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Zweiter Abschnitt.


28 August.

Ich fühle, daß der Entschluß, mein Unternehmen fortzusetzen, schwächer in mir wird, das Elend meines Landes quält mich, der Verlust meiner Freunde erschüttert meinen Muth, eine unwillkührliche Traurigkeit durchdringt meine Sinne, verlöscht meine Einbildungskraft, und preßt mein Herz zusammen. Frankreich ist ein ungeheurer Schauplatz des Mordens, eine blutige Kampfbahn, auf welcher sich dessen eigne Kinder zerreissen.

Von innerer Zwietracht begünstigt, nähert sich der Feind von allen Seiten, die nördlichen Städte fallen ihm zu, Flandern und das Elsaß werden seine Beute, die spanischen Heere verwüsten das Roußillon, Savoyen verwirft ein Bündniß, welches die Anarchie zum Gräuel macht, es kehrt zu seinem alten Herrn zurück, dessen Armeen unsre Grenzen überschreiten; die Rebellen der Vendee fahren fort, einen großen Strich Landes zu verheeren, die so unvorsichtig gereitzten Lyoner haben ihren Widerstand aufgeboten, Marseille eilt ihnen zu Hülfe, die benachbarten Departements setzen sich in Bewegung, und in diesem allgemeinen Aufruhr, in diesem vielfachen Kampf ist nichts zusamenhängend, als der Gang der feindlichen Mächte. Unsre Regierung ist eine Art Ungeheuer, gleich empörend durch seine Formen und seine Würkung; sein Berühren ist Zerstörung, und daß es sich gräßlich selbst verzehrt, ist der einzige Trost seiner zahlreichen Opfer.

Eben so schlecht mit Lebensmitteln wie mit Anführern versehen, fliehen und streiten unsere Heere abwechselnd wie Verzweifelnde. Die geschickten Feldherren sind des Verraths beschuldigt, weil unwissende Repräsentanten das tadeln, was sie nicht verstehen, und einen jeden, der mehr Einsichten hat als sie, des Aristokratismus beschuldigen. In der gesetzgebenden Versammlung, die sich von ihrer Entstehung an durch Schwäche auszeichnete, fielen Anfangs, so lange sie in ihrer Mitte hinlängliche Kenntniße besaß, um die Gefahr zu erkennen, und Muth genug sie zu verkünden, lebhafte Debatten vor. Die rechtschaffnen edlen Männer, die das Wohl ihres Vaterlands suchten, und dessen Gründung zu unternehmen wagten, wurden kühnlich unter den verhaßtesten und widersprechendsten Vorwänden angeklagt, und Furchtsamkeit und Unwissenheit, opferten sie endlich den Ränken und der Raubsucht. Aus dieser Versammlung, deren Auswahl sie waren, gestossen, liessen sie nichts zurück, als eine ausschweifende, verderbte, durch Tyrannen beherrschte Minorität, deren Thorheiten und Verbrechen ihr eignes Grab bereiten, aber leider nur, indem sie den öffentlichen Untergang vollenden. Die Nation, feig und schlecht unterrichtet, weil die Selbstsucht träg ist, und die Trägheit sich nicht die Mühe giebt, mit eignen Augen zu sehen, die Nation hat die Annahme einer fehlerhaften Constitution hingehen lassen, die man, wenn sie auch besser gewesen wäre, mit Unwillen hätte verwerfen sollen, weil es eine unvermeidliche Herabwürdigung ist, etwas aus den Händen des Verbrechens zu empfangen. Sie macht Ansprüche auf Sicherheit, auf Freyheit, und hat beide in der Person ihrer Repräsentanten ungestraft verletzen lassen! Sie kann nur mit ihren Unterdrückern wechseln, unter ein eisernes Joch gekrümmt, scheint ihr jede Veränderung eine Erleichterung, aber unfähig sie selbst zu bewürken, sieht sie ihr aus der Hand des Ersten der ihr gebieten will, entgegen. O Brutus! dein kühner Arm versuchte umsonst, die entarteten Römer zu entfesseln, und uns täuschte der nämliche Wahn! Diese reinen Männer, deren glühender Geist die Freyheit ersehnte, für welche die Philosophie im Schoos der Wissenschaften und strenger Abgezogenheit sie erzogen hatte, schmeichelten sich wie du, durch den Sturz der Tyrannen die Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens zu gründen, und er ward nur der Aufruhr gehässiger Leidenschaften, und der abscheulichsten Laster. Du sagtest noch den Proscriptionen der Triumvire, du empfändest mehr Schmach durch die Veranlaßung zu Ciceros Tod, als Schmerz über seinen Tod selbst; du tadeltest deine römischen Freunde, daß sie mehr durch ihre eigne als der Tyrannen Schuld in die Knechtschaft geriethen, und daß sie die Feigheit hätten, Dinge zu sehen und zu leiden, deren bloßes Erzählen ihren Abscheu erregen sollte.

So glühte ich vor Unwillen in der Tiefe meines Kerkers, aber die Zeit des Unwillens ist vorbey, denn es ist klar, daß man nichts Gutes mehr erwarten, über nichts Böses mehr erstaunen soll. Wird die Geschichte je diesen fürchterlichen Zeitpunkt, und die abscheulichen Menschen, die ihn mit ihren Verbrechen anfüllen, vorzustellen wagen? Sie übertreffen die Grausamkeit eines Marius, die blutigen Thaten eines Sylla. Wenn man auf Syllas Befehl sechs tausend Menschen, die sich ihm ergeben hatten, in der Nähe des Senats, den er beruhigte und bey ihrem schmerzlichen Geschrey berathschlagen ließ, umringte und erwürgte, handelte er als ein Tirann, der sein usurpirtes Recht mißbraucht; aber womit läßt sich die Herrschaft dieser Heuchler vergleichen, die unaufhörlich mit der Larve der Gerechtigkeit vor dem Gesicht, mit der Sprache des Gesetzes im Munde, zum Dienst ihrer Rache einen eignen Gerichtshof erschufen, und alle Menschen, deren Tugend sie beleidigt, deren Talente sie beunruhigen, nach deren Reichthum ihnen gelüstet, unter gesetzlich schimpflichen Formalitäten auf das Blutgerüst schicken? Welches Babylon bot je ein Schauspiel dar, wie dieses Paris mit Blut und viehischen Lüsten befleckt, Obrigkeiten unterworfen, welche sichs zum Geschäft machen, Lügen zu verbreiten, die Verläumdung feil zu bieten, und den Mord zu rühmen? Wenn ward je die Sittlichkeit, der Instinkt eines Volks so verderbt, daß ihm Hinrichtungen zum Bedürfniß wurden, daß es vor Wuth schnaubt, wenn sie zögern, und immer bereit ist, seine Wuth an einem jeden auszulassen, der es besänftigen und beruhigen will? Die Septembertage waren das Werk eines kleinen Haufens trunkner Tiger; der 31 May und 2 Junius bezeichneten den Sieg des Frevels durch die Apathie der Pariser, und ihr stillschweigendes Anerkennen der Sklaverey. Seit diesem Zeitpunkt ist die Abstufung fürchterlich; das was man im Konvent den Berg nennt, besteht in einem Haufen Räuber, die, gekleidet und fluchend wie Packknechte, den Mord predigen, und das Beyspiel des Raubens geben. Ein zahlreiches Volk umgiebt den Pallast der Gerechtigkeit, und bricht in Wuth aus gegen die Richter, die das Urtheil der Unschuld verzögern. Die Gefängnisse sind mit öffentlichen Amtsverwesern, Feldherrn, angestellten Männern, mit Menschen angefüllt, deren Charakter die Menschheit ehrte; die Angeberey gilt als ein Beweis des Bürgersinns, und brave oder reiche Leute auszuspüren oder zu verhaften, ist das einzige Amtsgeschäft niederträchtiger Verwalter. Die Schlachtopfer aus Orleans sind gefallen. Charlotte Corday hat in einer Stadt, die es nicht verdiente durch sie von einem Ungeheuer befreyt zu werden, nicht die geringste Bewegung hervorgebracht. Auf Brissot,Die Weiber, welche sich in der Eustachkirche in einen Klub versammelten, sagten einmal mit Geheul, sie wollten Brissots Kopf, und würden nicht leiden, daß die Richter so langsam in seinem Prozesse zu Werke giengen; wie sie bei Cüstine gethan hätten. Den Tag wie dieser gerichtet wurde, war der Pallast von zweytausend Menschen umringt, die vor Besorgniß, er möchte seinem Urtheil entgehen, schauderten, und laut riefen: »Wenn er frey gesprochen wird, muß man es mit ihm machen wie mit Montmorin, mit ihm und allen den Bösewichtern, die in den Gefängnissen stecken.« Gensonne, auf einer Menge anderer Deputirten liegt das Anklagedekret; die Beweise fehlen, aber die Wuth verstärkt sich, und in Ermanglung der Beweise, leitet man den Willen des Souverains, der, wie ein wildes Thier, das seiner Beute harret, ihre Köpfe fordert. Cüstine hat gelebtSeine Güter sind eingezogen; seine Schwiegertochter, ein junges reitzendes Weib, war schwanger; sie theilte ihre Zeit zwischen ihrem Schwiegervater, den man vor das Tribunal schleppte, und ihrem Mann, der in La Force verhaftet war, und nach seines Vaters Hinrichtung sogleich in das Gefängniß wandern mußte, sie kam zu früh in das Kindbett; was verschlägt das diesen Tigern? Der öffentliche Ankläger hatte zweymalhunderttausend Livres von ihr erhalten, um die Unschuld zu retten; er giebt sie zurück, aber verhaftet die, welche seine Niederträchtigkeit angeben könnte., Robespierre genießt, Hebert zeichnet die Schlachtopfer, Chabot zählt sie, das Tribunal eilt, das Volk rüstet sich die Hinrichtungen zu beschleunigen, und allgemeiner zu machen; indeß wird der Mangel merklich, mörderische Gesetze ersticken die Betriebsamkeit, hemmen den Umlauf, vernichten den Handel; die Finanzen werden vergeudet, die Auflösung ist allgemein, und auf diesen gänzlichen Sturz der öffentlichen Wohlfahrt gründen schaamlose Menschen ihren Reichthum, setzen auf alle ihre Handlungen einen Kaufpreis, und taxiren Leben oder Tod ihrer Mitbürger.

Dillon und Castellane verlassen für dreyßigtausend Livres, die sie Chabot auszahlen, der eine die Magdelonetten, der andere Pelagie. Reich genug um seine Freyheit zu erkaufen, läßt Sillery darum handeln, und zweyhundert Bouteillen seines vortreflichen Champagners fallen den Huren des Komite als Aufgeld zu.Das Geld und der Wein sind abgeliefert und empfangen worden. Sillery hat keinen andern Vortheil davon gehabt, als die Freyheit, zu sehen und zu sprechen wen er will; aber mit dieser Erleichterung ist er im Luxemburg eingesperrt. Drey oder vier Kreaturen, die den angesteckten Elenden von den Ausschüssen des öffentlichen Heils und der öffentlichen Sicherheit ergeben sind, treten in Societät, bestimmen die Geldsummen, für welche das Wohl jedes Bürgers, der einige Aufmerksamkeit verdient, feil ist.

Rolands Gattin, Dank sey es der Vorsorge des Vater Düchene, von Zeit zu Zeit der Wuth des Pöbels von neuem empfohlen, erwartet das Aeusserste in eben dem Gefängniß, das ein unterhaltnes Mädchen ruhig verläßt, nachdem sie die Freyheit und die Ungestraftheit ihres Mitgesellen, der falsche Aßignate schmiedete, baar bezahlt hat: Henriot, Anführer der Nationalgarde, anfangs Lakay, dann bey der Barriere angestellt, dann Mörder in St. Firmin, erbricht Siegel, leert Keller aus, stiehlt Meubles, und trägt darum keine weniger eiserne Stirn. Als er den Auftrag bekam, die in Luxemburg verhafteten Deputirten bewachen zu lassen, hatte er die Unverschämtheit, sich vor ihnen zu zeigen, sie zu beschimpfen, ihnen gewaltsam Federn, Bücher, Papier wegzunehmen, und Drohungen zu dieser Schmach zu fügen. Die Subordination der Autoritäten ist ein Hirngespinst, an das man nicht erinnern darf, ohne kontrerevolutionnairer Absichten beschuldigt zu werden. Haben die flüchtigen Deputirten endlich dieses unwirthbare Land verlassen, das alle redlichen Menschen verschlingt, und sich mit ihrem Blute tränkt? O meine Freunde! möge euch der gütige Himmel glücklich in den vereinigten Staaten, der Einzigen Zuflucht der Freyheit landen lassen! Meine Wünsche sind mit euch; und schon, so darf ich mir schmeicheln, seyd ihr nach jener Weltgegend unterwegs. Aber ach! um mich ists gethan? Nie werde ich euch wieder erblicken, und indem ihr abreiset, so sehnlich ich es zu euerm Wohl wünsche, beweine ich doch unsere ewige Trennung! Und du, ehrwürdiger Gatte, du verzehrst mit bitterm Gram deine Kräfte in einem vorzeitigen Alter, das du mit tausendfacher Mühe der Verfolgung deiner Mörder entziehst. Wird es mir je vergönnt seyn, dich wieder zu sehen, und in deine von Kummer gesättigte Seele einigen Trost zu giessen? – Wie lange noch soll ich Zeugin von dem Jammer meines Landes, von der Erniedrigung meiner Mitbürger seyn? – Mit diesen traurigen Bildern umgeben, konnte ich den Schmerz nicht von mir abwehren; einzelne Thränen stahlen sich aus meinen müden Augen, und ich ließ meine Feder ausruhen, die mit leichtem Zuge die Jahre meiner Jugend geschildert hatte.

Noch einmal will ich versuchen sie zurückzurufen, und ihrem Laufe zu folgen. Vielleicht versüßt meine einfache Erzählung einst einer unglücklichen Gefangenen einige mühselige Stunden, indem sie bey den Thränen, die sie mir weiht, ihr eignes Elend vergißt; vielleicht finden Philosophen, die in Romanen oder auf der Bühne das menschliche Herz schildern wollen, in meiner Geschichte Stoff, es zu studiren.

In wenig Tagen treibt vielleicht der Mangel an Nahrung das ermüdete Volk zu Bewegungen, die seine Führer furchtbar zu machen wissen werden. Der zehnte August sollte die Denkfeyer der Septembertage seyn, laut sprach man davon, sie zu erneuern, wenn Cüstine nicht zum Tod verurtheilt würde; die Cordeliers nehmen schon als ausgemacht an, daß die verdächtigen Menschen aus dem Weg müßten, gegen jeden, der jenen berühmten Tagen Uebels nachgesagt hat, sind Strafen erkannt; heißt dieses nicht ihre Rechtfertigung für den Fall, da man sie wiederholte, vorbereiten? Wer vor das Revolutionstribunal geführt wird, ist kein Angeklagter, den es zu richten bekömmt, er ist ein Opfer, das es zu schlachten bestellt ist. Keiner, der für irgend eine andre Ursache, als ein würkliches Verbrechen, verhaftet ist, steht mehr unter dem Schutz der Gesetze; dem Verdacht, der Verläumdung überlassen, kann sich keiner gegen die blinde Wuth gesichert halten. Fort von diesem schrecklichen Zeitpunkt, der Tibers Regierung gleicht! Erneuert euch für mich, friedliche Augenblicke der süssen Jugend! Ich war nun zwölf Jahr alt, und verlebte mein dreyzehntes bey meiner guten Großmutter. Die Stille ihrer Wohnung, und die Frömmigkeit meiner Tante Angelika schickten sich vollkommen zu der zärtlichen in mich selbst gekehrten Stimmung, die ich aus dem Kloster mitgebracht hatte. Alle Morgen führte mich meine Tante in die Messe; bald bemerkten mich die Seelenmäckler, welche sich ein Verdienst vor Gott daraus machten, die Klöster zu bevölkern. Der Herr Abbe Gery, mit schiefhängendem Hals, und niedergeschlagnen Augen, redete meine Begleiterinn an, die er für meine Gouvernante hielt, um ihr zu der Erbauung Glück zu wünschen, die das Beyspiel ihres Zöglings gäbe, und sein Verlangen zu bezeugen, ihr Führer auf dem Weg der Gottseligkeit zu seyn. Ungern vernahm er, daß die große Ceremonie schon vollzogen, und mein Vertrauen schon verschenkt wäre; nun wünschte er zu wissen, ob ich nicht einige Absichten wegen meiner künftigen Bestimmung hätte, und etwa der Welt zu entsagen gedächte? Ich antwortete, daß ich zu jung wäre, um meinen Beruf zu kennen. Herr Gery seufzte, sagte mir schöne Sachen, und ermangelte nicht, sich beständig auf unserm Weg einzufinden, um uns mit einem heiligen Gruß zu beehren. Die Frömmigkeit meines jungen Herzens gieng nicht so weit, an jesuitischer Gleisnerey Wohlgefallen zu finden, sie war zu wahr, um sich mit lächerlicher Frömmeley zu vertragen, und der schiefe Hals des Herrn Gery stand mir keineswegs an. Dennoch hatte ich die geheime Absicht, mich dem Klosterleben zu weihen. Der heilige Franziskus von Sales, einer der liebenswürdigsten Heiligen des Paradieses, hatte meine Eroberung gemacht, und ich hatte die Frauen der Visitation, deren Stifter er war, schon zu den Schwestern meiner Wahl gemacht. Da ich aber einziges Kind war, wußte ich wohl, daß ich vor meiner Volljährigkeit, die Erlaubniß meine Gelübde abzulegen, nicht von meinen Eltern erhalten würde; ich wollte sie also nicht im Voraus betrüben, und da ich den Weltmenschen, wenn mein Beruf durch die Dauer der Probezeit erschüttert worden wäre, nur Waffen verliehen hätte, nahm ich mir vor, meinen Entschluß zu verschweigen, und in der Stille nach dem Ziel zu wandeln. Indessen benutzte ich die kleine Büchersammlung meiner Großmutter; die Philotra des heiligen Franziskus von Sales, und das Manual des heiligen Augustin wurden die Quelle meiner Lieblingsbetrachtungen. Welche Liebeslehre, welche köstliche Speise für die Unschuld einer glühenden Seele, die sich himmlischen Täuschungen überläßt! Die Streitschriften Bossuets verliehen mir neue Nahrung; so vortheilhaft sie für die Sache waren, deren Vertheidigung sie führten, belehrten sie mich doch über einige, gegen sie gemachte Einwürfe, und brachten mich auf die Spur über meinen Glauben zu vernünfteln. Dieß war der erste Schritt: noch fehlte viel an dem Skeptizismus, zu welchem ich gelangen sollte, nachdem ich erst Jansenistin, Kartesianerin, Anhängerin der Stoa, und Deistin gewesen war. Welcher lange Weg, um mit dem Patriotismus zu endigen, der mir den Kerker zuwege gebracht hat! Mitten unter diesem allen, belustigte sich meine Einbildungskraft an alten Reisetröstern, an einer Menge mythologischer Schriften, und die Briefe der Frau von Sevigne bestimmten meinen Geschmack: ihre liebenswürdige Leichtigkeit; ihre Grazie, ihre Heiterkeit, ihre Zärtlichkeit hatten für mich etwas so reitzendes, daß ich ihren vertrauten Umgang zu geniessen glaubte; ich kannte ihre Gesellschaft; von allem was sie umgab war ich so genau unterrichtet, als hätte ich mein Leben mit ihr zugebracht. Meine gute Mutter sah wenig Leute, und gieng selten aus, aber ihre liebenswürdige Laune belebte die Unterhaltung, wenn ich bey ihr über den kleinen Handarbeiten saß, zu denen sie mich mit Wohlgefallen anwies. Madame Besnard, jene Großtante, welche die Aufsicht über mich geführt hatte, als ich bey der Amme war, kam alle Tage zu ihrer Schwester, wo sie zwei Nachmittagsstunden zubrachte. Ihrem strengen Karakter hieng ein feyerliches Wesen, und eine ceremoniöse Art an, worüber sich Madame Phlipon, jedoch aus Schonung für ihre Schwester ziemlich behutsam, zuweilen lustig machte, und diese bezahlte sie mit guten, ziemlich derb gesagten Wahrheiten, deren Härte man ihrem vortrefflichen Herzen verzieh. Meine Großmutter, die auf alles, was Anstand heißt, und das gesellschaftliche Leben verschönert, sehr viel hielt, und großes Wohlgefallen an meinem zuvorkommenden Wesen, das meine sanfte Gemüthsart, mein Verlangen, denen die mich umgaben, zu gefallen , und ihr liebenswürdiges Betragen, mir gegen sie besonders einflößten. Sie sagte mir zuweilen sehr verbindliche Dinge, die ich nicht ungeschickt beantwortete; wohlgefällig warf sie sich dann in die Brust, und blickte zufrieden auf Madame Besnard, die mit Achselzucken den Augenblick ergriff, wo ich den Rücken gewendet hatte, um ihr leise, obschon so, daß ich es recht gut hören konnte, zuzurufen: »Aber du bist doch unerträglich. Du verziehst sie, und das ist jammer schade« – dann hielt mein Großmütterchen den Kopf noch höher, und bedeutete ihrer Schwester mit einem selbstzufriednen Ausdruck, daß sie wohl wüßte, was sie thäte; die gute Tante Angelika mit ihrem blaßen Gesicht, ihrem vorragenden Kinn, die Brille auf der Nase, das Strickzeug in der Hand, sagte dann sehr ruhig, es hätte keine Gefahr, kein Mensch könnte da etwas verderben, und ich wäre vernünftig genug, um mich ganz allein zu erziehen. Diese strenge Dame Besnard, welche so sehr fürchtete, daß man mich durch Schmeicheleyen verziehen möchte, war höchst unruhig, wenn ich einmal auf einem harten Lager ruhte; und wenn mir ein Finger weh that, kam sie zweymal des Tags, um die Fortschritte des Uebels zu beobachten; wie treu war ihre Unruhe, und wie rührend ihre Besorgniß bey dem anscheinend harten Wesen!

Ich glaube würklich, der Himmel hatte mich ausdrücklich mit lauter so guten Seelen umgeben, um die meine zur liebevollsten zu bilden, die es je gab. Eines Tages fiel es meiner Großmutter ein, die Frau von Boismorel zu besuchen, entweder weil sie Lust hatte, diese Dame zu sehen, oder weil sie ihre Großtochter gern zeigen wollte. Die gehörigen Anstalten begannen, man puzte sich vom frühen Morgen an, und wir machten uns mit der Tante Angelika auf den Weg, um gegen Mittag in der Ludwigsstrasse, im Marais, anzulangen. So wie wir in das Hotel traten, empfiengen die Leute vom Thürsteher an, Madame Phlipon mit den herzlichsten und zugleich achtungsvollsten Begrüssungen: sie antwortete einem jeden liebkosend und mit Würde. So weit gieng alles gut; aber nun erblickt man ihre Enkelin, und sie kann der Freude, auf sie aufmerksam zu machen, nicht wiederstehen, die Leute wollen sich mit Complimentemachen abgeben; ich fieng an eine Art sehr unerklärlicher Unbehaglichkeit zu fühlen, von welcher ich denn doch so viel verstand, daß diese Leute mich wohl ansehen durften, aber mir Schmeicheleyen zu sagen, kam ihnen nicht zu. Indeß setzen wir unsern Weg fort, ein grosser Lakay meldet uns an, und wir treten in den Sallon, wo Frau von Boismorel und ihr Hund auf dem, was man damals nicht Ottomane, sondern Kanape nannte, sizt, und sehr ernsthaft Tapeten stickt. Frau von Boismorel war an Alter, Gestalt und Corpulenz meiner Großmutter ähnlich, allein in ihrem Anzug war weniger Geschmack wie Bestreben, Reichthum und Rang anzukündigen, sichtbar; und ihr Gesicht, weit entfernt, gefallen zu wollen, drückte vielmehr den Willen aus, für vornehm geachtet zu werden, und die Zuversicht, daß ihr das nicht fehlen würde. Eine schöne Spitze in ein Häubchen mit Papillons, so spitz wie Hasenöhrchen gefältelt, war oben auf ihr Toupet gesezt, und ließ Haare sehen, die vielleicht geborgt, aber mit der künstlichen Bescheidenheit geordnet waren, zu welcher man sich nach dem sechszigsten Jahr wohl bequemen muß; die Schminke, die zwey Finger dick saß, gab dabey ihren sonst unbedeutenden Augen weit mehr Härte, als nöthig war, um mich die meinigen niederschlagen zu machen. »Ey guten Morgen, Mademoiselle Rotisset!« ruft Frau von Boismorel mit einer lauten kalten Stimme, indem sie bey unserer Annäherung aufsteht (Mademoiselle! – was heißt das? ist meine Großmutter hier im Hause zur Mademoiselle geworden! –) »das macht mir ja viel Freude, daß ich Sie sehe, und das schöne Kind! – es ist Ihre Enkelin? – die will schon hübsch werden! – kommen Sie mein Herz, hier neben mich – Sie ist schüchtern! wie alt ist Ihre Enkelin, Mademoiselle Rotisset? Sie ist ein bischen braun, aber ihre Haut ist im Grunde sehr schön, da wird sie in Kurzem schon bleichen: Sie ist schon sehr ausgebildet! – Sie müssen eine glückliche Hand haben, liebes Kind! haben Sie nie in die Lotterie gesezt?« – Nie gnädige Frau! ich liebe die Hazardspiele nicht. – »Das glaube ich, in ihrem Alter meint man immer seines Spiels gewiß zu seyn. Was sie für eine Stimme hat! sanft und voll! aber sie ist sehr ernsthaft, sind Sie vielleicht ein bischen fromm?« Ich kenne meine Pflichten, und suche sie zu erfüllen – »Das ist brav – Sie haben Lust zum Klosterleben, nicht wahr?« – Ich bin mit meinem Beruf noch nicht bekannt, und suche nicht darüber zu entscheiden. – »Wie sie in Sentenzen spricht! Ihr Großtöchterchen liest wohl viel, Mademoiselle Rotisset?« Es ist ihr liebstes Vergnügen, sie bringt einen Theil ihrer Zeit damit zu. – »So scheint es; geben Sie aber wohl acht, daß sie nicht gelehrt wird, es wäre ewig schade.« – Das Gespräch leitete sich nun zwischen den Damen über die Familie, und Gesellschaft des Hauses ein, meine Großmutter fragte nach Onkel und Vetter, Schwiegertochter und Freundinn, nach dem Abbe Langlois, der Marquise de Levi, dem Conseiller Brion, und dem Pfarrer Parent. Man sprach von der Gesundheit, den Verbindungen und Verkehrtheiten aller dieser Leute, zum Beyspiel von der Madame Roude, die ungeachtet ihres Alters, noch auf einen schönen Busen Anspruch machte, und ihn noch immer bloß trug, ausser wenn sie ausfuhr beym Ein- und Aussteigen, da sie dann ein grosses Halstuch umthat, weil so etwas wie sie sagte, nicht für Lakayen gemacht wäre. Während dieses Gesprächs machte Frau von Boismorel einige Stiche auf ihrem Rahmen, streichelte ihren Hund, und heftete oft die Augen auf mich. Ich suchte ihre Blicke, die mir sehr mißfielen, zu vermeiden, und indem ich die meinigen in dem Zimmer, dessen Aufputz mir weit besser, wie seine Bewohnerinn gefiel, umherwandern ließ, floß mein Blut schneller, meine Wangen färbten sich, mein Herz klopfte und fühlte sich gepreßt. Noch fragte ich mich nicht, warum meine gute Großmutter nicht auf dem Kanape säße, und Frau von Boismorel nicht an der Stelle von Mademoiselle Rotisset stünde, aber ich hatte das Gefühl, das auf diese Frage führt, und das Ende dieses Besuchs that mir so wohl, wie wenn man im Schmerz eine Erleichterung findet. – »Nun, vergessen Sie nicht mir ein Lotterieloos holen zu lassen; Ihre Enkelin muß die Nummer wählen; hören sie Mademoiselle Rotisset, ich will die Bescheerung aus ihrer Hand empfangen. Umarmen Sie mich – und Sie, mein liebes Kind, müssen die Augen nicht so niederschlagen; man sieht sie recht gern, und der Beichtvater verbietet nicht, sie aufzuthun. Ach Mademoiselle Rotisset! das wird ein Hutabziehens werden! und das bald, ich stehe dafür! guten Morgen Mesdames!« – Und Frau von Boismorel schellt, befiehlt Lafleur, übermorgen ein Lotterieloos bey Mademoiselle Rotisset zu holen, beschwichtigt den Hund, und sizt schon wieder auf ihrem Kanape, ehe wir noch im Vorzimmer sind.

Wir giengen stillschweigend zu Hause, wo ich mich eiligst über meine Bücher hermachte, um Frau von Boismerel zu vergessen, deren Complimente mir eben so wenig anstunden, wie die ihrer Leute. Meine Großmutter, die nur halb zufrieden war, sprach zuweilen von ihr und ihren Sonderbarkeiten, von ihrem Egoismus, mit welchem sie zum Beyspiel sagte, ihre Kinder wären nur untergeordnete Rücksichten, wie meine Großmutter sich die Freyheit nahm, ihr über ihren grossen Aufwand, um ihrer Kinder willen, Vorstellungen zu machen; auch war die Rede von ihrem freyen Betragen, das aber bey Weibern von gutem Ton sehr gewöhnlich wäre, wie sie z. B. ihren Beichtvater und andere bey dem Nachttisch empfienge, in ihrer Gegenwart ihr Hemd wechselte, und dergleichen mehr. Dieser Ton, diese Sitten kamen mir sonderbar vor; aus Neugier ließ ich mir von meiner Großmutter mehr davon erzählen, aber ich verschloß die Eindrücke, die dieses alles auf mich machte, in meinem Innern; denn es schien mir, als dürfte ich sie nicht ganz zu erkennen geben.

