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Von Beret Holm wurde oft gesagt, sie sei der tüchtigste Farmer in Town of Spring Creek, und meistens wurde sogleich noch hinzugesetzt, es habe bei ihr auch keine Not, bei so guter Hilfe, wie sie ihr zur Verfügung stehe; wenn man ständig derart schaffe und arbeite wie sie und die Buben, dann müsse es freilich frommen. – – Äußerte aber jemand etwas Derartiges in ihrem Beisein, dann sah sie ihm forschend ins Gesicht, als argwöhne sie Spott.
Denn bei sich selber wußte Beret genau, daß sie nichts taugte. Nie war sie etwas anderes gewesen als ein hilfloser Stümper, der anderer zur Stütze bedurfte; wie hätte sie hier vorangehen sollen, wo kein Weg sich fand? Oh nein, gewiß nicht! Oft war ihr zu Mut, als weile sie nur zum Schein im Diesseits: was sie umgab, das war nicht Wirklichkeit. Oh nein! Sie taugte gewiß nicht dazu, ein Reich mitzubegründen!
Als in jenem Winter der Mann fortblieb und ihr die gesamte Verantwortung aufgebürdet ward, da hatte nur ein Gefühl sie beherrscht: das war unmöglich! Die Schwierigkeiten nahmen jedoch herzlich wenig Rücksicht auf ihre Meinung: sie türmten sich einfach vor der Haustür auf. So blieb ihr wenig Zeit zum Grübeln und zum Zaudern.
Mit jedem Tage wurden die Buben stürmischer mit ihren Fragen; hatte sie die Antwort nicht sogleich bereit, legten sie selber los, auf gut Glück – die Burschen hatten keine Minute zu versäumen! Und Ole war stets so unwirsch! Merkte sie aber, daß etwas verkehrt angefangen wurde, dann mußte sie selber mit Hand anlegen.
Als der Sturm, in dem Per Hansen umkam, sich gelegt hatte und die Menschen sich wieder aus ihren Schlupfwinkeln herausgruben, gab es für jedermann nur eine Aufgabe, alle Kraft daranzusetzen, um zu retten, was noch Leben in sich barg. Eines Morgens kamen die beiden größeren Buben hereingestürmt und meldeten der Mutter, sie müßten ein Kalb totschlagen – unverzüglich, das Tier sei bereits am Verenden; Ole nahm das Schlachtmesser, um es zu schleifen, der Bruder suchte nach einem Eimer, das Blut darin aufzufangen. Sie waren ganz von ihrem Vorhaben besessen und hatten gar keine Zeit, auf die Mutter zu warten. Der Sturm habe in der Nacht so gewütet, daß er von einem Jungviehschuppen das Dach fortgerissen habe; eines der Sommerkälber sei zwischen die Stangen geraten und habe sich beide Vorderbeine gebrochen, jetzt liege es frierend an der Erde und vermöge nicht aufzustehen.
Beret zog sich etwas Warmes über und ging mit hinaus. Sie hoben das Kalb auf einen Schlitten, schleppten es mühsam zum Haus und trugen es in die Küche; hier schiente Beret die gebrochenen Gliedmaßen – sie entsann sich noch aus Norwegen, daß so etwas anging, beim Vieh so gut wie beim Menschen. Das Kalb erholte sich und hauste in der Küche, bis im Frühling der Schnee verschwand, und dann war das Tierlein so zahm, als gehöre es zur Familie.
Dann, eines Morgens, starb Hans Olsen. Da saß nun die Sörine hinter all den Schneeverwehungen allein mit einem halberwachsenen Dirnlein und einem Kleinkind und dazu zwei großen Rinderherden, die der Wartung bedurften, – die eine Stallung überdies ein paar Meilen Weges entfernt. Die Nachbarn hatten vollauf damit zu tun, ihre eigene Habe zu retten; Kjersti hatte sich zuschanden geschlagen und mußte das Bett hüten; keiner fuhr von einem Hof zum andern, außer es trieb ihn die Not dazu.
Am Vormittag kam Ole herein und erzählte, heut morgen sei der Hans Olsen gestorben – »Ja, Kinder, da liegt er nun!« Er sei soeben drüben gewesen und habe sich erkundigt, wie es stehe. Der Bub schwätzte äußerst lebhaft und berichtete eigentlich so, als sei etwas Treffliches geschehen. Beret hörte sich das eine Weile mit an, trat ans Fenster, starrte hinaus. All das Ungemach da draußen hob sich wie ein Meer in der heranrollenden Flutwelle. Sie mußte nach dem Fensterrahmen greifen und sich festhalten. – – Gott hatte also nicht Wohlgefallen gefunden an ihren Wegen, obwohl sie diese doch so klar vor sich gesehen hatte! Nein, nein – an dem Rat seiner Gnade durften Menschen wohl nicht teilnehmen. – – Und jetzt ging bald der fünfte Tag zu Ende, seit der Per Hansen davongefahren war, – wo blieb er? Gott konnte es sich doch wohl nicht einfallen lassen, ihn hinwegzunehmen, weil sie hatte tun wollen, was recht war? – Die Angst begann in ihr zu jagen, wurde zu einem flehenden Anruf, einem Schrei, der alles Denken übertäubte. Aber niemand antwortete auf ihr Schreien. Das Schneemeer da draußen zog dahin in eiskalter Ruhe, in eine Ewigkeit hinein, in der sich anderes nicht fand. –
Oles Schwätzen weckte die Mutter aus ihren Gedanken: – es müsse einer hinüber und der Sörine helfen; denn es stehe dort schlimm: die Sörine gehe jammernd umher und wisse nicht was sie täte; die Sofie habe das Reden verlernt; das Vieh in den Ställen brülle; der Hans Olsen selber – – »Komm, Großer-Hans, wir beide gehen!« – –
Beret ging in die Schlafkammer und zog sich Mannskleider an, kam in die Küche zurück und bestimmte, jetzt gehe sie selber, Ole solle derweile daheim nach dem Rechten sehen; der Tochter, der Annemarie, sagte sie wegen des Essens Bescheid und wegen des Permann, – der Große-Hans jedoch solle mit ihr hinüber und später die nächsten Nachbarn benachrichtigen.
Ole murrte auf: dumme Schrullen! Das werde etwas Rechtes! Was wolle sie denn dort? Könne sie das Vieh besorgen? Verstehe sie einen Sarg zu schreinern, könne sie die Leut herschaffen und den Hans Olsen hinaustragen? – – Beret gab ihm eins hinter die Ohren und hieß ihn sein ewiges Aufbegehren einstellen. Und ging mit dem andern Buben hinaus.
Sie nahm Oles Skier. Nur mühselig und langsam kam sie vorwärts; der Bub meinte, nicht auf sie warten zu können, sondern sauste voraus, wie die Möwe einem Boot, dem sie nicht länger folgen mag. Beret arbeitete sich einen Schneeberg hinauf, wippte über den Kamm; abwärts benahm ihr der Wind den Atem – ehe sie sichs versah, mußte sie sich bereits wieder aus dem nächsten Schneehaufen herausarbeiten. Und so ging es fort und fort. Schließlich kam ihr das Weinen. Wozu hatte sie denn auch fahren müssen? Ole hatte schon recht gehabt! Das Gefühl, alles sei unwirklich, kam wieder über sie: es war nicht wahr, daß sie ihren Mann in den Tod gehetzt, so gänzlich umsonst in den Tod gehetzt hatte! Sie träumte. – – Allein bereits, ehe sie die Farm erreicht hatte, hörte sie das jämmerliche Gebrüll des Viehs, das unter den Schneemassen begraben war. Nein, sie war gewißlich bei völlig klarem Bewußtsein!
Bei der Nachbarin fand sie herbere Not als sie selber trug. Kalt und unaufgeräumt war es im Haus. In der Wohnstube lag der Tote noch ungewaschen, ein Tuch bedeckte das Gesicht. In einer der Jacken des Vaters stand die Sofie ratlos am Herd herum – ein graues Kindergesicht, wie tot und von quälendem Gram verwüstet. Auf einem Stuhl am Bett des Mannes saß jammernd Sörine; Klein-Hans schlief auf ihrem Schoß – alle drei angezogen, als sollten sie sogleich in die Winterkälte hinaus.
Beret übersah das alles mit einem Blick, und die Beklommenheit in ihrem Herzen wich innigstem Mitleid. Ganz instinktmäßig ordnete sie das Nächstliegende: sie bat den Großen-Hans, Grobheu für den Herd hereinzuholen, und ließ ihn und Sofie Bündel daraus drehen zum Einheizen; wenn sie das Haus nicht warm bekamen, und zwar bald, dann wurde das Unglück nur noch größer. Draußen in der Küche war das Unbehagen am fühlbarsten, und darum räumte sie dort zuerst auf. Sie setzte den Kaffeekessel auf und sah sich um. Jetzt brauchte sie Hilfe, wollte sie weiterkommen; so ging sie denn hinein zu Sörine und bat diese darum; die andere legte das Kind aufs Bett und ging ihr zur Hand, eher wie eine Magd als wie eine Frau in ihrem eigenen Hause.
In dem Maße, in dem die Herdwärme sich allmählich geltend machte, kam auch Behaglichkeit zurück. Bald saßen alle um den Küchentisch und zwangen sich, ein paar Brocken herunterzuschlingen. Beret strich ihnen die Schnitten. Dies sei für die Sörine, und hier ein Brot für die Sofie. Sie betrug sich gerade so, als säße sie daheim und teile unter ihren eigenen Kindern aus. Und jetzt bleibe kein anderer Rat, sagte sie darauf, als daß Sörine sich etwas überziehe und mit dem Großen-Hans nach dem Vieh sehe, denn damit werde der allein nicht fertig. Sofie aber solle die Skier nehmen und Tönset'n Bescheid bringen, wie es hier stehe; der müsse sogleich Mannsleut beschaffen, die heut in der Nacht herkommen könnten. Beret setzte das alles überlegt und bedacht auseinander; niemand widersprach; was sie riet, war das einzig Gebotene.
