auf seinem Stuhl und nahm die Schläge, die auf ihn niederregneten, hin, ohne sie zu fühlen; aber als man ihn vor dem Onkel auf die Knie zerren wollte, schlug er um sich, stieß seine Mutter beiseite und flüchtete aus dem Hause hinaus. Und nicht eher hielt er auf freiem Felde inne, als bis er nicht mehr atmen konnte. Er hörte Stimmen, die ihn von weitem riefen; er fragte sich, ob er sich nicht am besten in den Fluß werfen solle, da er nun einmal nicht die Macht hatte, seinen Feind hineinzuwerfen. Die Nacht verbrachte er in den Feldern. Erst gegen Morgen klopfte er bei seinem Großvater an die Tür. Der Alte war über Christofs Verschwinden so beunruhigt – er hatte deshalb gar nicht geschlafen –, daß er nicht den Mut fand, ihm zu zürnen. Er führte ihn nach Hause zurück, wo man vermied, ihm das Geringste zu sagen, da man sah, daß er immer noch in einem Zustand von Überreizung war; und man mußte behutsam mit ihm umgehen, denn er sollte abends auf dem Schloß spielen.

Aber Melchior quälte ihn mehrere Wochen hindurch mit seinen Wehklagen fast zu Tode – er tat dabei, als ob er sich an niemand besonders wende – jammerte aber über die Mühe, die man sich nehme, Beispiele eines tadellosen Lebenswandels und guter Manieren zu geben, und zwar ganz unwürdigen Geschöpfen, die einem nur Schande machten. Und wenn Onkel Theodor ihn auf der Straße traf, wandte er den Kopf weg und hielt sich mit allen Zeichen tiefen Abscheus die Nase zu.

Da er zu Hause so geringer Sympathie begegnete, blieb er so wenig wie möglich daheim. Er litt unter dem beständigen Zwang, den man ihm aufzuerlegen suchte. Es gab zu viele Dinge, zu viele Menschen, die man respektieren sollte, ohne daß es erlaubt war, das Warum zu diskutieren; und Christof hatte nicht die geringste Anlage zum Respekt. Je mehr man darauf drang, ihn in Zucht zu halten und einen artigen, kleinen deutschen Bürger aus ihm zu machen, desto mehr fühlte er den Drang, sich zu befreien. Welch Vergnügen wäre es ihm gewesen, sich nach den steifen und tödlich langweiligen Sitzungen im Orchester oder im Schloß wie ein Füllen im Grünen zu wälzen, mit seiner neuen Hose den Rasenabhang von oben bis unten herabzurutschen oder sich mit den Jungen seines Stadtviertels mit Steinen zu bombardieren. Wenn er es nicht öfters tat, so hielt ihn nicht etwa die Furcht vor Vorwürfen und Schlägen zurück; nein, er fand keine Kameraden: es gelang ihm nicht, sich mit den andern Kindern zu verstehen. Nicht einmal die Gassenjungen mochten mit ihm spielen; denn er nahm das Spiel zu ernst und teilte zu kräftige Schläge aus. So wurde es ihm zur Gewohnheit, verschlossen zu sein und sich abseits von den Kindern seines Alters zu halten: er schämte sich, ungeschickt im Spiel zu erscheinen, und wagte nicht, sich in ihre Unternehmungen zu mischen. Dann tat er wohl so, als ob er sich nicht dafür interessiere, obwohl er vor Lust brannte, zum Mitspielen aufgefordert zu werden. Man sprach ihn jedoch nicht an, und so trollte er sich tieftraurig, aber mit gleichgültiger Miene von dannen.

Es war ihm ein Trost, mit Onkel Gottfried herumzustreifen, wenn dieser im Lande war. Er schloß sich ihm mehr und mehr an und fand an seinem ungebundenen Wesen Gefallen. Er verstand jetzt so gut Onkel Gottfrieds Vergnügen, im Lande umherzuziehen, ohne irgendwo gefesselt zu sein. Oft gingen sie abends zusammen übers Feld, ohne Ziel, geradeaus vor sich hin. Da Gottfried immer die Zeit vergaß, kam man spät heim und wurde gezankt. Eine wahre Freude war es daher, sich nachts heimlich davonzuschleichen, während die andern schliefen. Gottfried wußte, daß das unrecht war; aber Christof bat ihn flehentlich: und er selbst konnte dem Vergnügen nicht widerstehen. Gegen Mitternacht kam er vor das Haus und pfiff auf die verabredete Weise. Christof hatte sich vollständig angezogen hingelegt. Er glitt aus dem Bett, die Schuhe in der Hand, und mit angehaltenem Atem kroch er mit den Listen eines Wilden bis zum Küchenfenster, das nach der Straße zu lag. Dort stieg er auf den Tisch. Gottfried nahm ihn auf der andern Seite auf seinen Schultern in Empfang und glücklich wie zwei Schulbuben zogen sie davon.

Einige Male trafen sie sich mit dem Fischer Jeremias, Gottfrieds Freund, und angelten im Mondschein in seiner Barke Das Wasser tropfte von den Rudern, gab Harfentöne und kleine chromatische Läufe von sich. Ein milchiger Hauch zitterte auf der Oberfläche des Flusses. Die Sterne blinkten. Hähne riefen von einem Ufer zum andern sich Antwort zu, und zuweilen hörte man aus höchster Himmelshöhe das Trillern von Lerchen, die, getäuscht von der Klarheit des Mondscheins, in die Lüfte emporstiegen. Man schwieg. Ganz leise sang Gottfried eine Weise. Jeremias erzählte sonderbare Geschichten aus dem Leben der Tiere, die um so seltsamer erschienen, als er sie in kurze und rätselhafte Worte faßte. Der Mond verbarg sich hinter den Wäldern. Man fuhr an der düsteren Masse der Hügel entlang. Das Dunkel von Himmel und Wasser verschmolz ineinander. Der Fluß lag faltenlos. Alle Geräusche erstarben. Die Barke glitt durch die Nacht. Glitt sie? Schwebte sie? Blieb sie unbeweglich? … Das Schilf bog sich mit einem Seidengeknister auseinander. Man legte lautlos an, stieg ans Ufer und ging zu Fuß heim. Oft war man erst gegen Morgengrauen zu Hause. Man folgte dem Lauf des Flusses. Schwärme von silbrigen Königsfischen, grün wie Ähren oder blau wie Juwelen, tauchten beim ersten Tagesschimmer auf, wimmelten, wie die Schlangen um das Medusenhaupt, gefräßig um das Brot, das man ihnen zuwarf, tauchten, je nachdem es sank, ringsum tiefer hinab, drehten sich in Spiralen und verschwanden dann plötzlich wie ein Lichtstrahl. Der Fluß färbte sich mit rosigen und lilafarbigen Reflexen. Die Vögel erwachten rings in der Runde. Dann ging man eilig heim, und mit derselben Vorsicht wie beim Fortgehen kletterte Christof in das stickige Zimmer zurück und legte sich ins Bett. Sein Körper war frisch vom Duft der Felder, und er fiel sofort in festen Schlaf.

So ging alles vortrefflich und niemand hätte etwas geahnt wenn nicht Ernst, der jüngere Bruder, Christofs nächtliche, Ausflüge eines Tages verraten hätte. Von da an wurden sie ihm verboten; und man überwachte ihn. Dennoch ging er wieder durch; denn er zog jeder anderen Gesellschaft die des Hausierers und seines Freundes vor. Die Seinen waren entrüstet. Melchior sagte, er habe die Neigungen eines Bauernlümmels. Der alte Hans Michel war eifersüchtig auf Christofs Gefühle für Gottfried. Er predigte ihm salbungsvoll, daß er sich in dem Vergnügen an einer so gewöhnlichen Gesellschaft erniedrige, während er doch die Ehre hätte, Zutritt zu den besten Kreisen zu haben und Fürsten zu dienen. Kurzum: man fand, daß es Christof an Würde und Selbstachtung fehle.

 

Trotzdem mit Melchiors Unmäßigkeit und Müßiggang die Geldverlegenheiten zunahmen, war das Leben erträglich, solange Hans Michel da war. Er war der einzige, der einigen Einfluß auf Melchior hatte und ihn in gewissem Maße auf der abschüssigen Bahn seines Lasters zurückhielt. Dazu kam, daß die allgemeine Achtung, deren er sich erfreute, die tollen Streiche des Trunkenboldes häufig vergessen ließ. Und schließlich half er doch auch in Geldverlegenheiten beständig aus. Außer der bescheidenen Pension als ehemaliger Kapellmeister, verschaffte er sich immer noch durch Stundengeben und Klavierstimmen kleine Nebeneinnahmen. Den größten Teil davon steckte er seiner Schwiegertochter zu, deren Bedrängtheit er sah, trotz ihrer Anstrengungen, sie vor ihm zu verbergen. Luise war außer sich in dem Gedanken, daß er sich ihretwegen etwas entzog. Und es war dem Alten wirklich um so höher anzurechnen, als er immer gewohnt gewesen war, großzügig zu leben, und viele Bedürfnisse hatte. Zuweilen genügten seine Opfer nicht einmal, und Hans Michel mußte, um eine drückende Schuld zu decken, dann im geheimen ein Stück Möbel, Bücher oder Andenken, an denen er hing, verkaufen. Melchior merkte wohl, daß sein Vater Luise heimlich Geschenke machte, und mehr als einmal kam es vor, daß er trotz allen Widerstandes sie an sich brachte. Wenn jedoch der Alte das erfuhr – nicht von Luise, die ihren Schmerz für sich behielt, aber von einem seiner Enkel –, geriet er in einen fürchterlichen Zorn; und es spielten sich zwischen den beiden Männern Szenen ab, die alles erzittern ließen. Beide waren außerordentlich heftig, verfielen gleich in grobe Worte und Drohungen, und schienen stets bereit, handgemein zu werden. Aber in allen seinen Zornesausbrüchen hielt Melchior immer ein unbesiegbarer Respekt zurück; und wenn er auch noch so betrunken war, so endete es doch stets damit, daß er den Kopf unter dem Hagel von Beleidigungen und demütigenden Vorwürfen, die sein Vater auf ihn losließ, senkte. Nichtsdestoweniger lauerte er auf die nächste Gelegenheit, um wieder anzufangen. Und traurige Ahnungen bedrückten Hans Michel, wenn er an die Zukunft dachte.