Vierzehn Tage nach unserm Besuch kam Herr von Boismorel, der Sohn jener Dame, welcher damals nicht zu Hause gewesen war, zu uns. Er war ein Mann von sieben bis acht und dreißig Jahren, mit einem ernsten, sanften Gesicht, einem verständigen, edeln Ton. Seine Blicke schossen in langen Blitzen aus einem offnen etwas zu grossen Auge, seine starke männliche Stimme, der man anmerkte, daß Artigkeit sie milderte, hatte etwas seelenvolles, und den Ausdruck von einer mehr als oberflächlichen Höflichkeit. Er begegnete meiner Großmutter mit Ehrerbietung, nannte sie seine liebe Freundinn, und begrüßte mich mit der Art Achtung, mit welcher sich gefühlvolle Männer selbst zu ehren glauben, indem sie sie jungen Personen erzeigen. Das Gespräch war eben so leicht, wie es gemessen war; er nahm Gelegenheit, auf eine schmeichelhafte Art der Verbindlichkeiten zu erwähnen, die er gegen meine Großmutter hätte, und ich begriff, daß er ihr verblümt, aber auf eine feine Art zu verstehen gab, die Vorsehung lohnte ihr in dem einzigen Kinde, das sie ihr gegeben, für die großmüthige Sorgfalt die sie für fremde Kinder gehabt hätte. Ich fand Herrn von Boismorel sehr viel liebenswürdiger wie seine Mutter, und freute mich, ihn wiederkommen zu sehen, welches alle zwey oder drey Monate geschah. Er hatte sehr jung eine reitzende Frau geheirathet, die ihm einen Sohn geschenkt hatte, dessen Erziehung ihn sehr beschäftigte; er hatte sie selbst übernommen, und richtete sie nach philosophischen Absichten ein, bey denen ihm die Vorurtheile seiner Mutter, und die Frömmigkeit seiner Frau sehr im Wege standen; man beschuldigte ihn der Sonderbarkeit, er hatte von einer fürchterlichen hitzigen Krankheit Nervenzufälle behalten, und die alten Gräfinnen, die Grossen von der Magistratur, die kleinen Abbes aus seiner Familie, oder aus dem Kreis der Bekannten seiner Mutter, schrieben seine Meinungen und die Grundsätze, welche er bey der Erziehung seines Sohns befolgte, einer Gehirnschwäche zu, welche noch Folge seiner Krankheit wäre. Alle diese Umstände gaben mir, als ich sie erfuhr, eine grosse Neigung für ihn; ich fand, daß dieser sonderbare Mann richtig raisonnirte, ich fieng an zu merken, daß es wohl eine Vernunft für die Welt, und eine für das Haus geben möchte, so zu sagen eine Moral der Grundsätze, und eine andere des Handelns, aus deren Widerspruch alle die Verkehrtheiten entständen, die ich zuweilen wahrnahm, kurz daß man in der Welt denjenigen einen Thoren nennte, der nicht von der allgemeinen Thorheit angesteckt wäre, und diese Materialien zum Nachdenken häuften sich nach und nach in meinem grübelnden Gehirn an.

Meine Großmutter stellte die Gesinnungen und das Betragen des Herrn von Boismorel zuweilen gegen die Empfindung und das Betragen seiner Schwester, der Frau von Favieres; sie hatte über diese zu klagen, denn ihr Bruder war genöthigt gewesen, sie daran zu erinnern, daß Mademoiselle Rotisset ihre Verwandte wäre; (welches ihre Mutter, sagte ich zu mir selbst, eben so wenig zu wissen scheint, oder vergessen will) bey dieser hatte sie zu meiner grossen Freude, keine Lust mich aufzuführen, und sie merkte so gut wie ich gesinnt war, daß auch nie wieder die Rede davon war, zur Frau von Boismorel zu gehen.

Mein Vater hatte sein Amt wieder abgegeben, das Jahr, welches ich bey meiner Großmutter zubringen sollte, war verflossen, und ich kehrte nun zu meiner vortreflichen Mutter zurück; nicht ohne einigen Schmerz verließ ich das schöne Viertel der Isle de St. Louis, diese angenehmen Quais, das stille Ufer, wo ich an den Sommerabenden mit meiner Tante Angelika frische Luft schöpfte, den reitzenden Lauf des Stroms, und die Landschaft betrachtete, die sich in der Ferne abzeichnete, diese Quais, über welche ich im heiligen Eifer hineilte, um in der Kirche am Fuß der Altäre, meinem Gefühl nachzuhängen, ohne daß auf diesem einsamen Wege ein Gegenstand der Zerstreuung die süsse Andacht störte. Die Heiterkeit meiner Großmutter schmückte ihre Wohnung, wo ich so manchen fröhlichen, friedlichen Tag zugebracht hatte; ich verließ sie mit Thränen, ungeachtet meiner Liebe für meine Mutter, deren weit solidere Verdienste ein mehr Ehrfurcht gebietendes Aeusseres hatten, das ich bis dahin noch mit nichts verglichen hatte, wodurch es weniger anziehend hätte werden können, so wie ich es doch in diesem Augenblick dunkel fühlte. Als wahres Kind der Seine blieb ich immer in der Nähe ihrer Ufer; die Lage der Wohnung meines Vaters war von der Stille in der Nachbarschaft meiner Großmutter sehr verschieden; die beweglichen Gestalten der neuen Brücke verwandelten jeden Augenblick den Schauplatz, und ich trat im figürlichen Sinn wie in der Würklichkeit, bey der Rückkehr zu meiner Mutter, wieder in die Welt ein. Indeß genoß meine umherschweifende romantische Einbildungskraft doch noch der freyen Luft, und einer weiten Aussicht. Wie oft betrachtete ich nicht aus meinem Fenster, das gegen Mitternacht lag, mit Rührung den weiten Raum des Himmels, sein prächtiges, azurnes, schön gezeichnetes Gewölbe, das sich von dem blaulichen Aufgang weit hinter dem Pont-Au-Change, bis zum Niedergang, wo eine glänzende Aurorafarbe es vergoldete, hinter die Bäume des Cours und die Gebäude von Chaillot hinzog! Es gieng kein schöner Tag hin, an dessen Abend ich nicht einige Augenblicke so hingebracht hätte, und oft flossen in der Stille süsse Thränen aus meinen entzückten Augen, indeß mein Herz, das von einem unaussprechlichen Gefühl aufschwoll, dankbar für das Glück des Daseyns, dem höchsten Wesen eine reine, würdige Huldigung darbrachte. Ich weiß nicht, ob vielleicht ein gefühlvolles Herz jedem Gegenstande lebhaftere Farben verleiht, oder ob eine gewisse Lage, wenn sie auch weiter gar nichts auffallendes hat, besonders dazu beyträgt, die Empfindung zu entwickeln, oder ob das eine und das andere nicht gegenseitig Wirkung und Ursache ist; aber wenn ich mein Leben überdenke, bin ich unsicher, ob ich meinem Karakter oder den Umständen diese Vielfältigkeit, diese Fülle von Gefühl zuschreiben soll, die jeden Punkt meines Daseyns bezeichnet, und mir ein so lebhaftes Andenken jedes Ortes, an welchem ich mich aufgehalten habe, zurückläßt.

Cajou hatte immer fortgefahren, mir Unterricht in der Musik zu geben; er mochte mich gern von der Theorie, oder vielmehr dem Mechanismus dieser Kunst sprechen hören; denn indem er auch ein Stück von Compositeur war, verstand er doch keine Mathematik, und noch weniger Methaphysik, aber er suchte eine Ehre darinn, mir sein ganzes Wissen mitzutheilen; er betrübte sich fast eben so sehr über meinen Kaltsinn beym Singen, als er sich über die Leichtigkeit verwunderte, mit welcher ich ein Raisonnement verfolgte. Bringen sie doch etwas Seele hinein! rief er unaufhörlich; sie singen eine Arie wie die Nonnen des Magnificat leyren. Der arme Mensch sah nicht, daß ich zu viel Seele hatte, um sie in ein Liedchen zu legen; würklich fühlte ich mich jezt eben so verlegen, einer zärtlichen Arie Ausdruck zu geben, wie ehmals, wenn ich die Episoden von Eucharis und Erminia vorlesen sollte. Immer plötzlich in die Stelle der Person, die ich darstellen sollte, versetzt, konnte ich nicht mehr nachahmen; ich empfand würklich, was ich nur scheinen sollte, mein Athem stockte, meine Stimme zitterte, und daraus entstanden Schwierigkeiten, die sich, da ich um alles in der Welt nicht hätte leidenschaftlich werden mögen, nur mit der größten Anstrengung durch ein kaltes geistloses Singen überwinden liessen. Mignard, dessen spanische Höflichkeit meiner guten Großmutter sehr behagte, hatte, wie ich noch bey ihr war, angefangen, mich die Zitter zu lehren, und sezte seinen Unterricht nach meiner Rückkehr zu meinem Vater fort; in wenigen Monaten kannte ich das gewöhnliche Accompagnement, Mignard fand Gefallen daran, mein Talent auszubilden, und ich ward auch würklich geschickter wie er. Der arme Teufel verlor, wie ich es zu seiner Zeit sagen werde, den Kopf darüber. Majon ward zurückgerufen, um mich im Tanzen zu vervollkommnen, desgleichen Herr Sanftmuth für die Arithmetik, die Geographie, das Schreiben und die Geschichte. Mein Vater fieng wieder an, mir den Grabstichel in die Hand zu geben, er schränkte mich auf eine kleine Gattung ein, für die er mich durch meinen Vortheil interessieren wollte; denn da ich bald im Stande war, nützlich zu seyn, gab er mir kleine Arbeiten, deren Ertrag er mit mir theilte, indem er ihn am Ende der Woche nach einem Buche, das er mich darüber halten ließ, berechnete. Dieses Geschäft machte mir lange Weile, ich fand nichts schaler, als ein Uhrgehäus auszuarbeiten, oder ein Etui zu verzieren, und fand mehr Freude daran, ein gutes Buch zu lesen, als mir ein Band zu kaufen. Ich verhehlte meinen Widerwillen nicht, man ließ mir meinen Willen, und ich legte die Grabstichel beyseite, um sie nie wieder anzurühren. Jeden Morgen gieng ich mit meiner Mutter in die Messe, nach welcher wir zuweilen einkauften; wenn wir dieses abgethan hatten, meine Lektionen und die Ruhestunden vorüber waren, begab ich mich in mein Kabinet, um zu lesen, zu schreiben und nachzudenken. Als die langen Abende kamen, suchte ich meine Handarbeit wieder hervor, meine Mutter war so gefällig, mir dabey mehrere Stunden lang vorzulesen; ich hatte das sehr gern; da sie mir aber nicht Zeit ließ, das Gehörte nach Gefallen zu verdauen, kam ich auf den Einfall, Auszüge zu machen. Zu meiner ersten Beschäftigung des Morgens zeichnete ich also auf, was mir den vorhergehenden Abend am meisten aufgefallen war; nachher nahm ich das Buch wieder vor, um mir die Verbindungen einzuprägen, oder eine Stelle, die ich gern im Zusammenhang zu besitzen wünschte, abzuschreiben. Dieser Geschmack ward bald Gewohnheit, Bedürfniß und Leidenschaft. Da mein Vater nur eine kleine Büchersammlung besaß, die ich ehemals schon erschöpft hatte, so las ich jezt geborgte, oder gemiethete Bücher; ich konnte mich nie entschliessen sie zurückzugeben, ohne mir vorher durch jene Art von Auszügen zugeeignet zu haben, was mir das Beßte darinn schien: so erschöpfte ich Plüche, Rollin, Crevier, den Pater d' Orleans, St. Real, den Abbe Vertot, und Mezeray, der mit Vertot so wenig Aehnlichkeit hat, Mezeray, der trockenste aller Schriftsteller, den ich aber, weil er die Geschichte meines Vaterlands geschrieben hatte, kennen wollte. Die Großmama Bimont war nicht mehr von dieser Welt, mein kleiner Onkel wohnte jezt in St. Barthelemy, wo er einen bessern Platz hatte, als die Schulmeisterstelle bey den Chorknaben, und bey dem Obervikarius, dem Abbe le Jay, in Pension getreten war. Dieser Abbe le Jay hielt ein ganz artiges Haus, und wir brachten an Sonn- und Festtagen nach dem Gottesdienst die Abende dort zu. Er war ein ehrlicher alter Bursche, ganz rund und feist an Seele und Leib, elender Prediger, unbarmherziger Beichtvater, Casuist, und Gott weiß was noch mehr! Aber seinen Vortheil verstand er sehr gut; er hatte Mittel gefunden, seine beyden Brüder in Paris zu Notarien zu machen, wo sie in ihrem Stande, der damals angesehen und einträglich war, eine gewisse Rolle spielten. Er selbst hatte zur Führung seines Hauswesens eine Verwandtin zu sich genommen, die sich Fräulein Hanaches nannte; eine große Hopfenstange, dürr und gelb, mit barscher Stimme, die sich viel auf ihren Adel einbildete, und mit ihren Haushaltstalenten und alten Pergamenten aller Welt zur Last fiel. Am Ende war es aber doch immer ein Frauenzimmer, und das bringt in eine Priesterwirthschaft immer eine Art von Leben; übrigens verstand sie sich darauf, auf ihres Vaters Tisch Ueberfluß und Reinlichkeit, worauf er große Stücke hielt, zu erhalten. Dem Abbe le Jay war es sehr angenehm, einen so liebenswürdigen Kostgänger wie den Abbe Bimont zu haben, seine Mahlzeiten waren durch ihn munterer; seine Cousine war besserer Laune und seine Parthie Tricktrack fehlte ihm nie. Meine Mutter und die Cousine wurden dabey Partners; was mich anbetrift, so schien ich ziemlich verlassen, fand aber im Grunde bey der festgesetzten Beschäftigung dieser vier Leute meinen großen Vortheil. Der Abbe le Jay empfieng seine Gesellschaft in einem großen Büchersaal, den ich nach Wohlgefallen benutzte. Diese Quelle diente mir, so lange er lebte; das dauerte aber nur drey Jahr, einer seiner Brüder machte schlechte Geschäfte, darüber verlor er den Verstand, er schleppte sich sechs Wochen lang hin, stürzte sich endlich aus einem Fenster, und starb von dem Fall. Fräulein Hanaches, die damals wegen der Erbschaft ihres Onkels, des Herrn Capitains, einen Prozeß hatte, ward von meiner Mutter aufgenommen, und brachte achtzehn Monate bey ihr zu. Während dieser Zeit war ich ihr Sekretair, ich schrieb ihre Geschäftsbriefe, kopirte ihre theure Genealogie, sezte Bittschriften auf, die sie bey dem ersten Präsidenten, und dem General-Prokurator des Pariser Parlaments einreichte, als den eingesezten Verwaltern einer Pension, die ein Herr von St. Vallier für arme Fräulein gestiftet hatte; und ich begleitete sie zuweilen zu verschiednen Personen, bey denen sie sollicitirte. Ich nahm wohl wahr, daß man ohngeachtet ihrer Unwissenheit, ihres steifen Wesens, ihrer schlechten Sprache, ihrer altfränkischen Kleidung, und aller ihrer Lächerlichkeiten, ihren Ursprung in Ehren hielt; man horchte ernsthaft auf die Namen ihrer Ahnen, die sie immer wieder von neuem aufzählte, und man verwandte sich für ihr Gesuch. Ich verglich den anständigen Empfang, welchen sie fand, mit unserer Aufnahme bey Frau von Boismorel, die mir noch immer im Sinne war; ich konnte mir nicht bergen, daß ich Vorzüge vor der Fräulein von Hanaches hätte, deren vierzig Jahre, samt ihrem edlen Ursprung, sie nicht einmal in den Stand sezten, einen Brief zu schreiben, worinn Menschenverstand gewesen wäre, oder den man hätte herausbuchstabiren können; ich fieng an, die Welt für sehr ungerecht, und die gesellschaftlichen Einrichtungen für sehr ungereimt zu halten.

Laßt uns aber einmal sehen, was aus meinen Klosterfreundinnen geworden ist. Meine Agathe schrieb mir zuweilen in dem zärtlichen Ton, der diesen klagenden auf blosse Freundschaft heruntergesezten Tauben so eigen ist, und bey ihr durch ihre glühende Seele noch lebendiger wurde; so oft es ihr möglich war, waren diese Briefe mit kleinen Kästchen, niedlichen Nadelküßchen und Näschereyen begleitet. Von Zeit zu Zeit besuchte ich sie; und bey Gelegenheit eines Festes, das man der Superiorin gab, kam ich sogar in das Innere des Klosters. Man hatte sich die Mühe gegeben, dieses Vorrecht ohne mein Wissen vom Erzbischof zu erbitten, und stellte mir es nachher als eine ausnehmende Gunst vor, deren Werth ich auch wohl zu schätzen wußte. Alles war in Bewegung, die Mädchen in vollem Putz, der gemeinschaftliche Saal mit Blumen geschmückt, das Refektorium mit Näschereyen besezt: man muß gestehen, daß bey diesen Festen armer eingekerkerter Mädchen, wo man wohl etwas kindisch-läppisches finden konnte, doch auch jenes liebenswürdige, unbefangne, graziöse herrschte, was der Sanftheit der Weiber, ihrer lebhaften Einbildungskraft, ihrer unschuldigen Ausgelassenheit ganz ausschließlich eigen ist, wenn sie sich allein unter sich ergötzen, getrennt von einem Geschlecht, dessen Gegenwart, wenn sie nicht Thorheiten bey ihnen veranlaßt, sie immer nachläßiger macht. Ein kleines, sehr mittelmäßiges Drama, das aber durch die Stimmen der jungen Mädchen belebt wurde, welches darinn einige Verse im Chor sangen, war der erste Vereinigungspunkt der Gesellschaft, fröhliche Tänze folgten, Scherze, die zuweilen ziemlich glücklich ausfielen, heiteres Lachen, das um so lebhafter war, je mehr es gegen den gewöhnlichen Ernst abstach, das alles machte für alle liebe Nonnen und ihre Zöglinge die Saturnalien vollständig. Der Arzt war in das Krankenhaus gekommen, um einige Kranke zu besuchen; man mußte ihm wohl den Anblick dieses Festes gönnen; man führte ihn in einen mit Laubkränzen geschmückten Klostergang, wo eine Art Markt gehalten wurde; einige junge Novizinnen verkauften Lieder, andere vertheilten Kuchen, diese zogen eine Lotterie, jene machten die Zigeunerinnen und weißagten, kleine Kinder trugen Blumenkörbe, und auf einer Seite machte man ein Konzert. So wie die Doktorsperücke eintrat, liessen die Novizinnen ihren Schleyer nieder, die grossen Kostgängerinnen sahen nach, ob ihr Putz in Ordnung wäre, die kleinen Mädchen machten ein ernsthafteres Gesicht, und ich selbst hielt meine Zitter nicht mehr so nachläßig. Ich hatte sie an einem Bande über meine Schulter hängen, man hatte mich hören wollen, und von der Gelegenheit begeistert, hatte ich aus dem Stegreif zwey Strophen gedichtet, die ohngeachtet ihrer Mittelmäßigkeit die größte Würkung gethan hatten. Cajou wäre mit meinem Gesange zufrieden gewesen, denn da ich mich dem Gefühl, das ich ausdrücken wollte, völlig überlassen konnte, war nichts meinen Tönen im Wege gewesen. Man wünschte, ich möchte sie vor dem Arzte wiederholen; das veränderte die ganze Sache, meine Stimme war ungewisser, der Ausdruck wie verschleyert; eine alte Schwester bemerkte es boshaft genug, indem sie hinzu sezte, meine Gestalt wäre um desto anziehender geworden. Der Arzt gieng seiner Wege, alles war froh ihn abtreten zu sehen, aber niemand hätte gewünscht, daß er nicht gekommen wäre.

Sophie war zu ihrer Familie nach Amiens zurückgekehrt; vor ihrer Abreise war es uns gelungen, unsre beyden Mütter zusammen zu bringen, sie hatten unsre Verbindung so zu sagen geheiligt, hatten gegenseitig der Wahl ihrer Kinder Beyfall gegeben, und bey dem Versprechen gelächelt, das wir in ihrer Gegenwart ablegten, einander nie zu vergessen. Wir haben es ungeachtet aller Veränderungen, die sich, wie man sehen wird, damit ereigneten, besser gehalten, als sie damals glaubten. Mein Briefwechsel mit meiner guten Freundin ward sehr regelmäßig, ich schrieb ihr wöchentlich ein, und lieber gar zweymal. Was schriebt ihr euch aber? wird man fragen. – Alles was ich dachte, sah, fühlte, beobachtete, schrieb ich, und da fehlte es mir sicherlich nie an Stoff. Diese Mittheilungen erleichterten und nährten sich durch sich selbst; daß ich meine Betrachtungen ausgoß, forderte mich gleichsam auf, welche anzustellen; ich lernte eifriger, weil ich Freude daran fand, das Erlernte mitzutheilen, ich beobachtete aufmerksamer, weil ich gern schilderte. Sophie schrieb mir seltner; eine zahlreiche Familie, ein sehr besuchtes Haus, viel Gesellschaftspflichten, die Lebensart in der Provinz, wo man mit Kleinigkeiten sehr beschäftigt, und von Besuchen behelligt ist, bey denen man nichts lernt, und wovon man einen Theil aus Nächstenliebe regelmäßig am Spieltisch hinbringt: das alles lies ihr wenig Zeit, und gab ihr seltneren Stoff. Um desto mehr schäzte sie vielleicht alles, was ich ihr schrieb, und das vergrösserte meinen Genuß, mich mit ihr zu unterhalten. Der Tod des Abbe le Jay hatte mich seiner Bibliothek beraubt; ich hatte darinn Geschichtschreiber, Mythologen, Litteratoren und Kirchenväter gefunden, Cotrou und Rouille, welche den Horatius Cocles einen großmüthigen Einäugigen nennen, Maimbourg, der eben so geschmackvoll ist, Berrüyer, welcher die Geschichte des Volks Gottes in dem nämlichen Styl schrieb, wie Bitaube sein Gedicht Joseph, der Ritter Folard, der eine ganz andere Weise hat, und dessen militairische Details mir vernünftiger schienen, wie die Anmerkungen der Jesuiten; der Abbe Banier, der mir die Zeit besser vertrieb wie wie der Abbe Fleury; Condillac, und der Pater Andre, deren auf die Beredsamkeit und alles Schöne jeder Art angewandte Metaphysik mir ausserordentlich gefiel; einige Gedichte von Voltaire, die moralischen Versuche von Nicole, die Lebensbeschreibungen der Einsidler in der Wüste, und das Leben des Cartesius, von Andre Baillet, Bossuets Weltgeschichte, die Briefe des heiligen Hieronimus, Don Quichotte, tausend andere Sachen, die sich eben so schön reimten – nun mußte ich wohl zu den Buchhändlern meine Zuflucht nehmen. Mein Vater, der sich eben nicht viel mit Aussuchen abgeben konnte, ließ holen was ich ihm angab, und das waren Bücher, von welchen ich durch Citationen oder sonst, aus denen die ich schon gelesen, einen Begriff bekommen hatte; so zeichnete ich mir Uebersetzungen alter Geschichtschreiber, den Diodor von Sicilien und andere auf; so wollte ich die Geschichte meines Vaterlandes mit einem andern Schriftsteller als Mazeray, nachsehen, und wählte den Abbe Velly, und dessen Continuatoren, die weit weniger interessant sind, als er, ob sie gleich Epochen behandeln, wo sie es, wenn sie sein Talent besessen hätten, mehr als er hätten seyn sollen. So ließ ich mir Pascal, Montesquieu, Burlamaqui, Locke, und unsre vorzüglichsten Theaterdichter kommen: ich hatte keinen Plan, und keinen andern Zweck, als Kenntnisse zu erlangen, und mich zu unterrichten. Es war mir Bedürfniß, die Thätigkeit meines Geistes zu üben, und meinem Geschmack für das Ernsthafte Nahrung zu geben; ich hatte Glück vonnöthen, und konnte es nur in einer grossen Entwicklung meiner Fähigkeiten finden: es bestand für mich im angestrengten Fleiß. Ich weiß nicht, was unter den Händen eines geschickten Lehrers aus mir geworden wäre; hätte man mich bey einem besondern Gegenstand fest gehalten, so hätte ich es wahrscheinlich in irgend einer Wissenschaft weit bringen, oder ein grosses Talent erwerben können. Wäre ich dadurch besser oder nützlicher geworden? darüber lasse ich andere entscheiden; aber glücklicher wäre ich sicher nicht gewesen; ich kenne nichts, was der Fülle des Lebens, dem Frieden, der Zufriedenheit zu vergleichen wäre, die ich in jener Zeit der Unschuld und des Lernens genoß. Doch hatte sie auch ihre Störung; ist das Erdenleben je ganz davon frey?

Gewöhnlich las ich mehrere Bücher zugleich; das eine war mir Arbeit, das andere diente zur Ergötzung; weitläufige historische Schriften wurden, wie ich schon gesagt habe, in den Abendstunden laut gelesen, und das war fast die einzige Zeit, die ich mit meiner Mutter zubrachte, ich beschäftigte mich den ganzen Tag in meinem Kabinet mit Lesen, Auszüge machen, mit sonst einem Zeitvertrieb oder mit Nachdenken. In den schönen Jahrszeiten besuchten wir an Ruhetagen die öffentlichen Spaziergänge. Mein Vaters versäumte nie, mich auf alle öffentlichen Ausstellungen von Gemählden, oder andern Kunstwerken zu führen, die in jenen Tagen des Luxus und dieser Art von Wohlstand, in Paris so häufig waren. Er hatte bey diesen Gelegenheiten viel Vergnügen, denn indem er mich auf Dinge, die er besser wie ich verstand, aufmerksam machte, fühlte er mit Wohlgefallen seine Ueberlegenheit, und hatte seine Freude an dem Geschmack, den er in mir fand, wie an seinem Werke. Dieß war unser Berührungspunkt, hier trafen wir würklich zusammen; er war gegen keine Art von Gepränge gleichgültig, und man sah leicht, wie gern er sich mit einer wohlgebildeten Person öffentlich zeigte, wie sehr ein gewisses Gesumse von Lobsprüchen, das sich zuweilen um ihn her erhob, und der frischen Jugend seiner Begleiterin galt, ihm schmeichelte; wenn ihn dann jemand, unsicher was ich ihm etwa seyn möchte, anredete, sagte er mit bescheidnem Triumph: es ist meine Tochter. Ich war nicht die lezte diesen Ausdruck zu bemerken, der mich innig rührte, ohne mich eitel zu machen, denn ich sah nur seine Zärtlichkeit. Wenn ich sprach, war es deutlich wie er in den Umstehenden die Würkung meiner Stimme, oder des vernünftigen Sinnes, der etwa in meinen Reden lag, beobachtete, und wie er mit seinen Blicken zu sagen schien: »habe ich nicht Ursache stolz zu seyn?« Ich fühlte das alles, es machte mich oft schüchterner, aber ohne Unbehaglichkeit, ich hielt es blos für nöthig, durch meine Bescheidenheit den Hochmuth meines Vaters wieder gut zu machen. Wie vertrug sich aber das alles: die Welt, die schönen Künste, die Einbildungskraft, welche sie rege machen, die Lust zu gefallen, die bey Weibern so natürlich und so lebhaft ist, meine Frömmigkeit, mein Studiren; die Vernunft, der Glaube? Davon schrieb sich gerade die Unruhe her, von welcher ich eben sprach, deren Wachsthum und Würkungen wohl etwas auseinander gesezt werden müssen, ob es mir gleich einige Mühe kosten wird.

Bey gewöhnlichen Menschen, die natürlicher Weise mehr zum Empfinden, wie zum Denken aufgelegt sind, trift der erste Angriff der Leidenschaften den Glauben, wenn dieser das Werk der Erziehung gewesen ist; sie sind es auch, welche zwischen den Grundsätzen, die man annehmen mochte, den Wünschen, die durch diese nicht vertilgt werden konnten, und den Einrichtungen einer auf Vereinigung beider wahrlich schlecht berechneten Verfassung, Widersprüche hervorbringen. Allein in einem jungen, nachdenkenden, von den Gefahren der Welt entfernten Kopfe, beunruhigt sich die Vernunft zuerst, und fängt an zu untersuchen, ehe sie das mindeste Interesse hat zu zweifeln. Hatten indessen meine Bedenklichkeiten auch keine mich persönlich betreffenden Rücksichten zum Grunde, so hiengen sie doch mit meinem Gefühl zusammen; ich dachte durch mein Herz, und meine Vernunft war nie unempfindlich, wenn sie sich gleich unpartheiisch zu verhalten wußte.

Was mich zuerst in der Religion, der ich ergeben war, zurückstieß, war die allgemeine Verdammniß aller, die sie verkennen, oder nicht von ihr wissen. Als ich, durch die Geschichte genährt, den Umfang der Welt, die Folge der Jahrhunderte, den Gang der Staaten, die öffentlichen Tugenden, die Irrthümer so vieler Völker wohl ins Auge gefaßt hatte, fand ich es kindisch, kleinlich, unmenschlich, mir einen Schöpfer zu denken, der Millionen Geschöpfe, die schwachen Werke seiner Hand, von zahllosem Ungemach umgeben, und in eine Unwissenheit, aus welcher ihnen schon so viele Leiden entspringen, gehüllt, auf diese Erde sezte, um sie ewigen Quaalen zu übergeben. Mit diesem Satz bin ich also offenbar getäuscht: ist es der einzige? frisch zur Untersuchung! – So bald ein Katholik einmal so weit ist, kann ihn die Kirche für verloren achten. Ich begreife sehr wohl, warum die Priester eine blinde Unterwerfung verlangen, und so eifrig auf den frommen Glauben dringen, der ohne Untersuchung annimmt, und ohne Murren anbetet; er ist der Grund ihres Reichs, das zerstört ist, so bald die Vernunft thätig wird.

Nach der Grausamkeit, die ich in der allgemeinen Verdammniß fand, war es die Infallibilität, die mir am meisten auffiel, und bald verwarf ich die eine mit der andern. Was blieb denn nun Wahres? Dieß ward auf mehrere Jahre der Gegenstand einer unabläßigen Untersuchung, die ich mit einer rastlosen Thätigkeit, oft mit einer unbeschreiblichen Bangigkeit fortsezte. Kritische, philosophische, metaphysische, moralische Schriften wurden meine Lieblingslektüre, ich lauerte allem auf, was mich auf ihre Spur bringen konnte; sie zu vergleichen, zu analysiren, war meine Hauptbeschäftigung. Ich hatte meinen Beichtvater den Viktoriner nicht mehr; er war gestorben, der gute Herr L'allement, dessen Redlichkeit und Klugheit ich noch jezt so gern anerkenne. In der Nothwendigkeit, ihm einen Nachfolger zu wählen, hatte ich meine Augen auf einen Abbe Morel geworfen; er gehörte zu meinem Kirchensprengel und ich hatte ihn zuweilen bey meinem Onkel gesehen; es war ein kleiner Mann, dem es nicht an Verstand fehlte, der sich aber, welches denn meine Wahl bestimmte, zu sehr strengen Grundsätzen bekannte. Wie mein Glaube zu wanken anfieng, ward er zuerst davon benachrichtigt, denn ich habe nie etwas anders, als die Wahrheit sagen können; und er gab mir eiligst Apologisten und Vertheidiger der christlichen Religion in die Hände. Da schlug ich mich also mit dem Abbe Gauchat, dem Abbe Bergier, mit Abbadie, Holland, Clarke, u. a. m. herum; ich studirte sie mit aller Aufmerksamkeit, und machte zuweilen Anmerkungen, die ich in dem Buche liegen ließ, wenn ich es dem Abbe Morel zurück schickte: worauf mich dieser mit Erstaunen fragte, ob ich sie geschrieben und entworfen hätte. Am lustigsten war es, daß mir diese Schriften die Gegner, deren Widerlegung sie bezweckten, den Namen nach bekannt machten, welche Namen ich dann, um mir die Bücher zu verschaffen, sorgfältig aufschrieb. So giengen mir nach der Reihe der Versuch über die Toleranz, das Diktionaire Philosophique, die encyklopädischen Fragen, der Menschenverstand des Marquis d'Argens, die Jüdischen Briefe, der türkische Spion, die Sitten, Helvetius Buch vom Geist, Diderot, d'Alembert , Raynal, das System der Natur, durch die Hände.