Beret blieb den ganzen Tag.
Sie räumte auf und säuberte das ganze Haus, suchte in Schränken und versteckten Fächern, bis sie fand, was sie brauchte.
Jetzt hieß es, den Toten besorgen. Sie wusch ihn mit Sorgfalt und kämmte ihm darauf schön ordentlich Haar und Bart. Aber das Haar lag nicht hübsch genug um die Schläfen – es wollte sich aufkräuseln, da schnitt sie es ein wenig zurecht. Sie verwendete großen Fleiß auf diese Arbeit; der Hans Olsen war ein schöner Mann gewesen, ungemein reinlich und schmuck – das durften sie nicht vergessen, und jetzt sollte er bald vor seinen Gott treten! – Es war, als könne sie gar nicht genug für ihn tun, sie suchte auch ein Gesangbuch hervor und steckte es ihm zwischen die Hände. Schließlich breitete sie ein reines Laken über ihn; das Antlitz aber ließ sie unbedeckt. – – Jetzt war der Hans Olsen schön anzusehen. Hoher kindlicher Friede ruhte auf den großen Zügen, fast sah es sich an, als wolle er lächeln. Beret betrachtete ihn lange: Gott gebe, daß es dir so gut gehe, wie es den Anschein hat! Und ein wenig freute sie sich dessen, was sie für den Nachbarn getan.
Im Laufe des Nachmittags kam die Sörine von den Viehställen zurück. Da hatte Beret Klein-Hans auf dem Schoß und paßte zugleich auf einen Kessel Milch auf, der auf dem Herde leise brodelte. Dem Kinde hatte sie reichlich zu essen gegeben, und jetzt summte sie ihm leise vor, während es ihr ins Gesicht lachte. Sörine wollte kaum ihren Augen trauen, so traulich wirkte jetzt alles hier. Der Kessel begrüßte sie mit einem angenehmen Duft. Mit eins überfiel sie Essenslust, sie vermochte nicht zu warten, reichte eine Tasse hin, und Beret füllte sie ihr.
Dann stand Beret auf und bat die Sörine, mit in die Stube zu kommen. Am Kopfende des Bettes stand eine brennende Kerze.
»Ich hab's so gutgemacht, wie ich's konnt; ich finde, er ist schön, aber das ist er immer gewesen.« Sörine lehnte sich aufschluchzend an Beret; und als sie fühlte, wie gut die andere alles verstand, klammerte sie sich an diese als an den einzigen Menschen der Welt, auf den sie jetzt vertrauen konnte. Beret schwieg. Kann sie sich jetzt richtig sattweinen, dachte sie, wird es später leichter für sie – ich sollt wohl wissen, was sie jetzt fühlt! –
Gegen Abend aber kam Henry Solum zum Hofe und erbot sich, in der kommenden Nacht bei dem Toten zu wachen, und da wußte Beret, daß sie die Nachbarin verlassen dürfe. – – Der Heimweg fiel ihr leichter, fand sie; sie lief besser auf den Skiern; die Angst jagte sie nicht so schlimm; nun wartete ja auch das Knäblein auf sie.
Und jetzt wußte sie es gewiß: den Per Hansen bekam sie nie wieder lebendig zu sehen.
Dennoch schlief sie an diesem Abend sogleich ein.
Immer und immer wieder hatte Beret sich in jenem Winter gesagt: du schaffst es nicht – siehst du denn nicht, wie unmöglich das ist?
Aber der Mann kehrte nicht wieder; die Draußenarbeit gestaltete sich mit jedem Tag schwieriger; und obwohl sie wußte, ›es ist unmöglich‹, wurde sie doch bald gewahr, daß es besser ging, wenn sie selber mit dabei war, als wenn sie die Buben auf eigene Hand wirtschaften ließ. Jedesmal, wenn die Schwierigkeiten sich himmelhoch türmten und die Anforderungen auf sie eindrängten, hatte sie gleich die Antwort bereit: die Probe bestehe ich nicht; jetzt leg ich mich in die Grube, nun mag es ein Ende haben! – Aber dann sah sie irgendwo gleichsam eine Tür sich öffnen, langsam in eine Kammer hineinschwingen, wo ein Bild stand, unklar in dunklem Halblicht – von einem Plan, mit dem ein Versuch sich am Ende lohnen täte; und weil sich gar kein anderer Ausweg fand, griff sie nach dem, bisweilen mehr zum Vorwand als wirklich im Ernst.
Die Wochen vergingen; die Stürme kehrten zurück; aus dem Kampf wurde ein endloses zähes Ringen. Kein Brennmaterial; das Petroleum seit langem aufgebraucht; ebenso das Salz; und kein Stäubchen Mehl im Haus, außer dem, was sie sich selber auf den Kaffeemühlen mahlten, – solch ein Luxus wie Kaffee und Zucker, der war ihrem Gedächtnis schon beinahe entschwunden.
Es ging hart her über die Anzüge der Buben. Schlimmer noch über die Fußbekleidung. Oft flickte sie daran bis in die späte Nacht; dann ließ sie ein Licht im Fenster stehen – falls er heut nacht doch heimkäme! – – Eines Nachts suchte sie ein Paar dicke Wollsocken hervor, die der Per Hansen aus Norwegen mitgebracht hatte, und fing an, sie mit Flicken zu benähen, Schicht auf Schicht, die sie gut zusammenheftete. Das gab brauchbares Schuhwerk ab. Als sie damit fertig war, war sie auf sich selber erbittert, weil sie nicht schon lange darauf gekommen war – aber freilich: sie taugte zu nichts! –
Das Schlimmste war aber doch die Not der Unterkunft; die grinste sie mit ihren Zahnlücken an im Pferdestall, wie im Kuhstall; acht Fuß Schnee lagen auf dem flachen Felde, und dabei die Heuschober eine Meile entfernt. Jeden Tag plagten sie sich mit dem Heu; trugen es heim, zogen es heim, und doch brüllte das Vieh tagsüber nach mehr.
Als sie eines Tages im März bei starkem Sonnenschein sich gerade mit dem Heu abrackerten, sahen sie plötzlich eine gespenstische Erscheinung am südöstlichen Himmel. Durch das Schneemeer bewegte sich ein merkwürdiger Zug, zwei phantastisch große Gestalten stakten vorwärts und zogen ein langes, niedriges Haus hinter sich her; ein Zwerg folgte ihnen. Der Zug bewegte sich hoch oben durch die Luft. Bisweilen sah es aus, als stehe er auf dem Kopf. Erblassend blieb Beret stehen und starrte dem Gesicht nach, bis es verschwand, – das mußte ein Todesvorzeichen sein! – – Später hörten sie, daß es ein Sarg auf einem Schlitten gewesen wäre. Die Mutter vom Gjermund Dahl war am Husten gestorben; Gjermund hatte sich von einem der Nachbarn einen Sarg schreinern lassen und war mit dem ältesten Sohn und einem der Kinder den abholen gegangen. Die starke Luftspiegelung hatte die Erscheinung vorgezaubert.
Jeden Morgen zog Beret Mannskleider an und ging mit den Buben aufs Feld. An den Abenden saß sie meist mit ihnen zusammen und besprach sich mit ihnen – hauptsächlich um selber zu größerer Klarheit zu kommen – wie es am besten mit der Arbeit einzurichten wäre. Später wurde das zur Gewohnheit. Daher das eigenartig Überlegsame bei ihr, das – wenn sie mit Leuten über Ernstes sprach – den Eindruck hervorrief, als taste sie sich vorwärts durch unwegsames Gelände.
– – Oh nein, nichts hatte Beret Holm deutlicher gesehen, als daß sie das nicht schaffte.
Lange zauderte der Frühling in jenem Jahr; als er sich dann aber endlich bequemte, tat er seinen besten Willen dazu, das Versäumte nachzuholen. Warme südliche Windstöße begannen über die Prärie zu huschen, Sonne wärmte den lieben langen Tag, von dem Augenblick, da sie in der Frühe sich vergoldete, bis zu dem, da sie schwer und träge in den lauen späten Abend entschlummerte. Die Ebene verwandelte sich in ein uferloses Meer, lag so einen Tag hindurch, wurde in der Dämmerung in undurchdringlichen Nebel gehüllt; als aber die nächste Sonne sank, lagen die Felder trocken. Und dann eines Nachmittags, als die Sonne so richtig Ernst machte, stieg solcher Wachstumsbrodem empor, daß alles Leben wirr und taumelnd Atem holte; Schönwetter strahlte und flimmerte vom Himmel herab, als wäre es dort von Ewigkeit her gewesen. – – Noch nie hatte es die Menschen so gejuckt, sich zu recken und zu strecken!
An dem Tage, da sie den Per Hansen heimbrachten, wurde es Nacht vor Berets Augen. Der alte Pastor wurde geholt und blieb drei volle Tage bei ihr. Behutsam nahm er sie bei der Hand, leitete sie und ließ sich gute Zeit. Immer wieder wanderte er mit ihr über die gleichen Pfade: in Gottes väterlicher Fürsorge gab es nicht so etwas wie Unglücks-Zufälle! Wenn am Morgen der Auferstehung der klare Tag die Finsternis der Tränen sprenge, dann werde sie erfahren, daß alles eitel Liebe gewesen! Der Pastor rang um ihre Seele so hartnäckig, als hätte er einen Mann vor sich, und kam doch nicht weiter. Bisweilen wurde sie seiner überdrüssig und ging hinaus – er wußte ja nicht, was sie so folterte!
Am Abend vor der letzten Nacht, die der Pastor dort zubrachte – die Kinder waren bereits zu Bett, er saß, die Pfeife rauchend, am Tisch – kam Beret und setzte sich ihm gegenüber.