»Meine armen Kinder,« sagte er zu Luise, »was soll aus euch werden, wenn ich einmal nicht mehr bin! …« Und indem er Christof liebkoste, fügte er hinzu: »Glücklicherweise wird es noch so lange mit mir gehen, bis der euch aus dem Unglück herausziehen wird.«

Aber er täuschte sich in seinen Berechnungen; denn er war bereits am Ende seines Weges. Niemand hätte das geahnt. Er war erstaunlich kräftig. Über achtzig Jahre – und noch hatte er alle seine Haare, eine weiße Mähne mit einzelnen noch grauen Büscheln, und in seinem dichten Bart waren sogar noch ganz schwarze Fäden. Allerdings hatte er nur noch etwa ein Dutzend Zähne; aber mit diesen konnte er tüchtig schaffen. Es war ein Vergnügen, ihn bei Tische zu sehen. Er hatte einen gesegneten Appetit, und wenn er auch Melchior das Trinken vorwarf, so zechte er selbst doch gehörig. Besondere Vorliebe hatte er für Moselweine. Im übrigen, ob Wein, Bier oder Apfelwein, er wußte allem, was Gott Herrliches wachsen ließ, gerecht zu werden. Aber er war nicht so unbedacht, seine Vernunft im Glase zu lassen. Er hielt Maß. Allerdings war es ein wohlgeschüttet Maß, und ein schwächerer Verstand wäre in seinem Glase unfehlbar ertrunken. Er war gut zu Fuß, sah gut und hatte einen unermüdlichen Tätigkeitstrieb. Um sechs Uhr war er auf und machte peinlich Toilette; denn er war um äußeres Auftreten und Selbstachtung sehr besorgt. Er lebte allein in seinem Hause, kümmerte sich um alles selbst und duldete nicht, daß seine Schwiegertochter die Nase in seine Angelegenheiten steckte: er machte sein Zimmer, kochte Kaffee, nähte sich Knöpfe an, nagelte, klebte, besserte aus, und wenn er in Hemdsärmeln treppauf und treppab lief, sang er ohne Unterbrechung, füllte die Luft mit seiner hallenden Baßstimme, die er gern erklingen ließ und deren Weisen er mit hochdramatischen Gesten begleitete. – Dann ging er aus und zwar bei jedem Wetter. Er ging seinen Geschäften nach, ohne ein einziges zu vergessen; aber er war selten pünktlich: man sah ihn an allen Straßenecken stehen, sich mit Bekannten unterhalten oder mit einer Nachbarin, deren Gesicht ihm bekannt vorkam, scherzen; denn er liebte junge, hübsche Mädchen und die alten Freunde. So verspätete er sich und wußte nie, wieviel Uhr es war. Indessen die Stunde des Mittagessens vergaß er nicht: er speiste, wo er sich gerade befand, indem er sich bei irgendwelchen Leuten einlud. Spät abends erst, in nächtlicher Dunkelheit, nachdem er lange bei seinen Enkelkindern verweilt hatte, kehrte er heim. Er legte sich nieder, las vorm Einschlafen im Bett noch eine Seite in seiner alten Bibel; und in der Nacht – denn er schlief nicht mehr als eine oder zwei Stunden hintereinander – erhob er sich, um einen seiner alten Schmöker, die er billig erworben hatte, vorzunehmen: Geschichte, Theologie, Literatur oder Naturwissenschaft; darin las er ein paar zufällig aufgeschlagene Seiten, die ihn interessierten und zugleich langweilten, die er oft nicht ganz verstand, aber doch Wort für Wort in sich aufnahm – bis der Schlaf ihn wieder übermannte. Am Sonntag besuchte er die Messe, ging mit den Kindern spazieren und spielte Kegel. – Niemals war er krank gewesen, abgesehen von etwas Gicht in den Zehen, die ihn nächtlicherweile inmitten seiner Bibellektüre zum Fluchen verleitete. Es schien wirklich, als ob er so hundert Jahre alt werden könnte, und er selbst sah auch keinen Grund, warum er nicht sogar noch älter werden sollte. Wenn man ihm prophezeite, er werde als Hundertjähriger sterben, dachte er wie vor ihm ein berühmter Greis, man möge der gütigen Vorsehung doch keine Grenzen setzen. Daß er alterte, merkte man nur daran, daß er leichter weinte und tagtäglich reizbarer wurde. Die geringste Ungeduld zog einen wahnsinnigen Zornesausbruch nach sich. Sein rotes Gesicht und sein kurzer Hals wurden dann ganz karmoisinfarbig. Er stotterte wütend und war schließlich, nach Luft schnappend, gezwungen, innezuhalten. Der Hausarzt, einer seiner alten Freunde, hatte ihm anempfohlen, sich in acht zu nehmen und sich in seinem Zorn und seinem Appetit gleicherweise zu mäßigen. Aber starrköpfig, wie Greise sind, beging er aus Kraftprotzerei immer mehr Unvorsichtigkeiten; und er spottete über die Medizin und die Ärzte. Er tat, als empfände er große Verachtung vor dem Tode, und sparte keine Reden, um zu versichern, daß er ihn nicht fürchte.

An einem sehr heißen Sommertage, als er kräftig getrunken und obendrein noch Streitereien gehabt hatte, kam er nach Hause und machte sich in seinem Garten zu schaffen. Er liebte es, Beete umzugraben. Mit bloßem Kopf in voller Sonne, noch ganz erregt von der Diskussion, schaufelte er wütend drauf los. Christof saß mit einem Buch in der Hand in der Gartenlaube; aber er las kaum, sondern hörte dem einschläfernden Zirpen der Grillen zu: und mechanisch folgte sein Blick Großvaters Bewegungen. Der Alte drehte ihm den Rücken zu, beugte sich nieder und jätete Unkraut. Plötzlich sah Christof, wie er sich aufrichtete, sinnlos mit den Armen durch die Luft fuchtelte und dann wie eine Masse, das Gesicht zur Erde, zu Boden stürzte. Im ersten Augenblick empfand er Lust zu lachen. Als er aber sah, daß der Alte sich nicht rührte, rief er ihn, lief zu ihm, schüttelte ihn aus Leibeskräften. Eine Angst überfiel ihn. Er kniete nieder und versuchte mit beiden Händen den mächtigen, zur Erde gewandten Kopf aufzurichten. Dieser war so schwer, und er selbst zitterte derartig, daß er Mühe hatte ihn zu heben. Aber als er die verdrehten Augen sah, die weiß, und blutunterlaufen im Kopfe hingen, erstarrte er vor Schreck und ließ ihn mit lautem Aufschrei zurücksinken. Entsetzt sprang er auf und lief, was er konnte, auf die Straße. Er schrie und weinte. Ein Vorübergehender hielt das Kind an. Aber Christof war außerstande zu sprechen; er zeigte nur aufs Haus. Der Mann trat ein, und Christof folgte ihm. Andere hatten sein Geschrei gehört und kamen aus den benachbarten Häusern herbei. Bald war der Garten voller Menschen. Man zertrat die Blumen, man beugte sich über den Alten, man jammerte. Zwei oder drei Leute hoben ihn auf. Christof, der, gegen die Mauer gewandt, am Eingang stehen geblieben war, verbarg das Gesicht in den Händen. Er hatte Furcht, hinzuschauen, und doch konnte er's nicht lassen. Als der Zug an ihm vorüberkam, sah er durch die Finger hindurch den leblos hängenden großen Körper des Alten: ein Arm schleifte auf der Erde; der Kopf, gegen die Knie des einen Trägers gelehnt, wurde bei jedem Schritt hin- und hergeschüttelt; als Christof das blutige, mit Schmutz bedeckte aufgedunsene Gesicht, den offenen Mund und die schrecklichen Augen erblickte, schluchzte er wieder auf und ergriff die Flucht. Er lief wie ein Verfolgter, ohne anzuhalten, bis zum Hause seiner Mutter. Unter schrecklichem Geschrei stürzte er in die Küche. Luise belas Gemüse. Er warf sich gegen sie und umschlang sie verzweiflungsvoll, als ob er Hilfe bei ihr suche. Sein Gesicht zuckte krampfhaft, und er konnte kaum sprechen. Aber schon beim ersten Wort begriff sie. Sie wurde ganz fahl, ließ alles, was sie in der Hand hielt, fallen und stürzte wortlos hinaus.

Christof blieb allein im Zimmer; in eine Schrankecke geduckt weinte er immer weiter. Seine Brüder spielten. Er gab sich nicht genau darüber Rechenschaft, was sich zugetragen hätte; er dachte nicht an den Großvater; er dachte nur an die schrecklichen Bilder, die er eben gesehen hatte, und er zitterte vor Furcht, sie wieder sehen, wieder dorthin gehen zu müssen.

Und wirklich, als gegen Abend die andern Kleinen nach allen erdenklichen Dummheiten, die sie angestellt hatten, müde geworden waren und zu greinen anfingen, weil sie Hunger hatten und sich langweilten, kam Luise eilig heim, nahm sie bei der Hand und führte sie zu Großvater. Sie ging sehr schnell, und Ernst und Rudolf versuchten wie gewöhnlich zu murren; Luise gebot ihnen jedoch in einem solchen Ton Stillschweigen, daß sie verstummten. Eine instinktive Furcht bemächtigte sich ihrer: im selben Augenblick, als sie eintraten, begannen sie zu weinen. Es war noch nicht völlig dunkel. Der letzte Schimmer der Abendsonne entzündete seltsame Reflexe im Hausgang, auf dem Türgriff, dem Spiegel und der Violine an der Wand des ersten, halbdunklen Zimmers. Indessen war in der Stube des Alten eine Kerze angezündet, deren flackernde Flamme sich gegen das fahle, verlöschende Tageslicht stieß, wodurch das schwere Düster im Zimmer noch beklemmender wurde. Melchior saß am Fenster und weinte ganz laut. Der Arzt beugte sich gerade über das Bett und verhinderte so, daß man den sah, der dort lag. Christofs Herz schlug zum Zerspringen. Luise hieß die Kinder am Fußende des Bettes niederknien. Christof wagte es, hinzusehen. Nach dem Schauspiel vom Nachmittag war er auf etwas so Schreckliches gefaßt, daß er sich im ersten Augenblick erleichtert fühlte. Großvater lag unbeweglich und schien zu schlafen. Das Kind hatte einen Augenblick den Eindruck, daß Großvater geheilt und alles vorüber sei. Als er aber seinen schweren Atem hörte und bei näherem Hinschauen sein aufgetriebenes Gesicht sah, in dem die Verletzung durch den Fall einen großen blauen Fleck hervorgerufen hatte, als er begriff, daß der, der dort lag, sterben würde, befiel ihn ein Zittern; und indem er laut Luisens Gebet wiederholte, daß Großvater genesen möge, betete er im Innern seines Herzens, daß, wenn Großvater nicht genesen sollte, er doch schon lieber tot sein möge. Er hatte Angst vor dem, was noch geschehen könnte.