Der Geist bildete sich jedoch nicht allein aus; auch die Natur machte auf alle Weise ihre Fortschritte. Ob mir gleich meine Mutter nicht deutlich gesagt hatte, was mir bevorstand, so war ich doch durch einiges, was ich gelegentlich von ihr hörte, hinlänglich unterrichtet, und meine Großmutter hatte sich besonders zuviel Spaß daraus gemacht, mir allerley Weissagungen zu machen, als daß ich über den Vorgang sehr erstaunt hätte seyn können.

Ich bemerkte ihn mit einer Art von Freude, als eine Einweihung in die Classe großer Personen, und verkündigte ihn meiner Mutter, die mich zärtlich umarmte, froh, daß ich diesen Zeitpunkt, den sie für meine Gesundheit fürchtete, so glänzend überstanden hatte. Ehe dieses vorfiel, hatte ich mich zuweilen auf die erstaunenswürdigste Art aus dem tiefsten Schlaf erweckt gefühlt. Die Einbildungskraft hatte nichts dabey zu thun, ich übte sie an zu viel ernsten Gegenständen, und mein scheues Gewissen hütete sich zu sorgfältig, sich mit andern zu beschäftigen, als daß es ihr möglich gewesen wäre, mir Dinge vorzustellen, die ich mir nicht verständlich zu machen erlaubte. Allein in der Wärme des Schlafs empörte eine ausserordentliche Wallung meine Sinne, und brachte durch die Kraft eines vortreflichen Körperbaues, eine Würkung hervor, die mir eben so unbekannt war, wie ihre Ursache. Das erste Gefühl, das daraus entstand, war, ich weiß selbst nicht warum, eine Art Furcht; ich hatte in meiner Philotea bemerkt, daß es uns ausser der Ehe nicht erlaubt ist, durch den Körper irgend eine Art Vergnügen zu haben; diese Regel fiel mir wieder ein: was ich empfunden hatte, konnte man ein Vergnügen nennen, ich war also strafbar, und auf die Weise, die mir am schmerzlichsten und beschämendsten seyn mußte, denn es ist die, welche dem fleckenlosen Lamme am meisten mißfällt! Das gab eine Unruhe in meinem armen Herzen, und Gebet, und Kasteyungen! Wie sollte ich es aber vermeiden? Denn vorhergesehen hatte ich es doch nicht, allein in dem Augenblick, wo ich es empfand, hatte ich mich nicht bemüht, es zu verhindern. Meine Wachsamkeit ward ausserordentlich, ich bemerkte, daß mir eine gewisse Stellung gefährlicher wie eine andere war, und vermied sie auf das allerstrengste. Meine Unruhe war so groß, daß sie mich endlich vor der Katastrophe aufweckte. Hatte ich dieser nicht entrinnen können, so sprang ich aus meinem Bett; und trotz der Kälte des Winters mit bloßen Füßen auf dem gebohnten Boden, flehte ich mit gekreuzten Armen den Herrn, mich vor der Versuchung des bösen Geistes zu hüten. Sogleich legte ich mir irgend eine Entsagung auf; ich habe das wohl eher im eigentlichen Verstand gethan, was uns der königliche Prophet wohl nur als eines Blume des orientalischen Styls überliefert: Asche mit meinem Brod zu vermischen, und es mit meinen Thränen zu tränken. Mehr wie einmal streute ich beym Frühstück zur Buße Asche statt Salz auf meine Butterschnitte, und empfand davon eben so wenig nachtheilige Folgen, als von den nächtlichen Zufällen, zu deren Abbüßung ich mich zu dieser ungereimten Kost bequemte. Es fiel mir endlich ein, daß dieses wohl Prüfungen wären, welche der Himmel zuliesse, um uns bey einem demüthigen Mißtrauen in uns selbst zu erhalten. Ich erinnerte mich der Gebete und Klagen des heiligen Paulus, um von einem gewissen Dämon und seinem lästigen Stachel befreyt zu werden; ich bildete mir ein, daß sich wohl deßwegen der heilige Bernhard gewälzt, der heilige Hieronimus mit einer härnen Kutte bekleidet hätte, daß darum das Fasten allen wahrhaft nach Vollkommenheit strebenden Christen so stark anempfohlen wäre. Wie demüthig und eifrig in meiner Andacht war ich, so oft mir dieses wiederfuhr! Meine Stimme, mein schüchternes Wesen, meine noch lebhaftere Farbe, meine feuchten glänzenden Augen: wie viel Ausdruck mußten sie einem Gesichte noch verleihen, das Unbefangenheit und Gefühl athmete! welches Gemisch von Unschuld, vorzeitiger Empfindung, gesundem Verstand und Einfalt! – gewiß, fast scheine ich mir glücklich, gefangen zu seyn, um mir diese pickanten Sonderbarkeiten wieder zurückzurufen, mit deren Erinnerung ich mich nicht wieder abgegeben hatte, und die mich würklich belustigen.

Ich sehe schon, wie die Neugierigen darauf aus sind, zu erfahren, was ich dann davon in der Beichte gesagt habe! Es kann ihnen nicht mehr Mühe kosten, es zu errathen, als ich damals Verlegenheit empfand, damit herauszurücken. Mein Gewissen mochte sich bey der strengsten Untersuchung noch so sehr beruhigen, ich kam immer wieder auf Philoteens Grundsätze zurück, also auch auf die Folgerungen; und wäre es auch endlich eine Prüfung gewesen, so mußte immer mit dem Beichtvater davon gesprochen werden. Wie war das anzufangen? wie sollte man es nennen, wie beschreiben? was konnte ich ausdrücken? – Herr Pater ich klage mich an ... nun wohl! – was nun weiter? – das Herz schlug mir, das Feuer stieg mir zu Gesicht, der Schweiß brach mir aus! »Ich klage mich an ... Bewegungen empfunden zu haben ... die der christlichen Keuschheit entgegen sind« – das geht gut! Santeuil konnte, wenn er einen Reim fand, und Archimedes, wenn ihm die Lösung eines Problems glückte, nicht froher seyn wie ich, als mir diese Wendung gelungen war. Wenn er nun aber weiter fragt? – Ey, er muß wissen; sagen kann ich einmal nichts weiter. Zitternder wie gewöhnlich und bis an das Kinn verschleyert, kniete ich an dem Tage neben den Beichtstuhl hin, und eilte, mein Herz seiner grösten Schuld zu entlasten – Haben sie etwas dazu beygetragen? – Ich weiß es nicht, aber Willen war nicht dabey. – Haben sie nie schlechte Bücher gelesen? – Nie. – Haben sie nie böse Gedanken genährt? – O nein, sie erschrecken mich! – Hm! nun weiter! – Ich weiß nicht, ob der gute Abbe Morel nun nicht selbst gegen einen bösen Gedanken zu kämpfen hatte; da aber seine weise Bescheidenheit nichts weiter hinzufügte, fand ich sein: Hm! nun weiter, gelte eben so viel wie ein schreiten zur Tagesordnung, und ich müßte wohl nicht so strafbar seyn, wie ich es gefürchtet; indeß gab er sich bey seiner Schlußermahnung viele Mühe, mir die Wachsamkeit über mich selbst anzuempfehlen, und mich zu erinnern, daß die Engelreinheit die dem Herren wohlgefälligste Tugend sey, und was der Gemeinsprüche mehr waren, die ich täglich las. Ich war nun überzeugt, es getroffen zu haben, wenn ich es für eine Prüfung hielt, und aus dem heiligen Paulus und andern Anwendungen machte. Mein Gewissen war von einem sehr müheseligen Zweifel befreyt, und ich war nun wachsam, ohne unruhig zu seyn. Man glaubt nicht, was diese Zurückhaltung, wie sie auch entstehen mag, für das ganze Leben für gute Folgen hervorbringt; sie ist so mächtig in mir geworden, daß ich aus Sittlichkeit und Delikatesse ebenso streng geblieben bin, wie ich es durch die Frömmigkeit damals geworden war. Ich habe meine Einbildungskraft so lange gemeistert, bis ich endlich über sie Herr geblieben bin; ich habe gegen jeden rohen einsamen Genuß eine Art Abneigung bekommen, und in gefährlichen Lagen, wenn mich die Verführung hätte hinreissen können, Vernunft oder Grundsätze zu vergessen, blieb ich aus Wollust tugendhaft. Ich finde Vergnügen und Glückseligkeit nur in der Vereinigung dessen, was das Herz und die Sinne ergötzen und keine Reue hervorbringen kann. Mit diesen Begriffen ist es schwer sich zu vergessen, und unmöglich sich zu erniedrigen; allein das alles schüzt nicht vor dem, was man Leidenschaft nennt, vielleicht erhält es den Stoff der sie nährt, sogar noch lebendiger. Ich könnte geometrisch hinzufügen. Q. E. D. Geduld: kömmt Zeit, kömmt Rath, auch mit diesem Beweise.

Mit den neuen Empfindungen eines glücklich gebildeten Körpers verband sich nach und nach alles, was zum Wunsche zu gefallen gehören kann. Ich mochte gern hübsch seyn; ich hörte gern, wenn man mich so fand, und beschäftigte mich wohlgefällig mit allem, was mir diese Annehmlichkeit verschaffen konnte. Hier ist vielleicht der Ort, mein Portrait aufzustellen, wenigstens kann es so gut hier wie anderwärts stehen. Im vierzehnten Jahr war ich so wie heute gegen fünf Fuß hoch, ich war damals schon völlig ausgewachsen; ein feines Bein, einen artigen Fuß, sehr runde Hüften, eine breite volle Brust, abfallende Schultern, eine feste zierliche Stellung, einen schnellen leichten Gang, so viel sah man auf den ersten Blick. Mein Gesicht hatte nichts Auffallendes, viel Frisches, viel Sanftheit und Ausdruck: wenn man alle diese Züge zergliedert, kann man wohl fragen: was ist denn daran eben schön? keiner ist regelmäßig, alle gefallen. Der Mund ist etwas groß, man sieht tausend schönere, aber keinen, dessen Lächeln verführender und süsser wäre; Das Auge ist im Gegentheil nicht groß, graulichbraun, aber hervorstehend, mit einem offnen, freyen, lebhaft sanften Blick, gekrönt mit wohlgezeichneten Augenbraunen, von der bräunlichen Farbe der Haupthaare; der Ausdruck dieses Auges ist so abwechselnd wie das Gefühl der Seele, deren Bewegung es macht, oft erstaunt es durch seinen Ernst, seine Strenge, weit öfter liebkost es, und gleichgültig läßt es nie. Die Nase verdroß mich ein wenig, ich fand sie zu dick gegen die Spitze, aber im Ganzen genommen, besonders von der Seite, verdarb sie eben nichts. Eine breite nackte Stirne, die in diesem Alter wenig bedeckt war, über den hohen Augenknochen gleichsam ruhend, auf deren Mitte Adern, wie ein griechisches y geformt, bey der geringsten Gemüthsbewegung aufliefen, war weit davon entfernt, so nichts bedeutend zu seyn, wie sie auf so vielen Gesichtern scheint. Was das ziemlich aufgestülpte Kinn anbetrift, so hatte es genau die Kennzeichen, welche die Physiognomisten dem Ausdruck der Wollust beylegen. Wenn ich diese Kennzeichen mit allem, was mir sonst eigenthümlich ist, vergleiche, zweifle ich, daß je ein Weib mehr für Wollust geschaffen war, als ich, und sie weniger genoß. Eine mehr glänzende als weisse, aber sammetweiche Haut, sehr hohe Farben, die durch die schnelle Röthe eines wallenden, von den reitzbarsten Nerven getriebnen Blutes, noch verstärkt wurden; ein runder Arm, eine wenn gleich nicht kleine doch artige Hand, deren zarte längliche Finger Geschicklichkeit verkünden, und dabey Grazie behalten, frische schön gereihte Zähne, das Wohlgenährte der vollkommensten Gesundheit: dieß waren die Schätze, mit denen die Natur mich ausgestattet hatte. Ich habe viele davon verloren, besonders die, welche von Embonpoint und Frische abhängen; was mir noch übrig bleibt, verbirgt ohne alle Anwendung der Kunst fünf oder sechs Jahre meines Alters, und ich muß, selbst Menschen, die mich täglich sehen, sagen, wie alt ich bin; sonst schäzt man mich nicht über zwey oder drey und dreyßig Jahre. Erst seit ich verloren habe, weiß ich, was ich alles besaß, und diese Unwissenheit gab meinen natürlichen Vorzügen vielleicht desto mehr Werth. Gemißbraucht habe ich sie übrigens nicht, und darum thut mir ihr Verlust nicht weh; wenn sich aber die Pflicht mit meinem Wunsche, was mir davon übrig bleibt, besser zu benutzen, vereinigen liesse, so würde ich auch zufrieden seyn. Mein Portrait ist mehrmals gezeichnet, gemahlt, und in Kupfer gestochen worden, aber keiner dieser Versuche giebt einen richtigen Begriff von meiner Person: es ist schwer, sie aufzufassen, weil sie mehr Seele wie Gestalt, mehr Ausdruck wie Züge hat. Ein gewöhnlicher Künstler kann sie nicht darstellen, vielleicht sieht er sie nicht einmal. Meine Phisionomie belebt sich nach Maaßgabe der Theilnahme, die man mir einflößt, so wie sich mein Geist nach Maaßgabe des Verstandes, den man gegen mich zeigt, entwickelt. Ich finde mich bey manchen Leuten so ungeheuer dumm, daß ich, wie mir meine Hülfsmittel in Gesellschaft geistreicher Menschen merkbar wurden, sehr lang in dem gutmüthigen Wahne stand, ich hätte sie ihrer Geschicklichkeit zu verdanken. Ich gefalle allgemein, weil ich niemanden, wer es auch wäre, beleidigen möchte, aber nicht einem jeden ist es gegeben, mich artig zu finden, und meinen Werth zu fühlen. Es giebt manchen eiteln Graubart, der, selbst viel zu eifrig, sich mit seinem kleinen Wissen, an welchem er lange Jahre sammelte, zu brüsten, mich zehn Jahre sehen könnte, ohne daß es ihm einfiele, mir mehr zuzutrauen, als daß ich eine Hausrechnung schliessen, und ein Hemd nähen könnte. Camille Desmoulins hat sehr recht, wenn er sich wundert, daß ich bey meinem Alter und so wenig Schönheit Anbeter habe, wie er es nennt. Ich habe nie mit ihm gesprochen, aber es liesse sich darauf wetten, das ich mit einem Menschen seiner Art, kalt und stillschweigend, wo nicht gar zurückstossend seyn würde. Wenn er mir einen Hof zuschreibt, irrt er sich; ich hasse die Galans, wie ich die Sklaven verachte, und verstehe mich vollkommen darauf, die Schmeichler abzuweisen. Was ich vor allem andern bedarf, ist Hochachtung und Wohlwollen, obendrein kann man mich meinetwegen auch bewundern, aber man muß mich auszeichnen und werth halten, und das fehlt mir nie, wenn man mich oft genug sieht, und Gefühl und gesunde Vernunft hat. Dieser Wunsch zu gefallen, der den jungen Busen hebt, und eine so süsse Regung empfinden läßt, wenn wir uns als den Gegenstand schmeichelhafter Blicke erkennen, dieser Wunsch, so sonderbar mit schüchterner Schaamhaftigkeit und strengen Grundsätzen verbunden, theilte meiner Person, so wie meiner Kleidung, einen eignen Reitz mit. Nichts war anständiger wie mein Anzug, nichts sittsamer, wie mein Betragen, ich drückte damit gern Zurückhaltung aus; ich suchte nur Grazie hineinzulegen, aber man lobte daran den Reitz. Diese Entsagung der Welt, diese Verachtung ihres Glanzes und ihrer Werte, welche die christliche Moral unabläßig predigt, vertrug sich schlecht mit der Stimme der Natur; anfangs quälte mich ihr Widerspruch; aber das Raisonnement erstreckte sich natürlicherweise auf die Lebensregeln, wie auf die Glaubensgeheimnisse, ich bemühte mich eben so sehr über das, was ich thun, wie über das was ich glauben sollte, Untersuchungen anzustellen. Die Philosophie als Moralwissenschaft und Grundlage zum Glück betrachtet, ward mein einziges Studium; meine Lektüre und meine Beobachtungen bezogen sich alle darauf.

Mir widerfuhr in der Metaphysik mit den Systemen das nemliche, was ich bey der Poesie empfunden hatte; ich glaubte mich in diejenige Person aus dem Drama verwandelt, welche am meisten Aehnlichkeit mit mir hatte, oder mir am beßten gefiel, und ich nahm die Meinung an, deren Neuheit oder Glanz mir auffiel, ich eignete sie mir bis zu einer neuen, gründlicheren Untersuchung zu. Mit den Streitschriften gieng es eben so: ich trat den Schriftstellern des Portroyal bey, ihre Logick und Strenge gefielen mir, indeß mir die Süßigkeit, und die unredlichen Ausflüchte der Jesuiten einen unwillkührlichen Widerwillen einflößten. Wenn ich mich mit den alten philosophischen Sekten abgab, erhielten die Stoicker die Palme; wie sie, versuchte ich zu behaupten, daß der Schmerz kein Uebel sey, und da diese Thorheit nicht dauern konnte, bestand ich wenigstens eigensinnig darauf, mich nicht von ihm überwältigen zu lassen; meine kleine Erfahrung überzeugte mich, daß ich den größten Schmerz ohne Schreyen ertragen könnte. Die erste Hochzeitnacht warf meine bisdahin behaupteten Ansprüche um, freylich trug die Ueberraschung etwas dazu bey, eine junge Schülerin der Stoa muß gegen vorausgesehene Uebel stärker seyn, als gegen solche, die unerwartet gerade da sie treffen, wo sie auf das Gegentheil rechnete.

Zwey Monate lang, während ich Cartesius und Mallebranche las, hatte ich meine Katze, wenn sie maute, als eine bloße Maschine, die im Gange war, angesehen, indem ich aber das Gefühl so von seinen Zeichen trennte, war es mir als legte ich das Seziermesser an die Welt, ich sah nicht mehr darinn, was mir Theilnahme einflößte. Viel angenehmer fand ich es, allem eine Seele zu verleihen, und lieber als sie ganz entbehren, hätte ich die Seele des Spinoza angenommen. Helvetius that mir weh, er vernichtete die entzückendsten Täuschungen, überall zeigte er mir aufbringende Selbstsucht. Aber welcher Geist, welche glückliche Auseinandersetzung! ich überredete mich, daß Helvetius die Menschen so darstellte, wie sie durch die Verderbniß der Gesellschaft geworden wären, und glaubte, es wäre gut diesen Schriftsteller zu kennen, um in dem, was man die Welt nennt, fortzukommen, ohne ihr Spiel zu werden, aber ich hütete mich seine Grundsätze zur Kenntniß des eigentlichen Menschen, und meiner selbst anzuwenden, ich hätte mich zu erniedrigen geglaubt; ich fühlte mich eines Edelmuths fähig, den er nicht anerkennt.Der Mangel einer haltbaren Moralphilosophie hat nirgends sichtbarer seyn müssen als in Frankreich, wo man »das Schlimme zwar so ziemlich zuverläßig kannte, allein bei weitem das Gute nicht.« Helvetius, den die besten Köpfe dieses Landes weit über seinen Werth als Denker schätzten, Helvetius, der das Bewußtseyn seiner eigenen moralischen Güte nur als persönliche Individualität, für welche er Erfahrungsgründe suchte, in sein System übertrug, Helvetius hat die sittliche Bildung seines Vaterlands vielleicht um Jahrhunderte zurückgesezt. Die helle Ansicht der Folgen, welche die Verderbniß des Zeitalters nach sich ziehen würde, eine Ansicht, die er mit vielen seiner Zeitgenossen gemein hatte, trug selbst dazu bei, diese Folgen früher zu reifen. Allein er hatte nichts gegeben, das alsdann die Menschen hätte leiten können, die Quelle selbst zu verstopfen. Konnte sie verstopft werden? Das war es eben, was die Frage nicht seyn durfte, weil darauf keine völlig abschliessende Antwort möglich war. Sie mußte verstopft werden: Diesen Satz auf einer unerschütterlichen Grundlage zu erbauen, und vor allen Eingriffen der Würklichkeit zu sichern – das hätte nothgethan; das verhinderten aber die wohlmeinenden und geistreichen Urheber der französischen Aufklärung, die, rings von den Krankheiten umgeben, über deren Beschaffenheiten sie nachdachten, sich nicht bis zum Begriff einer vollkommnen Gesundheit emporschwingen konnten. Was eine allgemeine, von beschränkter Erfahrung unanfechtbare Idee über einen menschlichen Geist vermag, beweist Condorcets lezte Schrift. Condorcet war unter den Schlachtopfern der jacobinischen Proscription bei weitem keines der muthigsten und entschlossensten, insofern der Muth und die Entschlossenheit als persönliche Temperamentseigenschaften angesehen werden. Aber auf dem Felsen der intellektuellen oder wissenschaftlichen Vervollkommnung in's Unendliche ruhend, hat er vielleicht allein unter allen Genossen seines Unglücks, sich vor gewissen Rückschritten auf der Bahn der Revolution zu verwahren gewußt. Ein solcher Felsen in der Moral hat den tugendhaftesten, den heldenmüthigsten Menschen der französischen Revolution gemangelt: wie oft sieht man die edle Unglückliche, mit deren innerstem Herzen man hier bekannt wird, sich nur durch Zurückrufung der zufälligen Eigenschaften ihres Karakters vor Reue und Verzweiflung schützen, weil die fürchterlichsten Erfahrungen ihre Grundsätze bestürmen?        H. Wie froh sezte ich ihm die großen Züge der Geschichte, und die Tugenden der durch sie berühmt gewordnen Helden entgegen! Ich las von keiner schönen That, ohne zu mir zu sagen: so hätte ich auch gehandelt. Ich begeisterte mich für die Republiken, weil in ihnen die meisten Tugenden meine Bewunderung auffoderten, weil die Menschen, welche meiner Achtung am würdigsten waren, ihnen angehörten; ich überredete mich, ihre Einrichtungen wären diesen Menschen wie jenen Tugenden allein angemessen, ich fühlte mich eines republikanischen Heldenmuths nicht unfähig, ich verwarf mit Unwillen den Gedanken, mich je mit einem Wesen zu verbinden, das meinen Griechen und Römern nachstünde; und ich fragte, warum ich nicht in dem Schoos eines Freystaats geboren ward?

Meine Mutter, der kleine Onkel, Fräulein von Hanache und ich machten eine Reise nach Versailles; man hatte keine andere Absicht dabey, als mir den Hof, den Ort, wo er sich aufhielt, zu zeigen, und sich mit diesem Schauspiel die Zeit zu vertreiben. Wir wohnten im Schloße. Madame Legrand, eine Kammerfrau der Dauphine, und Bekanntin des Abbe Bimont, mit welchem ihr Sohn, (von dem ich noch sprechen werde) auf der Schule gewesen war, hatte eben nicht den Dienst, und lieh uns ihre Zimmer, die unter dem Giebel waren, auf dem nämlichen Gange wie die Wohnung des Erzbischofs von Paris, und so nahe daneben, daß sich beide Theile in Acht nehmen mußten, damit keiner hörte, was beym andern gesprochen wurde. Zwey mittelmäßig meublirte Zimmer, in deren einem man oben die Schlafstelle eines Bedienten angebracht hatte, deren Eingang wegen der Dunkelheit des Ganges, und des Geruchs, welcher aus den benachbarten Abtritten duftete, abscheulich war: diese Wohnung, so wie man sie hier sieht, war um kein Haar anders, als die, welche ein Herzog und Pair von Frankreich sich glücklich schäzte, inne zu haben, um bey der Hand zu seyn, und bey dem Lever seiner Majestät mitzukriechen; und das war der Rigorist Beaumont! Acht Tage lang waren wir Zuschauer der grossen und kleinen Couverts für die ganze oder abgesonderte Familie, der Messen, Promenaden, des Spiels, der Aufführungen. Die Bekanntschaften der Dame Legrand waren uns vortheilhaft; Fräulein von Hanaches, drängte sich allenthalben keklich hinzu, immer bereit, ihren Namen einem jeden in den Bart zu werfen, der ihr den mindesten Widerstand thäte, und überzeugt, daß man ihren sechshundertjährigen Adel auf ihrem grotesken Angesicht läse. Sie erkannte drey oder vier Gardes dü Roi, deren ganze Genealogie sie uns umständlich aufsagte, wobey es sich fand, daß sie mit demjenigen von ihnen, der den ältesten Namen hatte, verwandt war, ob er gleich nur ein kleines Licht bey Hofe schien. Ein kleines niedliches Pfäfchen wie der Abbe Bimont, und eine häßliche, dummdreiste Gestalt, wie Fräulein Hanache, konnten an diesem Orte allenfalls einheimisch scheinen: aber das ungeschminkte Gesicht meiner ehrwürdigen Mutter, und mein bescheidner Putz, kündigten uns als bürgerlich an; wenn meine Augen oder meine Jugend einige Worte entlockten, so wurden sie beynahe im Protektionstone gesagt, und verdrossen mich fast so sehr wie die schönen Dinge, die mir Frau von Boismorel anzuhören gegeben hatte. Philosophie, Einbildungskraft, Gefühl und Berechnung waren bey mir gleich geübt. Gegen den Pomp war ich gar nicht unempfindlich, aber der höchste Unwillen ergriff mich, daß er nur angewandt wurde, um einige schon zu mächtige, an und für sich höchst gleichgültige Menschen auszuzeichnen. Die Statüen des Gartens machten mir viel mehr Freude, wie die Menschen im Schloße, und als mich meine Mutter fragte, ob ich mit der Reise zufrieden wäre, antwortete ich ihr, ja, wenn sie nur bald ein Ende hat; dauert sie aber noch einige Tage, so werde ich die Leute so hassen, daß ich nicht mehr wissen werde, wohin damit. – Was thun sie dir denn? – Ich sehe nichts wie Ungerechtigkeit und Abgeschmacktheit in allem, was sie vornehmen. Ich seufzte, wenn mir Athen einfiel, wo ich die schöne Kunst bewundert hatte, ohne durch den Anblick des Despotismus zu leiden; ich schweifte im Geist in Griechenland umher, wohnte den olympischen Spielen bey und ärgerte mich, eine Französin zu seyn. So für alles was ich in den schönen Zeiten der Republicken bewundert hatte, eingenommen, übersah ich die Ungewitter, die sie bestürmten; ich vergaß den Tod des Sokrates, die Verweisung des Aristides, das Verdammungsurtheil gegen den Phocion. Ich wußte nicht, daß mich der Himmel bestimmte, Zeugin gleicher Irrthümer zu seyn, wie diejenigen gewesen waren, deren Opfer diese Männer wurden; daß er mich bestimmte, wie sie verfolgt zu werden, nachdem ich ihre Grundsätze bekannt hatte. Gott weiß, daß mir mein eignes Unglück keinen Seufzer kostet, ich leide nur bey den Uebeln, die mein Vaterland treffen. Wie sich im Jahr 1771 der Hof und die Parlamente entzweyten, trieben mich meine Meinungen und meine Denkungsart, den leztern alles Heil zu wünschen; ich verschafte mir alle Remontrancen, und hatte die am liebsten, welche die stärksten Wahrheiten in dem kühnsten Styl sagten. Meine Begriffe erweiterten sich immer mehr; mein eignes Glück und die Pflichten von deren Erfüllung es abhieng, beschäftigten mich sehr frühzeitig; aus Durst nach Kenntnissen, verschlang ich nachher die Geschichte, und merkte auf alles, was mich umgab. Das Verhältniß meiner Gattung zur Gottheit, das so verschieden dargestellt, so überladen, so entartet wird, zog meine Aufmerksamkeit an; das Schicksal der vereinigten Menschen, und die Bildung der Gesellschaften hielt sie fest.