»Jetzt will ich dir einmal alles miteinander erklären,« begann sie, »damit du verstehen kannst, wie es um mich bestellt ist.« – Die Lampe stand zwischen ihnen; das Licht schien ihre Augen zu stören, sie schraubte es so weit herunter, daß es gerade noch notdürftig brannte. In ihrem Gesicht prägte sich starke Entschlossenheit aus.
Dann begann sie zu beichten, langsam und umständlich, griff weit zurück und begann von neuem, als befürchte sie, irgend etwas vergessen zu haben. Es dauerte lange. Der Pastor rauchte und ließ sie gewähren. Dann und wann fragte er etwas, seine Stimme bekam allmählich einen harten Klang, er fragte weiter. Zuletzt verstummte er. Die Pfeife ging aus: er hatte sie vergessen.
Beret berichtete dem Pastor ohne Umschweife, daß sie selber es gewesen sei, die Per Hansen in den Tod getrieben habe. Eingehend beschrieb sie alles, was sich zwischen ihnen beiden an jenem Tage zugetragen hatte – – harte Worte seien gefallen – sie habe ihn gereizt – im Zorn sei er abgefahren! – – Oft genug hatte Beret diese Szene durchlebt, und doch war ihr nun, da sie einem andern davon berichtete, zu Mute, als sähe sie jetzt erst alles richtig vor sich.
Der Pastor sprang auf, setzte sich aber sogleich wieder. »Was behauptest du da?« fragte er heiser.
– Das sei alles so wahr, wie sie hier sitze und erzähle! gestand sie jammernd. Und wie ein gutes Kind, das bestraft worden ist, alle Entschuldigungen vorbringt, die es hat, um nicht als noch unartiger dazustehen, so berichtete sie eingehend alles von jener Nacht, in der sie bei Hans Olsen gewacht hatte. Niemals, das wisse sie, habe sie des Herrn Wege klarer vor sich gesehen als damals; sie sei gewesen wie Ton in seiner Hand! Sie schilderte die namenlose Angst, die sie dem Kranken angemerkt habe – die Angst, die sich daher geschrieben habe, daß er nicht recht vorbereitet gewesen, dem Herrn zu begegnen. Sei es da schlecht von ihr gewesen, daß sie durchaus habe jemanden nach Hilfe schicken müssen? Und es sei doch niemand sonst dafür dagewesen als der Per Hansen. Wie habe dann Gott das hier geschehen lassen können? Habe er sie dazu erkoren, als fluchbeladenes Wesen zu leben?
Beret reckte sich, um Antwort bettelnd, über den Tisch.
Der Pastor zuckte unwillkürlich zurück, grübelte, ohne aufzusehen, und tat dann einige Fragen, die sie genau beantwortete, denn sie empfand es so, als stehe sie vor Gottes Antlitz, als sei es der Tag des Gerichts. – – Der Pastor hatte weitere Fragen, nach Dingen, die sie bisher kaum beachtet. Jetzt aber verstand sie nicht, wie das zuging: als sie sich wiederum erklären wollte, da hatte das Bild eine andere Färbung bekommen, da war sie es gewesen, die der Hilfe bedurft hatte, und nicht der Hans Olsen. Beret ergrimmte: sie hatte damals doch selber neben dem Kranken gesessen und gewußt, wie es um ihn stand! Sie unterbrach sich, um zu überlegen. Der Pastor jedoch ließ ihr nicht Ruhe: er legte ihr Fragen vor, die in weiter zurückliegende Zeiten führten – über ihr Eheleben in den letzten Jahren; sie fand, er werde aufdringlich und anstößig in seinen Worten; er forschte und fragte nach Dingen, die sie heiß erröten machten – niemals hätte sie gedacht, daß sie mit irgendeinem Menschen über dies sprechen werde! Plötzlich erhob sich der Pastor und begann auf und ab zu gehen. Der Schweiß perlte auf seinem Gesicht. Er wankte wie ein Trunkener.
Beret schaute auf; sie begriff nicht, was das zu bedeuten habe. Wurde er krank? Sollte sie ihm einen Stärkungstropfen anbieten? Es stand da noch ein Tränklein vom Per Hansen im Spind. Sie schraubte den Docht höher, um besser zu sehen.
Als der Pastor sich endlich wieder setzte, sprach er wunderlich still; seine Stimme hörte sich müde an; obgleich er ihr dicht gegenüber am Tisch saß, klang es, als sei er weit weg. Sie achtete des jedoch nicht vor lauter Begier, zu vernehmen, was er ihr zu sagen habe – jetzt wußte er alles, jetzt sollte sie ihr Urteil empfangen!
Der Pastor sprach mit vielen Unterbrechungen.
»– – Daß deines Mannes Lebensspanne nicht weiter bemessen war, dessen bin ich gewiß; denn Gott der Herr ist es, der jedem Menschen sein Leben zuteilt. Und es ist damit, wie der alte Wahlspruch besagt: der Tod sucht sich sein Ursach!« – – Er versank in tiefes Sinnen; er sah mitgenommen aus. – – »Wenn er es aber nun einmal gerade auf die Weise hat geschehen lassen, so war es wohl um unsertwillen, um deinet- wie um meinetwillen.« – – Es hörte sich an, als fehle ihm die Kraft fortzufahren. – »Jetzt sehe ich deutlich, was für ein schlechter Seelsorger ich euch gewesen bin. Der Herr vergebe mir meine Sünde – ich habe zwei Kinder inmitten einer großen Einöde allein gelassen!«
Er schwieg, stopfte sich die Pfeife, steckte sie jedoch nicht an.
»– – Auch um deinetwillen war es geboten, das sehe ich klar. Denn du warst im Begriff, dich in eine große Sünde zu verstricken. Du hast des vergessen, daß Gott es ist, der alles Leben blühen läßt und der dem Menschen sowohl Böses wie Gutes in den Sinn gelegt hat. – – Ich glaube, ich habe kaum bessere Menschen gekannt als deinen Mann und den Kameraden, für den er in den Tod gegangen ist. Es wird nicht daran fehlen, daß der Herrgott ihnen in seinem Himmel einen Ehrenplatz anweist – oh nein! – – – Nach dem, was deine Nachbarin mir erzählt hat, hätte dein Mann auch gewiß dann die Fahrt versucht, wenn nichts zwischen euch beide gekommen wäre, die Versicherung glaube ich dir geben zu dürfen!«
Wieder begann der Priester zu sinnen, und diesmal währte die Pause lange. Dann aber kam er mit etwas Merkwürdigem:
»Darin besteht deine Sünde nicht; vielmehr besteht sie in dem Mißvergnügen, das du gegen Gottes Geschöpfe, gegen seine Menschen, hegst. Darum kannst du auch niemals recht froh sein: vor dieser Sünde sollst du dich hüten, Beret Holm!«
Der Pastor erhob sich und begann wieder auf und ab zu gehen.
Die Beret sann über das nach, was er ihr gesagt hatte. – – Das kann er doch unmöglich selber glauben, dachte sie bei sich, ein Mann, der in Gottes Wort so gut Bescheid weiß! – – Aber es ist schön von ihm, so gut und lieb von dem Hans Olsen und dem Per Hansen zu sprechen!
»Jetzt bin ich müde und will mich niederlegen,« sagte der Pastor schließlich; er trat zu ihr hin. »Und jetzt will ich dir dies eine sagen, meine liebe Beret Holm: an dir ist es jetzt, das große Werk, das dein Mann begonnen und begründet hat, weiterzuführen. Das aber mußt du wissen: willst du, daß dir's glückt, so mußt du lernen, das Gute in den Menschen herauszufinden; vergiß nicht, daß nicht Satan sie geschaffen hat, sondern der Herrgott!« –
Am Tage darauf reiste der Pastor ab; er kam in jenem Frühling oft wieder, und jedesmal wohnte er bei Beret Holm; das geschah so häufig, daß die Leute sich schließlich wunderten, und es war nicht zu leugnen, daß darüber Gerede entstand. – – Beret Holm war doch nicht die erste Frau, die Witwe geworden war! – – Saß nicht auch Mrs. Waag allein? – Hier war gewiß noch so mancher, der des Trostes bedurfte. – – Das sah doch recht eigentümlich aus. – –
Jenen ganzen Sommer hindurch trug Beret die alte Heimat inniger in ihren Gedanken als je zuvor, seit sie nach Amerika gekommen war.
Nicht derart, daß sie besondere Sehnsucht gespürt hätte; aber jetzt war sie unabhängig und selbstberaten, und es war lieblich und schön in Norwegen; nichts konnte sich mit dem Nordlandssommer vergleichen: der war das Märchen selber – das hatte sie oftmals sagen hören. In warmen Nächten, wenn der Schlaf sie floh, konnte sie wohl aufstehen und sich draußen in den Vorraum setzen. Obgleich hier alles ganz anders war, lag etwas in der lauen Nacht rundum, was an die alte Heimat erinnerte. Bisweilen sah sie dann das Meer sich lässig in eine Bucht hineinwiegen und tangbewachsene Felsen bespülen. Stille klare Nacht. Sattes schläfriges Licht über den Hügeln. Die Küstenberge schlummerten purpurblau unter wuchtender Sonne. Drunten am Strand der Bucht träumte die brütende Eiderente, den Schnabel unter den Fittich gesteckt. – Ein Boot glitt plätschernd in die Bucht herein. Legte an am Steg. Ein Mann in Seestiefeln kam den Steig herauf. Das war der Vater, der von den Seelachsgründen heimkam!