Seit seinem Fall hatte der Alte das Bewußtsein nicht wieder erlangt. Nur einen Augenblick dämmerte er in den Tag zurück, gerade lange genug, um sich über seinen Zustand zu vergewissern – und das war grausig. Der Priester rezitierte über ihm die letzten Gebete. Man richtete den Greis in seinen Kissen auf; er öffnete schwer die Augen, die seinem Willen nicht mehr zu gehorchen schienen; er atmete geräuschvoll, betrachtete, ohne zu begreifen, die Gesichter, die Lichter; und plötzlich öffnete er den Mund; ein unsagbares Grauen malte sich auf seinen Zügen:

»Ja dann …« – stammelte er – »ja dann – muß ich also sterben.« Der fürchterliche Ton dieser Stimme, die er nie wieder vergessen sollte, bohrte sich in Hans Christofs Herz. Der Alte sprach nicht mehr; er stöhnte wie ein Kind. Dann fiel er wieder in die Betäubung zurück; atmete nun aber noch mühseliger, jammerte, fuchtelte mit den Händen, schien gegen den Todesschlaf zu kämpfen. In seinem Halbbewußtsein rief er einmal:

»Mama!«

O, dieser herzergreifende Eindruck, dieses Lallen des Alten, der angstvoll nach seiner Mutter rief, wie Christof es selbst getan hätte – nach seiner Mutter, die er sonst nie erwähnt hatte, und an die er sich jetzt instinktiv wandte: die letzte und vergebliche Zuflucht im höchsten Schrecken! … Er schien sich einen Augenblick zu beruhigen; noch ein Schimmer von Bewußtsein flog über ihn hin. Seine schweren Augen, deren Iris willenlos umherzuschwimmen schien, trafen den von Furcht fast erstarrten Kleinen. Da leuchteten sie auf. Der Alte machte eine Anstrengung zum Lächeln und Sprechen. Luise nahm Christof und führte ihn ans Bett heran. Hans Michel bewegte die Lippen und suchte mit der Hand seinen Kopf zu streicheln. Aber gleich fiel er wieder in seine Betäubung zurück. Dann kam das Ende.

Die Kinder wurden ins Nebenzimmer gebracht; aber es war zu viel zu tun, um sich jetzt mit ihnen zu beschäftigen. Und so erspähte Christof, von Schreckensschauern verlockt, durch die halboffene Tür das unheilvolle Gesicht, das, auf dem Kopfkissen zurückgesunken, von dem grausamen Druck erdrosselt wurde, der ihm den Hals zuschnürte – dies Gesicht, das von Sekunde zu Sekunde mehr verfiel –, das Versinken des Seins ins Nichts, von dem es gleich einer Pumpe aufgesogen zu werden schien – das abscheuliche Todesröcheln, diese mechanische Atmung, einer Luftblase ähnlich, die an der Wasseroberfläche zerplatzt, die letzten Atemstöße eines Körpers, der sich darauf versteift zu leben, während die Seele schon nicht mehr ist. – Dann glitt der Kopf seitwärts auf das Kissen. Und alles war still.

Erst nach einigen Minuten, inmitten des Schluchzens, der Gebete, der durch den Tod hervorgerufenen Verwirrung bemerkte Luise den Knaben, wie er leichenblaß, mit aufgerissenen Augen und verzerrtem Mund, krampfhaft den Türgriff umklammert hielt. Sie lief zu ihm hin, und in ihren Armen wurde er von einer Krise überfallen. Da trug sie ihn in sein Zimmer. Er verlor das Bewußtsein und kam erst später in seinem Bett wieder zu sich, schrie angstvoll auf, weil er einen Augenblick allein gelassen worden war, verfiel in eine neue Krise und verlor wieder das Bewußtsein. Die letzten Stunden der Nacht und den nächsten Vormittag lag er im Fieber. Endlich beruhigte er sich und verfiel die zweite Nacht in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst am folgenden Mittag erwachte. Er hatte den Eindruck, daß man im Zimmer umherginge, seine Mutter sich über ihn beugte und ihn küßte; er glaubte aus der Ferne her süßen Glockenklang zu hören. Aber er wollte sich nicht rühren; er war wie im Traum.

Als er die Augen aufschlug, saß Onkel Gottfried neben ihm. Christof fühlte sich wie zerschlagen und erinnerte sich an nichts. Dann erwachte die Erinnerung in ihm, und er begann zu weinen. Gottfried stand auf und küßte ihn.

»Nun, mein kleiner Kerl, nun?« sagte er zärtlich.

»Ach Onkel, Onkel,« jammerte das Kind und preßte sich an ihn.

»Weine,« sagte Gottfried, »weine!«

Auch er weinte.

Als Christof sich ein wenig erleichtert fühlte, wischte er sich die Augen und blickte Gottfried an. Gottfried merkte, daß er ihn etwas fragen wollte.

»Nein,« sagte er, indem er einen Finger auf den Mund legte, »nicht sprechen. Weinen ist gut. Sprechen ist schlecht.«

Das Kind ließ aber nicht nach.

»Das nützt nichts.«

»Nur eine Frage, eine einzige! …«

»Was denn?«

Christof zauderte.

»Ach! Onkel,« fragte er dann, »wo ist er jetzt?«

Gottfried antwortete:

»Er ist bei Gott dem Herrn, mein Kind.«

Aber das wollte Christof gar nicht wissen.

»Nein, du verstehst nicht: wo ist er, er

(Er meinte den Körper.)

Mit zitternder Stimme fuhr er fort:

»Ist er immer noch zu Hause?«

»Heute morgen ist der Teure beerdigt worden,« sagte Gottfried. »Hast du die Glocken nicht gehört?«

Christof atmete auf, dann aber begann er von neuem bitterlich darüber zu weinen, daß er den lieben Großvater nie wiedersehen würde.

»Armer, kleiner Kerl!« wiederholte Gottfried, indem er das Kind mitleidig betrachtete.

Christof wartete darauf, daß Gottfried ihn trösten würde; aber Gottfried versuchte es gar nicht erst; denn er wußte, daß es vergeblich wäre.

»Onkel Gottfried,« fragte das Kind, »fürchtest du dich denn nicht auch davor?«

(Was hätte er darum gegeben, wenn Gottfried sich nicht gefürchtet und ihn sein Geheimnis gelehrt hätte.)

Aber Gottfried wurde bekümmert.

»Still!« sagte er erregt.

»Wie sollte man nicht Furcht haben,« sagte er nach einer Weile. »Aber was ist da zu machen? Es ist nun einmal so. Man muß sich unterwerfen.«

Christof schüttelte empört den Kopf.

»Man muß sich fügen, mein Kind,« wiederholte Gottfried. »Der da droben hat es so gewollt. Wir müssen gut heißen, was Er will.«

»Ich mag ihn nicht leiden!« rief Christof gehässig, indem er mit der kleinen Faust zum Himmel drohte.

Gottfried war ganz entsetzt und hieß ihn schweigen. Christof selbst war erschrocken über das, was er gesagt hatte, und begann mit Gottfried zusammen zu beten. Aber in seinem Innern kochte es. Während er Worte tiefster Demut und Ergebenheit wiederholte, war im Grund seines Herzens nur ein leidenschaftliches Gefühl von Empörung und Schrecken gegen dieses fürchterliche Etwas und das ungeheuerliche Wesen, das es in die Welt hatte setzen können.

 

Tage und regnerische Nächte ziehen über die frisch aufgeworfene Erde dahin, in deren Tiefe der alte Hans Michel verlassen schläft. Im ersten Augenblick hat Melchior sehr geweint, geschrien und geschluchzt. Aber schon vor Ablauf der ersten Woche hört Christof ihn wieder herzlich lachen. Wenn man vor ihm den Namen des Verstorbenen ausspricht, macht er ein langes Gesicht und setzt eine düstere Miene auf; aber einen Moment später spricht und gestikuliert er wieder lebhaft. Er ist ernstlich betrübt; nur kann er nicht lange unter einem traurigen Eindruck bleiben.

Luise hat das Unglück still und ergeben hingenommen, wie sie alles hinnimmt. Sie hat ihren täglichen Gebeten ein neues hinzugefügt; sie geht regelmäßig auf den Friedhof und nimmt sich des Grabes an, als ob es mit zum Haushalt gehöre.

Gottfried ersinnt rührende Aufmerksamkeiten für das kleine Erdengeviert, wo der Alte schläft. Wenn er ins Land kommt, bringt er ihm irgendein Andenken mit, ein selbstgemachtes Kreuz, ein paar Blumen, die Hans Michel gern gehabt hat. Er versäumt niemals hinzugehen, selbst wenn er auch nur einige Stunden in der Stadt zubringt; aber er tut es heimlich.