Mitten unter allen Ungewißheiten und Untersuchungen über diese grossen Gegenstände ward ich bald inne, daß die Einheit des persönlichen Selbsts, wenn ich so sagen darf, das heißt, die gröste Uebereinstimmung zwischen Meinungen und Betragen, zum eignen Wohlergehen unentbehrlich sey. Es ist also nothwendig, zu untersuchen, was recht ist, und einmal erkannt, es unnachläßlich auszuüben. Nun muß man aber gegen sich selbst eine Art der Gerechtigkeit handhaben; wäre man auch ganz allein auf der Welt, man muß seine eignen Meinungen und Gewohnheiten ordnen, um von keiner derselben beherrscht zu werden. Ein Wesen ist an sich gut, wenn alle seine Theile zu seiner Erhaltung, Aufrechthaltung und Vervollkommnung beytragen, dieses findet moralisch und physisch statt. Die Vollkommenheit der Organisation, das Gleichgewicht der Säfte, bringt die Gesundheit hervor, gesunde Nahrung, mäßige Bewegung erhalten sie. Die Beschränkung der Wünsche, die Harmonie der Leidenschaften, machen die Bestandtheile des moralischen Baues, dessen Vortreflichkeit und Dauer allein von der Weisheit abhängt. Ihr erster Grundsatz beruht auf dem eignen Vortheil des Individuums, und in der Rücksicht hat man Recht zu sagen, daß die Tugend nur der gesunde Verstand in Anwendung auf die Sitten ist. Allein was man eigentlich Tugend nennt, nimmt seinen Ursprung nur in den Verhältnissen eines Wesens mit Wesen seiner Art; weise ist man für sich allein, gegen andere ist man tugendhaft. In der Gesellschaft wird alles verhältnißmäßig, es giebt kein unabhängiges Glück mehr, man muß einen Theil dessen, was man geniessen könnte, aufopfern, damit man nicht des Ganzen verlustig werde, und um ein ansehnliches Stück dieses Ganzen vor aller Anfechtung sicher zu erhalten. Hier ist selbst die Berechnung noch zum Vortheil der Vernunft, so mühselig auch das Leben der Rechtschaffnen seyn mag, so ist das des Bösewichts doch noch lästiger. Wenn man gegen den Vortheil der grössern Menge anstrebt, hat man selten Ruhe; man kann sich nicht bergen, daß man von Feinden, oder solchen, die im Begriff sind es zu werden, umgeben ist; und so schmeichelhaft der Anschein seyn mag, so ist diese Lage immer peinlich. Fügt man diesen Betrachtungen noch den erhabnen Instinkt hinzu, den die Verderbniß irre leiten, aber keine falsche Philosophie vernichten kann, der uns Bewunderung für die Weisheit und Großmuth im Handeln, wie für das Ebenmaaß und die Erhabenheit der Natur oder der Künste einflößt,Ich schreibe dieses am 4ten September um eilf Uhr Abends, indeß das benachbarte Zimmer von Gelächter schallt. Die Aktricen des Theatre francois, welche man gestern verhaftete, und nach St. Pelagie führte, wurden heute zur Abnehmung der Siegel nach Hause gebracht, und dann in das Gefängniß zurückgeführt, wo der Friedensrichter nun mit ihnen zu Abend ißt, und sich lustig macht. Die Mahlzeit ist lustig und lärmig, man hört derbe Spässe, und die fremden Weine sprudeln. Der Ort, die Gegenstände, die Menschen, meine Beschäftigung, das alles macht einen Kontrast, der mir sonderbar scheint. so finden wir die Quelle der menschlichen Tugend sehr unabhängig von allen religiösen Systemen, allen Seifenblasen der Metaphysick, und allem Priesterbetrug. So bald ich mir diese Wahrheiten recht klar gemacht hatte, athmete ich froh auf; sie zeigten mir einen Hafen im Sturm, und ich konnte nun weniger ängstlich die Irrthümer in den Glaubenslehren der Nationen, und den Einrichtungen der Gesellschaft ausforschen. Der schöne Gedanke von einer schaffenden Gottheit, einer Vorsehung, die über diese Welt wacht. Die geistige Natur unsrer Seele, ihre Unsterblichkeit, die tröstende Hofnung der verfolgten Tugend, wäre dieses alles nur Hirngespinst? Wie viele Wolken verdunkeln diese schweren Fragen! wie mancher Einwurf sezt sich ihnen entgegen, wenn man sie mit metaphysischer Strenge behandeln will? – Nein, der menschliche Geist ist nicht berufen, sie je im Lichte der vollkommnen Ueberzeugung zu sehen; aber was liegt der gefühlvollen Seele daran, sie nicht beweisen zu können? Ist es ihr nicht genug sie zu empfinden?

In der Stille des Studirzimmers, bey einer dürren Untersuchung, will ich dem Gottesläugner oder Materialisten wohl eingestehen, daß gewisse Fragen unauflöslich sind, aber auf dem freyen Felde, bey der Betrachtung der Natur, erhebt sich mein bewegtes Herz zu dem belebenden Urgrund, der alles beseelt, zu dem Geist der alles ordnet, zu der Güte, die mich in allem so viel finden läßt. Wenn undurchdringliche Mauern mich von allem was ich liebe scheiden, wenn alle Uebel der Gesellschaft uns vereinigt treffen, als straften sie uns, ihr höchstes Wohl beabsichtigt zu haben, so erblicke ich jenseits der Grenze dieses Lebens, den Preis unsrer Aufopferung, und das Glück unsrer Vereinigung. Wie? auf welche Art? das ist mir unbekannt, ich fühle nur, daß es so seyn wird.Dieses Gemisch von Empfindung und Spekulation, durch ein Paar untrügliche praktische Grundsätze verbunden, konnte unstreitig hinreichen, solange das Thun der Madame Roland auf sie und die ihrigen beschränkt war. Aber an dem ganzen Zustand ihrer Seele, so wie man ihn nicht blos in dieser, eine Art von Beruhigung athmenden Stelle, sondern in der Vergleichung mehrerer Stellen ihrer Schrift kennen lernen muß, sieht man deutlich, daß sie für den Theil ihres Lebens, wo sie die Verantwortlichkeit übernommen hatte, nach aussen und gleichsam in die Weite hin zu würken, damit nicht durchgängig auskam: denn hier bedurfte sie eines festeren, und entschiedneren Zusammenhanges ihres Vernunftgebäudes; und wie hätte sie, mit allen psychologischen Eigenthümlichkeiten ihres Geschlechts, diesen auffassen können, da von den Männern, welche dieselbe Bahn verfolgten, keiner vielleicht ihn habhaft wurde? – wenn es indessen sehr nützlich seyn kann, sie und die Gefährten ihres Unglücks zu beurtheilen, so hüte man sich auch, sie zu richten, und auf diese Weise der Aftervernunft, welche mit unsrer moralischen Erschlaffung in Bündniß tritt, zu überantworten; denn selbst für die goldene Regel: Zweifelst du, so enthalte dich des Handelns, ist in Revolutionen der wahre casus in terminis oft schwerer zu finden, als das Phlegma mancher Kritiker sich einbildet.        H.

Der Atheist ist kein verkehrter Kopf; ich kann mit ihm eben so gut, und noch besser, wie mit dem Frommen leben, denn er raisonnirt mehr; aber ihm fehlt ein Sinn, und meine Seele kann sich nicht mit der Seinigen vermischen; er bleibt bey dem entzückendsten Schauspiel kalt, und sucht einen Syllogismus, wo ich mich in Dank ergiesse. Ich bin nicht mit einmal zu dieser sichern Ruhe gelangt, in welcher ich der erwiesenen Wahrheiten geniesse, mich mit Zutrauen glüklichen Empfindungen überlasse, und mich damit begnüge, das was ich nicht verstehen kann, nicht zu kennen, ohne mich je über anderer Meinung zu beunruhigen. Ich liefre hier in wenig Worten, das Resultat vom Nachdenken und Studiren einiger Jahre, in welchen ich mich manchmal zu den Ansprüchen des Deisten, der Strenge des Atheisten, der Gleichgültigkeit des Stoikers neigte, jederzeit aber mit redlichem Sinn, denn weil ich keinen Vortheil hatte, meine Meinung zu ändern, um in meinen Sitten nachzulassen, deren Vorschriften für mich ausser der Gewalt jedes Vorurtheils lagen, so kannte ich wohl die Unruh des Zweifels, aber nie die Qualen der Furcht . Ich bequemte mich zu dem eingeführten Gottesdienst, weil mein Alter, mein Geschlecht, meine Lage, mir eine Pflicht daraus machten; des Betrugs unfähig, sagte ich zum Abbe Morel: ich beichte, um meinen Nächsten zu erbauen, und meine Mutter nicht zu beunruhigen, aber ich weiß nicht recht, wessen ich mich beschuldigen soll; meine Lage ist so ruhig, mein Geschmack so einfach, daß sich mein Gewissen nichts vorzuwerfen hat, obschon es kein grosses Verdienst von mir ist, recht zu handeln. Indessen beschäftigt mich zuweilen der Wunsch zu gefallen zu sehr, und ich überlasse mich zu sehr der Ungeduld, wenn meine Aufwärterinnen oder andere, etwas ungeschickt machen. Vielleicht bin ich auch in meinem Urtheil über andre nicht nachsichtig genug, und lasse mich, wenn ich es gleich nicht äussere, gegen dumme oder langweilige Menschen, zu leicht von Widerwillen einnehmen. Ich will mich dagegen hüten. Endlich bin ich bey Religionsübungen zu kalt und zerstreut, und ich gestehe ein, daß man alles, was man zu thun für nützlich hält, mit Aufmerksamkeit thun muß. – Der gute Abbe Morel, der seine Bibliothek und Redekunst erschöpft hatte, um mich gläubig zu erhalten, hatte gesunden Verstand genug, um sich darein zu ergeben, daß er mich vernünftig fand. Er ermahnte mich gegen den Geist des Stolzes auf meiner Hut zu seyn, stellte mir nach besten Kräften die Süßigkeit der Religion vor, gab mir nach seiner Weisheit die Absolution, und war froh, wenn ich zwey oder dreymal des Jahres, da es nicht mehr ein Werk des Glaubens war, doch aus philosophischer Duldsamkeit zum Tisch des Herrn gieng. Ich genoß des himmlischen Mahls, und dachte dabey an Cicero, der gesagt hat, daß den Menschen nach allen Thorheiten in Rücksicht auf die Gottheit nichts mehr übrig bleibe, als sie in Nahrung zu verwandeln und zu speisen. Meine Mutter neigte sich täglich mehr zu einem andächtigen Wesen, das es mir unmöglicher machte, mich von den gewöhnlichen Religionsübungen zu entfernen; und ich fürchtete nichts mehr als sie zu betrüben.

Der Abbe le Grand, meines Onkels Freund, besuchte zuweilen meine Mutter. Dieser Mann hatte ein sehr richtiges Urtheil, und von seinem Stande nichts als die Kleidung, die ihn noch dazu ziemlich verlegen machte. Seine Familie hatte ihn Priester werden lassen, weil man von drey Söhnen doch einen der Kirche weihen mußte. Er war anfangs Kapellan des Prinzen von Lamballe, erhielt aber nachher eine Pension von Penthievre, hatte sich in einer Pfarrey niedergelassen, um doch irgend wohin zu gehören, und sich seinem Freund genähert, um des Vergnügens willen ihn zu sehen. Er litt an einer großen Augenschwäche, und wurde in früher Jugend blind. Dieser Umstand, der seinen Geschmack vermehrte, bildete ihn vollends zum spekulativen Kopf. Er unterhielt sich gern mit mir, und brachte mir oft Bücher, meist philosophische Werke, über deren Grundsätze er sich sehr freymüthig ausließ. Meine Mutter ließ sich nicht in weitläufige Erörterungen ein, ich getraute mir nicht, diese Gespräche sehr weit zu treiben; indessen verhinderte sie mich nicht am Lesen, und tadelte diese Gattungen von Schriften nicht.

Ein Genfer Uhrmacher, ein guter Mann, der mit meinem Vater Geschäfte machte, und neben seinem Handwerkzeug immer ein Buch hatte, auch eine ziemlich artige Bibliothek besaß, die er besser kannte wie mancher große Herr die seinige, bot mir den Gebrauch dieses sehr willkommnen Schatzes an, den ich auch ohne Umstände benuzte. Dieser brave Herr More hatte einen geraden Verstand, und raisonnirte nicht allein über seine Kunst, sondern auch über Politik und Moral, und ob er sich gleich mit einer Mühseligkeit, einer Langsamkeit ausdrückte, die meine Ungeduld kaum ertragen konnte, so besaß er doch die den meisten seiner Landsleute eigene solide Vernunft, bey welcher man sich den Mangel der Anmuth gefallen läßt. Von ihm erhielt ich, ausser mehreren andern Schriften, auch Büssons Werke, die ich besonders anführe, weil ich vorher schon von der Behutsamkeit, mit welcher ich sie las, gesprochen habe. Indem die Philosophie meine Seelenkräfte entwickelte, und meinem Geiste Kühnheit gab, blieb sich die Zartheit meines Gefühls, und die Empfänglichkeit meiner Einbildungskraft, gegen die ich so sehr auf meiner Hut zu seyn hatte, immer gleich. Anfangs beschäftigte mich eine Zeitlang die Physik, nachher die Mathematik; Nollet, Reaumür, Bonnet, der da träumt indeß andere beschreiben, kamen dann an die Reihe, auch Maupertuis der Klaglieder singt, selbst indem er die Liebesfreuden der Schnecken beschreibt; Rivard gab mir endlich Lust zur Geometrie. Eines Tages fand mich Guering, ein Marmorschneider und Feldmesser, der meinen Vater zu sprechen verlangte, dergestalt in meinen Quartanten von Rivard vertieft, daß ich ihn nicht hatte hereinkommen hören. Er trat mit mir ins Gespräch, und bemerkte, daß die Elemente des Clainaut weit dienlicher zu meinem Zwecke wären; den folgenden Tag brachte er mir das Exemplar das er in Händen hatte. Ich fand die ersten Grundsätze würklich einfach darinn zusammengezogen, und da ich überlegte, daß mir dieses Buch nützlich wäre, und daß ich es dem Eigenthümer doch nicht so lange, als ich es zu besitzen wünschte, vorenthalten könnte, entschloß ich mich kurz und gut, es von einem Ende zum andern, mit Innbegriff der sechs Kupferplatten, zu kopieren. Ich muß über das Unternehmen noch lachen, so oft ich daran denke. Jeder andere hätte das Werk zu kaufen gewünscht, das fiel mir gar nicht ein; es kam mir so natürlich vor, es abzuschreiben, wie ich mir etwa ein Muster abgestochen hätte; es war ein kleiner Oktavband, und das saubre Manuscript muß noch irgendwo unter meinem Papierwuste stecken. Die Geometrie gefiel mir, so lang es keiner Algebra bedurfte, aber diese kam mir so dürr vor, daß ich sie, gleich nach den Aequationen des ersten Grads satt hatte: ich warf die Brüche über alle Berge, und fand, daß man besser thäte, ein schönes Gedicht zu lesen, als sich das Gehirn über Wurzeln auszutrocknen. Wie mir Herr Roland einige Jahre nachher den Hof machte, versuchte er umsonst diesen alten Geschmack in mir zu beleben, wir mahlten eine Menge Zahlen, aber die Vernunft durch X schien mir nie liebenswürdig genug, um mich lange zu beschäftigen.

( Den fünften September. Ich verschneide das Heft, um das was schon geschrieben ist in die kleine Schachtel zu legen. Denn wenn ich eine Revolutionsarmee dekretiren, neue Bluttribunale errichten, die Theurung drohen, die Tyrannen in den lezten Zügen sehe, sage ich mir selbst, daß sie neuer Opfer bedürfen werden, und daß niemand seines Lebens auf vier und zwanzig Stunden sicher seyn kann.)

Der Briefwechsel mit Sophien war immer eines meiner grösten Vergnügen. Unsre Freundschaft hatte durch verschiedne Reisen die sie nach Paris machte, noch an Innigkeit zugenommen. Mein gefühlvolles Herz bedurfte, ich will nicht sagen, eines Hirngespinstes, aber eines herrschenden Gegenstandes, und besonders hatte es Zutrauen und Mittheilung vonnöthen: mit Entzücken nährte ich die Freundschaft, die mir diese gewährte. Mein Verhältniß gegen meine Mutter, so süß es auch war, konnte mir dieses Gefühl nicht ersetzen, es behielt immer etwas von dem Ernst, den die Ehrerbietung von der einen, und das Ansehen von der andern Seite hervorbringt. Meine Mutter konnte alles wissen, ich verhehlte ihr nichts; aber ich konnte ihr nicht alles sagen, einer Mutter macht man wohl Geständniße, aber Vertrauen hat man nur gegen seines Gleichen.

Ohne meine Briefe an Sophien von mir zu fordern, mochte sie sie doch gern lesen, und wir hatten eine ziemlich lustige Einrichtung in diesem Punkt getroffen, wir waren ohne weitere Erklärung darüber einverstanden. Wenn ich Briefe von meiner Freundin erhielt, welches regelmäßig alle Wochen geschah, las ich einige Stellen daraus vor, theilte sie aber nicht völlig mit; wenn ich ihr geschrieben hatte, ließ ich den Brief gefaltet und überschrieben, doch ungesiegelt einen Tag lang auf dem Tische liegen; meine Mutter ermangelte nicht hineinzublicken, aber selten in meiner Gegenwart; traf sich dies aber doch, so hatte ich sogleich einen Vorwand das Zimmer zu verlassen, und mochte sie ihn angesehen haben oder nicht, so siegelte ich ihn, wenn ich ihr dazu die gehörige Zeit gelassen hatte, zu, doch nicht immer, ohne erst eine kleine Nachschrift beyzufügen. Sie hatte nie mit mir von dem Inhalt dieser Briefe gesprochen, aber ich hatte dadurch immer ein Mittel bey der Hand, ihr alles was sie von meiner Stimmung, meinen Wünschen und Meinungen wissen sollte, mitzutheilen; ich drückte das alles auf diesem Wege mit einer Offenherzigkeit aus, die ich mir gegen sie selbst nicht erlaubt hätte. Meine Freymüthigkeit verlor nicht dabey, denn ich fühlte mich dazu berechtigt, ohne daß andre es zum Tadel waren. Ich habe nachher oft gedacht, daß ich an meiner Mutter Stelle gewünscht hätte, ganz die Freundin meiner Tochter zu werden; wenn mir etwas leid thut, so ist es, daß die meinige nicht so ist, wie ich damals war; wir würden ein Herz und eine Seele seyn, und ich wäre glücklich. Aber meine Mutter war bey vieler Güte sehr kalt, und mehr vernünftig wie gefühlvoll, mehr gemäßigt wie innig. Vielleicht bemerkte sie auch einen Schwung in mir, der mich weiter wie sie führen würde, ihr Betragen ließ mich ohne Zwang, wie ohne Vertraulichkeit. Sie war nicht liebkosend, ob gleich ihr Blick Zärtlichkeit hauchte und gewöhnlich auf mir ruhte; ich fühlte ihr Herz, es durchdrang das meine, aber ihre äussere Zurückhaltung brachte eine gleiche Empfindung in mir hervor, die ich ausser dem nicht gegen sie gehabt hätte; es schien sogar, seit ich die Kinderjahre zurückgelegt hatte, als ob eine größere Entfernung zwischen uns statt fände. Meine Mutter hatte Würde, zwar war sie rührend, aber es blieb diese Würde doch immer Würde; die Ergiessungen meiner glühenden Seele wurden durch sie zurückgescheucht, und ich habe die Höhe meiner Zärtlichkeit für sie fast durch die Verzweiflung und Raserey des Schmerzens, worein ihr Tod mich stürzte, kennen gelernt. Unsre Tage verflossen in einer köstlichen Stille; meistens beschäftigte ich mich mit einsamen Studien, versezte mich ganz in das Alterthum, dessen Geschichte, und Künsten ich nachspürte, dessen Meinungen und Grundsätze ich untersuchte. Früh die Messe, einige Stunden gemeinschaftlicher Lektüre, die Mahlzeiten und die Stunden des Ausgehens waren die einzige Zeit, wo ich mit meiner Mutter zusammen kam; das Ausgehen traf sich selten; wenn Besuche kamen, die mir nicht anstuhnden, wußte ich fein in meinem Cabinet zu bleiben; meine gute Mutter hatte mir nicht den Possen gespielt, mich daraus abzurufen. Sonn und Festtage waren immer zu Spatziergängen bestimmt; oft gieng man weit, und bald geschah dieß häufiger, weil ich das freie Feld den gepuzten Gärten der Hauptstadt vorzog. Zuweilen machte es mir Vergnügen auf öffentlichen Promenaden zu erscheinen. Damals gaben sie ein sehr glänzendes Schauspiel, wo die Jugend immer eine angenehme Rolle spielte. Die persönlichen Reitze ärndeten dort immer eine Huldigung, welche die Sittsamkeit sich nicht verhehlen kann, und wonach das Herz eines jungen Mädchens immer lüstern ist. Aber mir genügte sie nicht: ich empfand nach diesen Promenaden, während welcher meine aufgeregte Eigenliebe immer auf alles lauerte, was mich mit Vortheil erscheinen machte, und mir die Gewißheit verschaffen konnte, meine Zeit nicht verloren zu haben, eine unerträgliche Leere, eine Unruhe und einen Widerwillen, womit ich die Freuden der Eitelkeit zu theuer bezahlte. Gewohnt nachzudenken, und mir von meinen Empfindungen Rechenschaft zu geben, suchte ich mühsam nach der Ursache meiner Unbehaglichkeit, und meine Philosophie hatte vollen Spielraum.

Bildet sich denn unser Geschlecht zur Tugend, erwirbt es sich Talente, blos um wie ein Blumenbeet das Auge zu ergötzen, und eitels Lob zu ärndten? – Was bedeutet denn dieses heisse Verlangen zu gefallen, von dem ich verzehrt bin, und das, selbst wenn es befriedigt scheint, mich nicht glücklich macht? Was gehen mich die Blicke, die leise gemurmelten Schmeicheleyen eines Haufens an, der mir unbekannt ist, der vielleicht aus Leuten besteht, die ich sehr wenig schätzen würde, wenn ich sie kennte? Bin ich denn auf der Welt, um mein Leben in kindischen Bemühungen oder stürmischen Gefühlen aufzuwenden? – Nein, gewiß habe ich eine bessere Bestimmung; diese Bewunderung, die mich für alles weise, große, schöne, edle entflammt, lehrt mich, daß ich berufen bin, es auszuüben; die erhabnen Pflichten einer Gattin und Mutter werden einst auch die meinen seyn, meine jungen Jahre müssen dazu angewandt werden, mich ihrer fähig zu machen, ich muß ihre Wichtigkeit erwägen, ich muß meine eignen Neigungen bemeistern lernen, um einstens die Neigungen meiner Kinder zu leiten, ich muß mir durch die Gewohnheit über mich selbst zu herrschen, durch die Bemühung meinen Geist zu bilden, die Mittel zusichern, das Glück der süssesten Verbindung zu machen, den Sterblichen, den mein Herz erwählt, mit Glückseligkeit zu sättigen, und diese seine Glückseligkeit, die ganz mein Werk seyn muß, auf alles was ihn umgiebt zurückströmen zu lassen. Mein Busen wallte bey diesem Gedanken; mein bewegtes, schwellendes, gerührtes Herz preßte mir reichliche Thränen aus, es erhob sich zu dem obersten Wesen, dieser ersten Ursache, dieser Vorsicht – was weiß ich? – zu diesem Urgrund des Gefühls und Gedankens, den zu glauben, und zu erkennen ihm so Noth that – o! du, der mich auf diese Welt sezte, gieb daß ich meine Bestimmung auf die Weise erfülle, die deinem Willen am gemäßesten, und dem Wohl meiner Brüder am zuträglichsten ist! – Dieses einfache Gebet, einfach wie das Herz, aus welchem es floß, ist mein einziges Gebet geworden, nie hat die dissertirende Philosophie, noch irgend eine Verirrung, seine Quelle vertrocknen können. In dem Geräusch der Welt, und in der Stille des Gefängnisses sprach ich es gleich hingegeben aus; mit Entzücken betete ich es in dem glänzenden Zustande meines Lebens, mit Ergebung wiederhole ich es in meinen Fesseln. Eifrig, im ersten Falle mich vor jeder Neigung zu hüten, die nicht meines Schicksals würdig gewesen wäre; sorgsam in dem andern, die Kräfte zu erhalten, deren ich zum Ertragen der mir auferlegten Prüfungen bedarf; überzeugt, daß im Laufe der Dinge Begebenheiten sind, welche die menschliche Weisheit nicht voraussehen kann, daß unter diesen selbst die Unseligsten eine gesunde Seele nicht niederzudrücken vermögen, daß endlich den Feinden mit sich selbst, die Unterwerfung unter die Nothwendigkeit, die Elemente des Glückes sind, und die wahre Unabhängigkeit des Weisen und Helden ausmachen. Das Land bot mir Gegenstände dar, die meiner spekulativen Gewohnheit, meinem in mich gekehrten, zärtlichen, melancholischen Hange, den das Nachdenken, und die Entwickelung eines gefühlvollen Herzens noch bestärkte, weit die angemessensten waren. Wir giengen oft nach Meudon, es war meine Lieblingspromenade, ich zog sein wildes Gehölz, seine einsamen Teiche, seine Tannenalleen, seine hohen Stämme, den besuchten Gängen, den einförmigen Gehauen des Boulogner Waldes, den Verzierungen von Bellevüe, den gekräuselten Alleen von St. Cloud vor. – Wo gehen wir morgen hin, wenn es gut Wetter giebt? So pflegte mein Vater in der schönen Jahrszeit zu fragen, wenn der Sonnabend herangekommen war; dann sah er mich lächelnd an, und sezte hinzu: nach St. Cloud? Die Wasser werden springen, es werden viele Leute dort seyn. – Ach Papa! wenn Sie nach Meudon wollten, würde es mir viel lieber seyn. – Sonntags früh war alles um fünf Uhr auf den Beinen; eine leichte, kühle, einfache Kleidung, einige Blumen, ein Florschleyer kündigten den Plan des Tages an; Rousseaus Oden, ein Theil von Corneille, oder sonst ein Buch machte mein ganzes Gepäck. Man stieg bey dem Pontroyal, den ich aus meinem Fenster sah, in einen kleinen Nachen, der uns auf einer sanften schnellen Fahrt an die Ufer von Bellevue brachte, ohnfern von der Glashütte, deren schwarzen, dicken Rauch man von weitem erblickt. Von da gelangten wir auf steilen Pfaden an den Zugang von Meudon, wo wir auf dem zweyten Drittheil des Wegs ein kleines Häuschen bemerkten, das eine unserer Stationen wurde. Es war die Wohnung einer Milchverkäuferinn, einer Wittwe, die dort mit zwey Kühen, und einigen Hünern lebte. Da wir zum Spatzierengehen den Tag benutzen mußten, machten wir aus, daß uns diese Hütte zum Ruheplatz dienen sollte, wo wir uns von der Hausfrau eine Schaale frischgemolkner Milch geben lassen würden. Diese Einrichtung ward uns so zur Gewohnheit, daß wir jedesmal, indem wir den Zugang hinanstiegen, bey der Milchfrau eintraten, um für den Abend, oder den folgenden Tag unsre Schaale Milch zu bestellen. Die gute Alte empfieng uns sehr freundlich, das Vesperbrodt mit einem Stück schwarzes Brodt und mit guter Laune gewürzt, glich immer einem kleinen Feste, und ließ in der Tasche der Alten ein Andenken zurück. Zu Mittag wurde immer bey einem der Schweitzer im Park gespeißt, allem mein Verlangen, mich von den besuchten Wegen zu entfernen, brachte mich endlich auf die Entdeckung eines Plätzchens, das meinem Geschmack sehr angemessen war. Nachdem wir eines Tags in einem uns bekannten Theile des Waldes umhergestreift waren, kamen wir an einen einsamen, freyen Ort, auf welchen eine Allee großer Bäume stieß, unter denen man selten Spatziergänger antraf, einige andere, auf einem herrlichen Rasen zerstreute Bäume verschleierten, so zu sagen, ein sauberes Haus von zwei Stockwerken – Was ist das? – Zwey artige Kinder spielten vor der offnen Thüre, sie sahen nicht städtisch aus, und hatten eben so wenig das elende Ansehen, das bey Landleuten leider so gemein ist. Wir nähern uns und erblicken links einen Gemüßgarten, worinn ein alter Mann arbeitete; eintreten und ein Gespräch mit ihm anfangen, war das Werk eines Augenblicks; wir erfuhren, daß dieses Plätzchen Ville Bonne hieß, und daß der Bewohner Brunnenmeister zur rothen Mühle war; er hatte die Aufsicht über einige Kanäle, die einen gewissen Theil des Parks Wasser zuführten; die geringen Einkünfte dieses Postens erhielten zum Theil eine junge Wirthschaft, von welcher wir die Enkel sahen, deren Großvater der alte Mann war. Seine Schwiegertochter beschäftigte sich mit dem Haushalt, indeß er den Garten anbaute, dessen Erzeugnisse sein Sohn in den Feyerstunden in der Stadt verkaufte. Der Garten bestand aus einem langen, in vier Theile getheilten Viereck, um welches eine ziemlich breite Allee angebracht war, in der Mitte befand sich ein Wasserbecken, das zum Begiessen diente; im Grunde eine große steinerne Bank unter einer Taxuslaube, die Ruhe und Schatten darbot.

Blumen, die zwischen das Gemüß gepflanzt waren, machten den Anblick des Gartens lachend und reitzend. Der gesunde, zufriedne Greis rief mir den Garten am Ufer des Gelasus zurück, den Virgil besingt; er schwatzte mit Vergnügen und gesundem Verstand, und wenn es auch nur meines Geschmacks an einfachen Genüssen bedurfte, um dieses Abentheuer nach Verdienst zu schätzen, so ermangelte meine Einbildungskraft nicht, es obendrein mit allem, was reitzend machen konnte, auszuschmücken. Wir erkundigten uns, ob sie keine Fremden aufnähmen? – Es kommen eben keine, antwortete der Alte; der Ort ist wenig bekannt; trift es sich aber, so weigert man sich nicht, sie mit dem was Garten und Hof gewähren, zu bedienen. Wir forderten eine Mittagsmahlzeit; man trug uns frische Eyer, Gemüß und Salat auf, die wir in einer niedlichen Geißblattlaube hinter dem Hause verzehrten. Nie genoß ich ein köstlicheres Mahl, mein Herz ergoß sich in Unschuld und in Freude an der reitzendsten Lage. Ich liebkoßte die Kinder, ich begegnete den Alten mit Ehrerbietung; die junge Frau schien sehr zufrieden, uns bewirthet zu haben; sie sprach von zwey Zimmern in ihrem Hause, die sie wohl einräumen würden, wenn man sie auf drey Monate miethen wollte; und wir machten das Projekt, diese Zimmer zu beziehen.

Dieser süsse Vorsatz ist nie ins Werk gesezt worden; nie bin ich nach Bonneville zurückgekehrt; denn unsere Wanderungen nach Meudon schrieben sich weit früher als diese Entdeckung her, und wenn uns zwey nahe auf einander folgende Festtage erlaubten, unsre Abwesenheit zu verläugnen, brachten wir die Nacht in einem Wirthshause des Dorfes zu. In diesem Wirthshause, das man, glaube ich, die Königin von Frankreich nannte, begegnete uns einst ein drolliger Zufall . Wir bewohnten ein Zimmer mit zwey Betten, in dessen größtem ich mit meiner Mutter schlief; das andere, das in einer Ecke des Zimmers stand, war meinem Vater allein angewiesen, eines Abends, wie er sich niederlegte, riß er so lange an seinen Vorhängen, um sie recht fest zuzumachen, daß endlich der ganze Betthimmel herabstürzte, und ihn völlig bedeckte; nach dem ersten Schrecken fiengen wir alle an zu lachen, denn der Himmel war gerade so gefallen, daß er meinen Vater einhüllte, ohne ihn im mindesten zu beschädigen. Wir rufen Hülfe herbei, um ihn zu befreyen; die Wirthinn kömmt, und erstaunt ihren Betthimmel eingestürzt zu finden, ruft sie mit der größten Unbefangenheit: – aber um Gotteswillen, wie ist das möglich? Er war seit siebenzehn Jahren festgemacht, und hat sich nie gerührt noch geregt. – Dieses Raisonnement machte mich noch mehr lachen, als der Unfall des Betthimmels; ich habe es oft angewandt, oder vielmehr verglichen, bey gewissen Dingen, die ich in Gesellschaften hörte, und ich sagte dann meiner Mutter ins Ohr: das ist fast so gut wie die siebzehn Jahre des Betthimmels, die seine Unerschütterlichkeit erweisen sollten.Das Betthimmels -Argument ist besonders in der Politik von sehr allgemeinem Gebrauch . Wer kennt nicht den pathetischen Nachdruck, den man auf die vierzehn Jahrhunderte der französischen Monarchie legt?       H.