– Sie sah alles so deutlich vor sich, als stünde sie daheim an der Hausecke. – – Ja, da kam der Vater. Wer besorgte jetzt für ihn den Haushalt, seit die Mutter von hinnen gegangen war? Nie kam ein Brief von ihm, und nie brachte sie es über sich, ihm zu schreiben; wie hätte sie jemandem schreiben können, der sich das Leben hier drüben gar nicht vorstellen konnte? – – Sie hätte freilich verkaufen und mit den Ihren heimreisen können; dann hätten die Kinder wieder Volk und Vaterland und eigene Sprache zurückbekommen. Ging es an, Sünde auf solche Weise zu sühnen? In alten Zeiten hatten Menschen sich auf Pilgerfahrten begeben, hatte sie erzählen hören. – – Ihr ward es nicht so leicht gemacht: drüben auf dem Friedhof lag der Per Hansen und wachte über allem. Sollte sie ihn hier völlig allein in fremder Erde zurücklassen? Immer, wenn die Gedanken diesen Weg einschlugen, fühlte sie sich als Verräter. – – Hier hatte er von großen Dingen geträumt, von dem Königshof geredet und anderem Großen. – – Ließ sie das alles jetzt im Stich, was würde sie ihm dann dereinst, wenn sie einander begegneten, zu sagen haben? Denn dann wollte er gewiß Bescheid darüber, wie sie sich mit allem eingerichtet hatte. – – Nein, die Fahrt zurück fiele ihr gewiß nicht leicht. Und die Kinder – was würden die dazu sagen? – –
Die Erinnerungen an Norwegen ließen ihr jedoch keine Ruhe. Als sie eines Sonntags bei der Sörine zu Besuch war, brachte sie es zur Sprache. – – Was sie wohl meine – sollten sie verkaufen und wieder nach Norwegen ziehen?
Sörine spielte mit dem Jüngsten. »Wäre es nicht um der Kinder willen,« antwortete sie, als habe auch sie schon lange darüber nachgedacht, »so wäre das nicht von der Hand zu weisen. Mit dem Erlös, den du und ich für die Farm bekämen, könnten wir in Norwegen gut leben.«
»Was, meinst du, hätten die Kinder wohl dagegen einzuwenden?«
»Das brauch ich dir kaum zu erklären, – du willst ihnen gewiß nicht so übel, daß sie in Norwegen sich so fremd fühlen sollen, wie es uns hier gegangen ist.«
»Aber das wär doch unmöglich!« rief Beret. »Sie kommen ja doch heim zu ihrem eigenen Volk!«
»Ja, bist du dessen so sicher? Die Sofie erinnert sich nur noch wenig an die Heimat; und mein Hänslein hier, der ist sogar hier geboren. Und deinen Buben gönnst du doch nicht so Böses, als daß sie sich drüben auf See abrackern müßten, – – hier fehlt es uns weder an Speise noch an Trank.«
»Das freilich nicht, – aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein.«
»Darin hast du gewiß recht; und doch jammern wir, wenn's uns fehlt – das hätten wir, du und ich, mein ich, genugsam erlebt.«
Beret erwiderte nichts darauf. Und seit der Zeit sprachen beide nie mehr davon.
Aber in jenem Sommer hatte sie mehrere Male versucht, dem Vater zu schreiben; doch ein jedesmal endete es damit, daß sie den Brief verbrannte, weil sie nicht das zum Ausdruck bringen konnte, was sie beabsichtigt hatte; entweder geriet alles so kurz, daß das ganze Bild unwahr wurde, oder so breit, daß es einen Umfang annahm, den sie nicht bewältigen konnte.
Übrigens hatte sie auch nicht die Muße, sich noch mehr vorzunehmen, als jedweder Tag von ihr forderte. Kaum vergoldete die Frühe ihr Kammerfenster, als sie auch schon aufstand; ins Bett kam sie erst lange, nachdem die Dunkelheit sich herabgesenkt hatte. Sie hatte anfangs die Außenarbeit in Mannskleidern verrichtet, es jedoch unterlassen, als sie merkte, daß die Kinder es nicht gern sahen.
Die Außenarbeit beanspruchte sie mit jedem Tag mehr, und der Tag war niemals lang genug. Die Müdigkeit am Abend gab süße Erquickung. Am liebsten von allem besorgte sie das Vieh; ein gesegnet wohltuendes Gefühl war's, zu spüren, daß jegliches Geschöpf gut zu einem war. Jedes Tier auf der Farm kannte ihre Stimme. Im ersten Frühling und Sommer behielt sie alles, was geboren wurde, zur Aufzucht. Erst im Spätherbst verkaufte sie ein paar Rinder, und dann nur deshalb, weil die Buben sie mit Überredung dazu brachten.
Wenn es des Abends lau genug war, wärmte sie sich Wasser, nachdem die Kinder zu Bett waren, kleidete sich in ihrer Kammer aus, löschte die Lampe und wusch sich den ganzen Körper. Darauf zog sie ihr Nachthemd über, setzte sich auf die Veranda und ruhte dort eine Weile, ehe sie sich legte. Dann geschah es wohl, daß sie ein wehes, heftiges Verlangen nach dem Manne fühlte; sie ächzte geradezu danach, Manneskraft an ihrem Leib zu spüren. Alle die lieben Worte des Per Hansen, all die Liebkosungen, auf die er hatte kommen können, wenn's ihm so ums Herz war, die erstanden dann zu wunderlicher Lebendigkeit. Eines erkannte sie immer deutlicher, je mehr die Zeit vorrückte: in den letzten gemeinsamen Jahren hatten sie und der Mann nicht so miteinander gestanden, wie es hätte sein sollen, – die größere Schuld lag wohl bei ihr. Und nimmermehr konnte das ungeschehen gemacht werden! – – Brennende Bitterkeit erfüllte ihr Herz – es hätte ein Himmel sein können, für sie und den Per Hansen, und war zu einer Hölle geworden. – – Jetzt saß sie hier, allein, ein gesunder Mensch, in ihren besten Jahren!
Daß diese Mondnächte mit ihrem kupfergrün schimmernden, lauen Dunst Gefahren für sie bargen, verstand sie nicht.
Tambour-Olas Gesicht konnte zuweilen vor ihr auftauchen und sie anschauen. Das Höhnische, Unruhige im Blick wurde dann gut und milde, – der ganze Mann dann nur ein kriegsverletzter, bedauernswerter Mensch, der alle Einsichtigen um Güte und Freundlichkeit bat. Sie verwunderte sich nicht darüber. Seltsame Gefühle beschlichen sie; sie ließ sich von ihnen tragen – das tat so gut – –. Aber am nächsten Tag schämte sie sich dessen und wagte kaum, den Kindern in die Augen zu sehen. Trotz alledem vermochte sie doch nicht, Tambour-Ola ganz aus ihren Gedanken zu bannen, wollte es übrigens auch nicht. Sie ward sich bewußt, daß sie es nicht wollte, und entsetzte sich auch vor dieser Sünde.
– – Hätte sie wenigstens gewußt, wieviel von dem allen, mit dem sie jetzt kämpfte, Fügung war, die der Herrgott ihr zugemessen hatte!
Wahrlich, seine Wege sind unerforschlich. Das waren die wahrsten Worte, die je aus eines Menschen Munde gekommen. Da hatte Gott das größte Wunder an ihr getan, ihr Verstand und volle Vernunft zurückgegeben; war das nur darum geschehen, um sie dazu zu bringen, noch weit Schlechteres zu tun? – –
– – »Du mußt es dich lehren, das Gute an den Menschen herauszufinden.«
Beret dachte viel über diese Worte nach. Vielleicht hatte der alte Pastor recht: es gab mehr Gutes in der Welt, als sie zu sehen vermochte. Vielleicht war sie noch immer mit Blindheit geschlagen? – – Wundersam gut waren die Leut zu ihr gewesen, seit der Per Hansen umgekommen war; die Nachbarn hatten sich zusammengetan und in dem ersten Jahr bei der Frühjahrsbestellung wie auch der Ernte freiwillig Hilfsarbeit bei ihr geleistet; die schwerste Rackerei war eitel Vergnügen geworden, und die daran teilgehabt, waren fröhlich gewesen wie Kinder beim Spiel. Nicht als ob sie der Hilfe geradezu bedurft hätte, sie hatte es dazu, sich Lohnarbeiter zu dingen, und der Hausstand bestand aus drei erwachsenen Menschen. Gleichwohl war ihr dabei so gewesen, als schiebe ihr jemand, wenn sie so recht müde war, einen Lehnstuhl zu und bitte sie, sich zu setzen.
Oh ja! Vielleicht hatte der alte Pastor recht. Zum Beispiel bei den Kindern. Oft wußte sie nicht, wie sie's mit ihnen anstellen solle, denn sie hatten es sich jetzt in den Kopf gesetzt, sie geradezu auf den Händen zu tragen. Das konnte recht lästig werden. Hielten sie sie für einen hilflosen Stümper? Sie wollten sie doch nicht etwa hegen und pflegen! Beret mußte geradezu über sie lachen. Begriff das Kroppzeug denn nicht, daß sie selber des Morgens die erste und des Abends die letzte sein müsse? Und der Ola war so ungestüm dabei – sie hatte noch gar nicht so ganz gewußt, was für ein herzensguter Kerl der Bub war; er sah nach ihr ohne Unterlaß; hätte sie es zugelassen, hätte er auch noch die Nacht durch gearbeitet, ihr etwas abzunehmen. Er und der Bruder wetteiferten förmlich, wer zuerst fertig und am wackersten sei! – – Und dann der Permann, der kleine dumme Knirps, der beständig hinter ihr her war und fragte und helfen wollte! Die Augen wurden ihr feucht, wenn sie an das Kind dachte. Nun ja, auf den wollte sie schon aufpassen! – – Schlimmer war's mit den beiden Großen. Unmöglich zu wissen, worauf die verfallen konnten, wenn sie nicht in der Nähe war – Kinder blieben Kinder. Einmal, als sie den Stall für den Winter herrichteten, hatte der Große-Hans sich einen rostigen Nagel eingetreten; erst mehrere Tage später bekam sie es zu wissen. Ola hatte den Bruder Schuh und Strumpf ausziehen geheißen und sich dann hingelegt und ihm das Blut ausgesaugt. Nach dem Nachtessen hatten sie darauf drüben bei Tönset'n eine unaufschiebbare Besorgung gehabt, wozu sie durchaus hatten den Wagen nehmen müssen; da waren sie jedoch auf der westlichen Prärie bei Crazy-Brita crazy = verrückt. gewesen und hatten sich Salbe für den Fuß geholt. – – So ging es mit allem, was ihr hätte Mühsal bereiten können; ja du mein! glaubten sie etwa, es stehe mit ihr nicht ganz richtig?
