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Erster Teil

Agénor Clérambault saß im Schatten der Laube seines Gartens von Saint-Prix und las seiner Frau und den Kindern seine neue Ode vor, die Ode Ara Pacis Augustae, die er zu Ehren des Friedens über den Menschen und Dingen geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der Weltbrüderlichkeit verkünden wollte.

Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag letzter rötlicher Schein, und durch den leuchtenden Dunst, der wie ein Schleier über die Hügelhänge, die grauen Ebenen und die Ferne geworfen war, flammten die Fensterscheiben von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit war eben zu Ende. Clérambault, auf den noch nicht abgeräumten Tisch gestützt, ließ im Sprechen seinen Blick voll naiver Freude von einem zum anderen seiner drei Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen einen Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden.

Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner dichterischen Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam vom dritten Satze an in einen Zustand von träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem die häuslichen Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen. Gewissermaßen lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig. Vergeblich mühte sie sich, auf den Lippen Clérambaults den Worten zu folgen, deren Sinn sie nicht mehr wahrnahm, und sie sogar mit den eigenen Lippen nachzusprechen. Es half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein Loch im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem Tisch zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick Clérambaults sie zu ertappen schien. Dann klammerte sie sich hastig an die letzte, gerade gehörte Silbe und redete sich in eine Begeisterung hinein, indem sie irgendein Stück Vers nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen Vers ganz richtig zitieren können):

»Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch einmal diesen Satz ... Ach, wie das hübsch ist.«

Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen, Maxime, der große Bursche, zog eine spöttische Grimasse und sagte gereizt:

»Mama, unterbrich doch nicht immer.«

Aber Clérambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand seiner guten Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als er sehr jung, arm und unbekannt war, sie hatten gemeinsam all die bitteren ersten Jahre durchgelebt. Sie stand nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und dieser Unterschied milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber Clérambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin. Sie gab sich mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem großen Mann, der ihr Stolz war, gleichen Schritt zu halten; er wiederum hatte für sie eine besondere Nachsicht. Der kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand sich gerade dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten, im Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der andern irrte, die er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine Mitmenschen, allerdings mit einiger Ironie, reichen Dank dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden Jagd nach Erfolg, und seine provinzlerische Reinheit war für die Blasierten ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes.

Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines Vaters lustig, ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser hübsche Bursche von neunzehn Jahren hatte mit seinen hellen und lachenden Augen im Pariser Milieu rasch die Fähigkeit der geschwinden, klaren und spöttischen Beobachtung angenommen, die sich mehr auf die äußeren Nuancen der Dinge und Menschen richtet als auf die Ideen: Ihm entging nirgendwo das Komische, selbst nicht bei jenen, die er liebte. Aber das geschah ganz ohne Böswilligkeit, und Clérambault war der erste, seiner jungen Frechheit zuzulächeln. In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die Verehrung Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen ihre Würze: Die jungen Burschen müssen ja auch, um den lieben Gott gern haben zu können, ihn manchmal am langen weißen Bart ziehen dürfen!

Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer gewesen, ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem Körper, gekreuzten Händen und aufgestützten Armen zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen geschaffen scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn eröffnet: Viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und man vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen werden. So war die Seele dieses jungen Mädchens. Die Worte des Vorlesenden spiegelten sich nicht so sichtlich in ihr wie in den klugen und beweglichen Gesichtszügen Maximes, aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der feuchte Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten eine innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern der florentinischen Jungfrauen, die das magische Ave des Erzengels erweckt.

Clérambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen Kreis der Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer Freude auf dem blonden geneigten Haupte ruhen, das dieser zärtlichen Betrachtung wohl bewußt war.

So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen Ring von Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der Vater war, das Idol der Familie.

 

Er wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen um sich ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude daran, zu lieben, hatte so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe und Ferne ständig bereit, daß er es nur natürlich fand, wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich war er ein großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach einem Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte er an jener vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die neue, die hellere, tat ihm wohl, und er genoß sie. Daß er das fünfzigste Jahr überschritten hatte, sah man ihm kaum an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in seinem dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war jung geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom seiner Generation zu gehen, gab er sich jeder neuen Welle hin, das Schönste des Lebens schien ihm im leidenschaftlichen Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen Jugend zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze, mit denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere stellt, denn diese Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem mehr enthusiastischen als logischen Gefühl, das überall Schönheit sah und immer von ihr trunken war. Dazu kam noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte, aber das seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang.

Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen Ideen gemacht, sympathisierte mit den radikalsten Parteien, den Arbeitern, den Unterdrückten, dem Volke – das er übrigens nicht kannte, denn er war ein reiner Bourgeois, voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch mehr als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte es, sich in ihr zu baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese letzte Neigung war nun allerdings eine ziemlich verbreitete unter den Intellektuellen von damals, die Mode unterstrich hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders ausgeprägten Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich in dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens entgegen, und selbstverständlich drückten die empfindsamsten Wesen, die Künstler und die Intellektuellen, als erste die Symptome dieser Entwicklung aus. In ihrer Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur das Merkzeichen waren.

Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren hatte viel weniger in der Politik der Herrschaft des Volkes verwirklicht als in der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit. Gegen diese Nivellierung des Geistigen hatte im ersten Augenblick die Elite der Künstler ganz richtig reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie anzukämpfen, hatte sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung und ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: Sie predigte eine seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für die Masse und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es nichts Fruchtbareres als die Flucht in die Einsamkeit, wenn man in sie ein vollwirkendes Gewissen, einen Überfluß des Gefühls, eine strömende Seele mitbringt. Aber welch ein Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des neunzehnten Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen, in die sich die mächtigen Gedanken einstens flüchteten! Diese neuen Abseitigen waren mehr damit beschäftigt, ihr geistiges Kleingeld aufzuzehren, statt es zu erneuern; um es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem allgemeinen Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald jeden Wert verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an ihnen vorbei, ohne sich um sie zu kümmern, die Kaste dieser Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei ihren raffinierten Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der Dreyfus-Krise entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten, berauschte sie der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung, wie ihre Vorgänger sie an die Abseitigkeit von der Menge wandten, stürzten sie sich in die große vorüberströmende Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei, das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen, die sie bei ihren vergeblichen Versuchen der Annäherung erlebten, bewirkten sie eine neue Strömung in der europäischen Kunst und im europäischen Geistesleben. Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht sie, die eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele hatte Breschen in den Elfenbeinturm geschossen, und die matten Persönlichkeiten der Denker kapitulierten; um vor sich selbst ihre Abdankung zu verbergen, nannten sie sie eine freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich selbst zu überzeugen, fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder auch nur bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen. Man trieb einen Kult damit, nicht mehr sein eigenes Ich zu sein, keine eigene Vernunft, keinen eigenen individuellen Willen mehr zu haben (die Freiheit galt diesen Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte damit, nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden Stromes zu sein – die einen sagten, des Stromes der Rasse, die andern, des Stromes des Instinkts oder des universellen Lebens. Und diese ansprechenden Theorien, aus denen die Geschickteren in der Kunst und Philosophie ihr Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte.

Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clérambault gewonnen. Nichts paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen und zu seiner geistigen Unsicherheit, denn für den, der sich nicht selbst besitzt, ist es leicht, sich hinzugeben; den andern, dem All, der Vorsehung, dieser unbekannten und undefinierbaren Macht, lädt man die ganze Last auf, für einen zu denken und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei, und die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen, fanden es viel einfacher und viel berauschender, sich einfach von ihm tragen zu lassen ... Wohin? ... Darüber nachzudenken mühte sich keiner ab. Schön im Warmen in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren könne. Der Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich wie die Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung erlaubte ihnen ja, ruhig zuzusehen und mit gekreuzten Armen alles geschehen zu lassen. Man gab sich dem Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte und sie unten erwartete.

Aber als guter Idealist sah Clérambault selten auf seine Füße. Das hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die Politik zu mengen, wie es ja die Leidenschaft der Literaten zu jener Zeit war. Er gab gern seinen Senf dazu, wenn ihn Journalisten, die gerade ein paar Spalten brauchten, darum angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem Wichtigkeitsgefühl in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und guter Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt, ein reines Herz und schwacher Charakter, der Bewunderung und dem Tadel sowie allen Einflüsterungen seines Milieus zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem häßlichen Gefühl des Neides und des Hasses, unfähig aber auch, es bei andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig für das Gute im Chaos der menschlichen Gefühle, war er so recht der Typus eines Schriftstellers, der geschaffen ist, den Lesern zu gefallen, weil er ihre Fehler übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht ist, und liebt die Welt von Augen gesehen, in denen das Mittelmäßige des Lebens schön wird.

Diese allgemeine Sympathie, die Clérambault beglückte, war nicht minder schön für die drei Menschen zu genießen, die in diesem Augenblick bei ihm weilten. Sie waren stolz auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man bewundert, ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten Wesen zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann unterscheidet man nicht mehr genau, inwieweit man von ihm stammt oder er von einem. Die beiden Kinder und die Frau Agénor Clérambaults betrachteten ihren großen Mann mit den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er, der sie mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs mit den ein wenig erhobenen Schultern überragte, ließ es ruhig geschehen. Er wußte, daß der Besitz Herr des Besitzers ist.

 

Clérambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen Vision der nahenden brüderlichen Menschheitsfreude. Maxime, trotz seiner Ironie von Enthusiasmus hingerissen, brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte sich geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht zu sehr erhitzt habe. Rosine, die einzig Schweigsame in der allgemeinen Erregung, legte heimlich die Lippen auf die Hand des Vaters.

Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter. Keiner hatte Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus so strahlender Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten aus dem irdischen Tag nicht sehr eilig; dennoch löste Maxime die Schleife von dem großen bürgerlichen Tagesblatt, überlas mit einem Blick die vier gedrängten Seiten und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: »Donnerwetter, es gibt Krieg!«

Keiner hörte auf ihn. Clérambault wiegte sich in den letzten Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in stiller Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf nichts dauernd achtgeben konnte und wie eine Fliege nach allen Richtungen hinflatterte, um auf gut Glück etwas aufzulesen, hörte das letzte Wort und sagte erregt:

»Maxime, sag doch keine Dummheiten.«

Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung Österreichs an Serbien.