Luise nimmt Christof öfters auf ihren Friedhofsbesuchen mit. Christof empfindet vor dieser lehmigen Erde, die ein düsterer Schmuck von Blumen und Bäumen überdeckt, einen tiefen Ekel; auch vor dem schweren Duft, der in der Sonne schwebt und sich mit dem Hauch rauschender Zypressen mengt; aber er wagt seinen Widerwillen niemandem zu gestehen, weil er ihn sich selbst als Feigheit und Ruchlosigkeit vorwirft. Er ist sehr unglücklich. Der Gedanke an Großvaters Tod verfolgt ihn unaufhörlich; dabei weiß er doch schon lange, was der Tod ist, hat daran gedacht und sich vor ihm gefürchtet. Aber nie vorher hatte er ihn gesehen. Wer ihn aber zum ersten Male sieht, merkt, daß er von Tod und Leben noch gar nichts wußte. Alles ist mit einem Schlage erschüttert und alle Vernunft, die man hat, nützt nichts. Man glaubte zu leben, einige Lebenserfahrung zu haben, und man sieht, daß man nichts wußte, nichts sah, daß man dahinlebte, eingehüllt in einen Schleier von Illusionen, den der Geist gewoben hatte und der den Augen das schreckliche Gesicht der Wirklichkeit verbarg. Es besteht gar keine Verbindung zwischen der Idee des Leidens und dem Wesen, dessen Herz leidet und blutet. Es bestehen gar keine Beziehungen zwischen dem Gedanken vom Tode und den Zuckungen des Fleisches und der Seele, die sich auflehnt gegen das Sterben und doch stirbt. Die ganze menschliche Sprache und alle unsere menschliche Weisheit ist nur ein Puppenspiel steifer Automaten gegen die schreckliche Offenbarung der Wirklichkeit, gegen diese armseligen Erdengeschöpfe, deren ganze vergebliche und verzweifelte Anstrengung darauf gerichtet ist, ein Leben festzuhalten, das sich Tag für Tag zersetzt.

Daran dachte Christof Tag und Nacht. Die Erinnerungen an den Todeskampf verfolgten ihn; er hörte das schreckliche Röcheln; Nacht für Nacht erschien ihm Großvater. Die ganze Natur hatte sich geändert. Es war, als hätte sich ein eisiger Nebel über ihn gelegt. Ringsum, überall, wohin er sich auch wandte, fühlte er auf seinem Gesicht den mörderischen Hauch der blinden und übermächtigen Bestie: er fühlte sich unter der Faust dieser fürchterlichen Zerstörungskraft, und wußte, es gab kein Entrinnen. Aber dieser Gedanke drückte ihn keineswegs zu Boden, sondern erfüllte ihn nur mit Empörung und Haß. Er ergab sich nicht. Er warf sich mit gesenktem Kopf gegen das Unmögliche. Und rannte er sich auch die Stirn ein und machte er sich auch hundertmal klar, daß er nicht der Stärkere sei, so ließ er doch nicht nach, sich gegen das Leiden aufzulehnen. Von nun an wurde sein Leben ein ununterbrochener Kampf gegen die Grausamkeit eines Schicksals, das er nicht gelten lassen wollte.

 

Solchen Gedankenqualen brachte die Härte des Lebens selber Ablenkung. Der Ruin der Familie, den allein Hans Michel verzögert hatte, wurde seit dessen Tode beschleunigt. Mit ihm hatten die Kraffts ihren stärksten Rückhalt verloren; und das Elend nahm seinen Einzug ins Haus.

Melchior trug das Seine noch dazu bei. Weit davon entfernt, mehr zu arbeiten, verfiel er gänzlich seinem Laster, nun da er jedweder Beaufsichtigung ledig war. Fast jede Nacht kam er betrunken heim und niemals brachte er irgend etwas von seinem Verdienst mit. Zudem hatte er fast alle seine Stunden verloren. Einmal war er bei einer Schülerin im Zustand völliger Trunkenheit erschienen: und infolge dieses Skandals schlossen sich ihm alle Häuser. Im Orchester duldete man ihn nur im Hinblick auf das Andenken seines Vaters; aber Luise zitterte schon, daß man ihn wegen irgendeines Ärgernisses von einem Tag zum andern verabschieden würde. An mehreren Abenden, an denen er sich erst gegen Ende der Vorstellung bei seinem Pult eingefunden hatte, war ihm bereits ernsthaft gedroht worden. Zwei- oder dreimal hatte er sogar ganz und gar zu kommen vergessen. Und wessen war er nicht in Augenblicken sinnloser Aufregung fähig, in denen es ihn geradezu juckte, Dummheiten zu sagen oder zu begehen. Verfiel doch er eines Abends gar darauf, mitten in einem Akt der Walküre sein großes Violinkonzert vortragen zu wollen! Und nur mit aller erdenklichen Mühe gelang es, ihn daran zu hindern. Es kam auch vor, daß er während der Vorstellung unter dem Eindruck drolliger Bilder, die sich auf der Bühne oder in seinem Hirn entrollten, in helles Gelächter ausbrach. Er machte die ganze Freude seiner Nachbarn aus, und man sah ihm vieles wegen seiner Lächerlichkeit nach. Aber solche Nachsicht war schlimmer als die größte Strenge; und Christof verging darüber fast vor Scham.

Der Junge war jetzt erster Geiger im Orchester. Er richtete es so ein, daß er seinen Vater überwachen konnte, ihn, wenn es nötig, sogar ersetzen oder, wenn Melchior seine mitteilsamen Tage hatte, ihn zum Schweigen bringen konnte. Leicht war das allerdings nicht, und das beste blieb immer, ihn gar nicht zu beachten; denn sowie er sich beobachtet wußte, begann er in der Trunkenheit Gesichter zu schneiden oder Reden zu halten. Christof wandte dann die Augen fort, während er innerlich davor zitterte, daß er irgend etwas Anstößiges tun werde; er versuchte sich in seine Noten zu vertiefen und konnte doch nicht hindern, Melchiors laute Bemerkungen und das Lachen seiner Nachbarn deutlich zu hören. Die Tränen traten ihm in die Augen. Die Musiker, die brave Kerle waren, merkten es und hatten Mitleid mit ihm; sie dämpften ihre Heiterkeitsausbrüche und unterließen es, in seiner Gegenwart von seinem Vater zu reden. Aber Christof fühlte ihr Mitleid. Er wußte, daß die Spöttereien wieder ihren Lauf nahmen, sowie er den Rücken gekehrt hatte, und daß Melchior das Gespött der ganzen Stadt war. Und daß er nichts dazu tun konnte, es zu verhindern, war ihm qualvoll. Nach Schluß der Vorstellung führte er den Vater wieder heim; er reichte ihm den Arm, ließ sein Geschwätz über sich ergehen und gab sich Mühe, die Unsicherheit seines Schrittes zu verbergen. Wen aber täuschte er damit? Trotz aller Anstrengungen gelang es ihm selten, den Vater bis nach Hause zu geleiten. Waren sie an einer Straßenecke, dann erklärte Melchior, daß er eine dringende Verabredung mit einigen Freunden habe, und keine Überredungskunst konnte ihn bewegen, von seinem Vorhaben abzustehen. Die Klugheit gebot sogar, nicht allzu sehr darauf zu bestehen, wenn man sich nicht einer väterlichen Verfluchungsszene aussetzen wollte, welche die Nachbarn an die Fenster rief.

Das ganze Haushaltungsgeld wurde so vertan. Melchior begnügte sich nicht damit, seinen eigenen Verdienst zu vertrinken; er vertrank auch, was seine Frau und sein Sohn sich mit so unsäglicher Mühe erwarben. Luise weinte; aber sie wagte keine Auflehnung, seitdem ihr Mann sie höchst unzart daran erinnert hatte, daß nichts im Hause ihr gehöre und er sie ohne einen Pfennig geheiratet habe. Christof versuchte aufzubegehren: da ohrfeigte Melchior ihn, behandelte ihn wie einen Gassenbuben und nahm ihm das Geld aus der Hand. Der Junge war jetzt zwischen zwölf und dreizehn Jahren, dabei robust, und fing daher an, gegen solche Strafen zu murren; dennoch hatte er noch Furcht davor, sich zu empören; und ehe er sich neuen Demütigungen dieser Art aussetzte, ließ er sich lieber ausplündern. Das einzige Mittel für Luise und ihn blieb, ihr Geld zu verstecken. Aber sobald sie beide nicht da waren, entwickelte Melchior eine merkwürdige Findigkeit im Aufspüren ihrer Verstecke.

Bald genügte ihm auch das nicht mehr. Er verkaufte die von seinem Vater ererbten Gegenstände. Christof sah voller Schmerz die teuren Andenken verschwinden: die Bücher, das Bett, die Möbel, die Musikerporträts; aber er konnte nichts dagegen sagen. Eines Tages stieß Melchior sich heftig an Großvaters altem Klavier, und indem er sich das Knie rieb, schwor er voller Zorn, daß er all diesen alten Kram aus dem Hause fegen würde, da man sich ja schon sowieso kaum bewegen könne. Da brauste Christof auf. Zwar war es richtig, daß die Zimmer vollgestopft waren, seit man Großvaters Möbel hineingepfercht hatte, um sein Haus zu verkaufen, das liebe Haus, in dem der Knabe die schönsten Stunden seiner Kindheit verbracht hatte. Es war auch wahr, daß das alte Piano keinen großen Wert und eine meckernde Stimme hatte und daß Christof es schon lange nicht mehr benützte, da er auf dem schönen neuen Klavier spielte, das man der Freigebigkeit des Fürsten verdankte; aber so alt und schwach das Instrument auch sein mochte, so blieb es doch Christofs bester Freund: in ihm war dem Kind die unbegrenzte Welt der Musik erstanden; auf seinen gelben, abgegriffenen Tasten hatte er das Reich der Töne mit ihren Gesetzen entdeckt; es war Großvaters Werk, der Monate damit verbracht hatte, es für seinen Enkel instand zu setzen, und darauf so stolz gewesen war: es war gewissermaßen ein geweihtes Stück. Christof erklärte mit Nachdruck, man habe nicht das Recht, es zu verkaufen. Melchior befahl ihm zu schweigen. Christof schrie noch lauter, das Klavier gehöre ihm, und er verbiete, es anzurühren. Er war auf eine derbe Zurechtweisung gefaßt; aber Melchior sah ihn nur mit einem boshaften Lächeln an und schwieg.