– – Seltsam war es bestellt mit dem Guten in den Menschen. Das war da und war nicht da, wie etwas, das in der Kimmung auf und ab wippt. Sah einer scharf hin, so verschwand es. –
Niemand sah mit ihren Augen. Sie hörte sich dieses ganze Hallo über die Politik mit an, bis sie noch wortkarger und ablehnender wurde. Die Leute berauschten sich ja an Excitement. Das legte sich aufs Gemüt, wie der braune Rost auf schönen Weizen; Zwietracht und Haß und Jagen nach Wind waren die Früchte, die sie ernteten. Was sollte das wohl weiter groß einen Unterschied machen, ob jetzt hier ein Staat entstand oder zwei! Wonach hetzten sie sich? Worüber gerieten sie denn in Wut wie die Bullen? Wurden die Leut etwa besser durch dies ganze Gezänk? Warum befleißigten sie sich nicht, friedlich zu hausen und einander zu helfen, – denn auch auf dieser Erde war es möglich, es gut zu haben!
– – Nein, sie sah die Dinge gewißlich nicht wie andere Menschen. Sagte sie etwas, so begegnete man ihr mit Lachen, wie einem Kind, das altklug schwätzt. Und doch verspürte sie solch heißen Drang nach Gemeinsamkeit. Sie hatte zu reden versucht und es sich beigebracht, zu schweigen.
Letzten Sommer war der alte Pastor am Schlag gestorben. Beret hatte getrauert, als sei ihr einer der Ihren entrissen worden. Sie hatte das Bedürfnis nach Stille gehabt, um dem Herrn aufrichtig für das zu danken, was dieser Mann ihr gewesen war. – – Kein anderer hatte empfunden wie sie. Das Hin- und Herreden darüber, wen man zum Nachfolger berufen solle, hatte bald auf der ganzen Prärie getobt. Und da waren dann die Leute dazu imstande gewesen, sich in diesen Waschlappen, den Isaksen, zu vergaffen! Allein da hatte sie, Beret, mehr gesagt, als sich für eine einfache Farmerfrau geziemte; sie hatte nicht anders gekonnt, sie hatte einem Unheil vorbeugen müssen. Denn sie hatte gleich gemerkt, daß in dem Kerl kein Mark steckte. Und der sollte ihnen Gottes geheimnisvolle Wege mit den Menschen erklären – solch eine Seifenblase von einem Mannsbild! Aber die Leut waren blind. ›Er sehe so gut auf der Kanzel aus; er habe die besten Empfehlungen‹ und ›er sei so gut ausgebildet – so bedacht in seinem Wesen‹ – ›sei von gutem Herkommen‹ und ›er rauche auch nicht‹. Und Sörine, sogar die hatte sie ausgelacht und gemeint, sie sollten sich mit ihm doch nicht verheiraten! – – Ja, jetzt mußten sie halt liegen, wie sie sich gebettet hatten. Wenn jedoch die Menschen infolge von geistiger Verwahrlosung verkrüppeln, dann ist es geringer Trost, zu wissen, daß sie dies selbstverschuldet haben. – Auch das dachte Beret.
– – Seltsam übrigens, daß sie soviel sah, was andere gar nicht zu bemerken schienen. War sie wirklich dümmer als andere? –
Eines Abends im ersten Herbst nach dem Tode des Mannes hatte Beret Besuch von der Kjersti; sie saßen in der Küche, und Kjersti floß über von Neuigkeiten. Sie strickte beim Erzählen an einem Strumpf.
– Ja, jetzt sei hier ein großer Skandal – hatte Beret noch nicht davon gehört? Sonderbar, denn die Leut sprächen von nichts anderem. Nun, der Ole Tallaksen sei auf und davon und habe sich mit der Rose Mary verheiratet. Das hätte etwas gegeben, könne Beret glauben! Pastor Isaksen habe abgelehnt, sie zu trauen, wofern Rose Mary nicht lutherisch werde und in die Gemeinde eintrete. Der alte Tallaksen habe getobt vor Wut, geflucht und geschimpft und gesagt, ehe daß jemand aus seiner Familie eine Katholikin heirate, wolle er ihn lieber eigenhändig lebendig begraben. Sinnloses Geschwätz von Tallaksen! Denn wenn die beiden jungen Leute auf die Art aneinander hingen, dann kehrten sie sich wenig an den Glauben. Sie, Kjersti, könne sich doch noch gut darauf besinnen, wie es daheim im Sommer zugegangen war, wenn die fremden Fischer kamen!
Hier entdeckte Kjersti, daß sie eine Masche hatte fallen lassen, die sie erst aufnehmen mußte. – –
Ja, wobei war sie doch gleich stehengeblieben? Ach richtig! Schau: der Bub war nicht verlegen um Rat und ebensowenig die Dirn – bewahre! Sie rissen einfach aus und ließen sich bürgerlich trauen, – er sei ihr wohl auch bereits allzu nahe gekommen, nach allem, was man gehört – – »die Jugend ist so ungestüm, siehst du!« – Und jetzt also behaupte der Katholikenpastor, sie seien überhaupt gar nicht verheiratet, sondern lebten zusammen in Sünde und Unzucht. Aber das sei denn doch sehr die Frage; ihr Syvert sage, nach dem Gesetz sei es Recht, wofern es auf christliche Weise vorgenommen worden sei; doch komme es darauf an, wie der Herrgott sich späterhin zu der Sache stelle. Der Syvert, der habe nun seinerzeit den Johannes Mörstad und die Jossie getraut, bei denen aber sei alles nur zum besten ausgeschlagen. – – Ja ja, hier gehe jetzt dieser Tage so mancherlei vor. – – Kurzweiliger sei es jetzt als in den ersten Jahren, da sie hier nichts anderes zu Gesichte bekommen hätten als Gophers und Indianer!
Die Beret hörte dem Bericht nachdenklich zu. Eine Bibelstelle, auf die sie sich nicht genau zu besinnen wußte, strebte danach, ihr deutlich in die Erinnerung zu kommen – etwas von ›Gottessöhnen, die sich zu den Menschentöchtern gesellt‹ hätten; und von der Bosheit, die demzufolge gröblich zugenommen habe. Das war nun schon die zweite Ehe dieser Art im Verlauf von kaum zwei Jahren. – – Hier gab sich Volk unterschiedlicher Art in Buhlschaft zusammen! Hatte einer je so etwas gesehen bei Volk oder Vieh? – – Doch der in den Himmeln thront, der lacht!
– – –
In jenem Winter war es schlecht mit der Schule bestellt gewesen; eine Zeitlang hatte man sie schließen müssen, und während der wenigen Wochen, in denen sie gehalten wurde, war der Besuch unregelmäßig; keines von den Kindern der Beret besuchte die Schule seit der Trollenkälte im Februar.
Aber im nächsten Winter schickte sie die drei Jüngsten hin. Permann hatte so lange gebettelt und gequengelt, bis sie ihn mitließ. Später jedoch reute es sie, daß sie das Kind so frühzeitig hatte gehen lassen.
Etwas war ihr unbegreiflich an dieser Schule. Seit die Kinder dort eingetreten waren, hatten sie für nichts anderes mehr Sinn. Kaum war am Abend das Essen verschlungen, so räumten sie den Küchentisch ab und setzten sich hinter die Bücher, und sogleich befanden sie sich in einer Welt, in die sie ihnen nicht folgen konnte. Sie benahmen sich rein wie verhext; sie sahen weder, noch hörten sie; so etwas war ihr unfaßlich! Seit der Zeit hieß es die Schule vorn und die Schule hinten, etwas anderes schien für die Kinder nicht mehr vorhanden zu sein.
Anfänglich hatte sie nicht bedacht, wohin das führen mußte. Sie war froh und zuversichtlich, weil sie alle drei um den Küchentisch sitzen sah. Auch Ole saß dabei, er hielt sich jetzt eine englische Farmerzeitung. Und bisweilen dachte sie sich Fragen aus und versuchte, sie mit diesen zurückzulocken. Was hätten sie denn jetzt gerade vor? Wovon handelte heut die Schulaufgabe? – Nein, so erzählt es mir doch auf norwegisch! War das etwas Recht's, zu lernen, für erwachsene Leut? – – Entweder hörten sie dann nicht auf sie, oder sie gaben ihr Antworten, über die sie sich nur ärgerte, weil die so überaus dumm waren – die Kinder konnten doch wohl ordentlich hinhören, wenn sie fragte! – – Sollten die beiden Kleinen mit einer Erklärung heraus, so stammelten sie, suchten nach Worten und gingen sogleich ins Englische über; dann freilich stand ihnen der Mund nicht still.
Peder war noch nicht viele Wochen in der Schule gewesen, als er schon nichts anderes als Englisch mehr sprechen wollte. Bei seinem Eintritt hatte er nur die wenigen englischen Worte gekonnt, die die Norweger damals im täglichen Umgang verwendeten; als er eines Tages heimkam, hatte er die Sprache, die er bisher täglich gebraucht, in der Schule zurückgelassen. Die Mutter sprach Norwegisch mit ihm, der Bub antwortete ihr auf englisch; es hörte sich so an, als sei er überaus fröhlich, er sprach laut und voller Mutwillen; schließlich wurde das so komisch, daß die andern laut loslachen mußten. Als er das gewahr wurde, spielte er sich sofort noch männlicher auf. Da hatte die Mutter geschwiegen. Am gleichen Abend suchte sie die norwegische Fibel vor und setzte sich mit ihm dahinter; da waren aller Eifer und alle Freude wie weggeblasen. Aber sie ließ trotzdem nicht locker, und es blieb nicht bei dem einen Mal.