»An wen?«

»An Serbien.«

»Ach so«, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie sagen wollte: »Was da droben im Mond vorgeht ...«

Aber Maxime gab nicht nach und bewies – doctus cum libro –, daß im nächsten Augenblick dieser ferne Brand den Funken ins Pulverfaß werfen könnte. Clérambault, der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl zu erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde. »Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren im Frühjahr und im Sommer gesehen hat ... Eisenfresser, die mit dem Säbel klirren ... Keiner glaubt an den Krieg, keiner will ihn ... Ein Weltkrieg ist ja unmöglich, das ist heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein Schreckgespenst, und man sollte es endlich aus dem Gehirn der freien Demokratien austreiben.«

Und Clérambault verbreitete sich in ausführlichen Worten über das Thema ...

Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern zirpten die Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras, ferne donnerte ein Zug. Die Glyzinen dufteten, ein Springbrunnen plätscherte murmelnd, und vor dem mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom Eiffelturm.

Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime, müde vom langen Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen Hund um die Wette, durch die offenen Fenster hörte man, wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem Gefühl Schumann spielte. Clérambault, allein zurückgeblieben, lang hingestreckt in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück, zu leben und Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser Sommernacht.

 

Sechs Tage später.

Clérambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht. Wie der Mönch in der Legende konnte er, am Fuße einer Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit offenem Mund lauschend, ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen. Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren. Im Eingang trat Maxime, ein wenig blaß und gezwungen lächelnd, auf ihn zu und sagte:

»Papa, es geht los.«

Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: die russische Mobilisation, den Kriegszustand in Deutschland. Clérambault sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. Seine Gedanken waren so weit weg von diesen traurigen Torheiten! Er versuchte die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren unwiderleglich.

Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clérambault konnte nichts essen.

Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige Gefühl der öffentlichen Meinung, die guten Absichten der Regierungen, die so oft wiederholte Ankündigung der sozialistischen Partei, die entschlossenen Worte Jaurès'. Maxime ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz woanders: Wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus auf jede Regung der Nacht ... Und es war eine so reine, eine so zärtliche Nacht. Alle, die diese letzten Abende im Juli 1914 und jenen noch schöneren des 1. August erlebt haben, bewahren in ihrer Erinnerung den wunderbaren Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing, die damals schon bereit war, sich zu zerreißen.

Es war schon fast zehn Uhr. Clérambault hatte aufgehört zu sprechen. Sie schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie beschäftigt oder bemüht, es zu scheinen, die Frauen mit einer Handarbeit, Clérambault mit einem Buch, das er aber nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die Terrasse getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf den schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht im Dunkel der Alleen.

Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man verlangte Clérambault. Er ging mit schweren Schritten, bedrückt und zerstreut, zum Apparat. Anfangs verstand er nicht.

»Wer spricht? ... Ach, Sie sind's, lieber Freund? ...« Ein Pariser Kollege telephonierte aus der Redaktion seines Blattes.

Clérambault verstand noch immer nicht:

»Ich verstehe nicht ... Jaurès? ... wirklich Jaurès? ... O mein Gott ...!«

Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von fern dem Gespräch zuhörte, stürzte an den Apparat, um das Hörrohr aus der Hand des Vaters zu nehmen, das Clérambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken lassen. »Hallo! Hallo! ... Was sagen Sie? Jaurès ermordet ...!« Ausrufe der Trauer und des Zornes kamen durch den Draht. Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit geknickter Stimme den Seinen wiederholte. Rosine hatte Clérambault an den Tisch zurückgeführt. Wie zerbrochen setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren Unglücks lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war nicht nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte – sein gutes, heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme, die alles Trübe hinwegfegte ... es war Trauer auch um die letzte Hoffnung der bedrohten Völker, um den einzigen Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit kindlichem und rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte beschwichtigen können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam als ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel ein.

Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von Paris holen und versprach, noch in der Nacht zurück zu sein. Clérambault blieb im einsamen Haus zurück, aus dem man von fern die große Lichtausstrahlung der Stadt sehen konnte. Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in den er in einem Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon da. Seine Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu gehen, er wollte nichts davon hören. Seine Lebensidee war in Trümmer, nichts Festes, nichts Sicheres konnte er mehr unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem Gedanken folgen. Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht zu erkennen, was noch aufrecht geblieben, und es schien ihm: nichts! Ungeheuerliche Massen von Leid – das war alles. Und Clérambault betrachtete sie mit stumpfem Blick, ohne die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen herabrollten. Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte ihn gepackt. Um ein Uhr nachts kam Frau Clérambault, die sich schon schlafen gelegt hatte, ihren Mann holen, und es gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames Schlafzimmer zu führen. Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß Pauline eingeschlafen war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand er wieder vom Bett auf und kehrte in das Nachbarzimmer zurück. Er stöhnte, er seufzte, seine Qual war so drückend und dicht, daß sie ihm keinen Raum zum Atmen ließ. Mit dem prophetisch überreizten Gefühl des Künstlers, der oft deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht, umfing er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken und gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen den größten Völkern der Welt schien ihm der Bankrott der Zivilisation, Vernichtung seiner heiligsten Hoffnung auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit Entsetzen erfüllte ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre kostbaren Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte dem bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches Sterben war es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft mit den Millionen Unglücklicher. Wozu also, wozu die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere erdrückte ihm das Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn sein Glaube an die menschliche Vernunft und die gegenseitige Liebe zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo des Lebens und der Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum und die wahre Lösung des Welträtsels ein dumpfer Pessimismus sei, und er fühlte sich zu schwach, zu feige, dieser Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte ihm ins Gesicht. Und Clérambault betete – er wußte nicht zu wem, und nicht, um was –, daß es nicht geschehen möge, daß es nicht wahr sei. Alles lieber als eine solche Wahrheit! Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der Tür, die sich auftat. Clérambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr den Eingang zu sperren ...

Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt in ihm zu keimen, der aus einer unbekannten Tiefe kam und die Verzweiflung abzulenken suchte in das dumpfe Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für dieses Unglück zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen Zorn über das Unglück der Menschheit zu entladen ... Nur ein kurzes Aufflammen war es, aber dennoch schon erste ferne Ausstrahlung einer fremden, dunklen, gewalttätigen und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte – der Massenseele ...

Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes an, der von ihrem Dunst durchdrungen war, den er in der Nacht in den Straßen von Paris eingesogen. Alle Falten seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war davon durchdrungen. Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht niedersetzen, er dachte nur daran, schon abzureisen. Heute würde ja das Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war notwendig. Er war eine Wohltat. Man mußte einmal Schluß machen. Die Zukunft der Menschheit stand auf dem Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war bedroht. Sie hatten die Ermordung Jaurès' ausgedacht, um das überfallene Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber die ganze Nation stand wie ein Mann hinter den Führern. Die herrlichen Tage der großen Revolution würden sich erneuern ... Clérambault widersprach keiner Behauptung, kaum daß er sagte:

»Meinst du? Bist du wirklich sicher?«

Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte ja sagen und noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten das Chaos noch und trieben es zum Äußersten. Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten Geisteskräfte auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie das erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde zusammenrottet.

Clérambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde anzuschließen, sich zu reiben an den Menschenwesen, seinen Brüdern, so wie sie zu fühlen, so wie sie zu handeln. Obwohl er vom vorigen Abend noch erschöpft war, ging er trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort, um den Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof, lange im Zug warten. Die Geleise waren verstellt und die Waggons überfüllt. In der allgemeinen Erregung fanden die Clérambaults eine gewisse Entlastung. Er fragte, er hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle, ohne zu wissen, was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß dasselbe Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war nicht mehr allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu unterliegen, und das beruhigte, das erleichterte ein wenig. Sie fühlten alle die gegenseitige Wärme. Es gab keinen Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und Arbeiter, man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich nur in die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete, wo derselbe Schauer des Todes schattete. Und alle diese armen Leute waren so sichtlich den Ursachen der Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie ganz einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen. Auch das war eine Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen.

Als Clérambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt der Todesqual der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische und männliche Melancholie.

Aber er stand erst vor der ersten Stufe.

 

Das Dekret der allgemeinen Mobilmachung war soeben an die Türen der Gemeindehäuser angeschlagen worden. Schweigend lasen es die Leute, lasen es noch einmal und gingen, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der angstvollen Erwartung der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen, um die Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten und sich, wenn die Blätter endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war dies endlich Gewißheit, und sie bedeutete eine Entspannung. Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt, ohne zu wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal da ist, atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift sich die Hemdsärmel auf zum Kampf. Es gab einige Stunden mächtiger Sammlung, Paris hatte wieder seinen Atem und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die einzelnen Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom, dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen. Clérambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken mit einem einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof getreten war und den Fuß auf das Pflaster gesetzt hatte, ohne daß irgendein Wort fiel, ohne Geste, ohne Zufall. Die ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in ihm. Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es wußte sich (oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen Herzen glühten in dieser ersten Stunde, wo der Krieg noch jungfräulich war, von Ernst und heiligem Enthusiasmus. In diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte sich das Gefühl des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die eigene Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich das Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen, die ein Stück seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder, Geliebte, alle waren sie aneinander, Leib an Leib, gepreßt, zusammengepreßt durch die übermenschliche Umklammerung, und sie fühlten das Bewußtsein des Riesenkörpers, der ihre Einheit bildete, und die Erscheinung des Phantoms über ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war – das Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx oder der assyrische Stier – aber in jenem Augenblick sah jeder nur seine leuchtenden Augen, seine Pranken waren verborgen. Es war das göttliche Untier, in dem jeder Lebendige sich vervielfältigt fand, die mörderische Unsterblichkeit, denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr weiterleben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm umwölktes Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in der Luft wie Wein, und jeder brachte in die Kufe der großen Weinlese seinen Korb, seine Frucht, seine Rebe, seine Ideen, seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen Vorteil. Es gab wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel Schmutz unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein glühte wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clérambault trank davon bis zum Übermaß.

