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Vierter Teil

Clérambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein Wandeln in der Einsamkeit glich einer Bergbesteigung, bei der man sich plötzlich vom Nebel umhüllt sieht und an den Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts zu können. Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer er sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den Sturzbach des unermeßlichen Leidens brausen. Aber doch: Er konnte nicht unbeweglich verharren, obwohl er über dem Abgrund hing und sein letzter Halt nachzugeben drohte.

Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt. Dazu kam, daß gerade an diesem Tag die Neuigkeiten, die die Zeitungen belferten, ihm mit ihrem Wahnsinn die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche Menschenhekatomben, die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen Seiten, verbrecherische Repressalien für Verbrechen, die aber von diesen, einst doch anständigen Leuten stürmisch gefordert und bejubelt wurden! Niemals war ihm der Horizont, der die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen.

Clérambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er in sich fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine andere Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand er einige neue Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben in der tragischen Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen des erstbesten Narren stünde, wünschte er im stillen, diese Begegnung möge nicht allzulange auf sich warten lassen. Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch seine täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um aufrecht und ungebeugt den Weg bis zum Ziel zu schreiten, wohin auch immer er ihn führen sollte.

An diesem Tag nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte Aline besuchen wollte, die eben ein Kind geboren hatte; sie war die Tochter einer verstorbenen und von ihm geliebten Schwester, nur ein wenig älter als Maxime und seine einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie einen komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt, alles nur auf sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig, allzu neugierig und von gefährlichen Abenteuern seltsam angezogen, dabei ein wenig trocken und doch leidenschaftlich, nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich voll der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden. Zwischen Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten. Man mußte achthaben auf die beiden. Maxime ließ sich trotz seiner ironischen Veranlagung von diesen harten kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal mit ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum wurde erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie hatten sich recht geliebt und recht aufeinander wütend gemacht. Dann waren sie beide zu anderen Erfahrungen übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig, als sie die Stunde und Gelegenheit für günstig hielt – alles hat ja seine Zeit –, mit einem ehrbaren Handelsmann, der gute Geschäfte in seinem Kunst- und Kirchenmöbelladen in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand sich gerade in anderen Umständen, als ihr Mann an die Front mußte. Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn »wer sich selbst liebt, liebt auch die Seinen«. Und sie wäre eine der letzten gewesen, bei denen Clérambault Verständnis für seine Gedanken des brüderlichen Mitempfindens erhofft hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde und keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem Mörser zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie einst Herzen und Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche, ihr von anderen zugefügte Unannehmlichkeiten zu rächen.

Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht reifte, wandte sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu, alle Kräfte ihres Herzens strömten nach innen. Der Krieg entfernte sich für sie, sie hörte nicht mehr die Kanonade von Noyon. Wenn sie davon sprach – immer weniger jeden Tag –, so schien es, als handelte es sich dabei um eine Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren ihres Mannes, und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges »Armer Kerl« für ihn, zugleich mit einem kleinen gerührten Lächeln, das zu sagen schien: »Er hat wirklich Pech, er ist ein wenig ungeschickt.« Aber sie hielt sich bei diesem Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine Spuren in ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie hatte ihre Zeche bezahlt. Und schleunigst kehrten Alines Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe zurück.

Clérambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte Aline seit Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung ihrer Gesinnung wahrgenommen. Wenn Rosine einige Worte darüber fallen ließ, so hatte seine abgewandte Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich, Schlag auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing er die beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei und daß Alines Gatte, so wie seinerzeit Maxime, »vermißt« werde. Und sofort malte er sich den Schrecken der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude und einem Leid, immer befähigter, dieses als jene zu empfinden. Er sah sie, wie sie sich dem Schmerz ganz hingab und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand für ihr Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter, aufgeregt, herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle. Ja, er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt aus dem Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich verärgert sein würde, um seiner Gedanken des Friedens und der Versöhnung willen. Daß seine Haltung die ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei niemandem vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei Aline. Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun gut oder schlecht aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen. Und den Rücken gleichsam schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem er entgegenging, stieg er die Treppe empor und klingelte an Alines Tür.

Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes, verjüngt, verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor Glück, neben ihr das kleine Kind, das sie an die Seite ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie eine leuchtende, ältere Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie aus, den sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie er, mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der Luft seine Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine. Er schien noch ganz in die Dumpfheit des unbewußten Lebens versunken, im Traum noch von der goldenen Nacht und der Wärme des mütterlichen Schoßes.

Sie begrüßte Clérambault mit triumphierendem Überschwang:

»Ah, mein guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen Sie rasch, schauen Sie mein Süßes an, meinen Schatz!«

Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war jedem dankbar, der es beschaute. Nie hatte Clérambault sie so zärtlich und so hübsch gesehen. Er beugte sich über das Kind, aber er sah es fast nicht an, obwohl er ihm alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten schien und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte. Er sah sie an, sah nur dieses selige Antlitz, diese guten lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln. Oh, wie schön ist das Glück, wie tut es wohl! ... Alles, was er hatte sagen wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte, es war hier unnötig, nicht am Platz. Jetzt mußte er nur das Wunder beschauen und höflich die Ekstase der kleinen Bruthenne teilen. Ach, welches entzückende, eitle, unschuldige Jubellied!

Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des Krieges, der niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild des toten Sohnes, des verschwundenen Gatten, und mit einem traurigen Lächeln über das Kind hingebeugt, mußte er denken: »Ach, wozu Kinder in die Welt setzen für eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in zwanzig Jahren vielleicht sehen müssen!«

Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand hin an dem Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen und fernen Sorgen – ach, alle waren jetzt ferne! – nahm sie nichts wahr. Sie strahlte nur: »Ich habe einen Menschen geboren.« Den Menschen, den Menschen, in dem sich für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit verkörpern ... Trauer und Torheit der Stunde, wo seid ihr? Ach, was tut's! Er ist es ja vielleicht, er, der sie enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja immer das Wunder, der Heiland!

Erst am Ende seines Besuches wagte Clérambault ein Wort betrübter Sympathie in bezug auf ihren Gatten. Sie tat einen tiefen Seufzer: »Ach, der arme Armand«, sagte sie, »sie haben ihn wohl gefangengenommen.« Clérambault fragte: »Hast du darüber etwas gehört?« – »O nein, aber es ist doch wahrscheinlich ... Ich bin fast ganz sicher ... Man hätte doch sonst was gehört.« Sie strich mit der Hand wie eine Fliege den peinlichen Gedanken fort. Und schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. »Weißt du«, fügte sie bei, »es ist vielleicht besser für ihn so ... jetzt kann er sich wenigstens ausruhen ... mir ist es lieber, ihn dort zu wissen als im Schützengraben ...«

Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder zu der weißen Amsel zurück. »Ach, wie wird er selig sein, wenn er mein Kleines, mein Liebes, mein Gotteskind sieht!«

Erst als Clérambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich herab, auch daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch für andere ein Leiden gäbe. Sie besann sich des Todes Maximes, und sie sagte ihm freundlich irgendein kleines Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde gleichgültig klang es ... aber immerhin, es war guten Willens gesagt. Und der gute Wille war etwas so Neues an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten in der Zärtlichkeit, mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine Sekunde das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes. Sie erinnerte sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen und dafür Unannehmlichkeiten gehabt hatte, und statt ihn auszuschelten, wie es ihre Pflicht war, gewährte sie ihm schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung. Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in dem eine gönnerhafte Nuance durchschimmerte: »Beunruhige dich nicht, mein guter Onkel ... es wird schon wieder alles in Ordnung kommen ... komm, gib mir einen Kuß.« Und Clérambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin, die er hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig unsere Leiden gegenüber der lächelnden Gleichgültigkeit der Natur sind. Für sie ist es allein wichtig, im Frühjahr zu blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter! Der Baum schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht dann für andere ... O Frühling, o du lieber Frühling!

 

Aber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene, denen du nicht mehr entgegenblühst, für alle, die ihre Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre Kraft, ihre Jugend, ihren ganzen Lebenssinn verloren haben!

Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern, die von Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres verlorenen Glückes, die anderen, noch bemitleidenswerteren, um eines Glückes willen, das sie noch gar nicht gekannt hatten und um das man sie in der schönsten Entfaltung ihrer Liebesfähigkeit gebracht hatte!

An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clérambault vom Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der Menge, innerhalb derer er wartete, bis an ihn die Reihe kam, war schließlich, nachdem sie stundenlang auf der Straße gewartet hatte, mitgeteilt worden, daß heute nichts mehr verteilt werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief überbrachte, fragte nach ihm beim Hausmeister. Clérambault trat auf ihn zu. Der junge Mensch schien von der Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die Schulter aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen. Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine monatelange Krankheit überstanden hatte. Clérambault sprach ihn auf das herzlichste an und wollte den Brief entgegennehmen, aber der junge Mann zog ihn rasch zurück und sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clérambault lud ihn ein, zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere zögerte und wäre Clérambault ein feiner Beobachter gewesen, so hätte er bemerkt, daß der Besucher von ihm fort wollte. Aber ein wenig langsam im Gedankenlesen sagte er nur gutmütig:

»Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch ...«

Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere:

»Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.«

Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen.

Clérambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen Wunden noch eine im Herzen hatte.

Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen hin. Wie das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung anfänglich kalt. Clérambault konnte von seinem Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare Antworten herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten Ton. Er erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß er Student war und drei Monate im Spital Val de Grace gelegen hatte. Er lebte allein in Paris in einem Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine verwitwete Mutter und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte nicht gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war.

Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen. Mit erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen vermochte und erst allmählich weicher wurde, sagte er Clérambault, welche Wohltat ihm die Lektüre seiner Aufsätze gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front gebracht hatte und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen dem erstickten Schrei seiner Seele: »Nicht lügen!« Die Zeitungen und die Schriften, die die Schamlosigkeit hatten, der Armee ein verlogenes Bild ihrer selbst zu zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der schauspielerische Heroismus, die übel angebrachten Scherze und die widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller, die aus dem Tod der anderen pathetische Phrasen drechselten, alle diese Dinge hatten sie in Wut gebracht. Ein Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen Küsse, mit denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht bedeckten, ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In ihm, in Clérambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden ... Nicht als ob Clérambault sie verstanden hätte, denn keiner, der ihr Los nicht geteilt hatte, konnte sie verstehen. Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er hatte einfach und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter allen Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern gemeinsamen Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die sie alle in gleiche Not getrieben. Er hatte nicht ihre Qual verschwiegen, sondern sie in eine Höhe des Verstandenwerdens erhoben, in der sie erträglich war.

»Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer Sympathie bedarf! Es hilft nichts, daß man nach alledem, was man gesehen, gelitten und leiden gemacht hat, hart geworden ist, daß man alt geworden ist, wir sind doch alle in gewissen Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer Mutter sehnen, um sich trösten zu lassen. Und die Mütter ... Ach, die Mütter, sie sind ja so fern von uns! ... Man bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die einen niederschmettern ... Das eigene Blut liefert uns aus.«

Clérambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte. »Was ist Ihnen?« sagte Moreau. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan habe, in Erinnerung.«

»Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!«

»Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung zu erflehen.«

»Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.«

»Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die sich über ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.«

Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation, unterbrach sich aber bald mit einer entmutigten Gebärde.

»Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie mir lieber, was Sie gelitten haben!«

Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich Moreau von Liebe für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte, gleichsam überflutet fühlte. Sein Mißtrauen schwand gänzlich hin. Er tat die geheime Tür seiner bitteren und schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er schon mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre, ohne daß er sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben. Seitdem er das Spital verlassen, war es ihm nicht möglich gewesen, mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die Leute im Hinterland erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer kleinlichen Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch ihren Egoismus, ihre Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit. Er fühlte sich unter ihnen fremder als unter den Wilden Afrikas. Übrigens – er unterbrach sich und fuhr dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen fort, die ihm nicht aus der Kehle wollten – nicht nur unter ihnen, sondern unter allen Menschen fühlte er sich als Fremder, denn er sei vom Leben, von der allgemeinen Freude und Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer abgeschnitten, die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die törichte Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke eiligen Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen ihn erröten, denn sie waren so von der Seite zugeworfen wie ein Almosen, das man nebenhin gibt, das Antlitz vom widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner aufgereizten Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er verabscheute sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an seine zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen sah, so fühlte er Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen. Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil seiner Bitterkeit dem Mitgefühl Clérambaults, der ihn zu sprechen ermutigte, anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen Grund der Qual, die er und seine Gefährten, schauernd wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen wagt, in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen, dunklen und gequälten Worte erkannte Clérambault, was eigentlich die Seele all dieser jungen Menschen zerstörte. Es war nicht allein ihre vernichtete Jugend, ihr hingeopfertes Leben. Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für alte Egoisten und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung, es zu verlieren, zu verurteilen. Das Allerfurchtbarste aber für sie war, daß sie nicht wußten, wofür sie dieses Leben hingeopfert hatten, und dann der alles vergiftende Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse oder nach einem Stück Land an der Grenze zweier Staaten, konnte nicht genug sein, um den Schmerz der Opfer zu mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur einen Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut aller Rassen die gleiche Quelle des Lebens ist, die darein verströmt.

Clérambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus Älteren in der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit gab, die er sonst für sich allein nicht besaß, sagte ihrem Vertreter, ihrem Boten Worte der Hoffnung und der Tröstung.

»Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht eines grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht ohne Sinn. Das Unglück von heute ist der gewaltsame Ausbruch eines Übels, das Europa seit Jahrhunderten zerfrißt, das Übel des Stolzes und der Gier, des gewissenlosen Staatenfanatismus, der kapitalistischen Pest, jenes lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit, Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist. Jetzt bricht alles zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen. Die Aufgabe ist ungeheuer. Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt, denn keiner Generation war ein größeres Werk je zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum, klar zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die giftigen Gase, mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber des Hinterlandes den Blick verwirren. Es handelt sich darum, den wahren Kampf zu erkennen, und der geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine ganze ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und die Eifersucht der Völker gegründet ist, auf die Knechtung des freien Gewissens unter die Staatsmaschine. Nie hätten die resignierten oder skeptischen Völker diesen wahren Kampf mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die Leiden dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das Leiden segnete – lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen der Religionen von einst; wir von heute lieben nicht den Schmerz, wir wollen die Freude. Kommt aber ein Schmerz über uns, so soll er uns wenigstens dienlich sein. Das, was ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden! Deshalb gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß, wenn in der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben ist, es noch gefährlicher ist, zurückzuweichen als vorzurücken. Seht euch deshalb nicht um, laßt eure Ruinen hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen Welt entgegen.«

Clérambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers, während er sprach, zu sagen schienen:

»Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib mir die Gewißheit, gib mir den nahen, den baldigen Sieg!«

Allen Menschen, selbst den besten, ist so sehr das Bedürfnis nach Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht, ihr Opfer einem künftigen Ideal zu bringen, sondern sie wollen, daß man ihnen die Verwirklichung dieses Ideals für recht bald verspricht, oder daß die Belohnung dann wenigstens ewig währe, wie die Religionen es verheißen. Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit eines Sieges in dieser Welt oder in jener andern sah. Wer aber wahr bleiben will, darf niemals einen Sieg versprechen. Er darf nicht die Gefahren außer acht lassen; vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden und keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern scheint natürlich ein solcher Gedankengang niederschmetternd in seinem Pessimismus: Der die Lehre aber ausspricht, ist selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe des Menschen, der nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze Landschaft umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie noch hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese Ruhe übermitteln? ... Wenn die Schüler die Lehre ihres Meisters schon nicht mit seinen Augen zu sehen vermögen, so können sie doch wenigstens seine Augen selbst sehen, in denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist. Sie können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die Wahrheit wisse und von ihrer Unruhe befreit sei.

Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die Augen Julien Moreaus in denen Clérambaults suchten, besaß Clérambault, der Gequälte und Beunruhigte, nicht! ... Aber besaß er sie wirklich nicht? ... Wie er, demütig lächelnd, gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah ... da sah er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und wie man gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich im Licht ist, fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es war in ihn gedrungen, weil er einen andern erleuchten sollte.