Seit der Zeit saß eine seltsame Unruhe in Beret. Zuweilen verspürte sie nicht viel von ihr; sie lebte und nährte sich im Verborgenen und harrte ihrer Gelegenheit. Plötzlich geriet sie dann in Bewegung und hauchte Angst durch das ganze Gemüt; da spannten sich die Sinne, bis sie wund waren vor Empfänglichkeit.
Es währte lange, bis sie sich über den Grund alles dessen klar wurde. Sie wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Aber das, was da im Anmarsch war, warf seine Schatten voraus, unbestimmt waren sie, flüchtend, – aber sie waren da, ohne Aufhören; sie näherten sich und zogen wieder ab, so weit weg, daß Beret meinte, sie seien verschwunden. Unversehens jedoch türmten sie sich dann wieder um sie, wie eine finstere Mauer und näher als je zuvor.
Es schien, als sei das nicht zu vermeiden, ganz gleich, wie sie sich drehte und wendete. Obwohl sie das mit den Jahren immer mehr einsah, wollte sie es doch nicht recht glauben: Herr im Himmel – es war doch wohl nicht möglich, daß ein Volk spurlos verschwand und zugrunde ging, trotzdem es sein Leben weiterfristete? – – War das die Strafe dafür, weil man sich von Geschlecht und Heim losgerissen hatte? Ja, dann war sie nicht die einzige Schuldbeladene in Amerika! – – Nein, sie begriff es nicht; vielleicht war es mit den Norwegern in diesem Land gerade wie mit dem Dünger, den man im Frühling auf die Äcker streut, um kräftigeres Wachstum in dem sprießenden Leben hervorzurufen?
Bisweilen gaukelte die Angst ihr Bilder vor. Zumal in schlaflosen Nächten, wenn sie nicht aufzustehen und sich freizulesen vermochte. Eines davon kam oft wieder: da saß sie draußen am Meer auf einer kleinen Schäre; die Brandung spülte und sog; es mußte auf dem Meere überaus stürmisches Wetter herrschen. Die Flut brach herein; so umständlich hatte die sich noch nie herangewälzt. Schließlich beleckte die Brandung ihr die Füße. Ein Kormoran umkreiste die Schäre. Der hackte so schlimm, der Vogel – pickte die Leichen an, die in der See trieben; stets die Augen zuerst; das hatte der Vater ihr einmal erzählt. – – Sie konnte dies Bild so lange vor sich sehen, bis sie die Füße anzog und die Spannung sie vom Kissen auffahren ließ. – – Wahrlich! Jetzt erwies es sich, daß Amerika von ihnen mehr forderte als nur ihre Leiber!
Beret sah klar, daß verborgene Kräfte am Werke waren, ihr die Kinder zu nehmen. Und sonderbar genug: es erfaßte zuerst die Jüngsten. Der Permann und die Annemarie ergaunerten geradezu jede Gelegenheit, verstohlen Englisch miteinander zu sprechen. Nicht besser die beiden Großen, wenn sie nicht mit ihnen bei der Arbeit war. Kamen Altersgenossen zum Hof, dann gab es nichts als Englisch. Und nicht hörte sie, daß dann irgend etwas von dem erwähnt wurde, was ihnen und ihren Sippen eigen war. – – Hier gab ein Volk sich selber auf und merkte es nicht!
Unklare Märchenvorstellungen ihrer Kinderjahre drängten sich auf, von Trollmännern, Zauberern, – Ganfinnen hatte die Mutter sie genannt, – die aus ihrer Haut heraus und in andere Wesen hineinschlüpften; kam jemand derweilen über die Haut und berührte sie, dann konnte der Eigentümer nicht wieder Mensch werden, sondern mußte als unruhiger Geist herumwandern. – – Es kam bisweilen vor, daß sie, wenn sie den Kindern zuhörte, sich erstaunt fragte, ob wirklich sie deren Mutter war. – – Hierzulande gebar also nicht Art wieder Art? – Weizen wurde nicht Weizen – – – Kuh brachte nicht Rinder zur Welt – – war hierzulande alles miteinander nur Spuk?
Als sie eines Abends am Küchentisch im ›Skandinavier‹, der Zeitung der Norweger in Amerika, las, saßen die beiden Jüngsten am andern Ende des Tisches über ihren Büchern. Peder ging jetzt bereits seit drei Jahren zur Schule und war schon in der vierten Klasse. Plötzlich wollte er die Schwester dazu überreden, sich von ihm eine Erzählung vorlesen zu lassen – hier habe er etwas Drolliges gefunden, sie möge bloß einmal hören! Die Schwester legte keine große Anteilnahme an den Tag, – sie kannte das Stück schon vom letzten Winter her. Der Bub begann laut, mit Ausdruck und voller Freude – er wollte die andern schon dazu bringen, ihm zuzuhören!
Beret sah auf und wartete, bis er mit dem Abschnitt fertig war; dann hieß sie ihn, sich neben sie setzen, sie wollten etwas Kurzweiliges ausprobieren.
Zuerst tat er, als höre er nicht. Dann aber kam er träge und widerwillig und rekelte sich neben die Mutter hin.
»Was ist denn?« fragte er nachlässig.
»Lies mir halt einmal dies Geschichtlein vor, mir tun die Augen weh.«
»Huh!« machte er und schwieg.
»Könntest doch deiner Mutter den Gefallen tun!«
Peder bedachte sich lange; der ganze Bub hing schlapp und faul auf der Bank. Endlich ließ er sich dazu herbei. Jedes zweite Wort zerhackte er, stümperte daran herum oder sprach es verkehrt aus; die Stimme klang heiser vor Widerwillen und Weinen – es war gerad, als werde er schrecklich gemartert.
Beret hörte sich das eine Weile mit an. Dann faßte sie ihn beim Arm und schüttelte ihn:
»Jetzt liest du ordentlich!«
Pause.
»Hörst du nicht, was ich sag?«
Peder tat sich die Fäuste vor die Augen und knautschte.
»Ich lese ja doch!« stammelte er schluchzend.
Da überkam sie der Zorn gewaltig wie ein Sturmstoß. Sie sprang auf und gab ihm eins hinter die Ohren, packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn aus voller Kraft.
»Willst du jetzt vielleicht lesen?« fragte sie rauh und atmete keuchend.
Totenstille trat ein im Zimmer. Der Große-Hans, der beim Ausbessern eines Pferdegeschirrs war, sah auf und räusperte sich; Ole erhob sich, nahm die Mütze und rannte zur Türe hinaus. Die Schwester war bereits, als sie das Gewitter heraufziehen sah, aufgestanden und in die Wohnstube gegangen; jetzt klangen von dort Harmoniumtöne herein, gedämpft, lauschend. Plötzlich stand auch der Große-Hans auf, nahm das Geschirr über den Arm und wollte hinaus. In der Stubenmitte blieb er stehen:
»Geht das hier so weiter, ist's am besten, wir andern ziehen in den Kuhstall!«
»Nur zu, nur immer zu! – Geht es hier weiter so, wie es den Anschein hat, dann dauert es nicht lange, bis wir keinen Unterschied mehr sehen zwischen Volk und Vieh.«
Der Große-Hans fingerte an einem Riemen, warf der Mutter Blicke zu, ging dann hinaus; die Tür schlug er hinter sich zu.
Das blieb nicht die einzige Kühle, die zwischen ihnen aufkam. Während des Winters jedoch, in dem Peder die Bibel durchlas, war Beret ständig in schönster Gutwetterlaune. Vielleicht hatte der Herr ihren Herzensseufzer erhört und wollte alles zum besten lenken? – – Ihre Bibel war an die zweihundert Jahre alt und schwer zu lesen für jemanden, der nicht an das Dänisch jener Zeit gewöhnt war. Sie ließ daher für Peder eine neue kommen – ein schönes Buch mit klarem Druck, in Leder gebunden und mit Goldschnitt; Peder strahlte über das Geschenk und war womöglich noch eifriger beim Bibellesen.
Jetzt gehe alles gut, meinte sie. Bis sie ihn im Herbst in die Tallaksen-Schule gebracht hatte. Da mußte sie freilich bald genug erkennen, daß dies ein Fehlgriff gewesen war, – von nun an war es noch schwieriger, den Buben zum Norwegischen anzuhalten. Und immer weniger Zeit bekam sie selber dazu. Die Arbeit auf der Farm beanspruchte die größte Aufmerksamkeit.
»Und jetzt bloß weg!«
Der Konfirmandenunterricht war schon seit einer Weile zu Ende und die Jugend gegangen. Pastor Gabrielsen trat aus der Sakristei, schloß hinter sich ab, drehte sich um und schritt die Treppe hinunter; die Sonne erwischte seinen blonden Vollbart und ließ das rötliche Gesicht in heller Lohe aufflammen.
Ein Stück vor der Treppe wartete Peder Holm auf ihn, ernst, und begierig darauf, wegzukommen; er sollte heute noch eine Fuhre Baumaterial zu dem neuen Stall aus der Stadt holen; jetzt war es bereits gegen Mittag, und er mußte den Pastor vorerst noch nach Hause fahren – jede Minute war kostbar! – – Diese Schrulle, daß er Gabrielsen jeden Sonnabend zur und von der Kirche zu fahren hatte, gefiel ihm nur mäßig, obwohl – well, never mind, da kam der ja endlich!
»Sagtest du was?« lachte der Pastor gemütlich, während er auf Peder zutrat und ihn unterfaßte. »Du mußt dir das ewige Hetzen abgewöhnen, mein Junge, gönne du nur des Herrgotts gesegneter Sonne die Zeit, dich tüchtig braun zu brennen. Das ist gesund, siehst du!« – – In seiner Jugend war Pastor Gabrielsen eine Zeitlang Seemann gewesen, und es war nicht zu verkennen, daß er das Wiegende noch in den Beinen hatte; bei jedem Schritt stampfte er wie ein alter Kauffahrer und schleppte Peder hinterher, obgleich der versuchte, sich dem Schlingern möglichst anzupassen.