Am nächsten Morgen hatte Christof alles vergessen. Er kehrte müde, aber in ziemlich guter Laune heim. Da fielen ihm die tückischen Blicke seiner Brüder auf. Sie taten beide, als seien sie in ein Buch vertieft; aber dabei verfolgten sie ihn mit den Augen und belauerten jede seiner Bewegungen, versenkten sich aber ins Lesen, sobald er sie anschaute. Er zweifelte keinen Augenblick, daß sie ihm irgendeinen schlimmen Streich gespielt hätten; aber da er daran gewöhnt war, kümmerte er sich nicht darum, fest entschlossen, sie wie gewöhnlich gehörig durchzuprügeln wenn er ihn entdeckt haben würde. Er verschmähte also, der Sache nachzugehen, und begann ein Gespräch mit seinem Vater, der am Feuer saß und ihn mit so zärtlicher Anteilnahme über seinen Tag befragte, wie er es durchaus nicht gewöhnt war. Während er mit ihm sprach, merkte er, wie Melchior heimlich mit den beiden Kleinen zwinkernde Blicke tauschte. Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Er lief in sein Zimmer … Der Platz, wo sonst das Klavier stand, war leer! Er stieß einen Schmerzensschrei aus. Im andern Zimmer hörte er das unterdrückte Gelächter seiner Brüder. Alles Blut stieg ihm ins Gesicht. Er stürzte auf sie zu und schrie:

»Mein Klavier!«

Melchior hob ruhig den Kopf, machte dabei aber doch ein so verdutztes Gesicht, daß die Kinder hell auflachten. Ja er selbst konnte nicht an sich halten, als er Christofs jammervolles Gesicht sah: er wandte sich ab und platzte laut heraus. Christof verlor die Selbstbesinnung. Er warf sich wie ein Rasender auf seinen Vater. Melchior fand nicht die Zeit, sich zu wehren; der Knabe hatte ihn bei der Kehle gepackt, ihn tief in seinen Sessel gedrückt und schrie ihn an:

»Dieb!«

Das kam wie ein Blitz. Aber schon schüttelte sich Melchior derart, daß Christof, der sich wütend an ihn festgeklammert hatte, mit dem Kopf gegen die Ofenbank flog. Doch er erhob sich gleich wieder, seine Stirne war aufgeschlagen, und mit erstickter Stimme rief er aufs neue:

»Dieb! … Dieb, der uns bestiehlt, Mutter! und mich! … Dieb, der Großvater um Geld verrät!«

Melchior stand hoch aufgerichtet und erhob die Faust gegen Christof. Das Kind bot ihm mit haßerfüllten Augen Trotz und zitterte vor Wut. Da begann auch Melchior zu zittern. Er setzte sich und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Die beiden Kleinen waren mit gellendem Geschrei davongestürzt. Dem Höllenlärm folgte tiefe Stille. Melchior stöhnte undeutliche Worte. Christof stand noch immer, am ganzen Leibe bebend, gegen die Wand gepreßt und starrte seinen Vater mit zusammengebissenen Zähnen an. Da begann Melchior sich selbst anzuklagen:

»Ja, ich bin ein Dieb! Ich sauge meine Familie aus. Meine Kinder verachten mich. Ich wäre besser tot!«

Als er mit solchem Winseln zu Ende war, fragte Christof, ohne sich zu rühren, mit harter Stimme:

»Wo ist das Klavier?«

»Bei Wormser,« sagte Melchior, wagte aber nicht, ihn anzusehen.

Christof machte einen Schritt vorwärts und sagte:

»Das Geld!«

Melchior zog völlig vernichtet das Geld aus der Tasche und händigte es seinem Sohn aus. Christof wandte sich zur Tür.

»Christof!« rief ihm Melchior zu.

Christof hielt inne. Melchior begann wieder mit bebender Stimme:

»Mein kleiner Christof! … Verachte mich nicht.«

Christof warf sich ihm an den Hals und schluchzte:

»Papa, mein lieber Papa! Ich verachte dich nicht. Ich bin ja so unglücklich!«

Beide weinten laut, und Melchior jammerte:

»Es ist nicht meine Schuld. Ich bin doch nicht schlecht! Nicht wahr, Christof? Sieh mal, ich bin doch nicht schlecht?«

Er versprach, nicht mehr zu trinken. Christof schüttelte mit zweifelnder Miene den Kopf; und Melchior gab zu, daß er nicht widerstehen könne, sobald er Geld in der Hand habe. Christof überlegte und sagte:

»Weißt du, Papa, man müßte …«

Er hielt inne.

»Was denn?«

»Ich schäme mich …«

»Weswegen?« fragte Melchior harmlos.

»Um deinetwillen.«

Melchior schnitt ein Gesicht und sagte:

»Das macht nichts.«

Christof erklärte, daß alles Geld der Familie, selbst Melchiors Gehalt, einem andern anvertraut werden müsse, der Melchior Tag für Tag oder Woche für Woche nur das Nötige aushändigen sollte. Melchior, der sich in demütiger Stimmung befand – er war nicht ganz nüchtern – wollte diesen Vorschlag noch überbieten und erklärte, er werde sofort einen Brief an den Großherzog schreiben, damit das Gehalt, das ihm gebührte, regelmäßig auf seinen Namen an Christof gezahlt würde. Christof, den solche Demütigung seines Vaters erröten machte, lehnte das ab. Melchior jedoch, der von einem wahren Aufopferungsdurst verzehrt wurde, bestand darauf, zu schreiben. Er war selbst gerührt über die Großherzigkeit seiner Tat. Christof weigerte sich, den Brief zu nehmen; und Luise, die gerade heimkam, erklärte, nachdem sie von der Angelegenheit erfahren hatte, sie wolle lieber betteln gehen, als ihren Mann solcher Schande aussetzen. Sie versicherte noch, daß sie Vertrauen zu ihm habe und sicher sei, er werde sich aus Liebe zu ihnen und sich selbst bessern; es endete mit einer allgemeinen Rührszene; und Melchiors Brief, der auf dem Tisch liegen geblieben war, fiel unter den Schrank, wo er verborgen blieb.

Einige Tage später jedoch fand ihn Luise beim Aufräumen; und da sie wegen neuer Torheiten Melchiors, der längst alles vergessen hatte, sehr unglücklich war, legte sie ihn, anstatt ihn zu zerreißen, beiseite. Sie verwahrte ihn mehrere Monate und stieß trotz aller Leiden, die sie erduldete, immer wieder den Gedanken von sich, von ihm Gebrauch zu machen. Als sie aber eines Tages sah, wie Melchior wieder einmal Christof schlug und ihm sein Geld fortnahm, hielt sie es nicht länger aus; und als sie mit dem weinenden Kinde allein war, nahm sie den Brief, gab ihn Christof und sagte:

»Geh!«

Christof zögerte noch; aber er begriff, daß kein anderes Mittel blieb, wollte man das Wenige, was ihnen blieb, vor dem völligen Ruin retten. Er ging ins Schloß. Er brauchte beinahe eine Stunde, um den Weg von zwanzig Minuten zurückzulegen. Fast erlag er unter der Schmach seines Tuns. Sein in den letzten trauervollen und einsamen Jahren aufs höchste gesteigerter Stolz blutete bei dem Gedanken, das Laster seines Vaters öffentlich einzugestehen. Er wußte, daß dieses Laster allen bekannt war, und doch versteifte er sich mit seltsamer, wenn auch naturgemäßer Unlogik darauf, sich selbst zu belügen und zu tun, als merke er nichts: lieber hätte er sich in Stücke schneiden lassen, als es zuzugeben. Und jetzt ging er freiwillig! … Zwanzigmal war er nahe daran, umzukehren; zwei- oder dreimal ging er um die ganze Stadt und drehte im Augenblick, wo er angekommen war, doch wieder um. Aber es handelte sich ja nicht nur um ihn. Seine Mutter, seine Brüder waren in Mitleidenschaft gezogen. Da sein Vater sie verließ, da er sie verriet, war es seine, des ältesten Sohnes Sache, seinen Platz einzunehmen, ihnen zur Hilfe zu kommen. Er hatte nicht zu zögern und den Hochmütigen zu spielen: er mußte die Schande austrinken. So trat er ins Schloß ein. Auf der Treppe wäre er beinahe noch geflohen. Er kniete auf einer Stufe nieder. Mehrere Minuten verbrachte er dann, den Türknopf in der Hand, bis ihn die Ankunft von jemand einzutreten zwang.

In den Büros kannte ihn jedermann. Er fragte nach Seiner Exzellenz dem Theaterintendanten, Baron von Hammer-Langbach. Ein Unterbeamter, jung, feist, kahlköpfig, mit unreinem Teint, einer weißen Weste und rosa Krawatte, schüttelte ihm vertraulich die Hand und fing an, von der Oper des vorhergehenden Abends zu sprechen. Christof wiederholte sein Verlangen. Der Angestellte antwortete, daß Seine Exzellenz augenblicklich beschäftigt sei, aber wenn Christof ihm ein Gesuch vorzulegen habe, so könne man es ihm mit andern Schriftstücken, die man ihm gerade zum Unterzeichnen brächte, hineinschicken. Christof reichte ihm den Brief. Der Beamte warf einen Blick darauf und stieß einen Ausruf der Überraschung hervor:

»Da sieh einer«, meinte er fröhlich, »das ist einmal eine gute Idee. Darauf hätte er längst verfallen sollen. Im ganzen Leben hat er nichts Gescheiteres getan. Dieser alte Trunkenbold! Wie zum Teufel hat er sich wohl dazu entschlossen?«

Er hielt urplötzlich inne. Christof hatte ihm das Papier aus den Händen gerissen und schrie bleich vor Zorn:

»Ich verbitte mir …! Ich verbitte mir, daß Sie mich beleidigen!«

Der kleine Beamte war höchst erstaunt:

»Aber, mein lieber Christof,« versuchte er zu sagen, »wer denkt denn an Beleidigung? Ich habe nur ausgesprochen, was die ganze Welt denkt. Du selber denkst es ja.«

»Nein!« schrie Christof wütend.

»Was? Du denkst es nicht? Du denkst nicht, daß er trinkt?«

»Es ist nicht wahr!« sagte Christof.

Er stampfte auf.

Der Beamte zuckte die Achseln:

»Warum hat er denn, wenn die Sache so liegt, diesen Brief geschrieben?«

»Weil …,« sagte Christof – (er wußte nicht mehr, was er sagen sollte), »weil, – da ich doch sowieso jeden Monat mein Gehalt abhole, es bequemer ist, wenn ich gleichzeitig das meines Vaters mitnehme. Es ist überflüssig, daß wir uns beide bemühen … Mein Vater hat sehr viel zu tun.«

Er errötete über die Ungereimtheit seiner Erklärung. Der Angestellte schaute ihn mit einem Gemisch von Ironie und Mitleid an. Christof zerknüllte das Papier in seiner Hand und machte Miene, fortzugehen. Der andere stand auf und faßte ihn am Arm.