Liebes Meudon! wie oft athmete ich unter deinem Schatten, den Urheber meines Daseyns segnend, mit dem Verlangen nach dem, was es einst vollenden könnte; und ich hatte nur den Reitz, nicht die Ungeduld dieses Verlangens: es färbte nur die Wolken der Zukunft mit den Strahlen der Hoffnung! wie oft pflückte ich in deinen kühlen Gründen fleckiges Heidekraut, und glänzende Orchisblumen, wie gern ruhte ich unter deinen großen Bäumen, in der Nähe ausgehauner Plätze, wo ich zuweilen die furchtsame Rehkuh vorübereilen sah! ich erinnere mich der dunklern Orte, wo wir die heissen Stunden zubrachten, indeß mein Vater im Grase liegend, und meine Mutter auf einem Haufen Blätter ruhend, die ich ihr zusammen getragen hatte, ihren Mittagsschlaf hielten, betrachtete ich deine schweigenden Wälder; ich bewunderte die Natur, ich betete die Vorsehung an, deren Wohlthaten ich fühlte. Das Feuer des Gefühls färbte meine feuchten Wangen, und ich fand in deinem ländlichen Aufenthalte die Reitze des irdischen Paradieses. Die Beschreibung meiner Spatziergänge, und des Glückes, das sie mir gewährten, fand in meinen Briefen an Sophien ihren Platz, zuweilen mischten sich Verse unter meine Prosa, unregelmäßige aber leichte und glückliche Kinder einer Seele, für welche alles, Leben, Gemälde, Glückseligkeit war.

Ich habe schon gesagt, daß Sophie in eine Welt geworfen war, wo sie die Annehmlichkeiten, deren ich in meiner Einsamkeit genoß, entbehren mußte; ich lernte einige Personen ihrer Familie kennen, und ihre Gesellschaft erhöhte in meinen Augen den Werth meiner Eingezogenheit.

Sie stieg bei ihren Pariser Reisen mit ihrer Mutter bey einem paar Cousinen ab, die man die Demoiselles De la Motte nannte; es waren zwey alte Jungfern, die eine war eine schwarzgallige Betschwester, die nicht aus dem Hause kam, wo sie ihr Oremus betete, das Gesinde schalt, Strümpfe strickte, und mit ziemlicher Sachkunde von ihren Geldangelegenheiten sprach; die andre war eine gute Seele, blieb im Gesellschaftszimmer, machte die Honneurs vom Hause, las Psalmen, und machte ihr Spielchen. Beide legten viel Gewicht auf das Glück, als Fräuleins gebohren zu seyn, und begriffen nur mühsam, wie man mit Leuten umgehen könnte, deren Vater sich nicht wenigstens adeln lassen; und durften sie selbst ihn gleich nicht mehr brauchen, so hoben sie doch den Beutel, in welchem sich ihre Mutter ihr Gebetbuch in die Kirche nachtragen ließ, sorgfältig wie einen Adelsbrief auf. Sie hatten eine junge Verwandtin zu sich genommen, deren Vermögen sie vermehren wollten, im Fall sie einen Edelmann heyrathete, Fräulein Hangard, so hieß diese, war eine dicke, frische Brünette, zum Erschrecken gesund; ihr provinziales Wesen war nichts weniger als hinreichend, einen ziemlich barschen Karakter und sehr gemeinen Verstand zu verstecken; allein das rarste Stück im Haushalt war der Advokat Perdü, ein Wittwer, der sein Vermögen im Müßiggang verthan hatte; seine Schwester, meiner Sophie Mutter hatte ihn bey ihren Cousinen in die Kost gethan, wo er die lezten Jahre seines unnützen Lebens auf eine anständige Weise hinbringen sollte. Der dicke geleckte Herr Perdü brachte den größten Theil des Morgens mit seiner Person beschäftigt zu, aß langsam, und tadelte dabey die Speisen, dissertirte täglich einige Stunden im Luxemburg, und beschloß sein Tagwerk mit einem Picket. Er hielt den Adel noch weit höher, als seine alten Cousinen, und brüstete sich damit, ein adeliches Ansehen zu haben, und adeliche Vorschriften zu geben. Ich nennte ihn gegen Sophie immer den Commandeur, so viel Aehnlichkeit schien er mir mit dem Commandeur im Hausvater zu haben. Dieser Commandeur also beobachtete gegen seine Nichten immer den Ton der Ueberlegenheit, den er sich das Ansehen gab, mit allen gebräuchlichen Artigkeiten zu würzen; aber gegen Fräulein Hangard hatte sein Betragen etwas schnurriges; ihre Frische, und die Gewohnheit sie täglich zu sehen, regten seine Fantasie auf, und flößten ihm, ich weiß selbst nicht was ein, das er sich nicht gestehen durfte, das ihn aber manchmal gegen seinen Neffen bärbeißig machte.

Dieser Neffe, den man Selincourt nannte, war ein langer junger Mensch mit sanfter Physiognomie und Stimme, er glich etwas seiner seiner Schwester Sophie, sprach gescheut, und hatte ein angenehmes Betragen, das durch eine gewisse Schüchternheit nicht entstellt wurde: wenigstens kam es mir so vor, selbst nachdem ich wahrgenommen hatte, daß diese Schüchternheit gegen mich besonders merklich war. Aller Wahrscheinlichkeit nach, und den Wünschen der Familie zu Folge, schien er der Fräulein Hangard zum Freyer bestimmt.

Was die Gesellschaft der Fräulein La Motte anbetrift, so bestand sie aus einem Grafen d'Estales, der in Canada, wo er die Tochter des Gouverneurs geheyrathet hatte, Ludwigsritter geworden war, ein unwissender, eingebildeter, schwatzhafter Mensch, der sich immer zehn Meilen vom Feuer gehalten hatte. Er machte die Parthie einer Marquise Caillavelle, einer Art Wittwe, bey der er noch allerley andre Spiele trieb, die den guten alten Jungfern entgiengen. Madame Bernier, eine große Jansenistin, übrigens eine vernünftige Frau, deren Mann bey der Sache von le Chalotais das Bretagner Parlament verlassen hatte, erschien, jedoch seltner, in diesem Hause mit ihren zwey Töchtern, der Gelehrten und der Frommen. Das zärtliche Herz dieser leztern hatte mich angezogen, aber ihr überhängender Hals trug mit Mühe einen Kopf, der so eingenommen war, daß keine Art von Vernunftgebrauch ein Plätzchen mehr darinn fand; die Gelehrte hatte, bey etwas zu viel Geschwätz, Urtheil und Geschmack genug, um eine widerwärtige Gestalt damit gut zu machen. Herr von Vauglans sezte dem allen die Krone auf; man wird gewiß nicht von mir verlangen, daß ich mich dabei aufhalte, sein Portrait zu machen, wofern man seine Motive meines Glaubens an Christum, von einer Magistratsperson, und seine Sammlung von Criminalgesetzen gelesen hat, diese fleißige Kompilation, wo der Fanatismus und die Unmenschlichkeit mit der Gelehrsamkeit wetteifern. Ich habe nie einen Menschen gefunden, dessen blutdürstige Intoleranz mich so aufgebracht hätte; er fand viel Vergnügen an der Unterhaltung eines Paters Romain Joly, eines kleinen alten Capuciners, der bei den Demoiselles de la Motte Beichtvater war, Verse gegen Voltaire machte, in denen er ihn mit dem Satan verglich, und auf der Kanzel unaufhörlich die Kapitularien Karls des Großen, und die Verordnungen unsrer Könige anführte. Ich habe die Ehre gehabt, mit ihm bey den Cousinen zu speisen, ihn predigen zu hören, und seinen Phaeton zu lesen; wenn ich das Herz hätte, die Dummheit und Frömmeley, mit dem kleinlichsten Wissen vermischt, aus ihrer Kutte zu schütten, so konnte er mir Stoff zu einer guten Karikatur geben. Sophiens Freundinn spielte in dieser Gesellschaft die drolligste Rolle; denn hinter ihrem Rücken seufzte man oft, daß eine junge Person von so guten Anlagen nicht von Adel wäre. Ich zweifle sogar keineswegs, daß der Commandeur in seiner Weisheit überlegt haben mag, ob man auch seiner Nichte einen solchen Umgang gestatten sollte. Aber die junge Person hatte einen sehr guten Ton, eine Anständigkeit, auf welche die Cousinen viel hielten, und ausser einigen Wendungen im Ausdruck, die ein Bischen nach Verstand schmeckten, und gegen welches der Commandeur seiner Nichte vorpredigte, konnte er nicht umhin, sie einiger maaßen zu loben. Es trug sich sogar zu, daß er in der Abwesenheit seiner Nichte sich die Mühe gab, ihre Briefe in eigner Person zu meiner Mutter zu bringen; dieß hätte Selincourt noch weit öfter gethan, wenn seine Schwester es ihm nur hätte auftragen wollen.

Die Unbedeutsamkeit, die Verkehrtheiten dieser Leute, denen ohne Zweifel so viele Menschen in der Welt gleichen mochten, gaben mir Anlaß zu ernsthaftem Nachdenken über die Lehre der Gesellschaft, und über den Vortheil, sie nicht besuchen zu müssen. Sophie rechnete mir die Menschen her, die sie in Amiens sah, entwarf mir ungefähr ihren Karakter, ließ mich urtheilen wie wenig Stoff die meisten von ihnen hätten, und am Ende fand es sich, daß ich in meiner Einsamkeit mehr Leute von Verdienst gesehen hatte, als sie in ihrem Strudel. Das wird sehr begreiflich, wenn man sich erinnert, daß mein Vater nur mit Künstlern umgieng; zwar hatte keiner einen täglichen Verkehr mit uns, aber verschiedene fanden sich doch von Zeit zu Zeit in unserm Hause ein. Diejenigen, welche die Hauptstadt bewohnen, wenn sie auch nicht von der ersten Klasse sind, haben eine gewisse Summe von Kenntnissen, eine Art Höflichkeit, die man weder unter dem Landadel der Provinz, noch unter den Kaufleuten findet, welche nach Vermögen jagen, um einen Adelsbrief zu kaufen. Der Umgang mit dem guten Jollain, Mahler von der Akademie, mit dem ehrlichen L'Epine, Pigals Schüler, mit Desmarteau, meines Vaters Kollegen, mit Falotonets Sohn, mit Hauterne, den seine Talente geraden Flugs in die Akademie getragen hätten, wenn er nicht als Protestant ausgeschlossen gewesen wäre, mit den Genfer Uhrmachern Ballexserd und More, von denen der erste über die physische Erziehung geschrieben hat; aller dieser Umgang war ohne Zweifel tausendmal mehr werth, als der Millionair Cannet, der über das Glück, welches sein Vetter Dü Belloi mit seiner Belagerung von Calais gemacht hatte, im vollen Ernst und verdrießlich ausrief: warum hat mich mein Vater nicht Trauerspiele machen lehren? Ich hätte des Sonntags welche geschrieben. – Und diese Reichen, diese armseligen Geadelten, diese unverschämten Soldaten wie d'Estales, diese ärmlichen Magistratspersonen wie Vauglans, hielten sich dennoch für die Stütze der bürgerlichen Gesellschaft, und genossen auch würklich Vorzüge, die dem Verdienst verweigert wurden. Ich verglich diese Thorheiten des menschlichen Stolzes mit Pope's Darstellungen, ich spürte der Würkung dieses Triebes in dem Handwerker nach, der sich mit seinem Schurzfell brüstet, wie in dem König, der sich seiner Krone überhebt: ich suchte, wie er, zu finden, daß alles gut sey, aber mein Stolz fand immer zulezt, es sey alles besser in einer Republik.

Ohne Zweifel hat unsre Lage auf unsre Meinungen, und unsern Karakter viel Einfluß. Aber es schien, als wenn in meiner Erziehung bey den Begriffen, die ich durch das Studium oder die Mitwürkung der Welt erhielt, alles darauf angelegt gewesen wäre, mir republikanischen Enthusiasmus einzuflößen, indem es mich in den Fall sezte, das lächerliche einer Menge von Vorrechten und Auszeichnungen zu beurtheilen, und ihre Ungerechtigkeit zu fühlen. Bei allem was ich las, entzückten mich die Reformatoren der Ungleichheit, in Sparta war ich Agis und Cleomenes, in Rom war ich die Grachen, und hätte wie Cornelia meinen Söhnen vorgeworfen, daß man mich nur Scipio's Schwiegermutter nannte. Ich hätte mich mit dem Volk auf den aventinischen Berg begeben, und für die Tribunen gestimmt. Jezt, da mich Erfahrung gelehrt hat, die Dinge unpartheiischer abzuwägen, sehe ich im Unternehmen der Grachen, und in dem Betragen der Tribunen Unrechtmäßigkeiten und Uebel, die mir damals nicht genug auffielen.

Wenn ich Zeugin der Art von Schauspielen war, welche Paris bey den Einzügen der Königinn oder der Prinzen, bey den Dankgebeten nach Wochenbetten, und bey ähnlichen Gelegenheiten, so oft darbot, verglich ich voll Trauer diesen asiatischen Luxus, diesen unverschämten Pomp mit dem Elend, der Erniedrigung des verwilderten Volkes, das sich diesen Götzen seiner Hand entgegenstürzte, und dem glänzenden Aufputz, dessen Kosten es mit seiner Nothdurft bezahlte, dämisch zujauchzte. Die Zügellosigkeit des Hofes in den lezten Jahren der Regierung Ludwigs des Fünfzehnten, die Sittenverachtung, die alle Klassen ansteckte, die Ausschweifungen, die den Innhalt aller Gespräche ausmachten, erfüllten mich mit Unwillen und Erstaunen. Da ich die Keime der Revolution noch nicht erblickte, fragte ich mich, wie die Dinge so fortgehen könnten? Ich sah in der Geschichte alle Reiche, die zu diesem Grade der Verderbniß gekommen waren, wanken und stürzen, und wenn ich die Franzosen über ihre eigenen lachen und singen hörte, fand ich, daß ihre Nachbarn, die Engelländer Recht hatten, sie als Kinder anzusehen. Ich gewann diese Nachbarn lieb. Delolme hatte mich mit ihrer Constitution bekannt gemacht, ich suchte ihre Schriftsteller zu lesen, und studirte ihre Litteratur, aber damals nur in Uebersetzungen.

Ballaxserds Gründe hatten meine Eltern in meiner Kindheit nicht bereden können, mir die Blattern einimpfen zu lassen, und nun bekam ich im achtzehnten Jahre die natürlichen. Diese Epoche hat einen tiefen Eindruck in mir zurückgelassen, nicht, daß ich mich vor der Krankheit gefürchtet hätte, ich hatte schon zuviel Philosophie, um diese Prüfung nicht mit Standhaftigkeit zu bestehen, aber wegen der unglaublich rührenden Besorgnisse meiner Mutter. Welcher Schmerz, welche Thätigkeit! Wie die Unruhe sie rege erhielt, welche Zärtlichkeit in allen ihren Bemühungen lag! Selbst in der Nacht, wenn ich etwas von meiner Wärterinn zu erhalten glaubte, fühlte ich die Hand, hörte die Stimme meiner Mutter, die jeden Augenblick ihr Bett verließ, um an mein Lager zu treten; ihre gierigen Augen verschlangen die Bewegungen, und, wenn ich so sagen kann, die Werke des Arztes, heimliche Thränen stahlen sich über ihre Wangen, wenn ihre Augen sich auf mich hefteten, während ich sie umsonst durch mein Lächeln zu beruhigen suchte. Sie hatte so wenig wie mein Vater je die Blattern gehabt, aber keines von beyden ließ einen Tag verstreichen, ohne mein krankes Gesicht zu küssen, das ich aus Furcht, sie durch diese Annäherung in Gefahr zu setzen, abzuwenden suchte. Meine Agathe trostlos durch die Klausur von mir getrennet zu seyn, schickte mir eine ihrer Verwandtinnen, eine liebenswürdige Mutter von vier Kindern, der sie einen Theil ihrer Liebe für mich eingeflößt hatte, und die ohne Rücksicht auf sich selbst hartnäckig darauf bestand, mich zu besuchen, und zu umarmen. Man mußte Sophien, die damals in Paris war, den Zustand ihrer guten Freundin verbergen; um die gefährliche Zeit ohne Gemeinschaft zwischen uns verstreichen zu lassen, hieß es, ich sey plötzlich auf das Land gereist, allein Selincourt kam täglich, sich im Namen seiner Mutter nach meinem Zustande zu erkundigen, ich hörte aus meinem Zimmer seinen kläglichen Ausruf, wie man ihm sagte, daß das Zusammentreffen eines Faulfiebers mit den Blattern zu befürchten wäre. Ich hatte das Frieselfieber und da der damit verbundene Ausschlag dem der Blattern entgegen arbeitete, so hatte ich von leztern nur einzelne große Körner, die ohne Eitern nach und nach verschwanden, und nur eine trockne Haut zurückliessen, welche bald abfiel. Der Doktor Missa sagte mir, es seyen dieß die Blattern, die man auf Italiänisch Ravaglioni nennte; Blattern ohne Eiterung; sie lassen keine Narben, und die Glätte meiner Haut litt bey mir auch nicht die mindeste Veränderung; allein die Würkung der Schärfe, zog mir, nachdem die Gefahr vorüber war, ein zehrendes Uebel zu, von welchem ich erst nach vier oder fünf Monaten genas. Im Zustande der Gesundheit bin ich in mich gekehrt, und zu zärtlich um lustig zu seyn, allein beym Schmerze geduldig, suche ich, so bald ich krank bin, mich von meinen eignen Leiden zu zerstreuen, und denen die mich umgeben die lästige Pflege, deren ich bedarf, zu versüssen; ich laße alsdann meiner Einbildungskraft den Zügel schiessen, ich schwatze thöriges Zeug, und mache andre lachen: Der Doktor Missa, ein gescheuter Mann, gefiel mir sehr, sein ziemlich hohes Alter befreite mich von dem Zwange, den mir sein Geschlecht gewöhnlich auflegte; bey seinen Besuchen, die er mit Vergnügen verlängerte, unterhielten wir uns auf eine angenehme Weise, und wurden sehr gute Freunde. Eines Tags sagte er zu mir: eines oder das andere von uns hat sich viel vorzuwerfen, ich bin zu früh oder Sie zu spät auf die Welt gekommen. Obschon mich Missa durch seinen Verstand intereßirte, hatte mich sein Alter doch nie auf die Bemerkung kommen lassen, daß er zu früh auf die Welt gekommen wäre; ich antwortete nur mit einem Lächeln. Er erzog seine Nichten, und wünschte mich mit ihnen bekannt zu machen; wir sahen uns auch zuweilen, ihre Wohnung war aber von der unsrigen entlegen, und da sie eben so wenig ohne ihre Gouvernante, wie ich ohne meine Mutter, ausgiengen, und ihres Onkels Beschäftigung ihnen gar keine Freiheit ließ, so blieb es bey ein paar Besuchen. Missa schmälte eines Tags sehr, wie er die Untersuchung der Wahrheit von Malebranche auf meinem Bette fand; nun, was ists denn mehr? rief ich, wenn sich Ihre Kranken, stets vor Ungeduld zu vergehen, mit solchen Dingen abgäben, hätten sie weniger zu thun. – Es befanden sich einige Personen in meinem Zimmer, als man von einer Anleihe sprach, zu welcher erst eben das Edikt erschienen war, und die ganz Paris schon zu erfüllen wetteiferte. Die Franzosen, sagte Missa, geben dem Vertrauen alles hin – sagen Sie lieber der Wahrscheinlichkeit, fiel ich ein. Ja, antwortete er; das ist ein wahres Wort und von tiefem Sinn. – Schmälen Sie also nicht, wenn ich den Malebranche lese, sagte ich lebhaft; Sie sehen, daß ich meine Zeit nicht dabey verliere.

Missa ließ sich damals bey seinen Besuchen von einem jungen neugebacknen Doktor begleiten. Zuweilen schickte er ihn voraus, um zu warten, bis er selbst erscheinen konnte. Diesem, um Missa's Ausdruck zu wiederholen, konnte man nicht vorwerfen, zu früh gekommen zu seyn, war aber seine Gestalt schon ganz angenehm, so hatte er doch etwas wichtiges, das mir mißfiel. Ich habe von Natur einen so entschiedenen Abscheu gegen alles selbstgefällige, affektirte Wesen, daß ich es immer für das Zeichen der Mittelmäßigkeit, ja der Dummheit halte, ob es gleich zur Zeit der alten Verfassung oft nur eine jugendliche Verkehrtheit war. Kurzum das Wesen mißfällt mir, statt mich zu verführen, und ich urtheile immer nachtheilig von jedem, an dem ich es bemerke. Weiter ist mir von dem jungen Doktor, den ich seitdem nie wieder sah, und auch wohl nie wieder sehen werde, keine Erinnerung zurückgeblieben.

Die Landluft wurde zu meiner völligen Wiederherstellung nöthig erachtet, und um ihren wohlthätigen Einfluß zu geniessen, giengen wir zu Herrn und Madame Besnard. Meine Mutter und ich hatten schon zwey Jahre hintereinander fast den ganzen September bey ihnen zugebracht. Ihre Lage hatte etwas, das sehr dazu gemacht war, meine Philosophie zu nähren, und meine Betrachtungen auf die Fehler der bürgerlichen Gesellschaft zu richten.

Madame Besnard war nach dem Unglück, das sie mit ihren Schwestern zugleich betroffen, im Hause eines Generalpachters Haushälterinn geworden; es war bey dem alten Haudey, dessen Intendanten, Herrn Besnard, sie geheyrathet hatte, und seit geraumer Zeit in der Einsamkeit still und glücklich mit ihm lebte.

Dem ziemlich übel angebrachten Stolz der Madame Philipon entfuhren in meiner Gegenwart und im Innern der Familie Bemerkungen, welche anzeigten, wie unangenehm ihr diese Heyrath gewesen war, woran sie, so viel ich urtheilen konnte, Unrecht hatte: denn Herr Besnard war ein ehrlicher Mann, und ein Mann von den reinsten Sitten, Eigenschaften, die ihn um so mehr empfohlen, je seltner sie in seinem Stande sind; er hat sich auch immer durch das feinste Betragen gegen seine Frau ausgezeichnet; man kann die Ehrerbietung, die Zärtlichkeit, die Ergebenheit nicht weiter treiben, als er that; sie verleben ihr spätes Alter in einer Einigkeit, durch welche sie, wie ehmals Philemon und Baucis, die Ehrerbietung aller erworben, die Zeugen ihrer Einfalt und Tugend sind, ich schätze mich durch ihre Verwandschaft geehrt, und würde es thun, wenn Herr Besnard, bey seinem Betragen und Karakter, Lakay gewesen wäre.

Der alte Haudey, Werkmeister seines Glückes, hatte bey seinem Tode sein großes Vermögen einem Sohn hinterlassen, der im Ueberfluß gebohren und erzogen, es natürlicher Weise verthun mußte. Dieser, dem schon eine liebenswürdige Frau gestorben war, machte viel Aufwand, und brachte, nach Sitte der reichen Leute, zuweilen einige Augenblicke im Schloße von Soucy zu, wo er die ganze städtische Lebensweise hinbrachte, und sich sehr hütete, das mindeste von der ländlichen anzunehmen. Seine Besitzungen bestanden in verschiednen Landgütern. Das nächste bey Soucy Fontenay, hatte ein altes Schloß, das er gern bewohnt sah; er hatte einen Notarius und einen Einnehmer dort einquartiert, und bat Herrn und Madame Besnard, sich einer Wohnung auf dem nämlichen Schloße zu bedienen, wo sie einen Theil der schönen Jahrszeit zubringen könnten. Diese Einrichtung kam der Unterhaltung des Gutes sehr zu statten, und gab dem Eigenthümer obendrein ein Ansehen von großmüthiger Pracht, auf welches er viel hielt. Herr und Madame Besnard hatten bey einer zierlichen Wohnung den Genuß der Promenade in einem Park, dessen Nachläßigkeit gegen die geschmückten Gärten von Soucy auf das angenehmste abstach, und mir besser gefiel, als der Luxus, durch welchen der Aufenthalt des Generalpachters sich auszeichnete. Nach unsrer Ankunft bey Madame Besnard, wünschte diese, daß wir in Soucy, wo sich Haudey's Schwiegermutter und Schwägerin bey ihm aufhielten, und die Honneurs des Hauses machten, einen Besuch abstatten möchten. Dieses geschah in aller Bescheidenheit vor der Mittagstafel; ich trat ohne das mindeste Vergnügen in einen Sallon, wo uns Madame Penault, und ihre Tochter, zwar mit aller Höflichkeit empfiengen, allein doch immer mit einer Art, die ein wenig nach Ueberlegenheit schmeckte. Der Ton meiner Mutter, mein eignes Wesen unter dem Anschein jener Furchtsamkeit, welche blos aus dem Gefühl eines Verdienstes, das vielleicht nicht nach Würden geschätzt werden möchte, entspringt, erlaubten dieser Ueberlegenheit eben keine besondern Anmaaßungen. Man machte mir Komplimente, die mir wenig schmeichelten, und die ich wohl mit kleinen Bosheiten erwiderte, wenn sich gewisse Schmarotzer mit Ludwigskreutzen, die immer um den Ueberfluß schwärmen, wie die Schatten um den Acheron, einfallen liessen, auch ihr Wort dazu zu geben.

Nach wenigen Tagen ermangelten die Damen nicht, den Besuch zurück zu geben. Die Gesellschaft des Schloßes begleitete sie; man machte aus diesem Besuch in Fontenai ein Ziel der Promenade. Hier war ich liebenswürdiger, ich wußte für meinen Theil so viel bescheidne, würdevolle Höflichkeit in den Empfang zu legen, daß sich das Gleichgewicht wieder herstellte. Einst fiel es Madame Penault ein, uns zum Mittagsessen einzuladen; in meinem Leben war ich nie mehr erstaunt, als wie ich hörte, daß wir nicht mit ihr, sondern an dem Officianten Tisch speisen würden. Ich fühlte wohl, daß es mir aus Achtung für Herrn Besnard, der ehemals seine Rolle an dieser Tafel gespielt hatte, nicht zukam, darüber unzufrieden zu scheinen; aber ich urtheilte doch, daß Madame Penault die Sachen anders einrichten, und uns diese unartige Höflichkeit hätte ersparen sollen; meiner Großtante kam es eben so vor, um aber allen kleinen Anstoß zu vermeiden, nahmen wir die Einladung an. Diese Gottheiten des zweyten Ranges gaben mir ein ganz neues Schauspiel; ich hatte gar keinen Begriff, was eine Kammerfrau wäre, wenn sie die große Dame spielte. Sie hatten sich auf unsern Empfang gerüstet, und stellten würklich die feine Welt aus der zweyten Hand sehr gut vor. Toilette, Haltung, kleine Airs, nichts war vergessen! Der Putz, den sie nur ganz neuerdings von ihren Herrschaften erbeutet, verlieh ihrem Anzuge eine Pracht, die sich der rechtliche Bürgerstand versagen mußte. Die übertriebne Nachäffung des guten Tons verstärkte ihn noch mit einer Gattung von Zierlichkeit, die der bürgerlichen Bescheidenheit eben so fremd war, wie dem Geschmacke des Künstlerstandes; das Geschwätz und die Wendung hätten indeß einen Provinzbewohner doch immer täuschen können. Die Männer wären noch viel ärger: der Degen des Herrn Haushofmeisters, die Aufmerksamkeit des Herrn Aufsehers, die Höflichkeit und glänzende Kleidung der Kammerdiener, konnten ihre linken Manieren, ihre Mühe, Worte zu finden, so bald sie es darauf anlegten, vornehm zu thun, und ihre gemeinen Ausdrücke, so bald sie nicht auf sich Acht gaben, nicht verbergen. Die ganze Unterhaltung drehte sich um lauter Marquis, Grafen, Finanziers, deren Titel, Vermögen und Verbindungen, die Größe, den Reichthum, die Angelegenheit derer, die sich davon unterhielten, zu machen schienen. Der Ueberfluß der ersten Tafel strömte auf diese zurück, und das mit so vieler Ordnung, so viel Sauberkeit, daß alles zum erstenmal aufgetragen schien, und so vollauf, daß die dritte Tafel, der eigentliche Gesinde Tisch (denn die Gäste der zweyten nannten sich Offizianten), noch damit versehen werden konnte. Nach der Tafel gieng man zum Spiel, man spielte hoch, nach dem täglichen Fuß dieser Demoisellen. Ich ward eine neue Welt gewahr, in welcher ich doch alle Vorurtheile, Laster und Thorheiten einer mir schon bekannten antraf, die, ungeachtet ihres größeren Glanzes, um nichts besser war. Ich hatte tausendmal den Ursprung des alten Haudey erzählen hören; aus seinem Dorfe nach Paris gerathen, gelang es ihm, auf Kosten des Publikums, Millionen zu erwerben, seine Tochter mit Montüle, seine Enkelinnen mit dem Marquis Düchillau und dem Grafen Türpin zu verheyrathen, und seinem Sohne seine Schätze zu hinterlassen. Mir fiel ein, was Montesquieu gesagt hat, daß die Financiers den Staat aufrecht hielten, wie der Strick den Gehangnen. Ich begriff, daß solche Zöllner, denen es gelänge, sich in diesem Grade zu bereichern, und die diesen Ueberfluß nüzten, um sich mit Familien zu verbinden, welche die Politik der Höfe, als zum Glanze des Reichs, und seiner Vertheidigung unentbehrlich angesehen haben will, nothwendig zu einer verabscheuungswürdigen Verfassung, zu einer von Grund aus verdorbenen Nation gehören müßten. Ich wußte nicht, daß es eine noch abscheulichere Verfassung, eine noch scheußlichere Verderbniß gäbe; aber wer hätte es auch geglaubt? Alle Philosophen irrten sich, wie ich. Diese Verfassung, diese Verderbniß ist die des jetzigen Augenblicks.Hier streift die Verfasserin an einen neuen Irrthum, der, wenn er allgemein wäre, den ersten und seine Folgen schrecklich verlängern würde, anstatt ihn gut zu machen. Die Verfassung, die Verderbniß des Augenblicks, in welchem die Bürgerin Roland schrieb, und dessen Opfer sie ward, war gleichsam nur die Vollendung jener Verfassung, jener Verderbniß, die sich in andern und gräßlichern Formen ausdrückte.       H.

Des Sonntags tanzte man in Soucy unter freyem Himmel unter den Bäumen; das Vergnügen löschte hier den Unterschied des Standes meistens aus; und sobald es darauf ankam, durch mich selbst zu gelten, war mir vor meinem Rang in der Gesellschaft nicht bange.