In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele nicht verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum daß er mit sich allein war, fand er sie wieder zurück, stöhnend unter ihrer Qual wie von einer Wunde. Darum ließ ihn auch sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte sich darauf, nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug seine Wohnung wieder in Paris auf, im fünften Stock der Rue d'Assas. Er wollte nicht einmal eine Woche warten, nicht einmal zurückkehren und bei der Übersiedlung helfen, so sehr brauchte er diese tierische Warme, die von Paris aufstieg und die bis in seine Fenster hineindrang. Jede Gelegenheit war ihm willkommen, um sich in den warmen Strom hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich den Gruppen anzuschließen, den Manifestationen zu folgen und sich auf gut Glück alle Zeitungen zu kaufen, die er sonst in gewöhnlichen Zeiten verachtet hatte. Wenn er dann zurückkam, spürte er sich immer mehr entpersönlicht, mehr unempfindlich geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem inneren Haus – seinem Ich. Und deshalb fühlte er sich auf der Gasse wohler als daheim.

 

Frau Clérambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt. Gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft nahm Clérambault Rosine auf die Boulevards mit.

Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg hatte begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große Lügnerin, die Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem Maul zu ihr aufstarrten, mit vollem Schwung den Alkohol kurzlebiger Siege und vergifteter Berichte. Paris war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach bis zur Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt, in den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines Fähnchen für einen Sou wie eine Blume am Hut.

An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem seltsamen Zug. Vorne marschierte ein großgewachsener Greis mit weißem Bart, ein Banner in der Hand. Er ging mit großen, geschmeidigen und rhythmisch abgehackten Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte eine kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter und Bürger, Arm in Arm, ein Mädel wurde hoch auf den Schultern getragen, ein roter Dirnenschopf zwischen der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines Soldaten. Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben, den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus denen die Marseillaise dröhnte. Rechts und links flankierten verdächtige Gesichter vom Bürgersteig den Zug, bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der zerstreut die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen, wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge anschloß; lachend und laut sprechend zog er seine junge Tochter am Arm mit sich, ohne den Druck der erschreckten Hand zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen versuchte.

Heimgekehrt, blieb Clérambault gesprächig und aufgeregt. Er sprach ganze Stunden hindurch. Die beiden Frauen hörten ihm geduldig zu. Frau Clérambault gab wie gewöhnlich nicht recht acht und sagte zu allem ja. Rosine hörte zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war wie ein tiefer Weiher, der langsam gefriert.

Clérambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde war er noch gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb ihm aber immer noch genug Hellsichtigkeit übrig, um manchmal über die Fortschritte seiner Begeisterung zu erschrecken. Der Künstler ist durch seine Sensibilität mehr als ein anderer allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben, aber er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst jener, der sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt mehr oder minder eine Fähigkeit der Einsicht, von der Gebrauch zu machen ihm selbst anheimgegeben bleibt. Verzichtet er darauf, so ist es Mangel an Willen und nicht an Kraft: dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein Bild zu finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene. Menschen aber, die wie Clérambault statt psychologischer Begabung nur die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich geschützt, um ihre Ekstasen überwachen zu können. Eines Tages, als er allein spazierenging, sah er auf der anderen Seite der Straße einen Zusammenlauf. Menschen drängten sich um eine Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig ging er über die Gasse hinüber; auf dem anderen Trottoir kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen unsichtbaren Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den Wirbel hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses Mühlrades war, so wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden Felge; noch vollkommen bewußt, bemerkte er, daß seine Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne. Inmitten des wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte, und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge kannte, fühlte er selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob es sich um einen Spion handelte oder um einen unvorsichtigen Schwätzer, der die Volksleidenschaft aufgeregt hatte. Aber man schrie rings um ihn her, und er merkte, daß ... ja, daß er selbst, Clérambault, plötzlich schrie:

»Schlagt ihn nieder!«

Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück, ein Wagen drängte ihn einen Augenblick von dem Knäuel, und als er den Weg wieder frei fand, entfernte sich schon die Meute mit ihrem Opfer. Clérambault sah ihnen nach und hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich ...

Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute sich. In seinem Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit bewußt zu nähren. An seinem Arbeitstisch glaubte er sich in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht die Ansteckungsgefahr dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster, durch die Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor sie etwas gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die Stadt betreten, andere wieder brauchen sie bloß einmal im Vorübergehen gestreift zu haben: Die Ansteckung wirkt dann schon selbsttätig auch in der Isolierung fort. Clérambault, obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre gewöhnlichen ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und zärtliche Mensch haßte, haßte aus Liebe. Im geheimen versuchte seine nicht sehr originelle, aber glühende und aufrichtige Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre Haßinstinkte durch Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner Beziehung, ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die Ungerechtigkeit und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen. Er versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges hinnehmen, ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum seine Friedensliebe von gestern, seinen Menschenkult von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu verleugnen. Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja nichts, was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden vermöchte. Fühlt jemand die zwingende Notwendigkeit, für einige Zeit moralische Grundsätze, die ihm lästig sind, von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen, die die Regel bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann Clérambault sich eine Weltanschauung, ein absurdes, paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die Widersprüche irgendwie auflöste, indem er sich sagte: »Der Krieg gegen den Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.«

 

Eine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines Sohnes. Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle heroischer Freude riß seine Generation hin. Zu lange hatte sie schon – sie wagte schon gar nicht mehr zu hoffen – gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat und zur Aufopferung.

Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten, diese Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert. Sie erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen und verpfuschten Jugend, die nur erfüllt war von kleinlichem Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und schalen Genüssen. Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten, schrieben sie dem Krieg das Aufblühen all dieser Tugenden zu, die seit zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit aufwuchsen und die dieser Krieg nun niedermähen sollte. Selbst neben einem so großzügigen Vater wie Clérambault war Maxime immer verdunkelt gewesen. Clérambault war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes Ich zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte, wirklich gut erkennen und ihnen helfen zu können. Er brachte ihnen den heißen Niederschlag seiner Ideen, aber er verstellte ihnen das Licht.

Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen Kraft, suchten vergebens eine Betätigung und fanden sie nicht in der Linie des Ideals selbst ihrer besten Väter und Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei eines Clérambault war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr und ohne Kraft, wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer Generation entstehen konnte, die im geschwätzigen Frieden der Parlamente und Akademien hingealtert war. Die Gefahren der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen, aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten und noch weniger die eigene Haltung im voraus festzulegen für den Tag, da das Verhängnis wirklich einbrechen sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft, zwischen den entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu entscheiden. Man war gleichzeitig Patriot und international, man baute gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und in Wirklichkeit Panzerschiffe. Alles wollte diese Generation verstehen, mit allem verbunden sein, alles lieben. Nun mochte ja dieser verwässerte Whitmanismus ästhetisch seinen Wert haben, aber seine praktische Unentschlossenheit bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung keine bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben Stelle herum, erregt von der ungewissen Erwartung und der Sinnlosigkeit ihrer hinrinnenden Tage ...

Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie jubelten ihm zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings folgten sie ihm nach. In den Tod gehen, gut; aber nur überhaupt gehen, denn gehen heißt leben. Die Bataillone zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden mit Grün. Die Zurückgestellten boten sich freiwillig an, Knaben drängten sich zum Dienst, und ihre eigenen Mütter stießen sie dazu. Man hätte glauben können, es sei eine Abreise zu den Olympischen Spielen.

Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die gleiche. Hier wie dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland, Gerechtigkeit, Freiheit, Fortschritt, die paradiesischen Träume einer erneuerten Welt, jene ganze Phantasmagorie mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften junger Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere darüber streiten, sie waren sich selbst lebendiger Beweis; denn wer sein Leben hingibt, braucht kein anderes Argument.

Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren, meinten, ihr Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht, um die Wahrheit zu ergründen, sondern um den Sieg zu sichern. In den Kriegen von heute, die ganze Völker mitreißen, ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden. Er tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet über Land und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte: er ist gewissermaßen die schwere Artillerie, die auf weite Distanzen hin arbeitet. Selbstverständlich richtete auch Clérambault seine Geschütze. Für ihn war es längst nicht mehr wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den ganzen Horizont zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er war vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen zu müssen.

Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die im letzten aus einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clérambault in allem, was er sah, hörte oder las, Argumente, um seinen festen Entschluß, an die Heiligkeit der nationalen Sache zu glauben, noch stärker und stählerner zu machen. Er suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war, daß demnach den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Frieden sei. Die Beweise dafür fehlten ihm nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur die Augen immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter Stelle zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man sehen will. – Aber dennoch: Clérambault war im letzten Grunde nicht ganz befriedigt. Nur fand das geheime Unbehagen seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an allen diesen halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen keinen andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren Erregung gegen den Feind. Gleichzeitig aber – so wie von den beiden Eimern eines Brunnens der eine steigt, wenn der andere hinabgeht – wuchs auch sein patriotischer Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen Trunkenheit seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte.

Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten in den Zeitungen, die ihm seine neuen Thesen bekräftigen könnten. Obwohl er doch eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig die Wahrhaftigkeit dieser Zeitungen war, so bezweifelte er doch nie irgendeine Behauptung, sobald sie seiner gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen: »Das Schlechte ist eben das Rechte.« In gewissem Sinne wurde er Deutschland geradezu dankbar, wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung für die Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon im voraus ausgesprochen hatte.

Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch nie hatte ein Staat im Kriege es eiliger gehabt, die Meinung der ganzen Welt gegen sich zu entfesseln. Diese blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft erstickte, hatte sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen, zog gleich mit den ersten Schritten einen Kreis methodischen Schreckens um sich. Alle Brutalität des Instinkts und des Glaubens war bewußt von jenen aufgestachelt worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren und Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer eins mit dem Verbrechen sein. Aber Deutschland organisierte es, so wie alles, es erhob den Totschlag und das Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger Mystizismus aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein Öl ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert, um die Welt zu vernichten und zu erneuern. – Die Erneuerung begann in Belgien, und in tausend Jahren wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt erlebte das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als zweitausendjährige Zivilisation Europas unter den brutalen und berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach, die eine ihrer Führerinnen war – Deutschlands, das so reich an Intelligenz, Wissenschaft und geistiger Macht gewesen und das in fünfzehn Kriegstagen sich dienstfertig erniedrigt hatte. Aber was die Organisatoren der deutschen Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera von einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen und, in den Feindesländern einmal heimisch, nicht mehr zu entfernen sein würde, ehe nicht ganz Europa davon angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar geworden war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses erbitterten Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger, besser genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres Wirkungsfeld, und sie wütete furchtbar; und als das Gift sich in Deutschland abzuschwächen begann, war es schon in die anderen Nationen in Form eines langsamen und zähen Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer wühlte und bis in die Knochen hineinsickerte.

Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten unverzüglich die Übertreibungen der Schwätzer in Paris und überall. Wie homerische Helden waren sie, mit der einzigen Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie schrien dafür um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung, ja man leugnete sogar gegenseitig die vergangene Leistung. Der erbärmlichste Akademiker arbeitete wie ein Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen, die längst im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu beschimpfen.

Clérambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein ... Und doch gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern, die vor dem Kriege europäische Verbindungen gehabt und dessen Werke Sympathien in Deutschland gefunden hatten. Als rechtes, altes, verwöhntes französisches Kind, das sich ja nie die Mühe gibt, die anderen aufzusuchen, allzu gewiß, daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine andere Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf, wenn sie vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei von allen nationalen Vorurteilen, und die innere Intuition ersetzte genug die Lücken seiner Bildung, daß er hingebungsvoll ausländische große Geister bewundern konnte. Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem mißtrauen müsse (»Schweig, sei immer vorsichtig!«), seit er hörte, daß Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen, wagte er nicht mehr ohne offizielle staatliche Garantie irgend etwas zu bewundern. Die sympathische Bescheidenheit, die ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des Evangeliums allem vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer öffentlich mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen einer unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne mit den Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen der Intellektuellen seines Landes, die jetzt die Kunst, die Wissenschaft, den Geist und die Seele des andern Landes durch Jahrhunderte zurück durchwühlten und zu Boden stampften – die ganze Arbeit rasender Böswilligkeit, die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie fand, falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten Männer wegnahm und sie irgendeiner anderen Nation zuwies.

Clérambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich, und (freilich, dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen jubelte er.

 

Um für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und sie mit neuen Argumenten zu nähren, beschloß Clérambault, seinen Freund Perrotin aufzusuchen.

Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute selten geworden sind und die einen Ruhmestitel der französischen Hochschule bildeten, einer jener großen Humanisten, deren weitblickendes und scharfes Wissensbedürfnis mit ruhigem Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend und klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart entgangen wäre – die ihn eigentlich am wenigsten interessierte –, wußte er jedem ihrer Geschehnisse seinen Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als das Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem großen Blatt. Da er aber nicht Gärtner, sondern nur wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er sich nicht verpflichtet, die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit allen ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für literarische Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine Wissenschaft, weit entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur diese Neigung dadurch, daß sie seinen Gedanken ein festes und begrenztes Feld lebensvoller Vergleiche und Proben bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition von Gelehrten, die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris reichte. Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen Gesellschaften, hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse über die bloßen Literaten und über seine wissenschaftlichen Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines sicheren und klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die meisten von ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen Kuppelhalle getreten waren, schon aller Verpflichtung, weiterzulernen, ledig: mitten in seiner gereiften Meisterschaft fühlte er sich noch immer als Schüler. Schon zur Zeit, als Clérambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht gekannt war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die, wenn sie (was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit verächtlichem Lächeln taten – schon damals hatte er ihn sich entdeckt und in sein Herbarium eingegliedert. Einige Bilder hatten ihn stutzig gemacht, die Originalität mancher Wortwendung, der primitive und gewissermaßen nur naiv komplizierte Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an, schließlich interessierte ihn dann der Mann selbst. Clérambault, dem er ein glückwünschendes Wort hatte zukommen lassen, eilte, überströmend von Erkenntlichkeit, ihm zu danken, und zwischen den beiden Männern entspann sich allmählich eine Freundschaft.

Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clérambault mit seiner lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz, die vom Herzen kam, und Perrotin, der durchdringende Geist, der sich niemals von der Leidenschaft der Phantasie verwirren ließ, aber beide verband die gemeinsame Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle Rechtschaffenheit sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft, die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem möglichen Erfolg, der ihr entspringen konnte. Freilich hatte das Perrotin niemals, wie man sehen konnte, gehindert, Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren gleichsam auf ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch nicht zurück und verabsäumte nichts.

Clérambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen Ideen eines chinesischen Philosophen von all den nachträglichen Umhüllungen rein loszulösen, unter denen sie die Lesarten und Erläuterungen von Jahrhunderten verborgen hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein gewohntes war, kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: Ein Ideal wird ja immer dunkler, wenn es von Hand zu Hand geht.

In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut und sehr höflich Clérambault. Selbst wenn er in Salons anderen zuzuhören schien, trieb er immer Textkritik. Seine Ironie vergnügte sich dabei auf fremde Kosten.

Clérambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis. Sein Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der offenkundigen moralischen Minderwertigkeit der feindlichen Nation, und es war eigentlich nur noch dies für ihn eine Frage, ob man darin den unheilbaren Niedergang eines großen Volkes erkennen sollte oder einfach ein Barbarentum feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber sich nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clérambault neigte zur letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen, machte er Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige Verletzung der belgischen Neutralität und für die Verbrechen der deutschen Armee verantwortlich. Wie man gemeinhin zu sagen pflegt: Er hatte die Nase nicht selbst hineingesteckt, da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch von Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität der Akademiker. Als Ausnahme ließ er einzig Beethoven gelten, weil er ein Flame war, und Goethe als Bürger einer Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur Hälfte französisch war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun wartete er auf eine Zustimmung.

Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf eine Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin lächelte, hörte zu, betrachtete Clérambault mit einer gutmütigen und neugierigen Aufmerksamkeit. Er sagte nicht nein und sagte nicht ja. Bei einigen Behauptungen machte er vorsichtige Einschränkungen, und als Clérambault ihm ganz hitzwütig die Aussagen zeigte, die von zwei oder drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben waren, machte er nur eine kleine Gebärde, die sagen konnte: »Ach, solche Dinge gibt's in Menge.«

Clérambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte auch Perrotin den Ton, bezeigte ein »lebhaftes Interesse« für die »sehr interessanten« Bemerkungen seines »verehrten Freundes«, nickte mit dem Kopf zustimmend zu allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit vagen Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man nicht widersprechen will.

Clérambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden, fort.

Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder seiner sicher, als er einige Tage später den Namen Perrotins unter einem leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen die Barbaren fand. Er nahm den Anlaß wahr, um ihn zu beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit einigen vorsichtigen und sybillinischen Worten:

»Mein verehrter Herr – (er benutzte immer in seinen Briefen die zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von Port-Royal) –, ich bin immer bereit, den Wünschen des Vaterlandes zu gehorchen; sie sind Befehle für mich. Auch mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es die Pflicht eines guten Bürgers ist ...«

 

Eine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Krieges war, daß er neue Bindungen zwischen Menschen erzeugte. Leute, die nicht einen Gedanken gemeinsam hatten, entdeckten plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren; und sobald sie sich zusammenscharten, wurden sie einander wirklich ähnlich. So entstand, was man die Union Sacrée, die »heilige Eintracht«, nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten, Anarchisten, Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich ihr wirkliches Ich, ihre Leidenschaften, Narrheiten und Feindseligkeiten. Sie wechselten die Haut, und man sah sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich unerwartet wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen Magneten zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren plötzlich verschwunden, und man staunte gar nicht darüber, sich plötzlich einem Fremden näher zu fühlen als den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß die Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im Dunkel des Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig bekannten Region, zu der die Beobachtung selten hinabsteigt. Unsere Psychologie beschäftigt sich ausschließlich mit jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des Unbewußten herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit, ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft und Blüte der Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar eingegraben und mit den Füßen anderer Pflanzen verschlungen. Diese ganze tiefe (oder niedere) Region der Seele ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht merkbar, die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So trat zum Beispiel bei Clérambault eine plötzliche Intimität mit einem Bruder seiner Frau zutage, den er bisher, und mit gutem Recht, als Typus eines echten Philisters betrachtet hatte.

Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager, ein wenig gekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle Farben, schütteres Haar, sein Gesicht war voll kleiner Falten, die sich nach allen Richtungen überquerten wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und war beständig verschnupft. Seit dreißig Jahren war er Staatsbeamter, und seine ganze Karriere war im Schatten eines Hofes im Ministerialgebäude dahingegangen. Im Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber er war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer Fortschritt war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es keine Möglichkeit mehr, diesem Leben zu entrinnen, und jetzt war er endlich Unterdirektor geworden, was ihm erlaubte, nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er hatte fast gar keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und aufgehäuften Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte keinen Freund, denn sein Menschenhaß behauptete, es gäbe keine, außer solchen aus Interesse. Seine einzige Zuneigung galt der Familie der Schwester, und auch diese äußerte sich nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand; denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit diejenigen, die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie jene leiden sehen, nicht müde werden, ihnen zu beweisen, daß sie durch eigenes Verschulden unglücklich seien. Bei den Clérambaults machte er nicht sehr viel Effekt damit, ja es mißfiel Frau Clérambault, die ein wenig träge war, sogar nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf, so wußten sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken begleitet waren: So steckten sie die Geschenke ein und ließen das übrige auf sich niederprasseln.