»Warte einen Augenblick,« sagte er, »ich werde die Sache schon machen.«

Er ging in das Kabinett des Intendanten hinüber. Christof wartete unter den Blicken der andern Beamten. Sein Blut kochte. Er wußte nicht mehr, was er tat, was er tun würde, tun müsse. Er dachte daran, sich, bevor man ihm Antwort brächte, davonzumachen; und er war gerade im Begriff dazu, als die Tür sich wieder öffnete:

»Seine Exzellenz will dich gern empfangen,« teilte ihm der allzu dienstbeflissene Beamte mit.

Christof mußte eintreten.

Seine Exzellenz, der Baron von Hammer-Langbach, ein kleiner schmucker Alter mit Favoriten, Schnurrbart und ausrasiertem Kinn, sah über seine goldene Brille hinweg zu Christof hin, ohne sich im übrigen im Schreiben stören zu lassen oder durch irgendein Zeichen dessen verwirrten Gruß zu erwidern.

»Also, was wünschen Sie, Herr Krafft?« fragte er nach einem Augenblick.

»Exzellenz,« sagte Christof eilig, »ich bitte um Verzeihung. Ich habe es mir anders überlegt. Ich wünsche gar nichts mehr.«

Der Greis fragte nicht nach einer Erklärung dieses plötzlichen Umschwungs. Er sah Christof aufmerksam an, hüstelte und meinte:

»Wollen Sie mir freundlichst den Brief, den Sie da in der Hand halten, geben, Herr Krafft?«

Christof merkte, daß der Blick des Intendanten auf dem Papier ruhte, das er gedankenlos weiter in der Faust zerknüllt hatte.

»Es ist überflüssig, Exzellenz,« stotterte er. »Es lohnt sich nicht mehr.«

»Geben Sie ihn bitte her,« wiederholte der Greis ruhig, als habe er nicht recht verstanden.

Christof reichte mechanisch den zerknitterten Brief hin, stürzte sich dann aber in eine Flut unklarer Worte und streckte fortwährend die Hand aus, um den Brief wieder zu erlangen. Die Exzellenz faltete das Papier sorgsam auseinander, las es, sah Christof an, ließ ihn eine Weile in seinem Wortwirrwarr, unterbrach ihn dann und sagte mit einem listigen kleinen Blitzen der Augen:

»Schon gut, Herr Krafft, das Gesuch ist bewilligt.«

Dann verabschiedete er ihn mit einer Handbewegung und vertiefte sich in seine Schreiberei.

Christof ging ganz bestürzt hinaus.

»Nichts für ungut, Christof!« sagte der Beamte freundschaftlich, als das Kind wieder durch das Büro kam. Christof ließ sich die Hand schütteln, ohne daß er die Augen zu erheben wagte. Dann befand er sich wieder vor dem Schloß. Er war vor Scham erstarrt. Alles, was man ihm gesagt hatte, ging ihm wieder durch den Kopf; und er meinte eine beleidigende Ironie im Mitleid der Leute zu fühlen, die ihn nur achteten und bedauerten. Er kehrte nach Hause zurück und antwortete auf Luisens Fragen kaum mit einigen gereizten Worten, als grolle er ihr um dessentwillen, was er getan hatte. Beim Gedanken an seinen Vater war er von Gewissensbissen gefoltert. Er wollte ihm alles gestehen, ihn um Verzeihung bitten. Aber Melchior war nicht da. Christof erwartete ihn schlaflos bis tief in die Nacht. Je mehr er an ihn dachte, um so größer wurde seine Reue; er idealisierte ihn; er stellte ihn sich schwach, gut, unglücklich und von den Seinen verraten vor. Sowie er seine Schritte auf der Treppe hörte, sprang er aus dem Bett, um ihm entgegenzueilen und sich in seine Arme zu werfen. Melchior jedoch kehrte in einem Zustand so widerlicher Trunkenheit heim, daß Christof nicht einmal die Kraft fand, ihm nahe zu kommen; und er legte sich wieder hin und spottete über seine eigenen Illusionen.

Als Melchior einige Tage später erfuhr, was geschehen war, bekam er einen entsetzlichen Wutanfall. Und trotz Christofs Bitten und Flehen ging er ins Schloß, eine Szene zu machen. Aber er kam mit einer vollständigen Armesündermiene wieder zurück und ließ kein Wort darüber vernehmen, was sich dort zugetragen hatte. Man hatte ihn sehr schlecht empfangen. Man hatte ihm gesagt, daß er vor allem einen andern Ton anzuschlagen hätte, – daß man ihm nur im Hinblick auf das Verdienst seines Sohnes seine Pension noch weiter zahle, und wenn er in Zukunft den geringsten Anlaß zu Ärgernissen gäbe, sie ganz und gar streichen würde.

Auch war Christof sehr erstaunt und erleichtert, seinen Vater von einem Tag zum andern sich mit der neuen Lage abfinden zu sehen und ihn sich sogar rühmen zu hören, selbst den ersten Anstoß zu diesem Opfer gegeben zu haben.

Das hinderte ihn andrerseits durchaus nicht, nach außen zu jammern, daß er von seiner Frau und seinen Kindern ausgesogen würde, daß er sich sein ganzes Leben für sie abgearbeitet hätte, und daß man ihn jetzt an allem Mangel leiden ließe. Er versuchte auch durch alle Arten von Schmeichelei und erfinderischer List, Christof Geld abzulocken, was diesem oft Lust zum Lachen gab, war auch im Grunde kaum Ursache dazu vorhanden; aber da Christof fest blieb, gab es Melchior stets wieder auf. Er fühlte sich den strengen Augen dieses vierzehnjährigen Kindes gegenüber, das ihn durchschaute, seltsam eingeschüchtert. Heimlich rächte er sich durch einen schlechten Streich. Er ging ins Wirtshaus, trank und schlemmte nach Belieben und bezahlte nichts, indem er vorgab, sein Sohn habe seine Schulden zu begleichen. Christof widersetzte sich nicht, aus Furcht, den Skandal noch zu vergrößern; und er und Luise entzogen sich das Letzte, um Melchiors Schulden auf sich zu nehmen. – Dieser verlor, seit er sein Gehalt nicht mehr behob, mehr und mehr jedes Interesse an seinem Beruf als Violinist; er fehlte so häufig im Theater, daß man ihn endlich, trotz aller Bitten Christofs, vor die Tür setzte. Nun fiel es dem Kind allein zur Last, seinen Vater, seine Brüder, das ganze Haus zu erhalten. So wurde Christof mit vierzehn Jahren Familienoberhaupt.

 

Er nahm diese erdrückende Aufgabe entschlossen auf sich. Sein Stolz verbot ihm, bei Andern Hilfe zu suchen. Er schwor sich, mit allem allein fertig zu werden. Von Kindheit an hatte er zu sehr darunter gelitten, seine Mutter demütigende Almosen annehmen zu sehen. Es kam stets zu Auseinandersetzungen, wenn die gute Frau ein Geschenk irgendeiner ihrer Gönnerinnen triumphierend nach Hause brachte. Sie sah darin nichts Böses und freute sich, ihrem Christof, dank solchen Geldes, ein wenig Mühe ersparen und das magere Abendbrot durch ein Gericht bereichern zu können. Christof aber wurde düsterer Stimmung. Er sprach während des Abends nicht mehr. Er weigerte sich sogar, ihr zu sagen, warum er von dem reichlicheren Tisch nicht essen wollte. Luise war bekümmert; sie quälte ihren Sohn, er solle doch zulangen; er aber verharrte eigensinnig beim Nein; sie wurde schließlich ungeduldig und sagte ihm unangenehme Dinge, auf die er die Antwort nicht schuldig blieb; schließlich warf er seine Serviette auf den Tisch und ging aus. Sein Vater zuckte die Achseln und nannte ihn einen Poseur. Seine Brüder machten sich über ihn lustig und aßen seinen Teil auf.

Immerhin mußten doch Mittel zum Leben gefunden werden. Sein Gehalt im Orchester genügte nicht mehr. Er gab Stunden. Sein Virtuosentalent, sein guter Ruf und vor allem die Gönnerschaft des Fürsten verschafften ihm in der guten Gesellschaft zahlreiche Schüler. Jeden Morgen von neun Uhr an gab er jungen Mädchen, die oft älter als er selber waren, Klavierstunden; sie schüchterten ihn entsetzlich durch ihre Koketterien ein und brachten ihn durch ihr albernes Spiel außer sich. In musikalischer Hinsicht waren sie absolut unfähig; dafür besaßen sie einen mehr oder weniger feinen Sinn für das Lächerliche; und ihr mokanter Blick sah Christof nicht eine seiner Ungeschicklichkeiten nach. Es war für ihn eine wahre Folter. Mit rotem Kopf saß er steif auf dem Stuhlrand neben ihnen, barst vor Zorn und wagte sich doch nicht zu rühren, tat sich alle Gewalt an, um keine Dummheiten zu sagen, hatte Angst vor dem Klang seiner eignen Stimme und Mühe, ein Wort herauszubekommen, zwang sich, eine strenge Miene anzunehmen, und fühlte sich dabei von einem Seitenblick beobachtet, – verlor seine Haltung, verhaspelte sich mitten in einer Bemerkung, fürchtete sich lächerlich zu machen, war es auch und ließ sich schließlich bis zu verletzenden Vorwürfen hinreißen. Aber seine Schülerinnen hatten es sehr leicht, sich zu rächen; und sie ließen sich das nicht im mindesten entgehen, indem sie ihn durch eine gewisse Art, ihn anzuschauen, in Verlegenheit brachten und ihm die einfachsten Fragen stellten, die ihn bis zu den Haaren erröten ließen; oder sie baten ihn wohl auch um einen kleinen Dienst – wie zum Beispiel irgendeinen vergessenen Gegenstand von einem Möbel zu holen –, was für ihn die härteste Prüfung bedeutete; denn er mußte das Zimmer unter dem Feuer boshafter Blicke durchqueren, die unbarmherzig die kleinste Unbeholfenheit seiner Bewegungen belauerten: seine ungelenken Beine, seine steifen Arme, seinen ganzen aus Verlegenheit hölzernen Körper.