Die neuen Ankömmlinge fragten sich einander ins Ohr, wer ich wäre? aber ich hütete mich wohl, niemanden mit meiner Gegenwart zu sättigen; nach einer Stunde Erholung entschlüpfte ich den Neugierigen, um mit meinen Eltern spatzieren zu gehen, ein Genuß, den ich nie dem lärmenden, für mich immer leeren Vergnügen einer Art von Gepränge aufopferte. Zuweilen erblickte ich den jungen Haudey, er spielte den großen Herrn, that alles, was ihm durch den Kopf fuhr, wollte großmüthig und freygebig scheinen, und fieng damals an, seine Familie zu beunruhigen; seine Thorheiten, mit der Courtisanne Laguerre bereiteten seinen Untergang vor. Man beklagte seine Unbesonnenheit, ohne ihn der Bosheit zu beschuldigen, das Glück hatte ihn verzogen; in der Mittelmäßigkeit geboren, hätte er gewiß mehr getaugt. Braun von Gesicht, den Kopf hoch tragend, mit einem beschützenden, obschon freundlichen Wesen war er vielleicht bey Leuten, die er für seinesgleichen schäzte, liebenswürdig, ich aber konnte es nicht ausstehen, ihm zu begegnen, und seine Gegenwart gab mir immer einen sehr ernsten Stolz.Alle diese Anlagen zu dem, was man seitdem demokratische Gesinnung nannte, werden in einer entgegengesezten Gesinnung gern für bloßen Neid, für Wunsch, eben die Rolle zu spielen, durch deren Glanz man von andern verdunkelt wird, angenommen. Allein die ganze Frage läßt sich leicht auf ihren eigentlichen Stand zurückführen, sobald nur entschieden wird, ob man mit dem Bewußtseyn wahren Verdienstes durch wahren eignen Werth, für das was man billig gelten sollte, mitzählen möchte, oder ob man auf Ausschließlichkeit Anspruch macht, und in der Meinung der Menschen andre Surrogate des eignen Werths einzuführen sucht. Welches von beidem der Fall unsrer Heldin war, möchte im wesentlichen , und einige Schattirungen abgerechnet, die mehr ihrem Geschlecht als ihrer Denkungsart angehören, wohl nur denen zweideutig scheinen, welche das eine voraussetzen, um das andre nicht einzuräumen.       H.

Voriges Jahr, wie ich eines Tags aus dem schönen Speisesaal kam, welchen der elegante Calonne in dem Hotel des Finanzministers, das nachmals dem Minister der innern Angelegenheiten angewiesen wurde, hat einrichten lassen, begegnete ich im zweyten Vorzimmer einem langen Mann mit weissem Haare und von anständigem Wesen, der mich ehrerbietig anredete. – Madame, ich hofte nach aufgehobner Tafel den Minister zu sprechen, ich habe ihm etwas zu sagen. – Mein Herr, Sie werden ihn sogleich sehen, man hat ihn im anstehenden Zimmer aufgehalten, aber er kömmt. – Ich grüße, und gehe auf mein Zimmer. Einige Zeit nachher kommt Rolland zu mir, und ich frage ihn, ob er einen gewissen, so und so aussehenden Menschen getroffen hat, der besorgt geschienen hatte, ihn zu verfehlen. – Ja, es ist Herr Haudey. – Wie! der ehemalige Generalpachter, der so viel Geld verthan hat? – Er hatte Berichte über die Fabrike von Seve zu machen, deren Direktion er besorgt. – Welcher Glückswechsel! Das war ein neuer Text zu Betrachtungen. Mein erster Eintritt in diese Zimmer, die Madame Necker zur Zeit ihres Glanzes bewohnte, hatte mir schon einen grossen Anlaß dazu gegeben; ich habe sie zum zweytenmale bewohnt, und sie bewiesen mir die Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge nur noch deutlicher. Ueberraschen sollen mich die Unfälle aber wenigstens nicht. Es war damals im Monat Oktober. Danton suchte mich berühmt zu machen, um meines Mannes Verdienst zu schmälern, und er bereitete im Dunkeln die Verläumdungen, mit welchen er ihn und mich angreifen wollte. Sein Gang war mir verborgen, allein ich kannte den Gang der Dinge in Revolutionen; ich hatte keinen andern Ehrgeitz, als meine Seele rein, und den Ruf meines Mannes unbefleckt zu erhalten, und ich wußte wohl, daß wenn man nur danach strebt, man auch selten einen andern Gewinnst davon trägt. Mein Wunsch ist erlangt, der geächtete, der verfolgte Rolland wird bey der Nachwelt unsterblich seyn; ich bin im Kerker, ich falle wahrscheinlich als Opfer, aber mein Gewissen ersezt mir alles. Es wird mir gehen wie Salomo, er bat nur um Weisheit, und erhielt viele andre Güter; ich wollte nur den Frieden der Gerechten, und auch ich werde von den künftigen Geschlechtern nicht ganz vergessen werden. Indessen wollen wir nach Fontenay zurückkehren. Hier gewährte mir die kleine Büchersammlung meiner Verwandten einige Nahrung; ich fand Puffendorf, der in seiner Weltgeschichte ziemlich langweilig seyn mag, dessen Pflichten des Menschen und Bürgers ich aber mit Theilnahme las, ich fand die Maison rustique und noch mehrere Werke über Oekonomie und Ackerbau, die ich in Ermanglung andrer studirte, denn lernen mußte ich nun einmal ohne Unterlaß; ich fand überdem die artigen Kleinigkeiten, die Bernis vor seiner Erhebung zum Kardinalat reimte, ein Leben Cromwells, und tausend andre Siebensachen. Ich hätte grosse Lust, nicht unbemerkt zu lassen, daß unter dem Haufen von Büchern, die das Ungefähr und die Umstände mir durch die Hände gehen liessen, und die ich hier nur beyläufig erwähne, so wie mich die Orte oder die Menschen daran erinnern, bisher noch nichts von Rousseau gewesen war; ich habe ihn würklich erst sehr spät gelesen, und das zu meinem Glück, denn er hätte mich närrisch gemacht: ich hätte nichts mehr wie ihn lesen wollen; vielleicht hat er meine schwache Seite dennoch nur zu sehr bestärkt, wenn ich so sagen darf.

Ich glaube fast, daß meine Mutter mir ihn ein wenig aus dem Wege geräumt hatte; da mir indessen sein Name nicht unbekannt war, so hatte ich mich nach seinen Schriften umgethan; allein ich kannte bey meiner Mutter Tod nur seine Briefe vom Berge und sein Sendschreiben an Christoph von Beaumont, da ich damals schon Voltaire, und Boulanger, den Marquis d'Argens, Helvetius, und mehrere andere Philosophen und Kritiker gelesen hatte. Wahrscheinlich fand meine trefliche Mutter, die sich wohl beschied, daß man meinen Kopf seiner Thätigkeit überlassen müßte, nicht sehr gefährlich, wenn ich mich, selbst auf Gefahr meiner Rechtgläubigkeit, sehr ernsthaft mit Philosophie abgäbe; aber sie war ohne Zweifel überzeugt, daß man mein gefühlvolles, ohnehin so leicht entflammtes Herz nicht hinreissen lassen dürfte. Guter Gott! wie vergeblich sucht man seinem Schicksal zu entgehen! Aus eben den Beweggründen hatte sie mich verhindert, Malen zu lernen; sie widersezte sich ebenfalls, wie ich das Clavier lernen wollte, so herrlich auch die Gelegenheit dazu war. Nachbarschaft hatte uns nämlich mit einem Abbe Jauket bekannt gemacht; er war ein großer Musikus, häßlich wie die Sünde, ein guter Mensch dabey, der gern tafelte; in der Gegend von Prag gebohren, hatte er verschiedne Jahre in Wien, in den Häusern einiger Großen des Hofs zugebracht, und sogar der Erzherzogin Marie Antoinette Unterricht gegeben. Nachdem ihn die Umstände nach Lissabon verschlagen, ließ er sich endlich in Paris nieder, wo er die kleinen Jahrgehalte, aus denen sein Einkommen bestand, in Unabhängigkeit verzehrte. Er wünschte sehr, meine Mutter möchte ihm erlauben, mich im Clavierspielen zu unterrichten; mein Kopf und meine Finger würden es, behauptete er, bald weit bringen, und ich würde ohne Zweifel Komponistin werden; es ist jammerschade, sagte er, auf der Zither zu klimpern, wenn man im Stande ist, auf dem ersten aller Instrumente schöne Dinge zu erfinden und auszuführen. – Dieser Enthusiasmus, und die wiederholtesten dringendsten Bitten vermochten nichts über meine Mutter; ich für mein Theil, war sehr bereitwillig, alles was man mir erlaubte zu lernen, aber gewöhnt, die Aussprüche meiner Mutter zu ehren, wie ich ihre Person liebte, verlangte ich von freien Stücken nach nichts, und überdem hatten mir die Wissenschaften ein so weites Feld eröffnet, daß ich die Leiden des Müßiggehens nicht kannte. Wenn auch ich Mutter seyn werde, sagte ich mir oft, dann wird der Augenblick da seyn, von allem Unterricht, den ich erhalten, Nutzen zu ziehen, dann ist es mit dem Lernen vorbey; und sonach eilte ich, jeden Augenblick zu benutzen. Der Abbe Jauket hatte von Zeit zu Zeit sehr artige und gescheute Leute bey sich, und wenn sie in seinem Haus zusammen kamen, ermangelte er nicht uns einzuladen; so sah ich unter manchen, die des Erwähnens nicht werth sind, den gelehrten Roussine, den ehrlichen d'Odimont; aber ich habe auch den unverschämten Paradelle , und die Frau von Puisieux nicht vergessen. Paradelle war ein langer baumstarker Mensch, der sich als Abbe kleidete, der abgeschmackteste, aufschneiderischte Dummkopf, der mir je vorgekommen ist; er behauptete, zwanzig Jahre in Lyon Kutsche und Pferde gehalten zu haben, und gab nun in Paris, um nicht Hungers zu sterben, Unterricht im Italiänischen, wovon er so gut wie nichts verstand. Frau von Puisieux, die man für die Verfasserin der Karaktere hielt, weil das Buch ihren Namen trug, hatte im sechzigsten Jahre bey einem hohen Rücken und zahnlosem Munde, alle kleinen Airs und Anmaaßungen, die man selbst dem jüngsten Mädchen nicht verzeiht. Ich hatte mir eingebildet, daß eine Schriftstellerinn, besonders wenn sie über Moral geschrieben hatte, ein sehr ehrwürdiges Wesen seyn müßte; die Lächerlichkeiten der Frau von Puisieux machten mich nachdenken; ihre Unterhaltung verrieth eben so wenig Geist, wie ihre Verkehrtheiten gesunde Vernunft anzeigten, ich begriff, daß man Verstand machen könnte, um ihn auszukramen, ohne ihn eben zu seinem eignen Gebrauch zu besitzen, und daß die Männer bey ihren Spöttereyen über die Schriftstellerey der Weiber kein andres Unrecht haben, als auf diese ausschliessend anzuwenden, wovon sie selbst ihren Antheil haben. So fand ich in einem sehr eingezogenen Leben Stoff zu Betrachtungen, meine Lage war zwar einsam, aber doch an den Grenzen der Welt, so daß ich viele Gegenstände wahrnehmen konnte, ohne von ihnen belästigt zu werden. Die Conzerte der Madame l'Epine gaben mir ein neues Schauspiel. Ich habe schon gesagt, daß L'Epine ein Schüler von Pigalle war, und er konnte für seinen rechten Arm gelten; er hatte in Rom eine Frau geheyrathet, die, wie ich glaube, Sängerin gewesen war; seine Familie in Paris hatte sie anfangs ziemlich scheel angesehen, sie bewies aber durch ihr gutes Betragen den Ungrund dieser Geringschätzung; sie hielt ein Liebhaber Conzert von sehr geschickten Leuten, zu welchem sie, wie sie es nannte, nur gute Gesellschaft zuließ; man kam alle Donnerstage zusammen, und meine Mutter führte mich ziemlich oft dahin. Dort habe ich Jarnewick, Saint George, Duport, Guerin, und viele andre gehört, dort sind mir schöne Geister beyderley Geschlechts vorgekommen, als da waren Fräulein von Morville, Madame Benoit, Sylvain Marechal u. s. w. auch unverschämte Baroninnen, niedliche Abbes, alte Chevaliers, und junge Offizierchen. Welches drollige Schattenspiel an der Wand! Die Wohnung der Madame l'Epine in der neuen Eustache-Strasse, war nicht besonders schön, der Conzertsaal war ein wenig eng, stieß aber an ein andres Zimmer, dessen Thüren offen blieben, dort saß man im Kreise, und hatte den doppelten Vortheil, die Musik zu hören, die handelnden Personen zu sehen, und in den Pausen schwatzen zu können. Stillschweigend, wie es der Gebrauch junger Mädchen gebietet, gieng ich meiner Mutter nicht von der Seite, und war ganz Auge und ganz Ohr; trafen wir uns aber allein bey Madame l'Epine, so that ich einige Fragen, deren Beantwortung meinen Beobachtungsgeist leitete.

Diese Dame schlug meiner Mutter einst vor, eine allerliebste Gesellschaft zu besuchen, die sich bey einem Manne von Geist, den wir zuweilen bey ihr gesehen hätten, versammelte; sie bestände aus aufgeklärten Leuten, Weibern von Geschmack, man machte da angenehme Lektüren; kurz es wäre würklich etwas köstliches! Der Vorschlag wurde ein paarmal wiederholt, bevor er angenommen wurde; lassen Sie uns einmal das Ding mit ansehen, sagte ich zu meiner Mutter: ich bin schon so weit aus der Welt klug geworden, um mir vorzustellen, daß es sehr angenehm oder sehr abgeschmackt seyn muß; und im lezten Falle kann man immer einmal darüber lachen. Der Gang wurde beschlossen, die litterarische Gesellschaft des Herrn Vase kam Mittwochs zusammen, wir begaben uns, von Madame l'Epine begleitet, zu ihm nach der Barriere du Temple. Nachdem wir bis in den dritten Stock gestiegen waren, gelangten wir in ein ziemlich großes, wahrhaftig nicht überflüßig meublirtes Zimmer; Strohstühle in dichten Reihen gestellt, erwarteten die Zuhörer, und fiengen an besezt zu werden; schmutzige kupferne Leuchter mit Unschlittlichtern, erleuchteten diesen grotesken Winkel, dessen Einfachheit vollkommen zu der Strenge eines Philosophen, und der Armuth eines schönen Geistes paßte. Elegante Weiber, junge Mädchen, einige Wittwen, ein Haufen kleiner Poeten und Intriguanten, machten die Masse der Gesellschaft aus.

Der Hausherr hatte seinen Platz an einem Tisch, der ihm statt Pultes diente; er eröffnete die Sitzung mit einem Gedicht von seiner Mache. Es hatte einen kleinen Sapajou zum Gegenstand, den die alte Marquise von Preville immer im Muff trug, und der ganzen Gesellschaft vorzeigte, denn sie war gegenwärtig, und hielt sich für verpflichtet, den Helden des Gedichts den neugierigen Blicken jedes Zuhörers vorzustellen. Man huldigte der Muse des Herrn Vase mit Lobsprüchen, und dieser wollte, zufrieden mit sich selbst, dem Herrn Delpeches, glaube ich, Platz machen, welcher für Audinots Theater kleine Possen verfertigte, über die er gewöhnlich die Meynung der Gesellschaft, das heißt die Ermunterung ihres Lobes sammelte. Dießmal wurde er, ich weiß nicht ob durch ein Halsweh, oder weil ihm in mehreren Scenen noch einige Reime fehlten, daran verhindert. Imbert nahm also den Lehnstuhl ein; Imbert, der Verfasser vom Urtheil des Paris, las eine artige Kleinigkeit, die sogleich bis in die Wolken erhoben wurde. Der Lohn folgte ihm auf dem Fuße nach; Fräulein de la Costonniere las nach ihm einen Abschied an Colin, der, wenn auch nicht sehr sinnreich, doch zärtlich genug war; man erfuhr, daß diese Galanterie Herrn Imbert galt, der im Begriff war, eine Reise zu machen; die Komplimente regneten nun; Imbert zahlte für seine Muse und sich selbst, indem er alle anwesenden Weiber nach der Reihe umarmte. Diese ziemlich leichte und lustige, obschon nichts weniger als unanständige Ceremonie mißfiel meiner Mutter im höchsten Grade, und schien mir so sonderbar, daß ich ganz verlegen darüber aussah. Nach einem unbedeutenden Epigramm oder Quatrain, las ein Mensch, der gewaltig deklamirte, Verse vor, die an Madame Benoit gerichtet waren. Sie war selbst da; für die, welche ihre längst vor der Revolution vergessenen Romane nicht gelesen haben, auf denen dicker Staub liegen wird, wenn meine Memoiren zum Vorschein kommen, muß ich wohl ein Wort von ihr sagen.

Albine war in Lyon gebohren, wie ich in einer Geschichte der berühmten Weiber Frankreichs, von einer Gesellschaft Schriftsteller, gelesen habe. In dieser Geschichte habe ich zu meinem Erstaunen mehrere Weiber gefunden, die mir in der Welt aufgestossen waren, diese Madame Benoit, zum Beyspiel, Frau von Puisieux, Madame Champion, und andre, deren einige noch in der Stunde, wo ich schreibe, leben mögen, oder erst vor wenig Jahren das Irrdische gesegnet haben. Albine heyrathete den Zeichner Benoit, und gieng mit ihm nach Rom, wo sie in die Akademie der Arkaden aufgenommen wurde; sie war neuerdings Wittwe geworden, trug noch die Trauer, und hatte sich in Paris niedergelassen; hier machte sie Verse und Romane, zuweilen ohne sie nur zu schreiben, gab Spielparthien, und sah Weiber von Stande, die das Vergnügen, einen weiblichen schönen Geist an ihrer Tafel zu sehen, mit klingender Münze oder Putzwaaren bezahlten. Madame Benoit war schön gewesen; ihre Sorgfalt im Anzuge, und der Wunsch zu gefallen, der sie weit über das Alter hinaus, wo man hoffen kann sich damit geltend zu machen, begleitete, verschaften ihr nach hie und da manchen Sieg. Ihre Augen baten so eifrig, ihr stets entblößter Busen klopfte so sehnsuchtsvoll, daß man ihrem freymüthigen Verlangen, und der Leichtigkeit, es zu befriedigen, wohl einräumen konnte, was die Männer übrigens, wenn sie nur nicht zur Beständigkeit verpflichtet sind, so leicht zugestehen. Das offenbar wollüstige Wesen der Madame Benoit war mir etwas ganz neues; ich hatte wohl auf den Spatziergängen jene Priesterinnen der Freude gesehen, deren Unanständigkeit ihr Gewerbe auf das auffallendste ankündigt, allein hier war eine andre Schattirung; eben so befremdend war mir der poetische Weyhrauch, mit dem man sie überschüttete. Die Ausdrücke: tugendhafte Benoit, keusche Benoit, die öfters in den Reimen vorkamen, und bey denen sie so sittsamlich den Fächer vor die Augen hielt, indeß einige Männer bey diesen Lobsprüchen, deren Anwendung sie wahrscheinlich ohne Widerrede unterschrieben, in den tobendsten Beyfall ausbrachen. Ich erinnerte mich, was mich meine Lektüren von der Galanterie urtheilen gelehrt hatten; ich bedachte, was die Sitten des Jahrhunderts, die Unordnungen des Hofs, die falsche Richtung des Geistes noch hinzufügen mußten, ich sah weibische Männer ihre Bewunderung an kleine Gedichtchen, an armselige Talente, an den leidenschaftlichen Trieb verschwenden, sie alle zu verführen, ohne einen von ihnen zu lieben; denn wer sich dem Glück eines begünstigten Gegenstandes weiht, stellt sich nicht den Blicken der Menge blos. Ich fühlte in der Mitte so vieler Gegenstände, die meine Imagination aufregten, einen Anfall von Widerwillen und Menschenhaß, und kehrte mit einer sanften Schwermuth in meine Einsamkeit zurück. Wir kamen nicht wieder zu Herrn Vase, mir war das einemal genug, und Imberts Umarmung nebst den Versen auf Madame Benoit, hätten meine Mutter wohl ohnehin von dem Wunsche, mich wieder dahin zu führen, geheilt. Das Conzert des Herrn Baron von Back, das im Ganzen sehr lustig, aber wegen der Ansprüche dieses Melomanen oft auch sehr langweilig war, besuchten wir eben so wenig, ungeachtet der Billete, und den dahin einschlagenden Bekanntschaften, die uns Madame l'Epine aus Höflichkeit mehrmals anbot. Dieselbe Zurückhaltung beobachteten wir in Ansehung eines andern sehr zahlreichen, sogenannten Liebhaber-Conzerts. Wir giengen einmal in Gesellschaft eines Herrn Boyard de Creusy dahin; er hatte sich damit abgegeben, eine Anweisung zur Zither zu schreiben, und hatte meine Mutter gebeten, mir ein Exemplar davon anbieten zu dürfen; der Mann hatte ein sehr anständiges Betragen: ich erwähne ihn, weil er vernünftig genug gewesen ist, um zu glauben, daß ich in einem Stande, den der große Haufe noch immer für erhaben hält, eine ehmalige Jugendbekanntschaft mit Vergnügen wieder sehen werde. Er hat mich besucht, während ich im Ministerium warDieser wörtlich übersezte Ausdruck ist eine Naivetät der Verfasserin, und beweist wie sehr sie hier ihrer Feder den Zügel schiessen ließ. Denn ob sie gleich in andern Stellen ihrer Memoiren die Bescheidenheit keineswegs so weit treibt, ihre politische Wirksamkeit verhehlen zu wollen, so zeigt sie dabei doch die größte Furcht, für eine Virago oder für den Herrn im Haus angesehen zu werden, wie Rolands Feinde sie zu schildern beflissen waren, und sie hätte sich demnach, wenn sie diese Privatmemoiren nicht so zu sagen in dem Neglige, wozu der Stoff hinriß, geschrieben hätte, sicherlich einen solchen Ausdruck nicht entwischen lassen.       H., und mein Empfang hat ihm zeigen müssen, daß ich eines Zeitpunktes, dessen ich mich so wenig wie irgend eines in meinem Leben zu schämen habe, mit Dank und Freude gedachte.

Mit den Schauspielen sah es noch schlimmer aus; meine Mutter gieng gar nicht dahin, so lange sie lebte führte man mich ein einzigesmal in das französische Theater, und in die Oper. Ich war damals sechszehn oder siebzehn Jahr alt. Die Vereinigung der Liebe und der Künste von Floquet enthielt nichts, weder in der Musik noch im Drama, was Täuschung in mir hätte hervorbringen oder meinem Begriff eines bezaubernden Schauspiels entsprechen können. Ein kaltes Sujet, Scenen ohne Zusammenhang, Ballete, die gar nicht am rechten Platz schienen, das alles mißfiel mir, die Kleidung der Tänzer war mir noch auffallender, sie trugen damals noch Fischbeinröcke; ich habe nie etwas lächerlichers gesehen; Pirons Kritik über die Wunder der Oper schien mir würklich diesem Schauspiel weit vorzuziehen. Im französischen Theater sah ich die Schottländerin; diese war eben so wenig dazu gemacht, mich zu entzücken; indessen riß mich das Spiel der Dümesnil hin. Mein Vater hatte zuweilen den Einfall, mich in gewisse Jahrmarkts-Commödien zu führen: ihre Mittelmäßigkeit eckelte mich an. Ich war also gegen die Lächerlichkeit der Schöngeisterey durch eben das Mittel gesichert, das die Lacedemonier vor der Trunkenheit verwahrte, indem man ihnen die Ausschweifungen derselben vor die Augen brachte; und meine Einbildungskraft entgieng den zu lebhaften Anregungen, welche das das Schauspiel hätte hervorbringen können, wenn ich es in seinem schönsten Glanze gesehen hätte; was ich davon erblickt hatte, reichte hin, mir damit genügen zu lassen, daß ich die Meisterstücke großer Genies in meinem Zimmer las, wo ich mich nach Gefallen an ihren Schönheiten weiden konnte.

Ein junger Mensch, der sich sehr fleißig bey den Conzerten der Madame l'Epine einfand, war auf den Einfall gerathen, in ihrem Namen zu meiner Mutter zu kommen, um sich, wenn wir so lange ausgeblieben waren, daß man für unsre Gesundheit besorgt werden konnte, nach unserm Befinden zu erkundigen. Ein anständiger Ton, eine angenehme Lebhaftigkeit, Verstand, aber noch mehr die Seltenheit seiner Besuche, bewogen uns, ihm diesen ziemlich sinnreichen Kunstgriff um Zutritt in unserm Haus zu erhalten, hingehen zu lassen, endlich wagte Lablancherie seine Erklärung. Da ich aber nun bis zur Erwähnung der Freyer gekommen bin, muß ich sie in Masse vorbeyziehen lassen. Der Ausdruck ist so niedlich, er kann dieser Schrift zum Datum dienen, und an die berühmte Zeit erinnern, wo man, zum Trotz der unendlichsten Verschiedenheiten im Willen und Geschmack, alles in Masse anordnet. Der spanische Koloß mit den Esaushänden wird dem Leser noch in geneigtem Andenken seyn: Herr Mignard nämlich, dessen NameMignard ist fast noch ein Diminutiv von niedlich.       H. so drollig gegen seine Gestalt abstach. Nachdem er selbst eingestanden hatte, daß er mich auf der Zither nichts mehr lehren könnte, bat er um Erlaubniß, mir manchmal zuhören zu dürfen, und würklich waren seine Besuche, bey denen er uns nicht einmal immer zu Hause traf, von der bescheidensten Seltenheit. Von seinem Stolz auf das Talent seiner Schülerin, das er als sein Werk ansah, gieng er aus, um sich eine Art von Recht und Vorwand zu verschaffen; überdem hatte er sich als einen Edelmann aus Malaga angekündigt, der sich durch Unglücksfälle gezwungen gesehen hätte, sein musikalisches Talent zu benutzen; nun verlor er den Kopf, und suchte zur Rechtfertigung seiner Ansprüche ungereimte Gründe hervor, worauf er endlich den Entschluß stüzte, um meine Hand zu werben; doch hatte er den Muth nicht, in eigner Person hierbey aufzutreten. Nachdem sein Bevollmächtigter umsonst versucht hatte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, richtete er seinen Auftrag aus, in dessen Verfolg, mit aller Höflichkeit, die man Unglücklichen schuldig ist, dem Freyer anempfohlen wurde, den Fuß nicht mehr in das Haus zu setzen. Meines Vaters Scherze unterrichteten mich von dem Vorfalle; er schwatzte überhaupt gern von den Bewerbungen, die um meinetwillen an ihn ergiengen, und da er ein wenig ruhmredig war, verschonte er seine Leute nicht, wenn sich etwas lächerliches auf sie bringen ließ, Der arme Mozon war Wittwer geworden; das kleine Gewächs, das seine linke Wange verzierte, hatte er sich ausschneiden lassen; er wollte sich auch ein Kabriolet zulegen; ich war damals fünfzehn Jahr alt, man ließ ihn wieder kommen, um mich im Tanzen vollends auszubilden; das erhizte ihm den Kopf, er hatte eine ziemliche Meinung von seiner Kunst, MarcelsMarcel war ein Tanzmeister, dessen Stolz auf seine Kunst durch mehrere lächerliche Anekdoten berühmt ist.       H. Ansprüche hätte er für sehr vernünftig gehalten, ein Künstler ist des andern werth, er konnte so gut wie ein andrer sich um mich bewerben; er ließ seine Wünsche vortragen, und ward abgefertigt wie Mignard.

So bald ein junges Mädchen das Alter erreicht, das seine Entwicklung verkündigt, schwärmen die Freyer um sie her, wie die Bienen um eine aufblühende Blume. Meine strenge Erziehung und eingezogne Lebensart konnte den Lüsternen nur eine Art von Plan eingeben, und der ehrwürdige Karakter meiner Mutter, einiger Anschein von Vermögen, meine Hoffnungen darauf, als einziges Kind, konnten diesen Plan für manchen sehr verführend machen.

Die Freyer kamen in Menge angestiegen. Da der Zutritt zu uns sehr schwer war, wendeten sich die meisten schriftlich an meinen Vater, und er gab mir gewöhnlich diese Art Briefe in die Hände. Ganz unabhängig vom Stand und Vermögen des Schreibers, hatte die Wendung, die dieser seinem Anliegen zu geben wußte, den nächsten Einfluß auf meine Meynung; ich nahm es über mich, meinem Vater das Conzept seiner Antwort aufzusetzen, und er schrieb es treulich ab; ich verabschiedete die Anfragenden mit Würde, und benahm alle Hoffnung, aber ohne zu beleidigen. Die Jugend unsers Reviers gieng solcher Gestalt die Musterung durch, und es kostete mir bey den meisten keine große Mühe, sie mit meiner abschlägigen Antwort zufrieden zu machen. Mein Vater sah blos auf den Reichthum; er machte die Ansprüche an meiner Stelle; wer sich also erst eben eingerichtet hatte, wem seine gegenwärtigen Umstände oder zukünftigen Hoffnungen keinen besondern Wohlstand zusicherten, der konnte sich seines Beyfalls nicht schmeicheln; waren aber diese Punkte in Richtigkeit, so that es ihm sehr leid, daß ich mich nicht entschließen wollte. Dieß veranlaßte zwischen meinem Vater und mir Streitigkeiten, die seitdem immer zugenommen haben; er liebte und achtete den Handel, weil er ihn für die Quelle des Reichthums hielt, ich verabscheute ihn, weil er in meinen Augen die Quelle des Geitzes, und des Trugs war.

Mein Vater fühlte wohl, daß mir nichts, was zu eigentlich sogenannten Handwerken gehörte, anstehen konnte; seine Eigenliebe hätte ihn ohnehin schon nicht daran denken lassen. Aber er begriff nicht, wie ein eleganter Juvelierer, der lauter schöne Sachen anrührt, mit denen er gewaltigen Profit macht, mir mißfallen konnte. Wenn er sich obendrein mit einem schon gemachten Hause, das mit der Zeit noch glänzend werden konnte, antrug. Mir schien indeß der Geist eines Juvelierers, wie der eines kleinen Krämers, den jener weit unter sich hält, wie der eines reichen Tuchhändlers, der sich wiederum vornehmer als die beyden andern dünkt, ganz und gar im Begehren nach Gold zu bestehen, in dem Berechnen, wie sie dazu gelangen müssen, in den Kunstgriffen, die Mittel des Erwerbs zu vervielfältigen; alle höheren Begriffe, alle feinen Gefühle, die in meinen Augen dem Daseyn seinen Werth gaben, blieben ihm unbekannt.