 

Erleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen. Clérambault blieb zurück, betäubt von einer leisen Trunkenheit. Er schwieg, um das ganz seltsame Glück einer im eigenen Leben unglücklichen Seele zu genießen, die mit einemmal fühlt, daß sie teilhat am Glück anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen erstreben Glück, tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese Begriffe bedeuten nicht für alle das gleiche. Die einen wollen das Glück als Besitz, für die andern genügt als Besitz schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser Instinkt verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen von jenen, die nur ihr eigenes Glück suchen, über jene, die es für ihre Familie und ihr Volk suchen, bis auf zu jenen Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen, das Glück des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es doch den andern, so wie jetzt Clérambault, und weiß nicht darum; denn die andern sehen schon das Licht auf seiner Stirn, indes seine Augen noch im Schatten sind.

Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault über seinen unbekannten Reichtum belehrt, und dieses Bewußtsein einer göttlichen Botschaft, die ihm auferlegt war, stellte seine verlorene Bindung mit den Menschen wieder her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener Pfadfinder war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem öden Ozean im Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen Welt zu finden. Sie beschimpften ihn, aber sie folgten ihm doch. Denn jeder wahre Gedanke, sei er verstanden oder nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die nachzüglerischen Seelen im Schlepptau mit sich schleift.

Von diesem Tag an wandte er die Augen von der unabänderlichen Tatsache des Krieges und der Toten ab, um sich den Lebenden und der Zukunft, die in unserer Hand ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die wir verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich locken, zu ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch dem gefährlichen Hauch entreißen, der, wie in Rom, von der Gräberstraße aufsteigt. »Vorwärts! Halte dich nicht auf, du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen! Denn andere bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den Trümmern der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite den verlorenen Weg suchen.«

Clérambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der sich dieser jungen Leute nach dem Krieg zu bemächtigen drohte, und diese Erkenntnis quälte ihn. Die moralische Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich die Regierung natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um im Galopp einen steilen Abhang hinaufzukommen. Das Pferd kommt auch wirklich hinauf, aber der Weg ist droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht zusammen. Es ist krumm für sein Leben ... Mit welcher Begeisterung waren doch die jungen Menschen in den ersten Monaten des Krieges in den Sturm gerast! Dann war die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb angeschirrt und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte rings um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf, man mischte wundervolle Hoffnungen in sein tägliches Futter und, ob auch der Alkohol der Betäubung darin jeden Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht zusammenbrechen. Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal, ihm fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem hätte es sich beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende Vereinbarung gegen alle diese armen Opfer, nicht auf sie zu hören, sich taub zu stellen und zu lügen.

Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten ihre Trümmer auf den Sand hin – die Verstümmelten und Verwundeten. Und durch sie kam zum erstenmal das Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans Licht. Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen Glieder sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich im Leeren regten und nichts mehr erfassen konnten, weder ihre Leidenschaft von gestern, noch den Traum der Zukunft. Und voll Angst fragten sie sich, die einen nur dumpf, wenige andere mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt hätten, wofür man lebt ...

»Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet, daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet wird, so sage mir, was kein Philosoph zu beantworten weiß, wessen Gefallen oder wessen Nutzen dient dieses unglückselige Leben des Weltalls, das sich zum Schaden und durch den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist, einzig erhält?« fragt Leopardi.

 

Es war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu geben und für jene einen Sinn des Lebens zu finden. Ein Mann im Alter Clérambaults hat einen Sinn des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es genug sein, sein Gewissen freizumachen: Das ist für ihn gleichsam sein öffentliches Testament. Aber für diese jungen Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, kann es nicht genug sein, die Wahrheit auf einem Leichenfelde zu sehen. Wie immer auch die Vergangenheit gewesen sei, für sie zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer aus dem Weg räumen!

Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer eigenen Qual? – Nein! Sondern an ihrem Zweifel an dem Glauben, dem sie diese Qual zum Opfer dargebracht haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein Kind?) Und dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die Kraft, auf ihrem Weg weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten, an seinem Ausgang die Verzweiflung zu finden. Deshalb ruft man euch ja zu: »Hütet euch, das Ideal des Vaterlandes zu erschüttern! Trachtet lieber, es wiederherzustellen.« Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch seinen Willen einen Glauben wiederherstellen, den man einmal verloren hat? Man kann sich höchstens selbst belügen, und das weiß man in seiner tiefsten Seele. Und gerade dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und die Freude.

So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr nicht mehr glaubt! Die Bäume müssen, um neu zu grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt ihr aus euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken Laub, ein Feuer machen, dann wird das neue Grün, der neue Glaube nur schöner aufwachsen. Denn der neue Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht, sie verwandelt nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken!

Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre! Ihr habt gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und was habt ihr dabei gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit der Völker entdeckt, die sich bekämpfen und miteinander leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt? Nein, wenn ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem neuen Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten erwartetet, zu euch gekommen ist.

Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an sein anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht mehr an dieses Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun bringt niemals eine große Tat gerade jene Wirkung hervor, die man von ihr erwartete, und es ist gut so, denn fast immer übertrifft die tatsächliche Wirkung die erwartete und ist ganz anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit seiner fertigen Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen, daß ihr nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und wagt es zu sein: Dies wird dann der Hauptgewinn oder vielleicht der einzige Gewinn dieses Krieges sein ... Aber werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe vereinen sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser Jahre, die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung, in das eigene Ich hinabzublicken, das Abgestorbene auszujäten, das Lebendige zu bejahen und dann irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die faule Vorliebe für das, was man schon kennt, sei es selbst schlecht, sei es selbst tödlich, das träge Bedürfnis nach billiger Klarheit, das einen lieber ins alte Geleise zurückkehren läßt als neuen selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es denn nicht das Ideal der meisten Franzosen von Kindheit an, irgendeinen fertigen Lebensplan in die Hand zu bekommen und ihn nicht mehr zu ändern? ... Ach, daß doch wenigstens dieser Krieg, der so viele Heimstätten zerstört hat, euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten, eine neue Heimstatt zu gründen und neue Wahrheiten zu suchen!

 

Vielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen, mit der Vergangenheit zu brechen und in neue Welten einzutreten – im Gegenteil: Sie hatten es allzu hastig damit. Noch waren sie aus ihrer alten Welt nicht heraus, so begannen sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur rasch, nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder bewußte Unterwerfung unter das Vergangene oder Revolution!

So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung Clérambaults auf eine soziale Erneuerung eine Gewißheit. Und in seiner Aufforderung, geduldig Tag für Tag sich die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt!

Er führte Clérambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht sehr zahlreich, in allen Zusammenkünften begegnete man immer wieder denselben. Von Staats wegen wurden sie überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn das nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne bewaffnet, über Millionen von Bajonetten, über eine Polizei und eine Justiz, beide folgsam und zu allem bereit, verfügend, bist du dennoch stets furchtsam und kannst es nicht ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich versammelt, um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil, sie taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber ihre ganze Tätigkeit beschränkte sich auf Worte. Was hätten sie auch anderes tun können? Sie waren isoliert von der großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die große Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang und nur dann zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar geworden waren. Was gab es denn noch an europäischer Jugend im Hinterland? Abgesehen von den Drückebergern, die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampf hetzten, damit man vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten sich die Repräsentanten der jungen Generation – rari nantes –, die im Zivildienst verblieben waren, nur aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten. In diesen verstümmelten und untergrabenen Körpern war die Seele gleich brennenden Kerzen in einer Laterne mit zerbrochenen Fenstern: Sie verzehrte sich, sie züngelte und rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da sie mit ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus nur um so höher.

Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom äußersten Optimismus bis zum äußersten Pessimismus. Und diese heftigen Schwankungen des Barometers entsprachen nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse. Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher war aber der Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftgründe finden können. Sie waren ja nur eine Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit zur Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser zu machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener schienen sie zu sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus, jene tolle Gläubigkeit der fanatischen und unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht, damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade aus den Verbrechen der alten stürzenden Weltordnung die neue Weltordnung, und es war ihnen gleichgültig, ob sie selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen. Diese jungen Unbedingten, die Clérambault kennenlernte, sahen ihr Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer Träume innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles oder nichts! Die Welt zu verbessern, schien ihnen lächerlich. Entweder eine vollendete Welt, oder sie soll zugrunde gehen. Dieser mystische Glaube an den großen Umsturz, an eine Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen glaubten ... Und dabei waren sie selber religiöser als alle Gläubigen der Kirche ... O tolle irdische Rasse! Es ist immer derselbe Glaube an das Absolute, der die Narren des Völkerkrieges, die Narren des Klassenkampfes, die Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe Vernichtung reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit, als sie aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung auftauchte, einen Sonnenstich empfing, von dem sie nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit solchen Fieberanfällen durchschüttelt.

Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter von Verwandlungen, die in der Rasse keimen – vielleicht noch Jahrhunderte keimen – und die vielleicht niemals aufblühen werden? Denn es gibt in der Natur immer Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine einzige Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit zuteil geworden ist.

Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein könnte und doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären Mystizismus eine andere, seltenere und tragischere Form gibt – den ekstatischen Pessimismus, der fiebrig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser Revolutionäre haben wir gekannt, die im geheimen von der zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren und sich doch liebend begeisterten für das besiegte Ideal – »... sed victa Catoni« – und für die Hoffnung, für es zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu werden. Wieviel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung aufflammen lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen der ärgsten Materialisten ein Funke der ewigen Flamme, der mißhandelten, verleugneten und doch immer neu bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes aller Unterdrückten von einer besseren jenseitigen Welt.

 

Diese jungen Leute nahmen Clérambault mit verehrungsvoller Zuneigung auf. Sie versuchten, ihn ganz zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil sie in seinen Gedanken das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten, die anderen in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den das Gefühl bisher der einzige, zwar edle, aber unzulängliche Führer gewesen, würde sich nun durch ihr gestrafftes Wissen überzeugen lassen und mit ihnen bis an die äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen gehen. Clérambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn er wußte, daß nichts in der Welt einen jungen Menschen überzeugen konnte, der sich eben auf ein System festgelegt hat. In diesem Lebensalter ist jede Diskussion vergebens. Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo der Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf ihn wirken, und dann wiederum später, wenn die Muschel abfällt oder schon, wenn sie ihn in seinen Bewegungen stört. Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt nur eines: Es ihm zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es aus, oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst, ein anderes zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch von niemandem zwingen lassen!

Niemand in diesem Kreis dachte, zum mindestens anfangs, daran, Clérambault geistig zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken wurden manchmal ganz seltsam nach dem Geschmack seiner Gäste verändert und seine Ideen hatten eine höchst sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clérambault ließ seine Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn er dann nach Hause kam, war er verwirrt und ein wenig ironisch.

»Sind das wirklich meine Gedanken?« fragte er sich.

Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen. Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß – die Natur ist ja um so viel klüger als wir –, vielleicht ist es für uns gut so.

Seine Ideen vollständig aussprechen – kann man es überhaupt, soll man es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen gelangt, mit Mühe, auf dem Weg vieler Prüfungen, und nun halten sie gewissermaßen die Gleichgewichtsschwebe zwischen unseren inneren Elementen. Ändert man diese Elemente, ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen hervor. Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in ihrer Gänze auf einmal in einen anderen Menschen hineinschleudern, so bestünde die Gefahr, daß er toll würde, ja es gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände, daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln getroffen. Der andere versteht uns nicht, er kann uns nicht verstehen. Sein Instinkt wehrt sich dagegen. Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee gegen die seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht, vorauszusehen, gegen welche Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören nicht bloß mit dem reinen Geist, sondern auch gleichzeitig mit ihren Leidenschaften und ihrem Temperament. Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur, was ihm paßt, und wirft den Rest zurück, und zwar aus einem dunklen Instinkt der Verteidigung. Die Vernunft tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf, sie kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt, und sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was hat man aus den hohen Gedanken eines Jesus und eines Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man sie getötet, um dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal zu töten; denn man wirft damit ihren Gedanken ins Himmelreich zurück. Würde man ihn sich in dieser unserer irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr Ende gekommen. Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer Seele ist vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern was sie verschwiegen haben. Wie pathetisch ist doch die Beredsamkeit des Schweigens bei Jesus, wie schön der Schleier über den antiken Symbolen und uralten Mythen, um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzuoft ist das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den anderen der Tod oder, was noch ärger ist, der Mord.

Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten? Soll man die Saat im vollen Wurfe ausstreuen? Aber dem Samen des Gedankens kann Unkraut oder Gift entwachsen! ...

Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals, aber du bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen. So sprich! Das ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles, was du denkst, aber sage es mit Güte! Sei wie eine gute Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren Kindern vollkommene Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen, sie geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie es selber werden wollen. Man kann andere nicht gegen ihren Willen oder ohne ihre Mithilfe befreien. Und selbst wenn dies möglich wäre, was hätte es für einen Sinn? Denn wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel geben und sagen: »Hier ist der Weg! Seht, man kann sich befreien!«

 

Trotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und die Folgen seines Tuns den Göttern zu überlassen, war es doch ein Glück für Clérambault, daß er nicht die ganze Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine eigentliche Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in «Wirklichkeit aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße an der Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox es scheint, es ist dies das Schicksal jedes wahren Pazifismus, weil er eine Verurteilung des Gegenwärtigen bedeutet.

Aber Clérambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche Mächte eines Tages sich auf ihn berufen würden. Und in einer seltsamen Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit dieser jungen Leute arbeitete sich sein Geist gerade unter ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie durch. Je weniger jene – sie unterschieden sich darin gar nicht von vielen Nationalisten, die sie bekämpften – auf das Leben gaben, um so höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen war die Idee fast durchweg wichtiger als das Leben. In diesem Wahn erblickt ja die allgemeine Meinung eine Größe der Menschheit.

Dennoch fühlte sich Clérambault sehr beglückt, unter ihnen auch einen Menschen zu finden, der das Leben um des Lebens willen liebte. Es war ein Kamerad Moreaus namens Gillot, schwerverwundet wie jener, und in seinem Zivilberuf Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein verloren, und sein Trommelfell war geplatzt. Aber Gillot wehrte sich mit mehr Energie gegen das Schicksal als Moreau. In den lebhaften Augen dieses kleinen dunkelbraunen Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit. Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der Sinnlosigkeit des Krieges und der Verbrechen der modernen Gesellschaft, sie hatten dieselben Dinge und dieselben Menschen gesehen, aber mit verschiedenen Augen. Und es kam oft zu Diskussionen zwischen beiden.

»Ja«, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clérambault eine grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben erzählte, »ja, so war es ... nur steckt noch etwas Ärgeres dahinter, nämlich daß das alles auf uns keinen, gar keinen Eindruck machte.«

Moreau protestierte empört.

»Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere, da und dort. Aber die große Masse! ... Schließlich hat man bei den Dingen überhaupt nichts mehr gefühlt.«

Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus im voraus zu unterdrücken:

»Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu machen – dazu ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es nur, weil es eben so ist ... Sehen Sie«, wendete er sich jetzt an Clérambault, »die Leute, die von dort zurückkommen und die das in Büchern erzählen, die sagen ja wirklich, was sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. Alles reizt ihre Nerven. Unsereins ist abgebrüht, und wenn ich jetzt daran denke, scheint mir diese Fühllosigkeit das Ärgste von allem. Wenn Sie hier eine von den Geschichten lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen oder bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch immer die Pointe daran: daß nämlich ein paar Burschen dort vorne stehen, ihre Pfeife rauchen, Witze reißen oder an etwas anderes denken. Und das ist ja nötig, denn sonst krepierte man ja ... Der Mensch hat eben eine grauenhafte Fähigkeit, sich an alles anzupassen ... Ich glaube, er würde ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es ist ja wahr, man kann ein Grausen vor sich kriegen, aber ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin selbst so gewesen. Ich habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit damit verbracht, herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was ich zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das ganze Leben eben blödsinnig ist – ich habe doch recht? –, so tat man eben, was man tun mußte, tat, soviel eben nötig war, und wartete, bis es aufhörte ... Wartete auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja doch einmal zu Ende sein ... Zwischendurch hat man eben gelebt, geschlafen, gefressen, geschissen – Verzeihung, aber man muß die Wahrheit sagen –, und wenn Sie, mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen – der Grund ist eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man liebt es nicht genug. Sie haben sehr recht, wenn Sie in einem Ihrer Aufsätze sagen, es ist wundervoll, das Leben. Aber jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach aussehen, als ob sie das glauben würden, zumindest unter denen, die wirklich wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: ›So liegt man wenigstens schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.‹ Nein, man liebt es nicht genug, das Leben, man lehrt es uns ja auch nicht, es zu lieben, im Gegenteil, man tut alles, was man kann, um es uns widerlich zu machen. Von Kindheit an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf die Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die schon gestorben sind. Die Geschichte, der Katechismus, der ›Heldentod für das Vaterland‹! Pfaffen und Patrioten blasen es in einem Atem, und schließlich wird einem das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht heute das Möglichste, um es einem so dreckig wie möglich erscheinen zu lassen. Nirgends eine eigene Initiative mehr, alles Mechanismus, und dabei nicht einmal Ordnung: Keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk, und man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und meist hat es auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes Durcheinander, von dem man nicht einmal etwas hat. Wie ein Hering ist man irgendwo eingepackt und hingeschmissen. Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt nicht weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die Großväter für uns die Bastille erstürmt, und jetzt tun diese Lumpen, die das Heft in der Hand haben, so, als gäbe es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das Paradies auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren Denkmälern geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr ist, daß irgendein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere Revolution ... Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen! Und alles ist so unklar ... Nein, man hat kein Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht, es ist keiner da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas Schönes und Hohes zeigt ... Ja, sie tun alles, was sie können, jetzt, um uns in Schwung zu bringen: Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit. Aber der Schwindel zieht nicht mehr. Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt man niemals nein. Aber leben, das ist etwas anderes.«

»Und nun?« fragte Clérambault.

»Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke ich immer nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte.«

»Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?«

»Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung. Kaum war ich mit einem Bein aus dem Leben draußen, so wollte ich schon wieder ins Leben zurück. Wie schön es doch eigentlich war – nur hatte man, Esel, der man war, es nicht bemerkt ... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich zum erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem Trümmerfeld, noch mehr zerfetzt als die Leichen, die dort kunterbunt übereinander und durcheinander, wie bei einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde schien selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte zuerst nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr ... Welches Stück von mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte keine Eile, mit dem Nachsehen zu beginnen, denn mir graute vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich wollte mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht nur noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht, diesen nicht zu verlieren ...

Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete, darum bekümmerte ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg, sich bog und die feurigen Blumen dann ausschüttete – ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich das fand, ich sog es mit allen Sinnen ein ... Und auf einmal sah ich mich als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine, an einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses Kind, als ob es ein anderes wäre, das mich amüsierte und mir leid tat. Und dann dachte ich, daß es doch gut sei, in das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen und irgend etwas, irgend jemand, gleichgültig wen, zu haben und ihn zu lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete ... Dann kamen die Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte wieder den Kopf in das Loch hinein ... Dann kamen die Leute vom Hilfsplatz ... ich hatte dort kein gutes Leben, der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen ... fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein ... und doch ... selbst dort, und gerade dort ... welches Paradies schien es mir, noch einmal so leben zu können wie einst, nur zu leben, zu leben ohne Schmerzen, so wie man jeden Tag lebte ... Und man merkte es nicht! Ohne Schmerzen ... ohne Schmerzen ... und leben! ... Aber das ist ein Traum. Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn man nur eine Minute Ruhe hätte und bloß den Geschmack der Luft auf der Zunge fühlte und den Körper so leicht nach aller Qual ... Himmel, wie schön das wär' ... Und so war früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur nicht bemerkt ... Mein Gott, wie dumm man ist, erst dann das alles zu verstehen, wenn man's nicht mehr hat. Und wenn man es dann endlich liebt und um Verzeihung bittet, daß man's nicht zu schätzen wußte, dann antwortet einem das Leben: Zu spät!«

»Es ist nie zu spät«, sagte Clérambault.

 

Gillot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben. Dieser gebildete Arbeiter war für den Lebenskampf viel besser ausgerüstet als Moreau und selbst als Clérambault. Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: Fällt man einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal Rache dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte er bei allen Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten: »Man wird's schon schaffen«, und war bereit, mit der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf loszumarschieren, soweit es not tat, und je früher, je lieber. Denn auch er, wie alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und reimte sie mit seinem Optimismus zusammen, der den Umsturz von vornherein in Milde vollendet sah. Er war ohne jede Gehässigkeit.

Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in diesen Seelen aus dem Volk sind viele Überraschungen versteckt. Sie sind zu leicht zu verführen und jeder Veränderung geneigt ... So hörte Clérambault eines Tages, wie Gillot mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu schlagen, wenn die Eingerückten wiederkämen und der Krieg zu Ende sei, oder vielleicht noch früher ... Der Franzose aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und munter ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen hat, erfaßt – mein Gott, wie rasch vergißt er auch! Vergißt alles, was man gesagt hat, was er selber gesagt hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt hat, und glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was er sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot ganz ruhig genau die entgegengesetzten Ideen wie jene, die er gestern gegen Clérambault verteidigt hatte, und nicht nur seine Ideen hatten sich verwandelt, sondern auch gewissermaßen sein Temperament. Am Morgen war ihm nichts wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und Zerstörung, abends träumte er wiederum von nichts anderem, als irgendwo ein kleines Geschäft zu haben, dick zu verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder aufzuziehen und sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten, gab es unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen Rassenhochmut – gar nicht bösartig, aber fest verankert – gegenüber der ganzen übrigen Welt hatten, ob sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der Provinz oder, wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris. Sie waren männliche, offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen wie Gillot, und sicher die Rechten, um eine Revolution zu machen, sie zu zerstören und noch einmal zu machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen als Beute für den ersten besten Abenteurer, der gerade des Weges kommt. Und das wissen die politischen Schleicher allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die Revolution zu töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig vorbeigehen zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren.

Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem Ende des Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate, einige Wochen, wo die unermeßliche Geduld der gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei loszubrechen drohte: »Genug!« Zum erstenmal hatte sich unter ihnen die Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt würden, und man kann die Erbitterung der Menschen aus dem Volk verstehen, wenn sie feststellten, wie toll die Milliarden im Krieg ausgegossen wurden, während vor dem Krieg ihre Herren wegen ein paar hunderttausend Franken für die soziale Hilfe knauserten. Mehr als alle Reden besaßen gewisse Ziffern die Fähigkeit, die Leute aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Krieg ungefähr 75 000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen zu töten, und man aus derselben Summe, die zehn Millionen Tote macht, zehn Millionen Rentner hätte schaffen können. Selbst die Dümmsten wurden nun des ungeheuerlichen Reichtums der Erde und der verbrecherischen Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen Verschwendung für einen leeren Wahn. Und vor allem der schändlichsten Schändlichkeit: daß von einem Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick fraß.

»Ah«, dachten die jungen Leute, »man rede uns nichts mehr vor vom Kampf der Demokratien gegen die Autokratien, es ist immer derselbe Schwindel. Überall hat der Krieg den Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich gemacht: die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische, geschäftliche und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeiten, Ruinen und Tollheiten als in zehn Jahrhunderten die Geißel der Könige und der Kirchen.

Und kaum daß sie fern aus dem Wald die Hacke Lenins und Trotzkis, dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten, zitterten viele dieser niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung. Mehr als einer in jedem Land bereitete schon damals sein Beil vor, um mit loszuschlagen – die herrschende Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem Ende Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame Gefahr. Es war keine besondere Verständigung nötig, damit sie sich untereinander in diesem Punkt verstanden; hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen Zeitungen der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend dem Kaiser freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln, weil sie die soziale Ungerechtigkeit, von der sie alle gleicherweise lebten, bedrohte. In der Tollwut ihres Hasses verbargen sie nur schlecht ihre Freude, als sie sahen, wie der preußische Militarismus, das Untier, das sich dann gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen Massen der Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen eine glühende Bewunderung für jene Ausgestoßenen, die dem ganzen Weltall Schach boten.

Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn die Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt. Die blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder war und ständig noch neues Feuer unter dem Kessel entzündete, war verwundert über das dumpfe gefahrdrohende Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe oder geheimnisvollen Intrigen oder dem feindlichen Geld oder den Pazifisten. Und sie sah nicht ein, was ein kleines Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor allem, um die Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der Gott aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob Kaiserreich oder Republik, war doch die Faust, die Kraft, mochte sie sich noch so verschleiern und überpudern. Innen blieb die harte, selbstsichere Gewalttätigkeit. Und in natürlichem Rückstoß wurde der Glaube an die Gewalt auch das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden Druckwirkungen. Wo das Metall verbraucht war – zunächst in Rußland –, explodierte der ganze Kessel. Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde – wie in den neutralen Ländern –, fuhr zischend der heiße Dampf aus. In den kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung lastete, herrschte eine trügerische Stille, die dem Unterdrücker recht zu geben schien. Dort waren sie ebenso wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger gepanzert, denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten hin, nach vorn und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der Verschluß aus härtestem Stahl schien noch gut zu schließen, die Schrauben preßten ihn eisern an, so daß es unmöglich war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn, daß plötzlich alles in die Luft flöge.

Clérambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube gepreßt als die anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten. Er begriff sie, er hielt sie sogar für unvermeidlich. Aber deshalb liebte er sie noch nicht. Er fand sich nicht ab mit der bequemen » amor fati«. Ihm genügte es, zu verstehen. Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe zu haben.

 

Die jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus nicht und waren erstaunt, daß Clérambault so wenig Begeisterung für das neue Idol aus dem Norden zeigte, für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich nicht lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf, um die Welt glücklich zu machen – auf ihre Art, wenn nicht auf die seine –, sie diktierten gleich im ersten Anlauf die Unterdrückung jeder Freiheit, die ihrer Idee von Freiheit entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte Bourgeoisie sollte des Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des Rechtes der öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden.

»Schön«, sagte Clérambault, »aber dann wird sie das neue Proletariat werden. Dann ändert nur die Gewalt ihren Posten.«

»Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden die letzte Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in alle Ewigkeit töten wird.«

»Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer der letzte Krieg, der den Krieg für alle Zeiten töten soll. Aber er befindet sich bisher recht wohl, und das Recht wie die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.«

Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen im Krieg und an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit.

»Und doch«, sagte Clérambault sanft, »haben eine ganze Reihe von euch mitgetan und fast alle daran geglaubt ... Nein, nein, protestiert nicht! Auch in dem Gefühl, das euch damals dazu trieb, war etwas Edles. Man zeigte euch ein Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt, es gäbe nur dieses eine Verbrechen, und hätte man das aus der Welt geschafft, so würde sie unschuldig und rein sein wie im Goldenen Zeitalter. Dieselbe seltsame Naivität ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre aufgefallen. Damals war es so, als ob alle anständigen Leute Europas, ich gehörte auch dazu, noch nie gehört hätten, daß bisher jemals ein Unschuldiger ungerechterweise verurteilt worden sei. Ihr ganzes Leben war von dieser Erkenntnis einfach umgestürzt, und sie setzten das Weltall in Bewegung, um diesen Flecken auszutilgen ... Mein Gott, als die Wäsche fertig war – eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig, denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und der Reingewaschene selbst auch –, nun, da war die ganze Welt genauso schmutzig wie vorher. Es scheint eben, daß der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des menschlichen Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zuviel Angst, die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und um davon nicht ganz niedergeschmettert zu sein, sucht er sich immer irgendeine einzelne Sache aus, lokalisiert in ihr das ganze Böse der Welt und hütet sich, auf alles andere zu schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir verständlich, weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben. In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feind sowohl wie bei uns selbst. Ihr habt es allmählich in unserem Staatswesen entdeckt, und jetzt wendet ihr euch mit der gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur im Feind sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese Fehler auch in euch sind – und das ist zu befürchten, nach den Erfahrungen aller Revolutionen, die immer leidenschaftlich geworden sind und in denen jene, die das Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht zu verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt fanden –, dann werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung gegen euch selbst wenden ... Ihr großen Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich das Absolute zu wollen.«

Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das Absolute wollen, um das Wirkliche zu erreichen. Für den Gedanken könne es Nuancen geben, aber die Tat dulde keine. Clérambault solle sich zwischen ihnen oder ihren Gegnern entscheiden! Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit.

Und Clérambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt es keine andere Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt. Ebenso wie der ungerechte Sieg mit notwendiger Gewißheit die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits ungerecht sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung zur proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem Vorbild unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne Ende, in der eine eherne Dike waltet, die eine klare Vernunft erkennt und sogar als ein Weltgesetz ehren kann. Aber das Herz weigert sich, diese Gesetze anzuerkennen, sich ihnen zu unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja, das Gesetz des ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals gelingen? ... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen, dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen Ordnung steht, daß es aus einer überirdischen, aus einer geradezu religiösen Welt stammt.

Aber Clérambault, der davon durchdrungen war, wagte noch nicht, sich dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten nicht, das Wort »religiös« auf sich zu beziehen, das Wort, das die Religionen von heute – die so wenig religiösen – diskreditiert haben.

 

Hatte Clérambault also selbst noch nicht volle Klarheit in sein Denken gebracht, so war es für seine Freunde noch schwieriger, sich in seiner Weltauffassung auszukennen. Und wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu geboten gewesen, sie übersichtlich zu erfassen, so hätten sie sie doch nie verstanden. Sie konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so energisch den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen billigte, um diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von ihrem Gesichtspunkt, demjenigen der sofortigen Aktion, hatten sie nicht unrecht. Aber das Feld des Geistigen ist viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in größeren Räumen ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien. Clérambault erkannte das ewige Axiom der Tat »Der Zweck heiligt die Mittel« nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung, daß diese von seinen Freunden gepriesene Kampfmethode die erfolgreichste sei. Er war im Gegenteil der Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt von höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt es denn wirklich ein endgültiges Ziel?

Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens erbitterte aber die jungen Menschen und bestärkte sie in jener gefährlichen Abneigung gegen die Intellektuellen, die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden Bevölkerung herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen nichts Besseres verdient, denn wie weit waren die Zeiten, wo die Geistigen an der Spitze der Revolutionen standen! Jetzt schlossen sie sich mit allen reaktionären Kräften zusammen, und selbst die verschwindend kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clérambault, unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten, der sie einmal gerettet und nun zu Gefangenen gemacht hatte. Kaum hatten nun die Revolutionäre die Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen Massenbewegungen einzuordnen, so gingen sie einen Schritt weiter und proklamierten den Niedergang der Intellektuellen. Der Stolz der Arbeiterklasse, der sich schon in Artikeln und Reden äußerte, ungeduldig, sich wie in Rußland bald in Taten manifestieren zu können, dieser Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren proletarischen Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war, daß einige unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten diese Erniedrigung ihres Standes verlangten – sie hätten gern damit glauben gemacht, daß sie nicht mehr dazu gehörten, und vergaßen es sogar selbst ... Moreau freilich vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer Bitterkeit verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der Haut brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß.

Er trug jetzt gegen Clérambault seltsam aggressive Gefühle zur Schau. Er unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede Höflichkeit, mit einer gewissen Art ironischer und gereizter Schärfe, daß man oft das Gefühl hatte, er wolle ihn bewußt verletzen.

Clérambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid mit ihm, denn er wußte, daß Moreau litt, und konnte sich die Bitterkeit eines hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen, dem die sittliche Nahrung, die für einen fünfzigjährigen Magen gehört – Geduld und Resignation –, nicht recht munden wollte.

Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders unangenehm gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach Hause begleiten wollte, gleichsam als könnte er sich nicht entschließen, ihn zu verlassen, und als er da vor sich hinschweigend und verschlossen an seiner Seite schritt, blieb Clérambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd:

»Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?«

Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte trockenen Tones, woran man denn merken könnte, daß »es nicht gut ginge«.

»Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend«, antwortete Clérambault gleichmütig.

Moreau protestierte.

»O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir weh zu tun: Ja, doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig ... Ich weiß es sehr gut, daß Sie es nicht ganz ernstlich wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen andern leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber leidet ... Habe ich nicht recht?«

»Verzeihen Sie mir«, sagte Moreau, »es ist wahr. Mir tat es weh, zu sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion glauben.«

»Und Sie selbst?« fragte Clérambault.