Von seinen Stunden mußte er zur Theaterprobe laufen. Oft hatte er keine Zeit zum Frühstücken; er trug ein Stück Brot und Wurst in der Tasche, die er während der Pause verzehrte. Manchmal vertrat er Tobias Pfeiffer, den Musikdirektor, der sich für ihn interessierte und ihn zur Übung von Zeit zur Zeit die Orchesterproben dirigieren ließ. Auch mußte er seine eigne musikalische Ausbildung fortsetzen. Dann füllten wieder Klavierstunden die Zeit bis zur Abendvorstellung aus. Und oft genug verlangte man noch abends nach der Aufführung, ihn auf dem Schloß zu hören. Dort mußte er ein oder zwei Stunden vortragen. Die Prinzessin spielte sich als Kunstkennerin auf; sie liebte Musik außerordentlich, ohne jemals gute von schlechter unterscheiden zu können. Sie schrieb Christof die sonderbarsten Programme vor, in denen platte Rhapsodien dicht neben Meisterwerken standen. Ihr größtes Vergnügen jedoch war, ihn improvisieren zu lassen; und sie lieferte ihm dazu Themen von geradezu übler Sentimentalität.

Gegen Mitternacht ging Christof fort, erschöpft, mit brennenden Händen, fieberndem Kopf und leerem Magen; er war in Schweiß gebadet, und draußen fiel oft Schnee oder eisiger Nebel. Er hatte mehr als die halbe Stadt zu durchqueren, um nach Hause zu kommen; er ging zu Fuß; seine Zähne schlugen aufeinander, und er hätte am liebsten schlafen oder weinen mögen; und dabei mußte er sich in acht nehmen, um seinen einzigen Gesellschaftsanzug nicht in den Pfützen zu beschmutzen.

Heimgekehrt, ging er auf sein Zimmer, das er immer noch mit seinen Brüdern teilte; und niemals empfand er Lebensüberdruß und Verzweiflung, niemals das Gefühl der Einsamkeit mehr als in dem Augenblick, der ihm endlich vergönnte, seine tägliche Bürde in der jämmerlichen Behausung mit ihrer erstickenden Luft abzuwerfen. Glücklicherweise wurde er aber sofort, wenn er seinen Kopf aufs Kissen legte, von schwerem Schlaf übermannt, der das Bewußtsein seiner Leiden von ihm nahm.

Sommer wie Winter stand er schon vor Morgengrauen wieder auf, um für sich selbst zu arbeiten: und die einzigen freien Augenblicke, die ihm blieben, waren zwischen fünf und acht Uhr früh. Davon mußte er noch einen Teil für bestellte Arbeit verlieren: denn sein Titel als Hofmusikus und die Gunst des Großherzogs verpflichteten ihn zu offiziellen Kompositionen für die Hoffeste.

So war sein Leben bis zur Quelle vergiftet. Selbst seine innersten Traumgebilde waren nicht frei. Aber wie es meistens ist, der Zwang machte sie um so stärker. Wenn nichts die Tatkraft fesselt, hat die Seele viel weniger Grund, sich zu regen. Je enger sich um Christof das Gefängnis von Sorgen und kleinlichen Aufgaben schloß, um so mehr fühlte sein aufrührerisches Herz seine Unabhängigkeit. In einem hemmungslosen Leben hätte er sich sicherlich dem Glücksspiel der Stunden und dem wollüstigen Schlendergang der erwachenden Jugend hingegeben. So, da er nur ein bis zwei Stunden am Tag frei war, stürzte seine Kraft in diese hinein wie ein Wasserfall in eine Felsspalte. Sein Streben zwischen unzerbrechliche Schranken spannen zu müssen, ist für die Kunst eine gute Zucht. In diesem Sinn kann man sagen, daß das Elend ein Meister, nicht nur des Gedankens, sondern auch des Stils ist; es hält Geist wie Körper zur Nüchternheit an. Wenn die Zeit bemessen und die Worte abgezählt sind, sagt man nichts, was zu viel ist, und es wird zur Gewohnheit, nur das Wesentliche zu denken. Auf diese Weise lebt man doppelt, gerade weil man weniger Zeit zum Leben hat.

Das war Christofs Schicksal. Unterm Joch wurde er sich des Wertes der Freiheit voll bewußt; und er vergeudete die kostbaren Minuten nicht an unnützes Tun oder Reden. Sein natürlicher Hang, in breitem Überschwang zu schreiben und sich allen Launen eines, wenn auch wahrhaftigen, so doch wahllosen Gedankens hinzugeben, fand seinen Zuchtmeister in der Notwendigkeit, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu denken und zu tun. Nichts anderes hatte einen so großen Einfluß auf seine künstlerische und moralische Entwickelung: weder die Stunden seiner Lehrer noch das Beispiel der Meisterwerke. In den Jahren, in denen der Charakter sich bildet, wurde es ihm zur Gewohnheit, die Musik als eine klare Sprache anzusehen, in der jede Note Sinn hat; und er lernte zur selben Zeit die Musiker hassen, die reden, um doch nichts zu sagen.

Indessen waren die Kompositionen, welche er damals schrieb, noch weit davon entfernt, sein Ich vollständig auszudrücken, war er doch selbst noch weit davon, sich vollständig entdeckt zu haben. Er tastete im Dickicht erworbener Empfindungen, welche die Erziehung dem Kinde wie eine zweite Natur aufzwingt. Er hatte nur Ahnungen seines wirklichen Seins; besonders da er noch keine der Leidenschaften erwachender Jugend verspürt hatte, welche die Persönlichkeit von ihren erborgten Kleidern befreien, so wie ein Donnerschlag den Himmel von umhüllenden Nebeln reinigt. Dunkle, mächtige Ahnungen mischten sich ihm mit fremden Erinnerungen, von denen er sich nicht frei machen konnte. Er ärgerte sich über solche Lügen. Er verzweifelte, wenn er sah, wie minderwertig das, was er schrieb, im Vergleich zu dem war, was er dachte. Er wurde an sich irre. Aber er konnte sich mit solcher sinnlosen Niederlage nicht zufrieden geben; er war vom Drang besessen, es besser zu machen, Großes zu schreiben. Und immer scheiterte er. Nach einem Augenblick voller Illusion während des Schaffens merkte er, daß seine Niederschrift nichts taugte; er zerriß sie und verbrannte alles, was er gearbeitet hatte. Um seine Schmach voll zu machen, mußte er jedoch die minderwertigsten seiner Werke, die offiziellen, wohlbewahrt sehen, ohne sie vernichten zu können, – das anläßlich des fürstlichen Geburtstags verfaßte Konzert »Der Königsadler« und die bei Gelegenheit der Heirat der Prinzessin Adelaide geschriebene Kantate »Hochzeit der Pallas« –, die mit großen Kosten in Luxusausgaben veröffentlicht wurden, um seine Dummheit den kommenden Jahrhunderten aufzubewahren, – denn er glaubte an kommende Jahrhunderte! – Über dergleichen weinte er vor Beschämung.

Fiebervolle Jahre! Keine Ruhe, kein Nachlassen. Nichts, was von der aufreibenden Arbeit ablenkt. Keine Spiele, keine Freunde. Wie hätte er welche haben sollen! Am Nachmittag, zur Stunde, wenn andre Kinder sich vergnügten, saß der kleine Christof mit vor Aufmerksamkeit krauser Stirn an seinem Orchesterpult im staubigen, schlecht erhellten Theatersaal. Und abends, wenn andere Kinder schliefen, saß er noch dort, auf seinem Stuhl vor Müdigkeit zusammengesunken.

Keinerlei Vertraulichkeit mit seinen Brüdern. Der jüngste, Ernst, war zwölf Jahre; er war ein kleiner Taugenichts, verderbt und frech, der seine Tage mit irgendwelchen Lümmeln gleicher Art verbrachte und der in ihrer Gesellschaft nicht nur jämmerliche Manieren, sondern auch schändliche Gewohnheiten angenommen hatte, die der anständige Christof, der sich von so etwas nicht einmal eine Vorstellung hätte machen können, eines Tages voller Abscheu bemerkte. Der andere, Rudolf, Onkel Theodors Liebling, wollte Kaufmann werden. Er war solide, ruhig, aber heimtückisch; er glaubte sich Christof sehr überlegen und ließ seine Autorität im Hause durchaus nicht gelten, wenn er es auch natürlich fand, sein Brot zu essen. Er teilte Theodors und Melchiors Erbitterung gegen ihn und trug ihr lächerliches Geklatsch weiter. Keiner der beiden Brüder liebte Musik; und Rudolf tat sich aus Nachahmungstrieb etwas darauf zugute, sie wie sein Onkel zu verachten. Den beiden Kleinen waren die Überwachung und die Ermahnungen Christofs, der seine Rolle als Familienoberhaupt sehr ernst nahm, äußerst unangenehm, und sie wären gar zu gern aufsässig geworden; Christof jedoch, der derbe Fäuste hatte und sich seines Rechtes bewußt war, lehrte sie schnell Mores. Nichtsdestoweniger machten sie mit ihm alles, was sie wollten; sie mißbrauchten seine Gutgläubigkeit und legten ihm Schlingen, in die er stets hineinfiel; sie erpreßten Geld von ihm, belogen ihn schamlos und verspotteten ihn hinter seinem Rücken. Der gute Christof ließ sich immer hintergehen und übervorteilen; er hatte ein solches Bedürfnis, geliebt zu werden, daß ein zärtliches Wort genügte, um seinen Groll zu entwaffnen. Für ein wenig Liebe hätte er ihnen alles verziehen. Doch sein Vertrauen war grausam erschüttert, seit er sie einmal über seine Dummheit hatte lachen hören, nachdem sie ihm eben eine heuchlerische Umarmungsszene, die ihn bis zu Tränen rührte, vorgespielt hatten, eine Szene, die nur den Zweck verfolgte, ihm eine goldene Uhr, ein Geschenk des Fürsten, nach dem es sie gelüste, abzulocken. Er verachtete sie und ließ sich in seinem unwiderstehlichen Drang, zu lieben und zu glauben, dennoch immer wieder weiter nasführen. Er wußte das, es brachte ihn gegen sich selbst in Wut und er schlug seine Brüder krumm und lahm, wenn er wieder einmal entdeckte, daß sie mit ihm gespielt hatten. Und doch hinderte ihn das nicht, gleich darauf auf den neuen Angelhaken anzubeißen, den ihm hinzuwerfen ihnen beliebte.