Von meiner Kindheit an mit der Betrachtung des Menschen in seinen gesellschaftlichen Verhältnissen beschäftigt, mit der reinsten Moral genährt, sollte ich nur darum mit dem Plutarch, mit allen Philosophen gelebt haben, um meine Hand einem Kaufmann zu geben, der über nichts urtheilen könnte, wie ich, nichts wie ich empfinden würde?

Man hat schon bemerkt, daß meine weise Mutter mich eben so gut für die Gesellschaft, für den Markt wie für die Promenade geschickt und tauglich machen wollte; noch nach meiner Rückkehr aus dem Kloster begleitete ich sie, wenn sie, wie das oft der Fall war, selbst für den Haushalt einkaufte, und endlich schickte sie mich zuweilen, in Begleitung einer Magd, in diesem Geschäfte aus. Der Schlächter, bey dem sie ihr Fleisch nahm, verlor seine zweyte Frau, und befand sich als ein noch junger Mann im Besitz von fünfzigtausend Thalern, die er noch zu vermehren wünschte. Diese Umstände waren mir völlig unbekannt, ich bemerkte nur den Vortheil, gut und sehr höflich bedient zu werden, und war nicht wenig erstaunt, diesen Menschen sehr oft des Sonntags auf der Promenade im schönen schwarzen Rock, mit feinen Spitzenmanschetten, vor meiner Mutter erscheinen zu sehen, die er ehrerbietig grüßte, ohne sie anzureden. Das dauerte einen ganzen Sommer; ich ward einmal unbaß, und alle Morgen ließ der Schlächter fragen, wessen man benöthigt seyn möchte, und bot alles an, was er nur herbeyschaffen könnte. Diese sehr deutliche Aufmerksamkeit fieng an, meinen Vater lächeln zu machen, und um sich zu belustigen, führte er eine Mademoiselle Michon, eine sehr ernsthafte gottselige Person, an dem Tag, wo sie ihr Wort für den Schlächter anbrachte, zu mir. – »Du weißt, meine Tochter«, fieng er sehr ernsthaft an, »daß ich mir es zum Grundsatz gemacht habe, deiner Neigung keinen Zwang anzuthun, ich will dir daher die Vorschläge mittheilen, die mir deinetwegen gemacht worden sind;« und nun wiederholte er mir, was ihm Mademoiselle Michon gesagt hatte. Ich biß mir in die Lippen, und war etwas ärgerlich, daß mir meines Vaters lustige Laune eine Antwort anheim stellte, die er an meiner Stelle hätte geben sollen. – »Es ist ihnen bekannt, lieber Vater«, sagte ich, indem ich ihn parodirte, »wie ich mich in meiner jetzigen Lage so glücklich schätze, daß ich fest beschlossen habe, sie in den nächsten Jahren wenigstens nicht zu verändern. Auf diesen Entschluß können Sie alles gründen, was Ihnen dienlich scheint«; und damit begab ich mich hinweg.Hier möchte weder die Demoiselle Philipon noch die Bürgerin Rolland, insofern sie die Thaten der ersteren nicht ohne Selbstgefälligkeit wiedererzählt, schwerlich von einigem Aristokratismus freizusprechen seyn; und wenn auch Mademoiselle Philipon gute Gründe haben konnte, die Hand des Schlächters auszuschlagen, so war an dem Antrag eines braven, sich reichlich und redlich nährenden Bürgersmannes nichts lächerliches noch lächerlich zu machendes. Man wird überhaupt in dieser ganzen Epoche der Geschichte unsrer Heldin, ohne daß sie eben sich dessen bewußt scheint, viele von den Verkehrtheiten und konventionellen Thorheiten des gebildeteren Mittelstandes, und besonders der durch Verstand, Talente, oder Reitze sich über das Gewöhnliche erhebenden Mädchen aus demselben wiederfinden, gegen welche, insofern sie auch zu den deutschen Sitten gehören, Hermes in seinen Schriften mit so rühmlichem Eifer zu würken gesucht hat. Dieß sei gesagt, damit das glänzende Beispiel der Bürgerin Roland nicht etwa einem Gebrechen unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse Vorschub thue, dessen mannichfaltige schlimme Würkungen dem Beobachter fast auf jedem Schritt des täglichen Lebens begegnen. Aufmerksamen Lesern wird es nicht entgehen, daß Mademoiselle Philipon schwerlich einen Mann geheirathet haben würde, dessen Karakter und Alter, ohngeachtet ihrer idealisirenden Fantasie, eben nicht ihren früheren Hoffnungen entsprachen, wenn sie nicht ein gewisses, aus Vernunft und Muthwillen, aus Mädchenlaune und Bücherweisheit zusammengesetztes Spiel, über die Zeit hinaus getrieben hätte. Und wer kann sagen, wie viel wohl verfehlte Bestimmung zu ihrer nachmaligen, in vielen Stücken unnatürlichen Activität, und zu dem Antrieb, den sie ohne Zweifel mehr als irgend etwas anders ihrem Gemahl gab, beitragen mochte? Das Seltene, Edle, Heroische an dem unglücklichen Weibe behält hiebei seinen vollen Werth; allein die Gesetze der Vernunft und der Natur vermag es nicht zu ändern.       H. Das muß man dir nachsagen, sprach nochmals mein Vater, wie wir allein waren, du hast dir da eine Ursache ausgesonnen, mit welcher du alle Welt abweisen kannst. – Lieber Vater, ich habe Ihre kleine Bosheit mit einem Gemeinspruche beantwortet, der einem jungen Mädchen sehr wohl ansteht; Ihnen lag es nun weiter ob, den Abschied in aller Form zu geben, welches mir nicht zukam. – Du hilfst dir herrlich aus der Sache; sage mir aber nur, was dir endlich zusagen wird? – Das, wofür Sie mich erzogen haben, indem sie mich nachdenken lehrten, indem Sie mich wissenschaftliche Gewohnheiten annehmen liessen; ich kenne den Mann noch nicht, dem ich meine Hand geben möchte, aber wer es auch sey, so muß ich mit ihm umgehen können, muß ihm meine Empfindungen und Gedanken mittheilen können. – Man findet im Handelstande Menschen, die gesittet und unterrichtet sind. – Ja, aber nicht auf meine Weise. Ihre Höflichkeit beläuft sich auf einige Phrasen und Reverenzen, ihr Wissen steht immer mit ihrem Geldkasten in Verbindung, und würde mir beym Unterricht meiner Kinder nicht sonderlich zur Hand gehen. – So erziehst du sie selbst. – Das würde mir ein schweres Geschäft scheinen, wenn es der, dem sie das Leben verdanken, nicht theilte. – Hältst du l'Empereurs Frau nicht für glücklich? sie haben den Handel aufgegeben, sie kaufen ansehnliche Aemter, sie haben ein artiges Haus, und sehen gute Gesellschaft. – Ich kann anderer Glück nicht beurtheilen, und suche meines nicht im Reichthum, ich kann mir kein anders im Ehestand denken, als die vollkommenste Vereinigung der Herzen, ich kann mich mit niemanden verbinden, der mir nicht gleicht, und mein Mann muß obendrein noch besser seyn wie ich, denn da ihm Natur und Gesetz die Uebermacht geben, würde ich mich schämen, wenn er sie nicht auch würklich verdiente. – Du müßtest also irgend einen Advokaten nehmen! Diese Stubenmenschen machen ihre Weiber eben nicht am glücklichsten, sie sind eingebildet, und haben wenig Geld. – Aber guter Gott, ich schätze ja niemanden nach seinem Rocke, lieber Vater! ich sage ja nicht, daß ich auf dieses oder jenes Gewerb bestehe, ich will einen Mann, den ich lieben kann. – Aber nach deinen Reden hältst du es nicht für möglich, einen solchen im Handelstande zu finden. – Ach, ich gestehe, daß es mir schwer scheint; ich habe wenigstens noch niemanden darunter gefunden, der mir gefallen hätte, und der Stand selbst ist mir zuwieder. – Es ist doch ein gutes Ding darum, ruhig in seinem Zimmer zu sitzen, indeß der Mann hübsche Geschäfte macht. Sieh Madame d'Argens; sie versteht sich auf Juwelen so gut wie ihr Mann, sie macht in seiner Abwesenheit mit den Mäcklern Geschäfte; kommen Käufer, so schließt sie den Handel, ja sie sezte die Wirthschaft wohl gar fort, wenn sie Wittwe würde; sie haben ein ansehnliches Vermögen, sie haben einen Antheil bey den Aktien, die Bagnolet gekauft hat. Du hast einen guten Kopf, ja du kennst diesen Handelszweig, seit du das Buch über die Edelsteine gelesen hast, das ich besitze; du würdest Zutrauen einflößen, du könntest thun, was du wolltest; du könntest das angenehmste Leben führen, wenn du Delorme, Dübreuil, oder l'Obligeois gemocht hättest. – Hören Sie, lieber Vater, ich habe wohl wahrgenommen, daß man im Handel nicht anders fortkömmt, als wenn man theuer wieder verkauft, was man wohlfeil einkaufte, als wenn man unmäßig fodert, und dem armen Arbeiter abzwackt; zu allem dem könnte ich mich nie verstehen, noch könnte ich jemals einen Mann ehren, der von früh bis Abends nichts anders thäte, als das; nun will ich aber ein rechtschaffnes Weib seyn, und wie könnte ich einem Mann treu bleiben, auf den ich nichts hielte, angenommen, daß ich einen solchen zum Gemahl hätte wählen können. Ob man Diamanten oder Fleischpastetchen verkauft, scheint mir übrigens einerley, ausser daß diese ihren gesezten Preis haben, daß man vielleicht weniger dabey betrüge, sich aber mehr dabey beschmüzt. Ich mag das eine so wenig wie das andere. – Glaubst du denn, daß es keine ehrlichen Kaufleute giebt? – Das will ich nicht entscheiden, aber ich bin überzeugt, daß sie selten sind, und diese ehrlichen Leute haben nicht alles, was ich von meinem Manne fordern würde. – Du bist schwer zu befriedigen und wenn du dein Hirngespinnst nicht findest? – So werde ich eine alte Jungfer. – Das ist vielleicht nicht so süß, wie du meinest; übrigens hast du Zeit dich zu bedenken; aber früh oder spät kommt die Langeweile, der Zulauf ist vorüber, und du kennst die Fabel – O ich würde mich an der Ungerechtigkeit, die mich des Glückes beraubte, schon rächen, indem ich dessen werth zu bleiben wüßte. – Nun bist du wieder in den Wolken! wenn man hinaufsteigen kann, ist es da oben recht hübsch; man kann sich nur nicht gut darinn halten. Bedenke daß ich vor meinen alten Tagen gar gern Enkelchen sehen möchte.

Und ich möchte Ihnen recht gern welche geben, sagte ich zu mir selbst, als mein Vater durch sein Fortgehen dem Gespräche ein Ende gemacht hatte; aber ich werde sie zuverläßig von keinem Manne bekommen, der mir nicht ansteht. Wenn ich dann um mich herblickte, so ward ich ein bischen melancholisch, denn ich sah in allem, was mich umgab, nichts, das meinem Geschmack zusagte; dieses Gefühl dauerte nicht lange, ich fühlte mich für jezt glücklich, und hüllte die Zukunft in einen Schleyer unbestimmter Hoffnung ein; es war die Fülle der Behaglichkeit, die sich bis auf die Zukunft erstreckt, weil sie von jeder Unruhe befreyt. – »Wird es ihnen dießmal recht seyn, Mademoiselle?« sagte einmal mein Vater, mit angenommenem Ernst, und dem zufriednen Wesen, das er immer hatte, wenn sich ein Freyer für mich zeigte; »lesen Sie diesen Brief.« – Schrift und Styl waren sehr gut; und jagten mir das Feuer in die Wangen. Herr Morizot de Rozain sagte ziemlich hübsche Dinge, aber er ließ merken, daß sein Name in dem Adelsregister seiner Provinz stünde, und es schien mir sehr gekkenhaft, oder ungeschickt sich mit einem Vorzuge zu brüsten, der mir abgieng, und von welchem man nicht vermuthen durfte, daß ich danach verlangte; das ist noch immer keiner Untersuchung werth, sagte ich den Kopf schüttelnd, aber man muß den Menschen doch näher kennen; noch ein oder zwey Briefe, und ich weiß ihn auswendig; ich will die Antwort darauf einrichten. Wenn es auf Schreiben ankam, war mein Vater immer die Gefälligkeit selbst, er kopirte meine Aufsätze ohne alle Einwendung. Mich amüsirte es ungemein, den Papa zu spielen; ich behandelte meine eignen Angelegenheiten mit allem Ernste, den sie erfoderten, kurz als wäre es meine Sache, aber alles im Style väterlicher Weisheit.

Es kam von Seiten des Herrn von Rozain bis zu drey Sendschreiben, darinn er seine Willensmeynung auseinandersezte; ich habe sie, weil sie sehr gut geschrieben waren, ziemlich lange aufbewahrt; sie bewiesen mir, daß Verstand nicht hinreichte, um mir zu gefallen, daß auch Ueberlegenheit der Vernunft, und kurz jene Seele dazu nöthig wäre, die nichts zu ersetzen, nichts zu beschreiben vermag, deren Ton aber in allem hörbar ist. Uebrigens besaß Rozain nichts als seinen Advokatentitel, mein gegenwärtiges Vermögen konnte für beyde nicht zulangen, und er schien nicht alle die Eigenschaften zu besitzen, um derentwillen man diese Hindernisse zu überwinden gewünscht hätte.

Indern ich den Aufstand in Masse meiner Freyer verkündigte, habe ich nicht versprochen, sie alle zu nennen, und man wird es mir auch gern erlassen; ich habe nur die Sonderbarkeit einer Lage schildern wollen, in welcher sich so viele Leute um mich bewarben, die ich zuweilen nicht einmal von Ansehen kannte, und wo ich doch immer die Freyheit hatte, Schein und Gründe alle selbst zu debattiren. Zuweilen kamen mir in der Kirche, oder auf der Promenade wohl neue Gesichter vor, die mich beobachteten, oder mir nachfolgten; dann sagte ich bey mir selbst: gewiß wird es da bald wieder einen Brief für den Papa zu schreiben geben. Aber nie stieß mir eine Gestalt auf, die mich verführt oder gerührt hätte.

Ich habe schon gesagt, daß la Blancherie den Verstand gehabt hatte, Zutritt in unserm Hause zu erlangen, und wahrscheinlich auch inne zu werden, daß er suchen müßte sich angenehm zu machen, ehe er seine Erklärung wagte. Er war noch sehr jung, hatte aber schon Reisen gemacht, viel gelesen, und sogar drucken lassen; sein Buch war zwar nicht viel werth, enthielt aber Moral die Menge, und gesunde Ideen; er hatte es Auszug aus meinen Reisen zum Unterricht für Väter und Mütter betittelt; wie man sieht, verrieth dieß eben nicht viel Bescheidenheit; man verzieh es ihm aber fast, denn er stüzte sich auf gar ehrwürdige, philosophische Autoritäten, citirte sie ziemlich glücklich, und ließ sich über den Kaltsinn, und die Nachläßigkeit der Eltern, wodurch so oft die Verderbniß und der Untergang der Jugend erfolgt, mit dem Eifer einer redlichen Seele aus. La Blancherie war klein, braun, ziemlich häßlich, er ließ meine Einbildungskraft ganz kalt, aber sein Verstand mißfiel mir gar nicht, und ich glaubte wahrzunehmen, daß meine Person ihm sehr behagte. Eines Abends, da ich mit meiner Mutter von einem Besuch bey meinen Großeltern zurückkam, fanden wir meinen Vater ein wenig nachdenkend, ich weiß etwas neues, sagte er lächelnd, la Blancherie verläßt mich so eben, er war über zwey Stunden bey mir, er hat mir sein Herz eröfnet, und da sein Geheimniß Sie betrift, Mademoiselle, muß ich es Ihnen wohl mittheilen. (Diese Schlußfolge war nicht die strengste, aber sie war einmal in meines Vaters Manier). Er ist in dich verliebt, will mein Schwiegersohn werden; aber er hat nichts, und die Verbindung wäre eine Thorheit, wie ich auch gesucht habe, ihm begreiflich zu machen. Er hat sich der Rechtsgelehrsamkeit gewidmet, und möchte wohl eine Gerichtsstelle kaufen; da aber sein väterliches Erbtheil dazu nicht hinreicht, hat er sich ausgedacht, daß wenn er uns anstünde, die Mitgift seiner Frau den Abgang ersetzen, und der junge Haushalt, zumal du unser einziges Kind bist, die ersten Jahre bey uns bleiben könnte. Er hat mir sehr hübsche Dinge über das alles gesagt, die sich in einem jungen Gehirn wunderschön reimen, aber vernünftige Eltern fordern etwas solideres, er setze sich nur erst in eine ordentliche Praxis, oder kaufe ein Amt, oder finde sonst irgend ein Auskommen, so wollen wir wohl weiter sehen; zur Ehe ist es immer noch Zeit, es wäre ja eine Tollheit, sich vorläufig zu verheyrathen. Uebrigens ist auch darauf zu sehen, was an dem Menschen ist; das wäre nun leicht zu erfahren; lieber wäre es mir indessen, wenn er statt seines Adels hübsche vierzigtausend Thaler hätte. Es ist ein guter Mensch, wir haben die Länge und die Breite zusammen geschwazt, meine Gründe betrübten ihn ein wenig, er hörte sie aber geduldig an, endlich bat er mich, ihm unsre Thüre nicht zu verschliessen, und nahm sich so gut dabey, daß ich es ihm nicht abgeschlagen habe, unter der Bedingung nämlich, daß er nicht öfter wie sonst käme. Ich habe ihm gesagt, du solltest von dem allen nichts wissen; du bist aber zu vernünftig, als daß ich dir etwas verhehlen möchte. – Einige Fragen von Seiten meiner Mutter, einige weise Anmerkungen über alles was zu betrachten stünde, ehe man sich für jemanden einnehmen liesse, ersparten mir die Mühe zu sprechen, nicht aber nachzudenken.

Meines Vater Berechnung war billig, der Vorschlag des jungen Menschen war aber doch nicht unvernünftig; ich fühlte mich geneigt, ihn mit mehr Theilnahme und Neugier zu sehen und auszuforschen. Die Gelegenheit war nicht sehr häufig, verschiedne Monate verfloßen, la Blancherie gieng nach Orleans, und ich sah ihn erst nach zwey Jahren wieder. In der Zwischenzeit war ich auf dem Punkt den Arzt Gardanne zu heyrathen; eine unserer Verwandtinnen drang auf diese Verbindung. Madame Desportes aus der Provence gebürtig, hatte sich an einen Kaufmann in Paris verheyrathet; sehr früh zur Wittwe geworden, und Mutter einer einzigen Tochter, sezte sie den Handel mit Edelsteinen fort, den mein Vater so anmuthig fand. Gescheut, höflich, sehr gewandt und von einem vollkommnen guten Ton, wurde sie allgemein geschäzt; man hätte fast geglaubt, sie gäbe sich blos den Personen, die sich an sie wendeten, zu Gefallen mit dem Handel ab; ohne ihre Wohnung zu verlassen, die sehr artig war, und in welcher sie sehr anständige Gesellschaft, ja sogar aus dem Stande, sah, den Luxus oder Mode mit ihr in Handelsverbindung sezten, erhielt sie ihr kleines Vermögen und ihren Wohlstand ohne Einbusse, wie ohne Zuwachs. Bey ihrem hohen Alter gieng ihr ihre Tochter zur Hand, die aus der zärtlichsten Liebe für sie jede Versorgung abgewiesen hatte, um bey einer Mutter zu bleiben, mit welcher sie auf dem innigsten Fuß lebte.

Gardanne war ein Landsmann der Madame Desportes. Natürlicher Verstand, mittägliche Lebhaftigkeit, viel Fleiß, und eine ausserordentliche Lust zu gefallen, verhiessen diesem jungen Arzt beträchtliche Fortschritte in einer Laufbahn, wo er schon einen artigen Anfang gemacht hatte. Madame Desportes, die ihn mit dem wohlmeynenden Gönnerwesen aufnahm, das ihren Karakter, und ihr Alter kleidete, und das sie sehr annehmlich zu machen verstand, sezte sich in den Kopf, ihn ihrer kleinen Cousine zum Manne zu geben; sie starb über dem Projekte, ihre Tochter beschloß aber, es ins Werk zu setzen. Gardanne wünschte, und fürchtete sich zugleich, sich zu fesseln, er war bey den Vortheilen und Nachtheilen der großen Brüderschaft, nicht wie mein romantischer Kopf, der nur auf persönliches Wohlgefallen sah, zu Werke gegangen; er berechnete alles. Ich erhielt bey meiner Heyrath nur zwanzigtausend Livres, aber ziemlich ansehnliche Hofnungen ersezten die Mittelmäßigkeit dieser Aussteuer; die Geldbedingnisse waren gemacht, ehe ich ein Wort von der ganzen Sache wußte; der Handel war schon geschlossen, als man mir von einem Arzt sagte, der zu heyrathen wäre. Der Stand gefiel mir, er versprach einen aufgeklärten Menschen, aber man mußte die Person selbst kennen lernen. Man verabredete einen Spatziergang im Luxemburg, bey welchem ein Regen eintreffen sollte; es regnete auch würklich, oder man that wenigstens, als ob man sich davor fürchtete, und suchte ein Obdach bey einer Freundin der Demoiselle Desportes, einer Demoiselle de la Barre, einer großen Jansenistin, die über den Zufall sehr erfreut, uns eine Collation anbot, während deren es sich treflich sagte, daß ihr Arzt und Landsmann sie zu besuchen kam. Man faßte sich gegenseitig, doch was mich anbetrift, ohne mir's im mindesten merken zu lassen, ob ich mir gleich nichts entgehen ließ, sehr scharf ins Auge. Meine Cousine triumphirte, als wenn sie sagen wollte: ich hatte sie nicht als hübsch angekündigt, aber was halten Sie davon? – Meine gute Mutter sah zärtlich und nachdenkend aus, Mademoiselle de la Barre war geistreich, und machte die Honneurs ihres Eingemachten und Zuckerwerks auf das vollkommenste. Der junge Doktor schwazte weidlich, krackte Zuckermandeln, und sagte halb aus Galanterie, die ein bischen nach dem Schulstaub schmeckte, daß er das Süsse sehr liebte; worauf das junge Mädchen mit sanfter Stimme, einigem Erröthen und leichtem Lächeln bemerkte, man beschuldige die Männer, diesen Geschmack zu haben, weil man selbst dessen sehr bedürfe, um mit ihnen fertig zu werden.Der Einfall möchte ohne Kommentar in der Uebersetzung ziemlich sinnlos scheinen; er beruht auf der doppelten Bedeutung des Wortes douceur, welches für Süßigkeit und für Sanftheit gebraucht wird.       H. Dem scharfsinnigen Doktor schien das Epigramm in die Nase zu steigen; mein Vater hätte schon herzlich gern seinen Segen gegeben, und war so höflich, daß mir die Galle überlief. Der Arzt begab sich zuerst hinweg, um seine Abendbesuche zu machen, wir giengen nach Haus wie wir gekommen waren, und das hieß nun eine Zusammenkunft; Mademoiselles Desportes, die sehr auf Förmlichkeit hielt, hatte das alles eingefädelt, weil ein junger Mensch, der Heyrathsabsichten hat, eine Familie von eingezogner Lebensart, wenn ein junges Mädchen darunter ist, nicht eher besuchen darf, als bis er das Jawort hat; ist er aber einmal so weit, so muß der Kontrakt sogleich aufgesezt werden, und die Hochzeit auf dem Fuß folgen: das war das Gesetz und die Propheten. Ein Arzt in seiner Amtskleidung ist eben nicht sehr verführend für ein junges Mädchen, ich habe mir Zeitlebens die Liebe in keiner Perücke denken können. Auch schien Gardanne in seiner dreyknotigen Perücke mit seiner Doktormine, seiner mittäglichen Aussprache, seinen schwarzen fast zusammen gewachsenen Augenbraunen, weit geschickter, das Fieber zu heilen, als es zu geben. Aber das fühlte ich, ohne es damals zu äussern, denn die Ehe schien mir etwas so ernsthaftes und wichtiges, daß ich an seinem Vorschlage auch nicht das mindeste lächerliche fand. – Nun, fragte sanft meine gute Mutter, wie findest du den Mann? Gefällt er dir? – Liebe Mutter das kann ich nicht so geschwind wissen. – Du kannst aber doch sagen, ob er dir Widerwillen einflößt. – Weder Neigung noch Widerwillen; eins oder das andre kann noch kommen. – Wie? man muß aber doch wissen, was man antworten soll, wenn die förmliche Anfrage erfolgt. – Und ist diese Antwort bindend? – Wenn man einem braven Mann sein Wort gegeben hat, muß man es ohne Zweifel doch halten. – Wenn er nun aber mißfällt? – Ein vernünftiges Mädchen, das sich nicht durch Laune bestimmen läßt, besinnt sich nicht anders, wenn sie einmal einen so wichtigen Entschluß abgewägt, und gefaßt hat. – Ich soll mich also nach dieser einzigen Zusammenkunft entschliessen? – So ist es eben nicht gemeint. Herrn Gardannes Bekanntschaft mit unsrer Familie sezt uns in den Stand, von seinem Wesen, seinen Sitten zu urtheilen; einige Erkundigungen können uns über seinen Karakter Licht verschaffen, das sind also die Grundlagen, auf die man seinen Entschluß bauen kann; die persönliche Bekanntschaft ist eine Nebensache. – Ach liebe Mutter, ich bin eben nicht sehr ungeduldig zu heyrathen. – Das glaube ich dir, mein Kind, aber du mußt doch einmal an eine Versorgung denken, und befindest dich jezt im günstigsten Alter dazu; du hast viele Anträge aus dem Handelstande abgewiesen, und diese kann dir deine Lage allein in Menge darbieten; du scheinst entschlossen, keinen Mann von diesem Gewerbe zu wählen; die Parthie, welche hier auftritt, muß dir durch jede äussere Ursache anstehen; nimm dich wohl in Acht, sie nicht leichtsinnig auszuschlagen. – Mich dünkt, ich hätte Zeit mich zu besinnen. Herr Gardanne ist vielleicht selbst noch nicht entschlossen, denn er hatte mich ja noch nie gesehen. – Das gebe ich zu; hast du aber keine andre Entschuldigung, so wird sie vielleicht nicht von langer Dauer seyn; übrigens fordre ich in diesem Augenblick keine Antwort. Du wirst dich besinnen, und mir in zwey Tagen deinen Entschluß sagen. – Mit diesen Worten küßte meine Mutter meine Stirne, und ließ mich nachdenken.

Vernunft und Natur treffen so sehr zusammen, um ein junge, wohldenkendes, und sittsames Mädchen von ihrer Bestimmung zum ehelichen Leben zu überzeugen, daß es blos über die Wahl des Gegenstandes zu berathschlagen haben kann, und hierinn mangelte es den Gründen meiner Mutter nicht an Gewicht. Ich überlegte übrigens, daß mich meine vorläufige Einwilligung, was man auch sagen möchte, eigentlich nicht gänzlich verpflichtete, daß die Voraussetzung, als machte ich mich zu etwas anheischig, wenn ich mir gefallen liesse, einen Menschen, der mich zu heyrathen begehrte, bey meinem Vater zu sehen, abgeschmackt wäre; und ich fühlte sehr wohl, daß mich keine Rücksicht bewegen könnte, einen Entschluß zu fassen, so bald er mir mißfiele. Ich beschloß also bey mir selbst, nicht nein zu sagen, und mir die Untersuchung vorzubehalten.