Moreau verstand nicht.

»Und Sie selbst«, wiederholte Clérambault, »glauben Sie denn daran?«

»Und ob ich daran glaube«, rief Moreau entrüstet.

»Aber nein«, sagte Clérambault ganz sanft.

Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte er nachgiebiger: »Doch, durchaus!«

Clérambault war weitergegangen.

»Nun gut«, sagte er, »das ist ja Ihre Sache, Sie müssen ja besser wissen als ich, was Sie eigentlich glauben.«

Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach einigen Minuten faßte Moreau Clérambault am Arm und sagte:

»Wieso konnten Sie das wissen?«

Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung, die sich unter seinem aggressiven Willen zur Gläubigkeit und zur Tat verbarg. Innerlich war er von Pessimismus zerfressen, der ja immer eine natürliche Folge jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten, übermäßigen Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war ganz ruhevoll: Sie stellte das Gottesreich hinüber in ein Jenseits, das kein irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören konnte. Aber die religiöse Seele von heute, die das Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will und es auf dem Grund der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut, die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren Traum einstürzen läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am liebsten die Adern aufgeschnitten hätte! Die Menschheit schien ihm wie eine faulende Frucht, voll Verzweiflung sah er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage, die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse wie ein Wurm in der Frucht eingeschlossen sitzt, und er konnte die Idee dieses unsinnigen und tragischen Schicksals, dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht ertragen. Wie Clérambault fühlte er in seinen Adern das Gift des Wissens und der Vernunft; aber indes Clérambault die Krise überstanden hatte und die Gefahr nur in der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in seinem Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die Vernunft sei selbst schon von Gift durchtränkt. Seine krankhaft erregte Phantasie erschöpfte sich selbstquälerisch in immer neuen Vorstellungen, sie zeigte ihm die Menschheit mit dem unauslöschlichen Brandmal der Krankheit ihrer Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle Möglichkeiten von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn nicht schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor Hochmut taumelte angesichts der ihr von der Wissenschaft ausgelieferten Gewalten, angesichts jener Dämonen der Natur, die ihr durch die magische Formel der Chemie Untertan waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord mißbrauchte?

Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung zu verbleiben. Man mußte etwas tun um jeden Preis, um nicht allein mit dieser Vision zu bleiben.

»Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil, feuern Sie uns dazu an!«

»Mein Freund«, sagte Clérambault, »man darf die anderen nur dann zu einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man selber mittut. Mir sind die Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig sind, unerträglich, all jene, die andere treiben, Märtyrer zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben. Es gibt nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs: Das ist der Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen sind für die Aureole des Kreuzes geboren. Der Hauptfehler besteht darin, sich selbst übermenschliche und unmenschliche Pflichten zu setzen. Es ist ungesund für die Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben zu wollen, und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer Qualen. Aber jeder Mensch kann trachten, in seinem kleinen Kreis das innere Licht auszustrahlen, Ordnung, Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.«

»Aber das genügt mir nicht«, sagte Moreau. »Das läßt zuviel Raum für den Zweifel. Alles oder nichts.«

»Ja, eure Revolution hat keinen Raum für Zweifel. Für euch heiße und harte Herzen, für euch geometrische Gehirne heißt es: alles oder nichts. Nur keinen Übergang! Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie denn nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche Schönheit freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche und Hunger nach Liebe. Man muß lieben, man muß helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die Welt verwandelt sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz, weder durch Gewaltstreiche noch durch Gnadenstöße. Aber Sekunde für Sekunde geht sie ins Unendliche hinüber, und der schlichteste Mann, der das fühlt, hat teil an der Unendlichkeit. Nur Geduld! Eine einzige Ungerechtigkeit, die man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit, aber sie verklärt einen Tag. Und es werden andere kommen und andere Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne. Möchten Sie das verhindern?«

»Wir können nicht warten«, sagte Moreau. »Wir haben keine Zeit. Jeder Tag, den wir leben, stellt uns Probleme, die uns ganz aufzehren und die wir sofort lösen müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir ihnen untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen, wir sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir lieben, was uns noch dem Leben verbindet: die Hoffnung auf die Zukunft, das Heil der Menschheit ... Fühlen Sie doch, wie diese quälenden Fragen um aller Zukünftigen willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar, daß er durch seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe Kriege heraufbeschwört. Wofür zieht man Kinder auf? Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für ähnliche Schlächtereien? Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch ihre ganze Reihe erschöpft ... Man könnte diese toll gewordenen Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen und auswandern, aber wohin? Gibt es denn irgendwo auf dem Erdball noch fünfzig Joch Erde, die den freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden. Entweder für die Nation oder für die Revolution. Was bleibt denn sonst noch? Das Nichtwiderstreben gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert? Das hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist, religiös gläubig, sonst wäre es nur die Resignation von Schafen, die sich hinschlachten lassen. Aber die meisten, leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen es vor, gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft weg und lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten haben, nun für ewige Zeiten vorüber sei ... Darum müssen wir für jene eine Entscheidung fällen, ob sie wollen oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten gegen ihren eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.«

»Mir paßte es nicht sehr«, antwortete Clérambault, »wenn jemand anderer für mich wollte, und ebensowenig für einen anderen zu wollen. Ich möchte lieber jedem helfen, frei zu sein, und selbst der Freiheit keines anderen Menschen im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.«

»Sie verlangen das Unmögliche«, sagte Moreau. »Wenn man einmal beginnt zu wollen, darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Es gibt nur zwei Arten Menschen: diejenigen, welche zuviel wollen – Lenin und alle Großen, es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der ganzen Weltgeschichte, und dann die anderen, die zuwenig wollen, die das Wollen nicht verstehen. Das ist der große Rest, das sind wir, das bin ich selbst ... Sie haben es nur zu gut erkannt ... Mein ganzer Wille kommt nur aus Verzweiflung.«

»Warum denn verzweifeln?« sagte Clérambault. »Das Schicksal des Menschen formt sich jeden Tag, und keiner kennt es. Unser Schicksal ist das, was wir sind. Sind wir mutlos, so entmutigen wir es.«

Aber Moreau sagte niedergeschlagen:

»Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht stark genug sein ... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für lächerlich geringe Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution hat? Jetzt, in der gegenwärtigen Zeit, nach den Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung, der Demoralisation, der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen, die von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?«

Und er fügte das Geständnis bei:

»Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als ich behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie wir das Leiden und die Erbitterung darüber. Gillot hat Sie richtig belehrt: Wir sind nur ganz wenige. Die anderen sind meistens gute Kerle, aber schwache, schwache Naturen ... Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber statt mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber gar nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu halten. Ach, dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum und auch unser Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie gute Handhabe für alle Unterdrücker. ›Mögen sie Spottlieder singen, wenn sie nur ihre Steuern zahlen‹, sagte jener Italiener, und bei uns heißt es: ›Mögen sie lachen, wenn sie nur sterben.‹ Dazu kommt noch diese furchtbare Anpassungsfähigkeit, von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen treiben – wenn sie nur lange genug dauern und er sie innerhalb der Herde mitmacht, so gewöhnt er sich an alles, an das Warme und an das Kalte, an den Tod und das Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig wäre, verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt man sich in irgendeine Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst, man könne mit irgendeiner Veränderung die eingeschläferte Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet eine solche Müdigkeit auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen werden, dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und zu schlafen.«

»Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet, alles krumm und klein zu schlagen?«

»Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe gesehen, wie er eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter, Revanchetrompeter, Annexionist, Internationaler, Sozialist, Anarchist, Bolschewist und » Je-m'enfichiste«. Er wird schließlich als Reaktionär enden und sich wieder hinausschicken lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden oder Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das Volk? Es ist unserer Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht der Gegner. Das Volk hat immer hintereinander alle Ansichten.«

»Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?« sagte lachend Clérambault.

»Es gibt viele dieser Art unter uns.«

»Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen, als er jemals war?«

»Gillot kann vergessen«, sagte bitter Moreau. »Ich neide ihm dieses Glück nicht.«

»Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören«, sagte Clérambault. »Helfen Sie Gillot. Er hat Sie nötig.«

»Mich?« staunte Moreau ungläubig.

»Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine Kraft glaubt. So glauben Sie daran.«

»Kann man denn glauben wollen?«

»Sie wissen ja etwas davon ... Nicht wahr, nein, man kann es nicht ... Aber man kann glauben aus Liebe.«

»Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?«

»Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man denn anders gläubig sein als aus Liebe?«

Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von «Wissensdurst brennende und verzehrte Jugend hatte, wie die der besten in der bürgerlichen Klasse, am Mangel brüderlicher Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt. Erst allmählich und mißtrauisch war dieses konstant unterdrückte Urgefühl in den Schützengräben, in diesen Gräbern der lebendig zusammengedrängten leidenden Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor Sentimentalität, die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit der Krankheit Moreaus war die Umschalung von Stolz nachgiebiger geworden, und es kostete Clérambault keine Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von diesem Mann ausging, war, daß bei der Berührung mit ihm die Eigensucht in den Menschen hinschwand, denn er besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm, wie er sich selbst allen zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen Schwächen und all den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu ersticken sucht. Moreau, der an der Front, ohne es sich offen einzugestehen, die Überlegenheit seiner Kameraden oder der Unteroffiziere, also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß Clérambault an sie appellierte. Clérambault hatte seinen geheimsten Wunsch erweckt, einem andern eine Notwendigkeit zu sein.

Und ebenso flüsterte Clérambault Gillot die Anregung ein, Optimist für zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden beide, in ihrem Bedürfnis, dem andern zu helfen, selbst eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: »Wer gibt, der hat.«

In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der Zertrümmerung, so ist doch nichts verloren, solange noch in der Seele einer Rasse ein Funke der männlichen Freundschaft lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken, muß die frierenden einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung der Elite der Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden sei – jener aus der Welt der Arbeit und jener aus der des Gedankens –, die, indem sie sich ergänzen, die Zukunft erneuern sollen.

 

Ist der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern beherrschen will, so muß auch das Gegenteil gültig sein, nämlich daß keiner sich vom andern unterdrücken lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen Intellektuellen dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe. Sie schulmeisterten verächtlich Clérambault im Namen des neuen Prinzips, das die Intellektuellen in den Dienst des Proletariats stellen wollte ... »Dienen, dienen!« Das war das Schlußwort des einst so stolzen Richard Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten Stolzes. Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht Herr sein können, sofort Sklaven sein.

»Am schwersten ist es in dieser Welt«, dachte Clérambault, »anständige Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen sein wollen. Sind diese aber unauffindbar, und bedarf es unbedingt einer Tyrannei, so ziehe ich noch diejenige, die einen Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven machte, aber ihren Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere Freiheit mit Seelenknechtschaft verbindet.«

Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner Unfähigkeit bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen. Zwischen den beiden Möglichkeiten, der der Revolution und der des Krieges, konnte er seine Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie allein bot ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch lange nicht, damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben. In den Demokratien ist gerade die Auffassung so irrig und so widersinnig, daß alle die gleichen Pflichten hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden Gemeinschaft sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der Hauptteil der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg zu erzielen, müssen andere die ewigen Werte gegen den Sieger von morgen, wie gegen den von gestern behaupten, denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie alle: Ihr Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den Qualm des Kampfes. Clérambault hatte sich zu lange von diesem Qualm den Blick trüben lassen, als daß er sich neuerdings in ein solches Getümmel stürzen wollte. Aber in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung, sehen zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen.

Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung so recht bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs ihm gerade den Text gelesen und ihn recht frech mit dem »Astrologen, der sich in die Tiefe des Brunnens fallen ließ« verglichen hatte.

... On lui dit: Pauvre bête,
Tandis qu'à peine à tes pieds tu peux voir,
Penses-tu lire au-dessus de ta tête?

Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht ganz unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft jener an ...

... De ceux qui bayent aux chimères,
Cependant qu'ils sont en danger,
Soit pour eux soit pour leurs affaires
...

Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten, wie die erste Republik noch auf die Chemiker? Oder meint ihr sie in Reih und Glied disziplinieren zu können? Dann ist zu erwarten, daß wir alle zusammen in den Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich? Ich würde nicht nein sagen, handelte es sich nur darum, euer Schicksal zu teilen. Aber euren Haß will ich nicht teilen.

»Auch Sie haben Ihren Haß«, antwortete ihm einer der jungen Leute.

Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer Zeitung in der Hand herein und rief Clérambault zu:

»Meinen Glückwunsch, Ihr Feind Bertin ist tot ...«

Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von einer ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden. Seit sechs Monaten hatte er wütend alle jene verfolgt, die er im Verdacht hatte, den Frieden zu suchen oder auch nur zu wünschen. Denn allmählich war er dazu gekommen, nicht nur im Vaterland, sondern auch im Krieg selbst eine heilige Sache zu sehen. Das beliebteste Opfer seiner Böswilligkeit war Clérambault, Bertin konnte nicht verzeihen, daß er gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten. Die Erwiderung Clérambaults hatte ihn anfangs wütend gemacht. Als Clérambault aber dann verächtlich auf seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte übermütige Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig die vollständige, restlose Vernichtung des Gegners ihn noch befriedigen konnte. Clérambault erschien ihm nicht mehr bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind des Staates, als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür Beweise zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen Zeit jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals hatte man keine Augen mehr. Gerade in den letzten Wochen überstieg die Polemik Bertins in Ansprung und Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie bedeutete eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei des Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren.

Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht von seinem Tod in der kleinen Versammlung aufgenommen, und man hielt ihm seine Grabrede in einer Tonart, die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung nachgab. Clérambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum zu, als einer, der an seiner Seite saß, ihm auf die Schulter klopfte und sagte:

»Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?«

Clérambault fuhr auf.

»Vergnügen!« sagte er. »Vergnügen!« wiederholte er.

Er nahm seinen Hut und ging weg.

Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines Luftangriffalarms abgelöscht waren.

In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll warmer Blässe, mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem Haar, belebtem und lachendem Mund, mit klingendem Stimmfall ... Bertin zur Zeit ihrer ersten Begegnung, als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und er gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren Vertrautheit, ihrer Gespräche und Träume – denn auch Bertin träumte damals. Trotz all seines praktischen Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht unerfüllbarer Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte für eine neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren Kinderblicken schön erschienen war und wie bei solchen Visionen in verzückten Augenblicken ihre beiden Herzen sich leidenschaftlich in liebender Freundschaft hingaben!

Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht! Was für eine hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles Bestreben Bertins, seine eigenen Träume von einst und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu Boden zu stampfen! Und er selbst, Clérambault, der sich vom gleichen mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag auf Schlag den Gegner blutig zu treffen ... der – voll Entsetzen gestand er sich's ein – im ersten Augenblick, als er vom Tod des einstigen Freundes hörte, eine Art Erleichterung empfunden hatte ... Was für ein Dämon wirkt doch in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns auf?

In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt. Er bemerkte, daß er in die entgegengesetzte Richtung ging, statt nach Hause. Vom Himmel her, der vom Lichtkeil der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte man furchtbare Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten sich ab. Wofür zerrissen sich denn diese rasenden Völker? Um alle dorthin zu gelangen, wo jetzt Bertin war, in jenes Nichts, das gleichermaßen alle Menschen und alle Vaterländer erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre, die andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische Ideale den bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der Schlächterei, die der Mensch sich selbst unablässig erschafft, um seine bösen Instinkte zu adeln.

Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden Tuns, im Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem die ganze Menschheit in den Abgrund stürzt? Wie können Millionen Wesen, die doch nur einen Augenblick zu leben haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch ihren erbitterten und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies falsch sind, gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicherweise verurteilte Opfer, und statt sich zusammenzuschließen, kämpfen sie widereinander ... Ach, ihr Unglücklichen, geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder Stirn, die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des Todeskampfes ...

Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen er vorüberkam, brüllte und heulte vor Freude.

»Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen! ...«

Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten, jauchzten in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den sie über die Stadt säten. Wären sie nicht wie Gladiatoren, die sich gegenseitig in der Arena die Brust durchstoßen, nur damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei?

Oh, meine armen Brüder in Ketten!


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