In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus' im Laufe der Jahre einige Veränderungen durchgemacht. Als seine Schwester Clérambault heiratete, hielt Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein unbekannter Dichter schien ihm nicht jemand »Ernst-zu-Nehmender«. Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur ein Vorwand, um nicht zu arbeiten ..., natürlich, wenn man »bekannt« ist, das ist dann etwas anderes! Camus verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse aus den Chatiments und einige von August Barbier auswendig, die aber waren »bekannt«, und »bekannt sein« ist eben alles. Nun geschah es aber eines Tages, daß Clérambault »bekannt« wurde. Camus erfuhr es durch seine eigene Zeitung. Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen lassen, die Gedichte Clérambaults zu lesen. Er verstand sie nicht, aber er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er sich brüsten, noch von der »alten Schule« zu sein und sich dadurch überlegen dünken. Es gibt ja viele dieser Art, die sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen Stolz zu machen wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der eine auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er nicht hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clérambault »schreiben« könne (er mußte es ja verstehen, da er auch vom Fach war). So hatte er im gleichen Maße, wie die Zeitung ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er hatte immer schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte geachtet, und was ihm besonders an diesem großen (denn jetzt nannte er ihn plötzlich so) Dichter gefiel, war seine offenkundige Unfähigkeit in Geschäftsdingen, seine praktische Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister, und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clérambault hatte ein naives Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen, und nichts war Camus und seinem aggressiven Pessimismus willkommener als diese Eigenschaft. Dies hielt ihn immer in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin, Clérambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken, aber sie hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man anfangen, sie von neuem zu zerstören. Camus ärgerte sich darüber, aber mit einem geheimen Vergnügen. Er brauchte immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu können, daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren, vor allem aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen Augen. Dieser Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne eigentlich sagen zu können, wen oder was er an ihre Stelle gewünscht hätte. Die einzige Form der Politik, die ihm verständlich war, blieb die Opposition. Er litt eben daran, sein Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten zu pflegen oder als Wächter über das kleine Landvolk seinen Autoritätsdrang auszuleben. Aber es war damals der Rost über die Weingegend gekommen, andererseits lockte der dumme Stolz zur Bürokratie, so war die Familie in die Stadt übersiedelt.

Jetzt hätte er zu seiner wirklichen Natur nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen, und hätte er es selbst vermocht, so wäre sie daran verkümmert. Weil er seinen Platz in der sozialen Gesellschaft nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür verantwortlich; er diente wie tausend Beamte dem Staate als schlechter Diener, als heimlicher Feind.

Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer, verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch den Krieg ganz außer sich geraten sein, aber gerade das Gegenteil trat ein: Der Krieg beruhigte ihn. Für die wenigen freien Geister, die auf das Weltall hinblicken, war die Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den Feind ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die in der schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus leben, ist der Krieg eine Erhebung, er trägt sie zur höheren Stufe des zielvollen, des organisierten Egoismus empor. Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl auf, zum erstenmal nicht allein auf der Welt zu sein.

Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der in den gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit entgeht. Alle anderen Instinkte, alle natürlichen Triebe, das Verlangen zu lieben und zu handeln, werden in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder gezwungen, durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu gehen. Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich zurückwendet, um seine einstigen Neigungen zu betrachten, und sieht auf ihnen die Brandmarken seiner Niederlage und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer und seiner selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des Vaterlandes bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet, er tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt. Wenn er aber einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt, und die Seele, die sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich die Glut aller ihrer niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte, Liebe, Verlangen und Ehrgeiz entgegen, die das Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert unterdrücktes Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des sozialen Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal ... die alten Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken ihre erstarrten Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben, ins Freie zu stürzen und zu schreien. Das Recht? Sie haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen zu lassen, als mächtige, stürzende Masse. So werden plötzlich die Millionen einzelner Schneeflocken zur Lawine.

Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bürochef ging ganz in ihr auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft, ohne Gewalttätigkeit. Er fühlte plötzlich eine große Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich »wohl«, körperlich wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war verschwunden. Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte den ganzen Winter – ein nie dagewesener Fall – ohne Schnupfen, man hörte ihn nicht mehr das und jenes bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht über alles, was geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige Ehrfurcht überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus, vor diesem Wesen, das das seine war, nur noch stärker, schöner und besser, er fühlte sich brüderlich mit allen jenen, die durch ihren Zusammenhang dieses Wesen bildeten wie ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er beneidete die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland zu verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen Neffen Maxime, der sich heiter rüstete, und am Bahnhof, als der Zug die jungen Menschen wegführte, umarmte er Clérambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre Söhne begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und von Glück zugleich standen in seinen Augen. In diesen Stunden hätte Camus alles hingegeben. Es waren seine Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame Seele, die es sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte Leben nahe kommen und umfaßt es ... Doch das Leben geht weiter. Das Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan, zu dauern. Aber wer einmal das Leben in einer solchen Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von dieser Erinnerung und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben. Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede sein Feind, und Feinde alle, die den Frieden wollten.

 

Clérambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus. Sie tauschten sie so vollkommen aus, daß Clérambault am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die seinen gekommen waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so zwingender empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn die beste Form, sich zu betätigen ... Sich zu betätigen ...? Verhängnisvollerweise war es Camus, den er betätigte. Trotz seiner Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war er doch nur ein Echo geworden, und ein Echo welch erbärmlicher Stimmen!

Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten ja damals die Dichter hinter der Front. Ihre Schöpfungen laufen allerdings nicht Gefahr, das Gedächtnis der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in ihrer früheren künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen zu solcher Aufgabe, und, wenn sie auch das möglichste taten, um ihre Stimmen aufzublähen und alle Register der Rhetorik spielen zu lassen, die Soldaten im Schützengraben zuckten doch darüber die Achseln. Aber den Leuten des Hinterlandes gefiel ihr Pathos viel besser als jene lichtlosen und gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem Schützengraben kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte damals noch nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre Wahrheit aufgezwungen. Für Clérambault bedeutete es keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf der Beredsamkeit die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit, die die Dichter von der Wirklichkeit trennt, indem sie sie mit ihrem Spinnennetz umhüllt. In Friedenszeiten hing dieses unschuldige Netz an Busch und Baum, der Wind klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren Maschen nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da die Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon zahnlosen) Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres Netzes ein bösartiges Tier eingefangen, dessen Auge auf eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß und die heilige Schlächterei. Clérambault tat wie die anderen, sogar besser als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch schließlich dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht hatte. Den Haß »endlich zu kennen« (es war das »erkennen« im biblischen Sinn), dieses neue Gefühl hatte etwas vom Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast empfindet, wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause herauskommt. Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer Mann. Und wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der Niedrigkeit der anderen ähnlich zu sein.

Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren Camus vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus wieherte vor Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin. Clérambault fühlte sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte, in einem Rhythmus mit dem Volke zu fühlen und ganz in sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger verbrachten die Abende zusammen. Clérambault las vor, Camus trank die Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem, der es hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes dieser Gedichte bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung enthob die anderen Mitglieder der Familie davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine suchte immer nach einem Vorwand, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen, wenn die Vorlesung zu Ende war, was der Eigenliebe Clérambaults nicht entging. Er hätte gern den Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es aber klüger, sie nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst ein, daß dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei. Aber doch, es verstimmte ihn. – Bald aber ließ ihn die Zustimmung des Publikums diese kleine Peinlichkeit vergessen. Seine Gedichte waren in den großen bürgerlichen Blättern erschienen und wurden für Clérambault der glänzendste Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus hervorgerufen. Ein Dichter ist ja immer geneigt, seinem letzten Werk den Titel seines besten zugebilligt zu hören, und ist es in noch höherem Maße, wenn er selbst weiß, daß es das wertloseste ist. Clérambault war sich darüber vollkommen im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast kindlichen Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends ließ er sie laut von Camus im Familienkreise vorlesen. Er strahlte vor Vergnügen. Am liebsten hätte er gesagt, sobald Camus fertig war: »Noch einmal.«

Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen kam von Perrotin. Natürlich redete sich Clérambault ein, er hätte sich in ihm getäuscht, er sei kein rechter Freund. Der alte Gelehrte hatte allerdings Clérambault, der ihm den Band seiner Kriegsgedichte zugeschickt hatte, in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein großes Talent, sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes Werk sei. Ja, er riet ihm sogar, »nun, nachdem er der kriegerischen Muse seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des reinen Traumes, losgelöst von der Gegenwart, zu schreiben«. Was wollte er damit sagen? Gehört sich das, daß, wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert, man ihm antwortet: »ich möchte ein anderes lesen, das diesem nicht gleicht«? – Clérambault sah darin ein neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit des Patriotismus, die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich sein Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der Krieg sei die Goldprobe der Charaktere, eine Umwertung der Werte, wo man auch die Freundschaft neu prüfen müsse, und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der Verlust eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung eines Camus und so vieler neuer Freunde, die geistig freilich minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten und warmen Herzens ...

Und doch, oft in der Nacht hatte Clérambault Minuten der Bedrängnis und Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt und gedemütigt auf. Er fühlte sich unzufrieden und beschämt ... Aber weshalb denn? Tat er denn nicht seine Pflicht?

 

Die ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel, von dem ein Tropfen genügte, um alle Mutlosigkeit entschwinden zu lassen. Man lebte ganz in ihnen während der langen Zwischenräume, in denen seine Nachrichten eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen, wo eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll werden konnte, teilte sich doch diese feine Zuversicht (die er vielleicht aus Liebe zu den Seinen oder aus einem Aberglauben übertrieb) allen mit. Seine Briefe strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude, die ihren Gipfel in den Tagen erreichte, die dem Sieg an der Marne folgten. Die ganze Familie war gleichsam gegen ihn hingestreckt, ein einziger Körper, eine Pflanze, deren Blüte in Licht getaucht ist und zu der der Schaft zitternd in mystischer Verehrung emporsteigt ...

Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen badete, die gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen waren und die nun das Schicksal in den teuflischen Feuerkreis des Krieges warf! Es war das Licht des Todes oder des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große, zarte, verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit sich wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten Genuß in den Entbehrungen und harten Anforderungen seines neuen Lebens. Begeistert von sich selbst, kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig großsprecherischen Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern entzückten. Nun war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen Idee hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen. Aber die plötzliche Verwandlung ihres Kleinen in einen Helden gab ihnen eine Fülle nie gefühlter Zärtlichkeit. Und trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Ekstase ihres Maxime beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben, das zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime hatte für jene Zeit eine amüsante Verachtung. Sie schien ihm eng, klein, lächerlich, wenn man einmal gesehen hatte, was »da draußen« vorging ... »Da draußen« war man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten Erde zu schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden, sich um drei Uhr früh auf die Beine zu machen und sie mit dreißig Kilometer Marsch zu erwärmen, mit dem Tornister auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis zehn Stunden zu nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den Feind zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche hinzupfeffern ... Der kleine Cyrano erzählte, daß der Kampf geradezu eine Erholung nach dem Marschieren sei, und er schrieb über ein Scharmützel wie über ein Konzert oder ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der Krach ihres Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die Paukenschläge im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie, und wenn diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch, bösartig oder bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit über ihren Köpfen ihre Luftmusik machten, hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus dem Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es gab keine Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren frisch. Wenn endlich das lang erwartete »Vorwärts marsch!« ertönte, sprang man mit einem Ruck leicht wie eine Feder auf zur nächsten Deckung, quer durch den Eisenschauer, mit einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der das Wild wittert. Man kroch auf allen vieren, man schlängelte sich auf dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus, machte schwedische Gymnastik durch die Verhaue, und das ließ einen vergessen, daß man nicht mehr marschieren konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was, es ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht? »Langweilig ist im Krieg nur«, so beschloß der kleine gallische Hahn seine Erzählung, »das, was man auch im Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der Landstraße.«

So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des Feldzuges, die Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges. Hätte er weiter angedauert, so wäre vielleicht die Rasse der Sansculotten der Revolution neu erstanden, die, sobald sie einmal für die Eroberung der Welt ausgezogen waren, nicht mehr haltmachen konnten.

Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblick an, wo sie in den Schützengräben eingepökelt waren, änderte sich der Ton. Er verlor seinen Schwung, seine knabenhafte Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag männlicher, stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort, seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich sprach er nicht einmal davon mehr, er sprach nur noch von der notwendigen Pflicht, und bald hörte er auch davon zu sprechen auf, seine Briefe wurden trocken, grau, müde.

Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus nicht. Clérambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg weiterzudröhnen. Aber von Maxime klang nicht mehr das erwartete und erhoffte Echo.

 

Plötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte niemanden zuvor verständigt. Auf der Treppe blieb er stehen, seine Füßen waren schwer. Obwohl er kräftiger aussah, wurde er rascher müde, und dann: er war erregt. Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie auf vor Überraschung. Clérambault, der in der Wohnung in ewiger Langeweile und Erwartung hin und her trottete, lief lärmend herbei. Es gab ein lautes Wiedersehen. Nach einigen Minuten ließen die Umarmungen und das zusammenhanglose Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich ins Licht hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken betrachten lassen. Sie waren begeistert über seine braune Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein gutes Aussehen; sein Vater tat die Arme auf und rief ihn an: »Mein Held!« – Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich, daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen.

Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank seine Worte. Aber er sprach beinahe nichts. Die übertriebene Begeisterung der Seinen hatte sein erstes leidenschaftliches Gefühl irgendwie gebrochen. Glücklicherweise merkten sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der Müdigkeit und dem Hunger zu. Übrigens sprach Clérambault für zwei, er erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe, und die gute Frau Pauline wurde in seinen Worten die Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie an, aß, sah sie von neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen.

Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in einem Fauteuil saß und seine Zigarre rauchte, konnte er nicht anders, als endlich die Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen. Er begann also in ruhiger, sachlicher Weise seine Tageseinteilung zu schildern, und in einer besonderen Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen Erzählungen jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen Bilder zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung, und sie warteten noch immer, als er schon zu Ende war. Dann gab es ihrerseits einen ganzen Sturm von Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten, hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clérambault, »seinen lustigen Jungen« aufzumuntern, und gab ihm jovial einige Stöße.

»Na also, erzähl ein bißchen ... so von einem Gefecht bei euch ... das muß aber schön sein ... was für eine schöne Sache doch dieser heilige Glaube ist ... bei Gott, das möchte ich einmal sehen, ich möchte gern an deiner Stelle sein.«

Maxime antwortete:

»Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.« Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf mehr und kaum irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den Dreck und das Wasser. – Aber sie glaubten es ihm nicht, sie dachten, er rede so aus dem Widerspruchsgeist, den sie bei ihm von Kind an kannten.

»Du Spaßvogel«, sagte Clérambault lachend. »Also was macht ihr denn den ganzen Tag da in euren Gräben?«

»Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser größter Feind.«

Clérambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite. »Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!«

Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen Blick seines Vaters und seiner Mutter und sagte:

»Nein, reden wir über andere Dinge.«

Und nach einem Augenblick:

»Wenn ihr mir ein Vergnügen machen wollt, dann fragt mich heute nichts mehr.«

Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft und bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen kleinen Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clérambault jeden Augenblick gegen seinen eigenen Willen in begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort oder eine Zustimmung erforderten. Das Wort »Freiheit« war der Kehrreim aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete Rosine, deren Benehmen seltsam schien. Als ihr Bruder eingetreten war, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer gewissen Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern, und statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien sie sie eher zu fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters war ihr peinlich, und die Furcht vor dem, was ihr Bruder hätte sagen können, verriet sich in unmerklichen Bewegungen oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime erfaßte. Er wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so nahe gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen warum. Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des Vaters vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris zu seiner Zerstreuung herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte die Stadt wieder ihr lachendes Antlitz. Das Unglück und die Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der Tiefe der stolzen Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den Straßen, in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum der Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig Jahre durchzuhalten, wenn es not tat. Maxime, der mit den Seinen an einem kleinen Tischchen in der Konditorei inmitten des heiteren Geschwätzes und dem Duft der Frauen saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig Tage mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus dem glitschigen Graben heraus zu können, in dem ihnen die Leichen als Schutzwand dienten ... Die Hand seiner Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die zärtlichen Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen, lachte, schaute herum und zwang sich, lustig zu sprechen. Seine übermütig knabenhafte Leichtigkeit kam wieder, und das Antlitz Clérambaults, das sich für einen Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte unbewußt Maxime.

Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus der Konditorei herauskamen (Clérambault stützte sich auf den Arm seines Sohnes), begegneten sie auf der Straße einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze, Uniformen, irgendeinen Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen den Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische Klage anstimmte. Die Menge bildete ernste Reihen. Clérambault blieb stehen und nahm mit großer Geste den Hut ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes fester. Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah, daß er eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime erschüttert sei, und wollte ihn wegziehen. Aber Maxime blieb starr und rührte sich nicht. Maxime war nur erstaunt:

Ein Toter, dachte er, so viel Getue für einen Toten ... dort draußen trampelt man darüber hinweg ... fünfhundert Tote in der Tagesmeldung, das ist unser Durchschnitt ...

Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken zog ihn Clérambault am Arme fort.

»Komm!« sagte er.

Sie gingen weiter.

Wenn sie sehen würden, dachte sich Maxime, wenn diese Leute einmal wirklich sehen würden ... die ganze Gesellschaft würde zusammenbrechen ... aber sie werden es ja nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.

Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen mit einem Male rings um sich ... den Feind: die Gleichgültigkeit der Welt, die Dummheit, den Egoismus, den Wucher, die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn, den Kriegsgenuß, die Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in Sicherheit Sitzenden, die Drückeberger, die Polizeiknechte, die Munitionsfabrikanten mit ihren Autos, die Kanonen glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und den knallroten Lippen, diese gierigen Leckermäuler ... ah, sie sind zufrieden, alles geht gut ... das kann noch lange dauern ... Eine Hälfte der Menschheit frißt die andere auf.

Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clérambault schon ganz ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht vorzulesen. Die Absicht, aus der er es geschrieben, war rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe zu seinem Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im Ruhm und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er darin »das Morgenrot im Schützengraben«. Zweimal stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber immer, wenn er die Blätter schon in der Hand hielt, hinderte ihn eine Scham. Er setzte sich mit leeren Händen wieder hin.

Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich nahe, aber ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner von ihnen wollte es eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit stand zwischen ihnen, und sie zwangen sich, ihre wirkliche Ursache nicht zu sehen, und zogen vor, sie der nahen Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität wieder herzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung, Maxime fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem vom Hinterland verständlich machen könne, daß seine und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren. Würden sie einander niemals wiederfinden? ... Und doch verstand er sie nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß, der auf ihnen lastete, früher unterlegen und erst dort draußen wach geworden an der Berührung mit den Leiden und dem wirklichen Tod. Aber gerade weil er selbst ein Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die anderen reden, lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das Hinterland beschäftigte, das Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen Streitigkeiten (und welcher Persönlichkeiten, der alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das patriotische Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das schlechte Brot und die Zuckerkarte oder über die Tage, an denen die Konditoreien geschlossen waren – all das erfüllte ihn mit einem Ekel der Langeweile, einem unendlichen Mitleid mit diesem Volk des Hinterlandes, dem er sich bis ins tiefste fremd fühlte.

So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes Schweigen ein. Nur für Augenblicke zwang er sich heraus, wenn er an die kurze Zeit dachte, die er noch mit den guten Menschen zu teilen hatte, die ihn so sehr liebten. Dann begann er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig worüber. Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn man schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel man immer wieder auf die Gemeinplätze des Tages zurück, die politischen, militärischen, die allgemeinen Fragen, alle die Dinge, die sie ebensogut in ihrer Zeitung hätten lesen können. »Die Zerschmetterung der Barbaren«, der »Triumph des Rechtes« füllten die Reden, die Gedanken Clérambaults aus. Maxime hörte seine Predigten gläubig an und sagte, wenn die Messe zu Ende war, sein » cum spiritu tuo«. Aber beide warteten nur auf eines: daß der andere endlich anfangen würde zu sprechen.

Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung kam. Kurz vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer seines Vaters. Er war entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen:

»Papa, bist du eigentlich ganz sicher? ...«

Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und er fragte nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde der Abfahrt. Clérambault nahm das Ende dieser Frage mit allzu sichtlicher Erleichterung auf, und kaum daß er nochmals die Auskunft gegeben hatte – auf die Maxime gar nicht hörte –, begann er von neuem, seinen Redestrom loszulassen und sich in den gewöhnlichen idealistischen Deklamationen zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während der letzten Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten. Alle, außer der Mutter, fühlten, daß sie das Wirkliche verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle heitere und vertrauensvolle Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den ewigen Seufzer: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert, wieder an die Front zurückzukehren. Der Abgrund, den er zwischen der Front und dem Hinterland fühlte, schien ihm tiefer zu sein als alle Schützengräben, und er wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen waren, sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden Waggons die erschütterten Gesichter entschwinden sah, dachte er:

»Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die euren! ...«

 

Am Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen Zeitungen bereits seit längeren Wochen angedroht worden war. Mit ihr hatte man die Hoffnung der ganzen Nation während des dumpfen Winters der Erwartung und der totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger Freude erhob sich im ganzen Volke, man war des Sieges sicher und rief ihm das »Endlich!« zu.

Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben. Sie erzählte, wie es der Brauch ist, natürlich nur von den Verlusten des Feindes. Alle Gesichter strahlten. Die Eltern, deren Kinder, die Frauen, deren Männer draußen waren, fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung und ihre Liebe teilhatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer Begeisterung kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der Ihre auch ein Opfer sein konnte. Dieser Fieberzustand war derartig, daß Clérambault, der doch ein zärtlicher, liebevoller und für die Seinen besorgter Vater war, nur fürchtete, sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück gewesen, um an dem »glorreichen Tag« teilzunehmen. Sein ganzer Gedanke war, er möchte dabeigewesen sein, seine glühendsten Wünsche warfen ihn in den Abgrund hinein. Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben hin, ohne sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit einverstanden war. Da er, Clérambault, sich selbst nicht mehr gehörte, konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein anderer seiner Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle Gewalt des Masseninstinkts hatte alles aufgezehrt.

Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse einige Spuren seiner früheren Natur wiederfinden. Es war immer, wie wenn man einen empfindlichen Nerv berührt – ein dumpfer Schlag, ein Schatten von Schmerz. Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann.

Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer auf den blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen begannen die Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie das Interesse auf irgendein anderes Thema lockten. Maxime hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben. Man suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände, wie sie die Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz glaubt nicht an sie. Wieder gingen acht Tage vorbei. Untereinander tat jeder der drei so, als ob er zuversichtlich wäre. Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem Zimmer war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden lang war das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum Zerreißen angespannt, auf jeden Schritt, der die Treppe emporkam, lauschte auf die Klingel oder die Berührung einer Hand, die an die Tür streifte.

Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die Verluste. In mehreren befreundeten Familien zählte man schon einige Tote und Verwundete. Jene, die alles verloren hatten, beneideten diejenigen, denen ihre Lieben, vielleicht blutend und verstümmelt, doch wenigstens würden wiedergegeben werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu Ende. Bei anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche Exaltation beharrlich: Clérambault sah eine Mutter, die ihren Patriotismus und ihre Trauer so fiebrig entflammte, daß man fast das Gefühl hatte, sie freue sich am Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich zusammengeballter Freude: »Ich habe alles gegeben, ich habe alles hingegeben«, so wie eine, die im Taumel der letzten Sekunden spricht, ehe sie sich mit ihrem Geliebten ins Wasser stürzt. Aber Clérambault, schwächeren Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte immer nur:

»Auch ich habe alles gegeben – sogar das, was mir nicht mehr gehörte.«

Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte noch nichts. Acht Tage später kam die Nachricht, daß der Sergeant Clérambault Maxime als »vermißt« seit der Nacht vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet war. In den Pariser Büros konnte Clérambault keine weiteren Einzelheiten erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote Kreuz, das Büro der Gefangenen auf, erfuhr nichts, stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die Erlaubnis, in den Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines Sohnes befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte gaben. Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen hatten ihn tot gesehen – am nächsten Tag gaben beide zu, daß sie sich geirrt hatten ... o Qual ... Gott, was für ein Henker bist du! ... Und nach zehn Tagen kam er endlich von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim. Er fand seine Frau in einem Paroxysmus lauten Schmerzes, der sich bei diesem gutmütigen «Wesen in einen rasenden Haß gegen den Feind verwandelt hatte. Sie schrie nur Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr Clérambault nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen – er verbrauchte seine ganze im Leiden.

Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen furchtbaren zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein einziges Mal seinen Gedanken gegenübergestellt. Nur eine Idee hatte ihn Tag und Nacht hypnotisiert, so wie einen Hund auf der Fährte: nur schneller, nur rascher vorwärts kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die Nacht bestellte und doch noch am selben Abend wieder abreiste, ohne sich Zeit zur Erholung zu lassen, und dieses Fieber der Hast und Erwartung hatte alles aufgeschluckt. Es machte ihn unfähig, im Zusammenhang zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die Vernunft fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clérambault war jetzt gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt und ihr einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede Hoffnung raubten, denn sie war eine jener Naturen, für die es ein Lebensbedürfnis ist, sich selbst gegen alle Vernunft einen Schein von Lüge zu bewahren, der sie so lange noch aufrecht hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig verebbt ist. Vielleicht wäre Clérambault vordem auch einer dieser Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin dieser Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu richten, versuchte überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da in seiner Nacht, zu schwach, sich aufzurichten, rings um sich zu tasten, lag wie einer, der nach einem Sturz seinen zerschmetterten Körper regt und erst an seinem Schmerz gewahr wird, daß er noch lebt und sich bemüht zu verstehen, was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weitaufgerissene tiefe Abgrund dieses Todes starrte ihn an und bezauberte ihn. Dieses schöne Kind, das man mit so viel Lust, mit so viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an blühender Hoffnung, das kleine, unvergleichliche «Weltall, das ein junger Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende Jahrhundert ... all das zerstört in einer Stunde ... und wofür? Wofür?

Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas sehr Großes und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung klammerte sich Clérambault in den folgenden Tagen und Nächten an diese Boje, er wußte, wenn seine Finger sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer suchte er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied, darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten sich immer schwächer an, bei jeder Bewegung sank er mehr hinab in die Tiefe, bei jeder neuen Bekräftigung des Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich aus seinem Gewissen wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte: »Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet in eurem Kampf, kauft dies, daß eure Vernunft recht behält, das entsetzliche Unglück darum schon zurück, mit dem es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die Millionen Unschuldigen auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein, ein Mord den andern? War es wirklich nötig, daß eure Söhne nicht nur Opfer, sondern auch Mitschuldige waren, nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?«

Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes, hörte ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich in seinem Herzen. Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er damals nicht verstanden hatte! All das oftmalige Schweigen Maximes, die Vorwürfe seiner Augen ... Aber das Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar wurde, daß er sie schon damals verstanden hatte, damals, als sein Sohn noch da war, und daß er sie nur nicht hatte verstehen wollen.

Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie eine finstere Drohung über sich schweben fühlte – diese Entdeckung seiner inneren Lüge erdrückte ihn.

 

Rosine Clérambault war bis zum gegenwärtigen kritischen Augenblick gleichsam verloschen gewesen. Die anderen, und beinahe sie selbst, wußten nichts von ihrem Innenleben, kaum ihr Vater hatte davon eine deutliche Ahnung. Ohne Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen hatte sie die ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme selbstsüchtiger und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die Eltern standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war schon daran gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben; sehnte sie sich dann, als sie herangewachsen war, aus dieser Sphäre herauszukommen, so wagte sie es nicht, wußte auch gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum daß sie aus dem Familienkreis heraustrat, fühlte sie sich gehemmt, ihre Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen, und das allgemeine Urteil fand sie unbedeutend. Sie wußte das und litt daran, denn sie war nicht ohne Selbstgefühl. So ging sie so wenig wie möglich aus, blieb in ihrem Kreis, still, einfach und natürlich, und diese Stille war nicht die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern der Geschwätzigkeit der anderen. Der Vater, die Mutter, der Bruder waren alle überschwänglich, so schloß sich dieses kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst ein. Aber sie hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen.

Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines Knaben, hübsches Haar, dessen Locken leicht über die Wangen spielten, einen großen und ernsten Mund. Die untere Lippe war gegen die Mundwinkel zu etwas voll, sie hatte große, stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene Brauen und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre Brust zart und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot und groß mit vollen Adern. Ein Nichts konnte sie erröten machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der Stirn und im Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten nichts.

Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter für den Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen. Ohne es zu wollen, hatte Clérambault unaufhörlich sich des Mädchens seit dessen Kindheit mit seiner Zärtlichkeit bemächtigt und hielt es unablässig darin gefangen. Er hatte zum Teil selbst Rosines Erziehung geleitet und sie mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers zu seiner Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein überströmendes Wesen, sein Bedürfnis, sich mitzuteilen, und das geringe Echo, das er bei seiner Frau fand: dieser guten Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort gewissermaßen liegengeblieben war. Sie sagte »ja« zu allem, was er sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand ihn nicht und merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand. Das Wichtigste waren für sie nicht die Ideen ihres Mannes, sondern er selbst, seine Gesundheit, seine Zufriedenheit, seine Bequemlichkeit, seine Kleidung und Nahrung. Clérambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über seine Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies war ein geheimes Band, das sie einte. Clérambault bemerkte gar nicht, daß er allmählich aus seiner Tochter seine wahre geistige Gattin und Gefährtin gemacht hatte; erst in der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr, als die politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende Übereinstimmung löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime Neigung Rosines fehlte. Rosine wußte all die Dinge längst vor ihm, sie vermied nur, ihr Geheimnis näher zu untersuchen. Das Herz braucht für sein Wissen nicht den Appell an den Verstand.

Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die Seelen verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von den Gesetzen der Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur wenige Menschen werden dessen gewahr, und noch wenigere wagen es, sich es einzugestehen, aus Furcht vor der Plumpheit der Welt, die immer nur Gesamturteile hören will und sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber in dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt, sind die Worte weit davon entfernt, die lebendigen Nuancen der vielfältigen Wirklichkeit zu offenbaren und aufzuschließen, im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren, versteinern sie und stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette gelegten Vernunft – jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des Geistes entspringt, sondern – wie eine Fontäne in Versailles – aus weiten, in das Gefüge der zivilisierten Gesellschaft eingemauerten Wasserflächen. In diesem gleichsam juristischen Vokabular ist die Liebe an das Geschlecht, an das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen gebunden, und je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt, entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht anerkannt.

Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal aus den tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe, gleichsam das Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt, kümmert sich nicht um den Rahmen, den wir um ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die alles innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint, über Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden und Toten, sie schlingt enge und keusche Bindung zwischen Alten und Jungen, bringt den Freund dem Freunde und oft die Seele des Kindes der eines Greises näher, als sie beide, Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben Gefährtin oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind gibt es oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr würden. Und »des Menschen Geschlechte« (wie unsere Vorväter sagten) zählen so wenig im ewigen Antlitz der Liebe, daß zwischen Vätern und Kindern die Beziehungen vertauscht sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind von beiden, sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne empfinden fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig und klein vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino Botticellis läßt auf der reinen Jungfrau seinen Blick voll einer unbewußten schmerzlichen Erfahrung ruhen, die so alt ist wie die Welt.