Ein noch bittrerer Schmerz war ihm vorbehalten. Er erfuhr von geschäftigen Nachbarn, daß sein Vater schlecht über ihn sprach. Nachdem er auf die Erfolge seines Sohnes stolz gewesen war und überall mir ihnen geprahlt hatte, überkam ihn die schimpfliche Schwäche, eifersüchtig auf ihn zu werden. Er versuchte ihn zu verkleinern. Es war zum Weinen töricht. Man konnte nur verachtungsvoll die Schultern zucken; nicht einmal böse werden; denn der Vater war durch seine Absetzung erbittert und wußte nicht, was er tat. Christof schwieg; denn er fürchtete, allzu Hartes zu sagen, wenn er spräche; sein Herz aber war erbittert.

Welch trauriges Zusammensein war solch Abendessen, wenn man im Familienkreise um das schmutzige Tischtuch beim Lampenschein zusammensaß; ringsherum nur abgeschmackte Gespräche und das Geräusch der Kauwerkzeuge dieser Wesen, die er verachtete, bedauerte und trotz alledem liebte! Einzig bei der tapferen Mutter fühlte Christof ein Band gegenseitiger Zärtlichkeit. Aber Luise rieb sich wie er den ganzen Tag auf; am Abend war sie dann wie verlöscht, sagte fast nichts und schlief nach Tisch beim Strümpfestopfen, auf ihrem Stuhl ein. Übrigens war sie so gut, daß sie in ihrer Liebe zwischen ihrem Mann und ihren drei Söhnen keinerlei Unterschied zu machen schien; sie liebte sie alle gleichmäßig. Christof fand in ihr nicht die Vertraute, deren er so sehr bedurft hätte.

So verschloß er sich denn in sich selber. Er schwieg während langer Tage und ging mit einer Art stummer Wut seinem eintönigen und aufreibenden Tagewerk nach. Solche Lebensweise war gefahrvoll, besonders für ein Kind im kritischen Alter, in dem der Organismus, empfindlicher als sonst, für alle Keime der Zerstörung empfänglich ist und sich leicht für das übrige Leben verbilden kann. Christofs Gesundheit litt schwer darunter. Er hatte von den Eltern widerstandskräftige Anlagen mitbekommen, einen gesunden makellosen Körper. Aber ein so starker Bau bietet dem Leiden nur um so breiteren Raum, wenn ein Übermaß von Anstrengung und verfrühten Sorgen eine Bresche hineingeschlagen haben, durch die es eintreten kann. Schon sehr früh hatten sich bei ihm ernste, nervöse Störungen gezeigt. Ganz klein litt er, wenn ihm eine Unannehmlichkeit widerfuhr, an Ohnmächten, konvulsivischen Anfällen, Erbrechen. Zwischen sieben und acht Jahren, zur Zeit seines ersten Auftretens in Konzerten, war sein Schlaf unruhig: er sprach, schrie, lachte, weinte im Traum; und diese krankhaften Anzeichen wiederholten sich jedesmal, wenn er größere Aufregungen hatte. Dann litt er unter furchtbaren Kopfschmerzen, die sich einmal als Stechen im Hinterkopf und an den Seiten des Schädels äußerten, ein andermal wie ein bleiern drückender Reifen um den Kopf herum lagen. Die Augen taten ihm weh: für Momente war ihm, als drückten sich Nadelspitzen in seine Augenhöhle; er war wie geblendet, konnte nicht mehr lesen und mußte Minuten lang aufhören. Die ungenügende oder ungesunde Nahrung und die Unregelmäßigkeit der Mahlzeiten zerstörten seinen gesunden Magen; er wurde von Unterleibsschmerzen oder erschlaffenden Diarrhöen geplagt. An nichts aber litt er mehr als an seinem Herzen; es ging in toller Unregelmäßigkeit; bald hüpfte es wie rasend, daß man meinen konnte, es wolle zerspringen; bald schlug es kaum und schien stillstehen zu wollen. Nachts zeigte die Temperatur des Kindes erschreckende Schwankungen; sie wechselte ohne Übergang zwischen hohem Fieber und Blutleere. Er glühte, zitterte vor Frost, hatte Beängstigungen, seine Kehle krampfte sich zusammen, eine Kugel schien ihm im Hals den Atem zu versperren. – Natürlich wurde seine Phantasie dadurch beunruhigt; er wagte von all dem, was er fühlte, den Seinen nicht zu sprechen, aber er analysierte es unaufhörlich mit einer Aufmerksamkeit, die seine Leiden noch vergrößerte oder neue schuf. Er bildete sich alle bekannten Krankheiten nacheinander ein; er glaubte, daß er blind werden würde; und da ihn manchmal beim Gehen Schwindel überfielen, fürchtete er, plötzlich tot hinzuschlagen. – Immer beherrschte, bedrückte und spornte ihn gleichzeitig diese schreckliche Angst, auf halbem Wege aufgehalten zu werden, frühzeitig zu sterben. Ach! mußte man schon sterben, dann wenigstens nicht jetzt, nicht bevor man Sieger war! …

Der Sieg … Diese fixe Idee, die, ohne daß er sich davon Rechenschaft gibt, unaufhörlich in ihm glüht, die ihn durch alle Widerwärtigkeiten, alle Anstrengungen, den ganzen modernden Sumpf seines Lebens hindurch stützt! Dumpfe und machtvolle Bewußtheit dessen, was er später sein wird, jetzt schon ist! … Was er ist? Ein kränkliches, nervöses Kind, das im Orchester Violine spielt und mittelmäßige Konzerte schreibt? – Nein. Weit mehr als dieses Kind. Das ist nur Hülle, seine heutige Erscheinung. Das ist sein Wesen nicht: Keinerlei Beziehung besteht zwischen seinem wahren Wesen und der gegenwärtigen Form seines Gesichtes und seines Gedankens. Er ist sich dessen wohl bewußt. Sieht er sich im Spiegel, so erkennt er sich nicht. Dies breite rote Gesicht, diese buschigen Brauen, die kleinen, tiefliegenden Augen, die kurze Nase, die an der Spitze sich verdickt und weite Nüstern hat, diese schweren Kinnbacken und der schmollende Mund, diese ganze häßliche und gewöhnliche Maske ist ihm selber fremd. Ebensowenig erkennt er sich in seinen Werken wieder. Er kritisiert sich, er kennt die Nichtigkeit alles dessen, was er macht, was er im Augenblick ist. Und dennoch ist er dessen, was er sein und tun wird, sicher. Manchmal wirft er sich diese Gewißheit wie eine hochmütige Lüge vor. Und er hat eine Freude daran, sich zu demütigen, sich zu kasteien, um sich selbst zu strafen. Aber die Gewißheit dringt hindurch und nichts kann sie beeinträchtigen. Was er auch tut, was er auch denkt, keiner seiner Gedanken, keine seiner Handlungen, keins seiner Werke umschließt ihn oder drückt ihn aus; er weiß es, er hak das seltsame Empfinden, daß er in seinem Tiefsten noch nicht Wirklichkeit geworden ist, daß er es sein wird, daß er es morgen sein wird … Er wird sein! … Er glüht in diesem Glauben, er berauscht sich an diesem Licht! Ach! wenn das Heute nur ihn nicht im Vorübergehen aufhält! Wenn er nur nicht in eine der tückischen Schlingen fällt, die das Heute nicht müde wird, seinen Füßen zu legen!

So steuert er seinen Kahn, ohne die Augen nach rechts oder nach links zu wenden, durch die Fluten hindurch, steht reglos am Ruder, den Blick starr und gespannt aufs Ziel gerichtet, auf den Hafen, die Vollendung, die er voraussieht. Wo er auch ist, im Orchester zwischen den geschwätzigen Musikern, bei Tisch inmitten der Seinen, im Palais, während er gedankenlos zur Zerstreuung fürstlicher Strohpuppen vorspielt, immer ist es die zweifelhafte Zukunft, – mag auch ein Nichts sie auf ewig zerstören können! – immer ist es die Zukunft, in der er lebt.

 

Er sitzt allein in seiner Mansarde an seinem alten Klavier. Der sterbende Schimmer des Tages gleitet über das Notenheft. Er verdirbt sich die Augen, um bis zum letzten Lichttropfen zu lesen. Die Zärtlichkeit der großen erloschenen Herzen, die aus diesen stummen Seiten atmet, durchdringt ihn liebevoll. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Ihm ist, als ob ein geliebtes Wesen hinter ihm stehe, ein Atem seine Wangen kose, als ob zwei Arme seinen Hals umschlingen wollten. Schauernd wendet er sich um. Er fühlt, er weiß es, er ist nicht allein. Eine liebende und geliebte Seele ist da, an seiner Seite. Er stöhnt auf, weil er sie nicht fassen kann. Und doch birgt auch dieser Schatten von Bitterkeit, der sich seiner Hingerissenheit mischt, noch eine heimliche Süße. Die Trauer selbst ist durchleuchtet. Er denkt seiner vielgeliebten Meister, der hingegangenen Großen, deren Seele in dieser Musik, in der sie einst lebte, wieder erwacht. Das Herz von Liebe geschwellt, denkt er an das übermenschliche Glück, das seiner ruhmreichen Freunde Teil gewesen sein muß, wenn doch selbst der verblaßte Widerschein ihres Glückes noch so glühend ist. Er träumt, ihnen gleich zu werden und auch solche Liebe zu leuchten, wie sie jetzt in ein paar verlorenen Strahlen sein Elend mit göttlichem Lächeln erhellt. Auch er will einst ein Gott sein, ein Herd der Freude, eine Sonne des Lebens! …

Aber ach! Wenn er eines Tages denen gleicht, die er liebt, wenn er zu jenem strahlenhellen Glück gelangt, um das er sie beneidet, – wird er gewiß enttäuscht sein …


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