Gleich darauf rollte der Buggy mit ihnen davon. Wenn jetzt Peder bloß hätte wagen können, tüchtig auf das Pferd loszuhauen, dann wären sie ja bald beim Pfarrhof gewesen; aber das ging nicht, denn dazu kam der Pastor mit viel zuviel sonderbaren Gedanken, die gleich erörtert werden mußten. Prächtig übrigens. Unter vier Augen waren sie die besten Kumpane und sprachen beständig Englisch. – – Wenn bloß nicht die Fahrt in die Stadt gewesen wäre!
»Flott, mit eigenem Kutscher zu fahren!« vertraute ihm der Pastor in behaglichem Ton an. »Nicht alle Pastoren in Dakota Territory sind so hoch hinaufgelangt, will ich dir sagen! – – Laß uns jetzt hören, über welche Tiefsinnigkeiten du heute beim Überhören nachgegrübelt hast? Ich habe es wohl bemerkt; es sollte mich nicht wunder nehmen, wenn in deinem Schädel ein gelehrter Theologe steckt. – Halt! Gemach! Fahre doch nicht so zu, als sollten wir den Doktor holen!« Der Pastor lächelte und amüsierte sich. – – »Worin bestand das Problem also heute? Well, siehst du – wenn Gott nur Geist ist, dann, well, dann –«
»Dann ist es keine leichte Sache, klug aus ihm zu werden,« ergänzte Peder voller Überzeugung.
»Will ich gern glauben, mein guter Peder. Jedoch just an dieser Stelle müssen wir einsetzen, wenn wir uns mit dem Gottesbegriff auseinandersetzen wollen.« – Der Pastor strich sich den Bart in die Höhe. Unversehens hatte er ihn sich in den Mund gestopft und behielt ihn zwischen den Zähnen. Eine Gewohnheit, die er hatte, wenn er sich an die Lösung eines recht verzwickten Problems machen wollte.
Peder hütete sich, ihn zu stören, benutzte vielmehr die Gelegenheit, das Pferd in Trab zu bringen; er hatte einen gewissen Kniff dafür mit der rechten Leine. Jetzt ging es übrigens ganz hübsch vorwärts. – –
»Gar nicht so dumm von den Katholiken, dem gemeinen Mann die Bibel zu verbieten,« der Pastor ließ den Bart aus den Zähnen und strich ihn sich wieder zurecht; »viel Verkehrtheit vermeiden sie dadurch, obgleich ich auch in dem Punkt nicht mit ihnen halten kann. Es müßte da doch wohl auch andere Mittel und Wege geben, meine ich.« – – Der Pastor sah ins Weite. – – »Die Gefahr besteht ja nämlich gerade darin, daß wir, wenn wir im Begriff sind, uns Gott vorzustellen, sogleich Bilder zu Hilfe nehmen; und da ist es nun das Fatale, daß viele beim Bild stehenbleiben und darüber den Inhalt vergessen. Auf die Weise jedoch wird der Herr unser Gott zu nicht mehr als einem gemeinen Abgott, denn diese Bilder, die zeichnen wir nach unserer eigenen Schablone.« – – Wieder eine Pause. Peder benutzte die Gelegenheit, dem Pferd eins zu versetzen. – – »Bei den heiligen Männern, die die Bibel schrieben, war das eine andere Sache; ihre Sprache bestand aus nichts als Bildern; sie redeten und dachten in Bildern. Wenn wir phlegmatischen Nordländer nun an die Bildersprache des Orients geraten, dann geht die Geschichte meistens schief, weil bei uns Sprache und Gemüt anders beschaffen sind!« – Der Pastor klopfte ihm dabei auf die Schulter, als wolle er ihm diese Tiefsinnigkeiten ordentlich einbleuen.
Peders altkluges Jungengesicht sah geradezu dräuend aus, so sehr strengte er sich an, der Erklärung des Pastors zu folgen:
»– – Wenn er nun nichts als Geist ist, so hat ihn doch niemand gesehen. – Da steht doch aber von Moses –«
»Alles bildlich gesprochen, Gevatter! Alles bildlich gesprochen! Moses fühlte so intensiv, bis er schließlich sah, – so ergeht es allen religiös ergriffenen Gemütern.« Der Pastor strich sich langsam über den Bart. »Könnten wir nur die Menschen dazu bekommen, daß sie verstehen, daß Gott erfahren werden muß!«
Das Gesicht des jungen Burschen öffnete sich, er sah dem Pastor gerade in die Augen, die Zügel hingen schlaff:
»Wie können wir das erfahren, was doch nur – ja – was also bloß Luft ist?«
Des Pastors rechter Arm legte sich über die Rückenlehne; alles Lichte in seinem Gesicht strahlte auf.
»Mit dieser Frage wird man leicht fertig!« erwiderte er mit großer Selbstsicherheit. »Wenn du rasch fährst, dann fühlst du die Luft ums Gesicht, nicht wahr? Und erfährst du nicht Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht? Und ferner die Farben – nun, das verstehst du wohl nicht! Aber hast du je den Wohlgeruch einer Blume gesehen? Erfährst du nicht täglich, daß Mutter dich lieb hat?« Plötzlich brach des Pastors helle Freude in ein Lachen aus, er mußte sich aufs Knie schlagen: »Ja, hast du jemals gesehen, worin das Angenehme beim Essen liegt – he he he, hast du das etwa, mein guter Peder?« Die rechte Hand tippte leise auf die Schulter, auf der sie lag.
Aber da kam der Pastor plötzlich auf etwas anderes zu sprechen:
»Du mußt Pastor werden, Junge! – Stell dir vor, daß du dann den Menschen dazu verhelfen kannst, Gottes Güte zu erfahren. Dessen bedarf es, versichere ich dir!« Er zeigte rückwärts auf die Bethelkirche, an der sie soeben vorbeigefahren waren: »Da hocken nun diese armen Menschen blind wie die Maulwürfe zusammen, sind trunken von sinnlichem Begehr und verbergen sich mit dem Götzen, den sie sich geschaffen haben. Und ahnen noch nicht einmal, daß auch nicht sämtliche Welten Raum genug haben für Gottes Ehre! Nun, aber darüber,« unterbrach er sich unvermittelt, »wollten wir ja nicht reden.«
Der Pastor versank in Nachdenken und zerrte weiter an seinem Bart.
Peder war bei des Pastors Worten puterrot geworden. Er schlug das Pferd mit der Leine. Als es ihm dann immer noch nicht schnell genug ging, nahm er die Peitsche zu Hilfe. Der Pastor merkte vor tiefem Sinnen weder das eine noch das andere.
Bald darauf bogen sie in den Pfarrhof ein. Peder wollte sogleich weiter. Aber da sagte der Pastor, er müsse unbedingt noch mit hinein; er habe da ein Buch von der Wesenheit Gottes; das wolle er ihm leihen.
Peder war es wenig zufrieden, wieder aufgehalten zu werden, der Tag stand groß und erhaben vor ihm und lockte und rief. Andererseits aber wollte er sich auch gern das Buch borgen. Übrigens ging es auch nicht gut an, nein zu sagen, wenn einen der Pastor selber einlud! Er band das Pferd an und ging mit hinein.
Die Pastorenwohnung sah kleiner aus, als sie in Wirklichkeit war. Das kam daher, daß sie soviele Menschenleben in sich zu bergen hatte. Das ganze Haus wimmelte von Kindern – Kinder schwätzten, Kinder sangen, Kinder spielten und lärmten, Kinder plärrten, Kinder klönten nach Essen; eins lag auf einem Kissen in einem Winkel, der Schlaf zeichnete ihm Rosen auf die Wange, die nach oben gekehrt war; die Katze hatte sich die Gelegenheit zunutze gemacht und sich dicht an das Gesicht gekuschelt; der Schwanz ringelte sich um das Kinderkinn. – Alle hatten sie blonde Schöpfe; die Haut rein und fein wie frischer Rahm; in den Augen träumte klarer Lenzwetterhimmel; alles in allem waren es elf Stück. Kenneth Le Roy, der Jüngste, kam soeben durch die Küche gerudert und wollte ins Eßzimmer; das rechte Bein schob er vor sich her wie einen Bootshaken, an dem er sich weiter vorwärts zog; Else – im letzten Frühling vierzehn geworden und die Älteste von der Schar – trug das Essen auf. Die Quelle all dieses lichten Lebens stand groß und freundlich am Herd und schöpfte aus einem geräumigen Kessel Grütze auf die Teller, – sie war fast die Heiterste und Blondeste von allen.
Der Pastor und Peder waren zur Hintertür hereingekommen.
»Friede ins Haus, Eline!« grüßte Pastor Gabrielsen. »Meinen Wagenlenker habe ich mitgebracht, damit wir das Dutzend voll kriegen. Zunächst bedarf er noch einer Portion besonderer Aufklärung über Gottes Wesen, die soll er von mir bekommen; hast du dann aber deinerseits einen Teller mit Grütze für ihn übrig? Denn auch den kann er gebrauchen.«
Der freundliche Blick, den der Pastor für seine Frage erntete, versicherte Peder, daß er willkommen sei. Dennoch wäre er vor Schüchternheit am liebsten in die Erde gesunken. Und überdies wurde er nun ja noch mehr aufgehalten!
»Wir gehen ins Amtszimmer, derweil die Grütze sich verschnauft,« lud ihn der Pastor ein. »Ich merke, daß du es eilig hast.«
Die Küche war groß; das Wohnzimmer größer. Von hier aus gelangte man in das größte der drei unteren Zimmer. Überall wurde man von Ordnung und Ruhe begrüßt. Peder betrat das Amtszimmer und blieb vor Staunen wie angewurzelt stehen; denn er war zum erstenmal hier. Er glotzte die Wände auf und ab: nie hätte er geglaubt, daß es überhaupt so viel Bücher in der Welt gab. Und all das verstand der Pastor!