Auch die Zuneigung Clérambaults und Rosines war von solcher erhabener und frommer Wesensart, wie sie Vernunft allein nicht zu klären vermag. Und deshalb begann in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb jener Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte, zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige Liebe verbunden waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein geheimes Drama. Aus diesem unbewußten Gefühl erklärte sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen Spürens. Zuerst war es das stumme Sich-Zurückziehen Rosines, die, in ihrer Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult durch die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert, sich leise von ihm weghielt wie eine kleine antike, keusch verhüllte Statue; schon aber empfand die Unruhe Clérambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein zärtliches Gefühl geschärft war, dieses » Noli me tangere«. Es gab zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor dem Tode Maximes eine unausgesprochene Entfremdung, die man vielleicht (wenn die Worte nicht zu grobschlächtig wären) einen Liebeskummer im reinsten Sinne des Wortes hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide eine Kränkung, er verwirrte das junge Mädchen und reizte Clérambault, denn dieser kannte wohl die Ursache, nur sein Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen. Aber bald kam er soweit, sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht war, und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher Scham verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse im Geiste, indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit aufforderte.

Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes lastete diese Bitte dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit bereiten Seelen. Eines Tages, als die drei sich zum Abendessen zusammenfanden – es war dies die einzige Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich, Clérambault ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clérambault immer ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag abwesend bei ihren Hilfsaktionen –, hörte Clérambault, seine Frau heftig Rosine Vorwürfe machen. Rosine sprach von ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen Verwundeten zu übernehmen, und Frau Clérambault, die dies als Verbrechen empfand, regte sich darüber auf.

Sie rief ihren Mann als Richter an. Clérambault, dessen müde, dunkle und leidende Augen zu verstehen begannen, sah Rosine an, die schweigend und mit gesenkter Stirn seine Antwort erwartete. Dann sagte er:

»Meine Kleine hat recht.«

Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie nicht erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr Blick schien zu sagen:

»Endlich habe ich dich wiedergefunden.«

Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder blieb für sich. Clérambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte, das Antlitz in den Händen. Der Blick seiner Tochter hatte sein von Schmerz erstarrtes Herz aufgelöst. Es war seine verlorene Seele, die seit Monaten erstickte, dieselbe Seele, die er vor dem Krieg besessen und nun wiedergefunden hatte. Und sie blickte ihn an ...

Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür ... Seine Frau ordnete wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen Zimmer Maximes wieder und wieder und wieder die Wäsche und die Gegenstände des Toten ... Er trat in das Zimmer seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte sein Kommen erst, als er schon dicht neben ihr stand.

Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte:

»Mein kleines Mädchen.«

Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen, nahm das alte Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre Hände und sagte, während ihre Tränen sich mit jenen, die sie hinströmen sah, vermengten:

»Lieber, lieber Vater!«

Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung, weshalb sie zueinandergekommen waren. Nach einem langen Schweigen, als er seine Ruhe wiedergefunden, sagte er mit einem Blick auf sie:

»Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.«

Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen.

»Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es gefühlt, immer bemerkt ... hat es dir sehr weh getan?«

Sie nickte mit dem Kopf, ohne ihn anzusehen. Er küßte ihr die Hände, richtete sich auf und sagte:

»Mein guter Engel, du hast mich gerettet.«

 

Er kehrte in sein Zimmer zurück.

Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen von Erregung. Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die Hände über ihren Knien gefaltet. Die Flut der Gefühle, die wild aus ihr aufquollen, ließen ihren Atem stocken, ihr Herz war schwer von Liebe, Glück und Beschämung. Die Demut ihres Vaters verwirrte sie ... Plötzlich riß sie ein Schwall von Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die ihre Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen den Fernen aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder, dankte Gott und bat ihn im Gebet, er möge alle Schmerzen auf sie häufen und das Glück ihm schenken, den sie liebte.

Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren Wunsch. Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten Schlaf des Vergessens; Clérambault indes mußte noch den Gipfel seines Kalvarienberges erklimmen.

 

In der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte Clérambault in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die letzte Tiefe seiner verlogenen und ängstlichen Seele, die der Wahrheit entflohen, hinabzuforschen. Die Hand seiner Tochter, deren Kühle er noch auf seiner Stirn fühlte, hatte das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen, dem Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr hin, von seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den sie einmal erfaßt haben, zerfleischt zu werden.

Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen Stücken die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften und fremden Ideen, die seine Seele ganz umwachsen hatte, von ihr loszulösen.

Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche hatte er sich in sie hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast zum Ersticken warm, man ruht gut darin, und doch ist sie ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal drinnen in dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr. Man braucht nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt vor der kalten Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit und Feigheit ... Fort! Weg damit! ... Sogleich stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man schauert zurück – aber schon ist durch diesen kalten Stoß die Schläfrigkeit abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es wolle, sie muß es sehen.

Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt hätte – wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem Fleisch verwachsen war. Er witterte darinnen gleichsam eine späte faule Ausdünstung der Urbestie, alle die wilden uneingestandenen Instinkte des Krieges, des Mordes, des vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das Leben, er fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die Grube des Schlachthauses, die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten, nur mit dem Schwall ihrer Lüge verhüllt und über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes schwelt ... Dieser widrige Geruch ernüchterte Clérambault vollständig. Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren Beute er geworden war.

Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön, seidenhaarig, warm und doch blutig. Zusammengefügt aus den niedrigsten Instinkten und den erlauchtesten Träumen. Was war nicht alles darin verwebt, das Lieben, Sich-Hingeben, Sich-Aufopfern, Ein-Körper-und-eine -Seele-Sein im Vaterland, dem einzig Lebendigen! ... Aber was ist denn dieses Vaterland, dieses einzige Leben, dem man nicht nur sein Leben, nein, alle Leben hinwirft, und dazu noch sein Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies für eine blinde Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen Augen nur blinden Haß zeigt?

»Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von dem der Liebe getrennt und sie ohne guten Grund einander gegenübergestellt«, sagt Pascal. »Die Liebe und die Vernunft sind ein und dasselbe. Es ist ein vorschnelles Denken, das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles geprüft zu haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.«

Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade in dieser Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu prüfen, tun sie nicht gleich dem Kinde, das, um den Schatten an der Wand nicht zu sehen, den Kopf unter die Decke steckt? Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen, Ungetüme und Götter. Was ist sein eigentliches Wesen? Die heimische Erde? Die ganze Erde ist unsere gemeinsame Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier Familien und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie nur den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter, das Volk? Die sind auf beiden Seiten gleich elend und gleich ausgebeutet. Oder sind es die Geistigen? Die haben nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und Streitigkeiten sind ebenso lächerlich im Morgenland wie im Abendland. Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes eines Vadius und eines Trissotin zu bekämpfen. Ist es also der Staat? Der Staat ist nicht das Vaterland. Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese beiden Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir, die nicht mehr wert sind als wir selbst und oft weniger, und von denen wir uns in Friedenszeit sonst nicht narren lassen und die wir im allgemeinen richtig zu beurteilen wissen. Aber kaum daß der Krieg da ist, lassen wir ihnen freie Hand, sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln, jede Kontrolle ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die ganze Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih und Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser in Herrenkleider vermummten Bedienten zu verteidigen. Wir sind einig, sagt man? Erbärmliches Wortnetz! Einig sind wir ohne Zweifel, wir haben die schlechtesten und die besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr, das wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich ... Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand, denkt Clérambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt, ihre Größe gefeiert. Es ist gut, gesund, stärkend und kräftigend, den nackten, starren und eisig einsamen Egoismus in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet. Man entspannt sich, man gibt sich hin, man atmet. Der Mensch bedarf der anderen, er ist den anderen verpflichtet. Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen Wesen verpflichtet. Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich den anderen hingeben, doch um geben zu können, muß man etwas haben, man muß vor allem selbst etwas sein. Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn man ganz in die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der Massenseele als Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer Hygiene in sie hinabzutauchen, mag gut tun. Aber man muß wieder heraus, sonst läßt man alle seine moralische Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist man ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in die demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft denkt für einen, ihre Moral will, und ihr Staat handelt für uns, ihre Mode und Meinung nehmen uns die Luft weg, die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser Herz, unser Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man lügt in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken. Man verzichtet und ist nicht mehr ... Aber wer hat den Vorteil davon, wenn alle verzichten? Zu wessen Wohl verzichtet man? Für die blinden Instinkte oder für ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel sprechen? Den Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter verbirgt ... Das Vaterland! ... Was für ein großes Wort, was für ein schönes Wort. Der Vater, umschlungen von seinen Brüdern ... Aber das ist ja gar nicht das Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland, ein Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben und Barrikaden, Gefängniswände! ... Meine Brüder! Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle, die rings im Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht? Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom von Blut trennt mich von ihnen. In meinem eigenen Volk darf ich nicht mehr frei zu meinen Brüdern reden, ich bin nur mehr ein namenloses Instrument, das morden soll ... Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet ... Mein Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und sie habt ihr zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben keine Heimstatt mehr in Europa ... Ich will mir mein Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn ich habe keines mehr, das eure ist ein Gefängnis ... Wie soll ich es tun? Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen ...? Sie haben mir alles genommen! Es gibt keine Fingerbreite mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch frei ist, alle Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin allein und verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin ...

 

Als Clérambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm nichts mehr als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang dieser Nacht drückte sie sich zitternd und erstarrt an ihn. Aber in dieser zitternden Seele, in diesem winzigen Wesen, das im Weltall verloren war, glühte leise ein Funke wie eines jener ειδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging, begann die fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der schweren Umschalung der Lüge erstickt war, zu erwachen. Im Atem der frischen Luft schlug sie hell empor. Und nichts konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen.

 

Langsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser Geburt. Schwere zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte Stille ... Ermattetes Wohlgefühl vollbrachter Pflicht ... Clérambault, das Haupt an die Lehne seines Fauteuils gestützt, träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib, das Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne daß er es fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur der letzten Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst, und noch nackt. Aber unter dem Eisglanz der Luft bebte schon ein neues Feuer.

Bald wird es das All umfangen.


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