Wir waren im Begriff, auf vierzehn Tage über Land zu gehen, ich fand es nicht anständig, diese Reise gleichsam in Erwartung eines Freyers aufzuschieben, meine Mutter war meiner Meynung, aber noch vor unsrer Abreise kam Mademoiselle de la Barre eines Tages in vollem Putz angezogen, um, wie man zu sagen pflegt, das Begehren des Doktors anzubringen. Meine Eltern gaben die Art Gemeinsprüche zur Antwort, welche gebräuchlich sind, wenn man mit dem Vorbehalt näherer Ueberlegung annimmt; man bat für den Freyer um die Erlaubniß, persönlich aufwarten zu dürfen, und sie ward zugestanden. Mademoiselle Desportes, die sich in ihrer Förmlichkeit nicht irre machen ließ, fand, daß es ihr zukam, ihn mitzubringen, und eine Familien-Collation, wo sich Mademoiselle de la Barre und eine meiner Verwandtinnen einfanden, bezeichnete den feyerlichen Eintritt des mehr erwähnten Herrn in das väterliche Haus. Wir reisten Tags darauf auf das Land, um dort gerade so lange Zeit zu verweilen, wie die sogenannten Erkundigungen währen würden. Diese zweyte Zusammenkunft rührte mich eben so wenig wie die erste, allein ich fand in Gardanne einen Mann von Verstand, mit welchem eine denkende Frau wohl leben könnte, und bey meiner Unerfahrenheit schloß ich, daß die Möglichkeit zu raisonniren und sich zu verstehen, eine Grundlage zum Glück der Ehe sey. Meine Mutter fürchtete, eine herrschsüchtige Gemüthsart bey ihm wahrzunehmen; das verschlug mir nichts; gewöhnt mich selbst zu erforschen, meine Neigungen zu ordnen, meiner Einbildungskraft zu gebieten, durchdrungen von der Strenge und Erhabenheit der ehelichen Pflichten, begriff ich gar nicht, was etwas mehr oder weniger Sanftheit des Karakters zur Sache thäte, noch wie man mehr von mir fordern könnte, als ich selbst zu thun pflegte. Ich rechnete wie ein einsamer Philosoph, der weder die Menschen, noch die Leidenschaften kennt. Ich nahm mein zärtliches, friedliches, edles, freymüthiges Herz zum Maaßstab der Moralität meiner Gattung. Ich habe diesen Fehler lange begangen, er war die einzige Quelle meiner Irrthümer. Ich merke dieses frühzeitig an, und gebe damit gleichsam den Schlüssel zu meinen Geheimnissen. Mir folgte eine unbestimmte Unruhe auf das Land nach; es war nicht die sanfte Bewegung, welche der entzückende Anblick der Natur sonst bey mir hervorbrachte, und durch welche ich mit doppelter Wollust an ihren hinreissenden Reitzen schwelgte; ich fühlte mich an dem Rande einer neuen Lage, vielleicht mußte ich meine vortrefliche Mutter verlassen, und mit ihr meine geliebten Beschäftigungen, meine reitzende Einsamkeit, kurz eine Art Unabhängigkeit, die ich gegen einen Stand eintauschen sollte, von welchem ich mir noch keinen rechten Begriff machte, der mir aber große Verbindlichkeiten auflegte; ich hielt diesen Stand für rühmlich, glaubte mich bestimmt, ihn zu wählen, allein mir war noch manches dunkel, ich empfand das Verlangen, und die Scheue der Unsicherheit. Ich hatte Mademoiselle Desportes versprechen müssen ihr zu schreiben, ich hielt Wort, erfuhr aber gegen das Ende der vierzehn Tage , daß sie einen großen Verdruß hätte. Mein Vater, der die Dinge im buchstäblichen Sinn nahm, hätte seine Tochter nicht gut zu verheyrathen, und seine Vaterpflicht nicht gewissenhaft zu erfüllen geglaubt, wenn er nicht seine sogenannten Erkundigungen in aller Regel eingezogen hätte. Gardanne war durch eine unsrer Verwandtinnen vorgestellt, die seine ganze Lage und ihn selbst aus persönlichem Umgang kannte, alle mögliche Nachweisungen waren gegeben: demungeachtet aber hatte mein Vater, den ersten Augenblick, an drey bis vier Leute in der Provence geschrieben, um sich nach den kleinsten Umständen in Betreff der Familie und Person des Doktors zu erkundigen. Seine Wachsamkeit gieng während unsrer Abwesenheit noch weiter, er wandte kleine Mittel an, um durch die Aussagen des Gesindes, und der Leute, die in das Haus verkauften, von der Laune und Lebensart seines künftigen Schwiegersohns unterrichtet zu seyn; das war noch nicht alles; er besuchte ihn, und mit eben der Verschlagenheit, die er bey seinen Erkundigungen angewandt hatte, bey welcher er aller Welt seine Ursachen dazu merken ließ, wollte er gegen ihn wohl unterrichtet scheinen; sehr ungeschickt nannte er ihm einen Landsmann, mit dem er sich überworfen hatte, als einen Mann, für den er Achtung haben müßte, und fügte diesen Beobachtungen vorzeitige gute Rathschläge im Ton des väterlichen Ansehens bey. Gardanne empfieng zu gleicher Zeit nicht allein Briefe aus seiner Provinz, in welchen man ihn über die Erkundigungen, die er veranlaßte, aufzog, sondern auch Nachrichten von den strengen Nachfragen, die um ihn her angestellt wurden, und endlich gar die schulmeisterlichen Ermahnungen seines vielleicht zukünftigen Schwiegervaters. Bekümmert, verdrießlich, erbittert, geht er zu Mademoiselle Desportes, und beklagt sich mit mittäglicher Lebhaftigkeit über die befremdliche Aufführung eines Menschen, gegen dessen sehr begehrenswerthe Tochter nichts einzuwenden ist, als daß sie einen sehr sonderbaren Vater hat; Mademoiselle Desportes, der es ihrerseits eben so wenig an Lebhaftigkeit und Stolz fehlt, nimmt es sehr übel auf, daß man von ihrer Cousine nicht bezaubert genug ist, um sich über dergleichen kleine Verdrießlichkeiten wegzusetzen, und empfängt ihn ziemlich barsch. So bald ich diese Umstände erfuhr, eilte ich, mich bey dieser Gelegenheit von meiner Unruhe zu befreyen, und schrieb, daß ich bey meiner Rückkehr hofte, den Menschen, von welchem die Rede sey, nicht wieder zu sehen. So ward eine Heyrath rückgängig, mit deren Vollziehung Gardanne dergestalt eilte, daß er sie in den nächsten acht Tagen nach meiner Rückkehr abzuthun gedachte; ich wünschte mir Glück, Banden, die man so übereilt knüpfen wollte, entgangen zu seyn; meine Mutter, die sich's zwar in gewisser Rücksicht einigermaaßen zu Herzen zog, athmete doch, über die Lebhaftigkeit des Doktors erschrocken, wieder frey auf, und mein Vater suchte Schaam und Verdruß unter dem Ansehen gewaltiger Würde zu verbergen. Meine Cousine ließ von der ihren auch nichts ab, sie entfernte den Doktor aus ihrem Hause, und Mademoiselle la Barre sagte ihr noch fünf Jahr nachher, diese Ehe sey im Himmel geschrieben, ihr Freund gienge auch keine andre ein, der Finger der Vorsehung brachte Annäherungen zuwege, die wir nicht zu beurtheilen vermöchten.

Die arme Prophetin ist nun freilich mit ihrer schönen Weissagung zuschanden geworden! – Die Gesundheit meiner Mutter hatte unbemerkt gelitten, sie hatte einen Anfall von Lähmung der Glieder gehabt, den man, um mich zu schonen, mit Einwilligung meiner Mutter, die sich selbst zwar nicht täuschte, aber mich nicht beunruhigen wollte, einen Rheumatism genannt hatte. Sie verlor täglich von ihrer Lebhaftigkeit, und ward ernst und verdrüßlich; sie war gern in sich gekehrt, und nöthigte mich zuweilen mit der Aufwärterin auszugehen, ohne daß sie selbst einen Fuß aus dem Zimmer setzen wollte. Meine Versorgung war oft der Gegenstand ihres Gesprächs, und sie klagte, daß ich keinem der mir gemachten Anträge Gehör gäbe. Unter andern drang sie eines Tags mit einer Art Schwermuth in mich, einem rechtlichen Juwelenhänder, der um mich angehalten hatte, meine Hand zu geben. – Große Redlichkeit, sagte sie, sanfte gute Sitten, und ein artiges Vermögen, das mit der Zeit glänzend werden kann, sprechen zu seinem Vortheil, und dieses lezte Zubehör wäre bey einem gewöhnlichen Menschen schon mit für Verdienst zu rechnen. Er weiß, daß du keine gemeine Denkungsart hast, er bezeugt besondre Achtung für dich, und wird es sich zur Ehre schätzen, deinem Rath zu folgen, er sagt schon, er werde nichts dawider haben, daß seine Frau ihre Kinder selbst stille: du wirst ihn führen können. – Liebe Mutter, ich mag keinen Mann, den ich führe; das wäre ein etwas zu großes Kind. – Weißt du aber wohl, das man dich sehr sonderbar finden könnte? Denn einen Herrn willst du doch eben so wenig haben? – Lassen Sie uns einander verstehen, gute Mutter; ich will keinen Mann, der mir gebietet, er würde mich nur widerstehen lehren; aber ich will eben so wenig nöthig haben, meinen Mann am Leitseil zu führen. Wenn ich mich nicht sehr irre, so ermangeln diese Geschöpfe, die fünf Schuh in der Länge, und Haare am Kinn haben, wohl niemals, es uns fühlen zu lassen, daß sie die Stärkern sind, wollte mich dann so ein Ehemann an seine Stärke erinnern, so würde mir die Geduld ausreissen, und liesse er sich von mir führen, so schämte ich mich meiner Herrschaft. – Ah! so ist es gemeint; du möchtest jemanden unterjochen, der gutherzig genug wäre, sich für den Herrn zu halten, indem er deinen Willen thäte. – Das eben so wenig: mir ist die Dienstbarkeit verhaßt; aber ich glaube mich nicht zur Herrschaft gemacht; sie würde mich in Verlegenheit setzen; meine Vernunft hat schon mit mir selbst genug zu thun. Ich will einen Mann, der meine Achtung verdient, gegen den ich mir meine Gefälligkeit zur Ehre anrechne, der sein Glück darinn findet, das meinige auf diejenige Weise zu machen, die seine Weisheit und Liebe für die schicklichste hält. – Liebes Kind, dass Glück besteht nicht immer in der vollkommnen Uebereinstimmung, die du zur Bedingung machst; wäre sie unumgänglich nöthig, so gäbe es kaum eine einzige glückliche Ehe. – Ich kenne auch keine, die ich beneide. – Wohl; aber unter diesen Ehen kann doch manche seyn, die glücklicher wie die Lage einer alten Jungfer ist. Ich kann früher sterben, wie du denkst, du bleibst dann mit deinem Vater allein, er ist noch jung, und du ahndest nicht, wie mancherley Kummer meine Zärtlichkeit für dich besorgt. Wie ruhig würde ich seyn, wenn ich dich vor meinem Tode mit einem braven Mann verbunden sähe! – Diese lezten Worte durchdrangen mich schmerzlich; meine Mutter schien einen furchtbaren Schleyer zu heben, hinter welchem sich die Zukunft dunkel und schrecklich, wie ich sie nie geahndet hatte, enthüllte; nie hatte ich mir ihren Verlust gedacht, die bloße Ahndung dieses Unglücks, von welchem sie sprach, als stünde es so nahe bevor, machte mich vor Schrecken erstarren; ein Schauder überlief mich, ich heftete auf sie meine starren Augen, aus denen ihr Lächeln Thränen lockte. – Ist es möglich! du erschrickst? Muß man denn bey seinen Entschlüssen nicht die möglichen Fälle berechnen? Ich bin nicht krank, obschon der jetzige Zeitpunkt kritisch ist, und oft traurige Folgen nach sich zieht; aber mit dem Tod muß man sich beschäftigen, so lange man gesund ist; die gegenwärtige Gelegenheit bringt mich besonders darauf. Ein guter, braver Mann bietet dir seine Hand an, du bist über zwanzig Jahr, es werden fortan nicht mehr so viele Freyer kommen, wie in den leztverflossenen fünf Jahren: – ich kann hinscheiden – schlage diesen Mann nicht aus – er hat zwar nicht alle die Zartheit des Gefühls, die du so sehr schätzest, aber diese Zartheit ist selbst bey Männern, denen man sie am ersten zutraute, immer sehr selten; er wird dich sehr werth halten, du wirst glücklich mit ihm seyn. – Ja, Mutter rief ich mit einem tiefen Seufzer, glücklich wie Sie es waren! – Meine Mutter kam aus der Fassung, antwortete nicht, und öffnete den Mund nicht wieder, weder über diese Heyrath, noch über irgend eine andre, wenigstens nicht um in mich zu dringen. Das Wort war mir entwischt, wie der Ausdruck eines lebhaften Gefühls, über den man nicht nachdenkt, aber der Eindruck, den es machte, zeigte mir leider, wie sehr ich es getroffen hatte.

Fremde mußten auf den ersten Blick gewahr werden, welch ein Unterschied zwischen meinem Vater und meiner Mutter war, und wer konnte besser als ich alle Vortreflichkeit der leztern fühlen! Aber ich hatte das, was sie leiden mußte, nicht so genau berechnet, ich war von Kindheit an gewöhnt, den tiefsten Frieden im Hause herrschen zu sehen, ohne daß ich zu beurtheilen vermochte, ob es Mühe kostete, ihn zu erhalten; mein Vater liebte seine Frau, und ich war ihm sehr theuer; nie hatte ich von Seiten meiner Mutter, ich will nicht einmal sagen, einen Vorwurf, aber nur einen Schein von Unzufriedenheit bemerkt. Wenn sie nicht ihres Mannes Meynung war, oder ihn nicht hatte umstimmen können, schien es, als gienge sie ohne alle Schwierigkeit von ihrem Sinne ab. Nur in den lezten Jahren hatte ich es mir manchmal erlaubt, an ihren Wortwechseln Theil zu nehmen, weil mich meines Vaters Art zu raisonniren unbehaglich machte; ich hatte einigen Einfluß dabey gewonnen, den ich bald freymüthig benuzte. Mochte die Neuheit oder blos Schwäche daran Schuld seyn, mein Vater gab mir leichter nach als seiner Frau; ich nuzte es zu ihrem Besten, ich war meiner Mutter Wachthund geworden, man durfte sie in meiner Gegenwart nicht plagen, und mit Belfern, oder am Rockzipfelreissen, oder ernsthaftem Bösewerden, brachte ich es endlich immer dahin, daß man sie in Frieden ließ. Das Sonderbare dabey war, daß ich in Rücksicht auf ihren Mann eben so zurückhaltend wie meine Mutter, nie gegen sie allein, oder hinter meines Vaters Rücken ein Wort sagte, das sich nicht mit der kindlichen Ehrfurcht vertragen hätte. Reichte sinnreiche Geschicklichkeit nicht hin, so gebrauchte ich zu ihrer Vertheidigung die Stärke, ja sogar die Uebermacht der Vernunft; aber mit ihr allein hätte ich mir um die Welt nie ein Wort über das vorgefallene erlaubt. Ihr zu Gefallen zog ich selbst gegen ihren Mann zu Felde, aber abwesend war dieser Mann nur mein Vater, vor welchem jede schwieg, wenn sie nicht zum Danken den Mund öffnete. Ich nahm indessen wahr, daß mein Vater nach und nach die Gewohnheit zu arbeiten verloren hatte; anfangs hatten ihn seine Zunftgeschäfte zerstreut, und nachmals machten sie ihm das Ausgehen zum Bedürfniß; unvermerkt ließ er sich von dem zerstreuten Leben hinreissen; alles was auswärts vorgieng, jedes Schauspiel, jeder Vorfall zog ihn an; der Geschmack zum Spiel kam dazu, Kaffeehaus-Bekanntschaften führten ihn auch anderwärts hin, die Lockung der Lotterie verführte ihn. Der Trieb nach Vermögen hatte ihn zu Handelsunternehmungen verleitet, die ausser seiner Kunst lagen; sie hatten nicht immer geglückt; wie er aber die Gewohnheit sich zu beschäftigen verlor, vermochte ihn jener Trieb, dem Ohngefähr zu opfern. In dem Verhältniß, wie er sich weniger auf seine Geschicklichkeit legte, nahm diese auch ab; seine Kräfte giengen ein, und durch eine unordentliche Lebensart ward sein Gesicht schwächer, seine Hand unsicher. Da er seine jungen Leute nicht mehr so sorgsam anleitete, vertraten sie seine Stelle immer schlechter; bald mußte man ihre Zahl vermindern, denn natürlicherweise verlor sich der Zulauf, den er gehabt hatte, und nahm irgend eine andre Richtung. Diese Veränderungen traten ganz unvermerkt ein, aber ihre Würkungen wurden auffallend, ehe man ihre Wichtigkeit berechnet hatte. Meine Mutter, die sehr nachdenkend geworden war, fieng an mir zuweilen ihre Besorgnisse halb und halb mitzutheilen, die weder sie noch ich ändern konnten. Meine größte Bemühung gieng dahin, sie alle Annehmlichkeiten geniessen zu lassen, die von mir abhiengen; sie hatte den größten Widerwillen gegen alles Gehen bekommen; ich verließ sie, so schwer mir das Opfer wurde, um mit meinem Vater herum zu laufen; ich bat ihn, mich spatzieren zu führen, er war nicht so eifrig wie vormals, mich mit sich zu nehmen, aber es freuete ihn doch noch, mich zu begleiten, und ich brachte ihn mit einer Art von Triumph zu der guten Mutter zurück, deren frohe Rührung, wenn wir alle beysammen waren, ich so deutlich bemerkte. Wir gewannen nicht immer dabey, denn, um seiner Tochter nichts abzuschlagen, und doch auch nichts an seinen andern Vergnügungen einzubüssen, brachte mich mein Vater zwar nach Haus, gieng aber dann wieder fort, freilich, wie er sagte, nur auf einen Augenblick, allein anstatt zum Abendessen heimzukommen, vergaß er die Stunde, und blieb bis Mitternacht aus. Wir weinten dann in der Stille, und stellte ich ihm bey seiner Rückkehr unsern Kummer wohl einmal vor, so nahm er alles auf die leichte Achsel, beantwortete meine sanften Klagen mit lustigem Scherz, oder gieng mit unzufriednem Stillschweigen zur Ruhe. Das häusliche Glück ward unter diesen Wolken zu nichte, aber der Friede blieb ungestört, und gleichgültige Augen hätten die täglich fortgehende Veränderung nicht wahrgenommen.

Meine Mutter litt seit länger als einem Jahre viel an einer Verstopfung in der Nase, die einem Schnupfen glich, und deren Ursache die Aerzte nicht entdecken konnten; nachdem sie verschiedene Mittel gebraucht hatte, rieth man ihr vorzüglich Bewegung an, die sie gar nicht mehr liebte, und die heilsame Landluft. Es war kurz vor dem Pfingstfest vom Jahre 1775; man beschloß nach Meudon zu gehen. Diesen Sonntag erwachte ich nicht, wie ich sonst pflege, wenn eine solche Landparthie im Vorschlag war; ich lag in einem schweren von schlimmen Träumen unterbrochnen Schlaf, mir war es, als kehrten wir zu Wasser nach Paris zurück, der Sturm jagte uns, und wie wir aus dem Kahn stiegen, trug man einen Leichnam heraus, der mir den Weg versperrte; erstarrt vor Schrecken über diesen Anblick, suchte ich zu entdecken, was dieser traurige Leichnam bedeutete; in demselben Augenblick berührte meine Mutter meine Füße, und der Ruf ihrer sanften Stimme verjagte meinen Traum; erfreut sie zu sehen, als hätte sie mich aus der größten Gefahr errettet, streckte ich meine Arme nach ihr aus, drückte sie gerührt an mein Herz, und sagte ihr, sie erzeige mir eine Wohlthat, mich aufzuwecken. Ich sprang aus dem Bett, wir machten unsre Einrichtungen, und reisten ab. Das Wetter war schön, die Luft still, ein kleines Boot hatte uns bald an den Ort unsrer Bestimmung gebracht, und die Reitze der Gegend gaben mir meine Heiterkeit zurück. Die Reise bekam meiner Mutter gut, sie ward etwas thätiger; den zweyten Tag war es, daß wir Villebonne und den Brunnenmeister von der rothen Mühle entdeckten. Ich hatte meiner Agathe versprochen, sie den Tag nach dem Fest zu besuchen; Dienstag Abends kamen wir in die Stadt zurück, meine Mutter hatte mit mir in das Kloster gewollt; weil sie aber von der Bewegung der vergangenen Tage ein wenig ermüdet war, besann sie sich in dem Augenblick, wie wir aus dem Hause wollten, plötzlich eines andern, und gab mir die Aufwärterin zur Begleitung. Ich wollte zwar nun bleiben, sie drang aber darauf, daß ich mein Wort halten sollte, und sezte noch hinzu, ich wüßte ja, daß sie gern allein bliebe, und wenn ich durch den königlichen Garten gehen wollte, könnte ich mir das Vergnügen machen.

Ich war bey Agathen, ich verließ sie sehr bald. – Warum eilst du so, sagte sie, wartet man denn auf dich? – Nein, aber es drängt mich wieder, bey meiner Mutter zu seyn. – Du sagst, sie sey wohl – Das ist sie, sie erwartet mich auch noch nicht, aber ich weiß nicht, was mir ist; ich muß zu ihr! – Bey diesen Worten preßte sich wider Willen mein Herz zusammen.

Vielleicht glaubt man, daß diese Umstände von einem nachgrübelnden Gefühl, das seine Stimmung auf die Vergangenheit überträgt, hinzugefügt werden; allein ich bin nichts, als treuer Geschichtschreiber, ich erzähle die Dinge, wie sie mir der bald darauf erfolgte Vorfall allein zurückrief.

Gewiß hat man aus der Darstellung meiner Meinungen, und besonders aus der allmähligen Entwicklung meiner Begriffe wahrnehmen können, daß mir damals gewisse Vorurtheile eben so wenig anhiengen, wie mich jezt Aberglaube beherrscht. Indem ich daher nachgedacht habe, was wohl sogenannte Ahndungen veranlaßen könnte, so haben sie mir blos auf den schnellen Ueberblick, mit welchem Menschen von lebhaftem Geist und zartem Gefühl eine Menge unmerklicher Dinge umfassen, hinauszulaufen geschienen; vielleicht vermöchte man nicht einmal sie anzugeben, sie sind schneller gefühlt als beurtheilt, und bringen endlich eine Empfindung hervor, von welcher sich kein Grund angeben läßt, die aber der Erfolg erklärt und rechtfertigt. Je lebhafter die Theilnahme ist, die uns ein Gegenstand einflößt, je hellsehender sind wir in Rücksicht auf ihn, je reitzbarer gegen alles, was ihn angeht, je mehr physische Ansichten, wenn ich so sagen darf, haben wir über ihn; und diese heissen nachher Ahndungen, welche die Alten für Augurien oder Winke der Götter hielten.

Meine Mutter war das Theuerste, was ich auf der Welt hatte, sie näherte sich ihrem Ende, ohne daß ein äusseres Zeichen davon gemeinen Augen merklich ward; meine Aufmerksamkeit hatte nichts wahrgenommen, das mich zu diesem schrecklichen Schlage vorbereiten konnte, aber ohne Zweifel waren geringe Veränderungen an ihr vorgegangen, die mich, mir selbst unbewußt, beunruhigten. Ich konnte nicht sagen, daß mir bange war, ich hätte nicht gewußt wofür, aber ich fühlte mich bewegt; wenn ich sie zuweilen ansah, zog sich mein Herz zusammen, und war ich nicht bey ihr, so fühlte ich eine Unbehaglichkeit, die mich wieder zu ihr trieb. Ich verließ Agathen mit einem so ängstlichen Wesen, daß sie mich bat, ihr Nachricht von mir zu geben, und eilte schnell zu Hause, ob meine Aufwärterin gleich die Bemerkung machte, daß die Stunde sehr gelegen sey, um einen Gang im königlichen Garten zu machen. Ich gehe auf das Haus zu; ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft steht in der Thüre, und ruft mir entgegen. Ach Mademoiselle, Ihre Mama war recht schlimm, sie hat meine Mutter geholt, die mit ihr hinauf in ihr Zimmer gegangen ist. – Von Schrecken niedergeschmettert, rufe ich einige undeutliche Töne; ich fliege, stürze hinauf – meine Mutter saß in einem Armstuhl, ihr Kopf zurückgelehnt, ihre Arme herabhängend, das Auge starr, der Mund halb geöffnet; bey meinem Anblick belebt sich ihr Gesicht; sie will sprechen, ihre gefesselte Zunge vermag nur noch zu stammeln, sie will sagen, daß sie mich ungeduldig erwartet, und giebt sich Mühe, ihre Arme auszustrecken, von denen nur einer ihrem Willen gehorcht, sie legt ihre Hand an mein Gesicht, wischt mit ihren Fingern die Thränen ab, die es bedecken, und streichelt sanft meine Wangen, als wollte sie mich beruhigen; der Wille zu lächeln schwebt auf ihrem Gesicht: sie versucht zu reden. – Umsonst! die Erstarrung bindet ihre Zunge, nimmt ihren Kopf ein, vernichtet ihren halben Körper. Man reicht ihr Melissenwasser, man giebt ihr Salz in den Mund, man reibt sie ohne allen Erfolg; ich hatte augenblicklich nach meinem Vater und dem Arzte geschickt, mit Blitzesschnelle hatte ich selbst bey dem nächsten Apotheker zwei Gran Brechweinstein geholt, der Arzt war angelangt, meine Mutter war zu Bett gebracht, die Mittel wurden gebraucht, und das Uebel nahm mit fürchterlicher Schnelligkeit zu. Ihre Augen waren verschlossen, ihr hängendes Haupt hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten, ein schnelles heftiges Athmen zeigte die allgemeine Ermattung an; dennoch hörte sie, was gesprochen wurde, und wenn man fragte, ob sie litt, legte sie die linke Hand an die Stirne, als wollte sie den Sitz des Uebels anzeigen. Ich war in einer unbeschreiblichen Thätigkeit, ich ordnete alles an, und ehe man meine Befehle ausführte, hatte ich sie selbst schon vollbracht; es schien als käme ich nicht vom Krankenlager weg, und doch bereitete ich alles nöthige zu. Abends um zehn Uhr, sehe ich, daß der Arzt meinem Vater und einigen Weibern etwas in das Ohr sagt, ich will wissen, wovon die Rede sey, man sagt, daß man die Sakramente holen läßt. Ich glaube zu träumen; ein Priester kommt, betet, treibt, ich weiß selbst nicht was; maschinenmäßig hielt ich eine Kerze, und stand steif am Fuß des Bettes, ohne zu antworten, ohne zu folgen, wenn man mich fortschicken wollte, die Augen starr auf meine angebetete sterbende Mutter gerichtet, in ein einziges unaussprechliches Gefühl versunken, das endlich alle meine Kräfte verschlang. Die Kerze entsinkt meiner Hand, ich stürze sinnlos nieder, man trägt mich fort, und ich befinde mich einige Zeit darauf, von verschiednen Personen meiner Familie umgeben, in dem Saal neben meiner Mutter Zimmer; ich wende meine Augen nach der Thür, ich stehe auf, man hält mich zurück, ich flehe durch Zeichen, daß man mich dahin zurückkehren lasse: ein trauriges Stillschweigen, ein finstrer starrer Widerstand bringen mich aufs äusserste; nun finde ich meine Kräfte wieder, mein Flehen hilft nichts, ich breche heftig aus; man ist unerbittlich, endlich übermeistert mich die Wuth – – in diesem Augenblick erscheint mein Vater, er ist bleich und stumm, man scheint ihn stillschweigend zu fragen, er antwortet mit einer Bewegung der Augen, auf welche ein klagendes Geächze erfolgt. Ich entschlüpfe der Aufsicht meiner bestürzten Wächter, sich eile stürmend aus dem Zimmer; meine Mutter, – meine Mutter war nicht mehr! Ich hebe ihre Arme in die Höhe, ich kann es nicht glauben, ich schliesse und öffne wechselsweise ihre Augen, die mich nicht mehr sehen werden, die sich sonst so zärtlich auf mich hefteten, ich rufe, wie eine Rasende, werfe ich mich auf ihr Bett, ich drücke meine Lippen auf ihren Mund, ich öffne ihn, ich suche den Tod einzuathmen, ich hofte ihn in mich zu ziehen, und auf der Stelle sterben zu können.

Ich weiß nicht recht, was weiter vorgieng, ich weiß nur, daß ich mich gegen Morgen bey einem Nachbar befand, zu welchem Herr Besnard kam, und mich in einen Wagen tragen ließ, der mich zu ihm führte. Ich lange da an, meine Großtante umarmt mich stillschweigend, sie sezt mich vor einen kleinen Tisch, reicht mir etwas zu trinken, und bittet mich sehr, es zu nehmen; ich will gehorchen, und falle in Ohnmacht. Man brachte mich zu Bett, wo ich vierzehn Tage in fürchterlichen Konvulsionen zwischen Leben und Tod schwebte. Mein körperliches Leiden, dessen sich mich erinnere, war ein beständiges Ersticken, mein Athem war ein unaufhörliches Geheul, das man, wie mir nachher gesagt wurde, von der Strasse hören konnte. Es war eine Revolution in mir vorgegangen, die meine Lage noch gefährlicher machte, und von der mich nur die Stärke meiner Natur und die unendliche Sorgfalt, die man an mich verschwendete, heilen konnte. Meine ehrwürdigen Verwandten hatten ein Paar kleine Stübchen bezogen, um mir mehr Bequemlichkeit zu verschaffen, sie schienen selbst neue Kräfte geschöpft zu haben, um mich in das Leben zurückzurufen, und liessen mir von keiner gemietheten Hand das mindeste darreichen, sie wollten mich selbst bedienen, und theilten meine unmittelbare Pflege blos mit einer jungen Frau! Madame Trüde, geborne Robinau, die meine Cousine war. Diese kam jeden Abend, um die Nacht bey mir zuzubringen, sie legte sich zu mir in das Bett, und war unaufhörlich beschäftigt, den convulsivischen Anfällen, von denen ich oft litt, zuvorzukommen oder sie zu erleichtern.

Acht Tage waren verflossen, noch hatte ich nicht weinen können, ein großer Schmerz. hat keine Thränen. Jezt in diesem Augenblick, weine ich brennende und bittre Thränen, denn ich fürchte ein noch größeres Uebel, als das, was ich leide, ich hatte alle meine Wünsche auf das Wohl dessen, was mir theuer ist, vereint, und es ist unsichrer als je! Das Ungemach breitete sich aus wie eine finstre, furchtbare Wolke, die alles, was ich liebe, zu umhüllen droht, und mühsam arbeite ich, meine Aufmerksamkeit vom gegenwärtigen Augenblick auf die Bilder der Vergangenheit abzulenken.

Ein Brief von Sophien öffnete die Quelle meiner Thränen; die Stimme der Freundschaft, ihre zärtlichen Worte weckten meine Geister wieder auf, und schmelzten mein Herz, sie würkten, was Bäder und alle Mühe der Aerzte umsonst bezweckt hatten; eine neue Revolution fand sich ein, ich weinte, und war gerettet. Das Ersticken nahm ab, alle Zufälle verminderten sich, die Convulsionen wurden seltner, aber jeder schmerzliche Eindruck zog sie von neuen herbey. Mein Vater erschien in dem traurigen Aufzug vor mir, der unsern gemeinschaftlichen, von uns beyden so verschieden empfundenen Verlust bezeugte; er suchte mich mit der Vorstellung zu trösten, daß die Vorsehung das Unglück selbst zu unserm Besten dienen läßt; daß meine Mutter ihr Geschäft hienieden, die Erziehung ihrer Tochter vollendet hätte, und wenn nur einmal von meinen Eltern eines hätte entrissen werden sollen, so wäre es noch gut, daß mir der Himmel den Vater gelassen hätte, dessen Leben meinem Wohlstand am zuträglichsten wäre. – Würklich war selbst in dieser Rücksicht, wie man sehen wird, mein Verlust unersetzlich. Aber damals machte ich diese Betrachtung nicht, ich fühlte nur, wie trocken diese Tröstung bey meiner Art zu denken war, ich ermaß vielleicht zum erstenmal die ganze Kluft zwischen meinem Vater und mir, es war mir, als zerrisse er selbst den Schleyer von Ehrerbietung, unter welchem ich ihn betrachtete; ich fühlte mich ganz verwaist, denn meine Mutter war nicht mehr, und mein Vater konnte mich nie verstehen; ein ganz neuer Schmerz zerfleischte mein gedrucktes Herz, die heftigste Verzweiflung befiel mich von neuem. Allein die Thränen meiner Cousine, die Betrübniß meiner guten Verwandten waren auch Gegenstände der Rührung, sie würkten, und ich wurde der Gefahr, die mein Leben bedrohte, entrissen. Ach wäre es damals verloschen! Es war mein erster Kummer: wie manche Prüfung folgte ihm nach!

Hier endigt der sanfte glänzende Zeitpunkt jener ruhigen Jahre, die mir in heiterm Frieden, unter süssen Gefühlen, und theuern Beschäftigungen verflossen. Er glich dem schönen Frühlingsmorgen, wo der heitre Himmel, die reine Luft, das lebhafte Grün, der Blumenduft, alles was Leben hat, Entzücken zuhauchen, alles Daseyn entwickeln, und Glück empfinden lassen, indem sie Glück verheissen.



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