Pastor Gabrielsen lud ihn ein, sich zu setzen, trat an ein Bücherbrett und zog einen kleinen Band hervor, in dem er zu blättern begann:
»Nun wollen wir einmal hören, wie die alten Lateiner über diese Materie gedacht haben. Sie haben die Bibel des Bilderkleides entledigt und statt dessen den kühlen Mantel der Logik darum gehängt. Aber das ist ihnen nur so einigermaßen geglückt: sie haben ebenfalls zu Bildern greifen müssen. – – Hier haben wir's ja!« Der Pastor lehnte sich gegen den Schreibtisch und las langsam und laut mit tiefer Stimme und sah Peder in allen Pausen an:
»Jeder, der selig werden will, muß vor allen Dingen den allgemeinen Glauben haben.
Jeder, der diesen nicht ganz und unverfälscht bewahrt, ist ohne Zweifel auf ewig verloren.
Dies aber ist der allgemeine Glaube, daß wir einen Gott in einer Dreifaltigkeit und eine Dreifaltigkeit in einer Einheit ehren; damit vermischen wir weder die Personen, noch trennen wir das Wesen,
Denn die eine ist die Person des Vaters, eine andere die des Sohnes und wieder eine andere die des Heiligen Geistes.
Doch ist des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes göttliche Natur eine einzige, die Herrlichkeit ist gleich groß, die Majestät gleich ewig.
Wie der Vater ist, so ist auch der Sohn, so ist auch der Heilige Geist;
Unerschaffen ist der Vater, unerschaffen ist der Sohn, unerschaffen ist der Heilige Geist.«
Hier wurde der Pastor in seinem Vorlesen von Else unterbrochen, die hereinkam, um anzukündigen, daß das Essen auf dem Tisch bereit stehe.
»Gleich, gleich, Else-Mütterchen! Nur noch einen Augenblick, dann kommen wir!« Der Pastor hob die Stimme, um alles klarer herauszuheben, denn jetzt mußte er schneller lesen:
»Unermeßlich ist der Vater, unermeßlich ist der Sohn, unermeßlich ist der Heilige Geist;
Ewig ist der Vater, ewig ist der Sohn, ewig ist der Heilige Geist;
Und doch sind es nicht drei Ewige, sondern Ein Ewiger;
Gleichwie da nicht sind drei Unerschaffene oder drei Unermeßliche, sondern Ein Unerschaffener und Ein Unermeßlicher.
Ebenso ist der Vater allmächtig, der Sohn allmächtig, und der Heilige Geist allmächtig;
Und doch sind da nicht drei Allmächtige, sondern Ein Allmächtiger.
So ist der Vater Gott, der Sohn Gott und der Heilige Geist Gott;
Und doch sind da nicht drei Götter, sondern Ein Gott.
So ist auch der Vater Herr, der Sohn Herr und der Heilige Geist Herr;
Und doch sind da nicht drei Herren, sondern Ein Herre.
Denn ebenso wie uns die christliche Wahrheit gebietet, jede Person für sich als Gott und Herrn zu bekennen, so verbietet der allgemeine Glaube uns, drei Götter oder drei Herren anzurufen.«
Die Tür öffnete sich leise. Mrs. Gabrielsens lebensvolle blühende Gestalt zeigte sich im Türrahmen:
»Die Grütze wird kalt, Johan!«
Peder fiel es auf, daß sie ›Johan‹ auf der zweiten Silbe betonte. Das hatte er noch nicht gehört; und deshalb mußte er sie sich genauer begucken, und da fand er sogleich, hier lasse es sich gut leben.
Aber der Pastor hörte nicht auf. Er erhob die Hand wie zum Segen in der Kirche und las nur um so schneller und betonter weiter; die ganze Gestalt wogte unter den Schallwellen:
»Der Vater ist nicht geformt von jemandem, auch nicht erschaffen, auch nicht gezeugt.
Der Sohn ist allein aus dem Vater, nicht geformt, auch nicht erschaffen, sondern gezeugt.
Der Heilige Geist ist von dem Vater und dem Sohn, nicht geformt, auch nicht erschaffen, auch nicht gezeugt, sondern er gehet von ihnen aus.
Es ist also Ein Vater, nicht drei Väter, Ein Sohn, nicht drei Söhne, Ein Heiliger Geist, nicht drei Heilige Geister.
Und in dieser Dreifaltigkeit ist keines vorher gewesen oder später gekommen, keines größer oder geringer;
Sondern alle drei Personen sind untereinander gleich ewig und gleich groß, so daß in allen, wie bereits vorhin gesagt, sowohl die Dreifaltigkeit in der Einheit verehrt werden muß, als auch die Einheit in der Dreifaltigkeit.
Wer mithin selig werden will, muß solcherart über die Dreifaltigkeit denken.«
Der Pastor holte tief Atem und legte das Buch weg, ganz rot nach der Anstrengung:
»Hier mögen wir aufhören, Mutter, und uns hinter die Grütze machen!«
Gleich darauf saßen alle vierzehn um den Tisch und verspeisten den Haferbrei mit Milch, – die Mutter hielt Kenneth Le Roy auf dem Schoß.
Peder fühlte sich geniert und bedrückt; er wußte nicht wohin mit sich. Rührte er sich, so kam er sich selbst in die Quere. Was sollte er nur mit all seinen Händen und Armen anstellen? Ihm war der Platz neben Else angewiesen worden, die am unteren Tischende die Oberaufsicht über den dort untergebrachten Teil der Schar führte. Schlimmer wurde alles noch dadurch, daß der Pastor ihn mit Fragen nicht zufrieden lassen wollte. Und etwas so Sonniges wie dieses Dirnlein! – Das Haar hing ihr in zwei dicken, goldenen Flechten über den Rücken herunter; das Gesichtel war von der gleichen Farbe, nur einen Ton heller; munteres Leben spielte auf ihm. Das Sonderbarste war jedoch der Arm – den mußte er sich besehen; denn der hatte ganz die Farbe des Bergahornholzes, bedeckt mit Goldflaum. Glücklicherweise hatte sie so viel mit den beiden Kleinen zu tun, die auf ihrer andern Seite saßen und von ihrem Teller mitfutterten, daß sie nicht Zeit bekam, Peder anzusehen.
Mehr als die Grütze gab es nicht; darum war man auch bald fertig. Das war gut wegen der Stadtreise – –!
Allein gleich nach dem Essen nahm ihn der Pastor wieder mit ins Amtszimmer.
»Dieses Buch sollst du mit heim nehmen. Den Abschnitt vom Wesen Gottes sieh dir eingehend in der nächsten Woche an; dann nehmen wir ihn uns am Sonnabend vor.«
Peder war ein Stapel Bücher auf der Erde aufgefallen, alle mit rotem Schnitt und gleich groß, in weichem Einband, mit einem breiten Gummiband darum. Er nahm das oberste auf und drehte es um. Das war also eine englische Bibel! Die war so klein, daß er unmöglich glauben konnte, daß sie alles das enthielt, was daheim in seiner eigenen großen stand, die er doch jüngst erst durchgelesen hatte.
Der Pastor bemerkte sein Erstaunen, lächelnd beobachtete er den Buben.
»Hast du keine?«
»Nein, eine solche nicht.«
»Hättest du gern eine?«
»Oh ja!«
»Ihr habt doch wohl eine Bibel im Haus?«
»Ja. – Aber keine englische.«
»Das ist verkehrt,« sagte der Pastor entschieden. »Du wirst später Gottes Wort auf englisch verkünden. – In zwanzig Jahren wird man in ganz Amerika kein norwegisches Wort mehr hören. – – Ja, so viel Lohn kann ich meinem Kutscher wohl gern bezahlen. Wart einen Augenblick, dann schreibe ich dir deinen Namen gleich hinein.« – Der Pastor setzte sich an den Tisch und fing an, sah dann aber auf und fragte:
»Hast du noch einen zweiten Vornamen?«
»Sieg.«
» Sieg? Das ist ja ein merkwürdiger Name. Aber hübsch ist er; zu schade, daß der auf englisch nicht geht.« Der Pastor stand auf und reichte ihm das Buch.
»Jetzt will ich dir etwas sagen: auf der Zusammenkunft morgen nachmittag sollst du das zwölfte Kapitel aus dem Buch des Predigers Salomo vorlesen; das sind die merkwürdigsten Worte, die je aus eines Menschen Mund gekommen sind. Dann halte ich die Bibelbesprechung über diesen Text. Lies dir's genau durch, damit du deine Sache gut machst.«
»Auf englisch?«
Peder zögerte noch.
Der Pastor sah ihn fragend an:
»Hast du keine Lust dazu?«
»Oh doch!«
Peder war puterrot geworden. Er murmelte sein Dankeschön und verschwand schleunigst.
Er verließ das Haus durch die Hintertür. Da kam Else mit einem Eimer am Arm hinter ihm aus der Küche, um Wasser vom Brunnen zu holen. Sie hatte viel zu beschicken und mußte sich beeilen. Sie kam so dicht hinter ihm her, daß er sich doch wirklich umdrehen mußte, – hätte geradezu sonderbar ausgesehen, wenn er es nicht getan hätte. Dies schien auch Else zu begreifen; sie lächelte ihm zu, als wolle sie sagen, das sei völlig all right, er solle sich nur nicht um sie kümmern, denn sie habe überaus viel zu tun! – – Peder war ein wenig im Zweifel, wie er sich bei diesem Lächeln zu verhalten habe; jetzt guckte sie ihn an, als wären sie Kameraden seit undenklichen Zeiten. Sollte er sich am Ende erbieten, ihr den Eimer Wasser zu holen? Annemarie daheim erwartete derlei stets von ihm. Er ermannte sich und faßte den Bügel.
»Laß mich das für dich tun!«
Aber Else ließ den Bügel nicht los. So hielten sie ihn beide, indes sie weitergingen, das Mädelchen lachend und mit schalkhaft blitzenden Augen. Fabelhaft, was dies Ding nur für Augen hatte! – – Das war aber überaus heikel; denn ließ er jetzt den Eimer los, dann sah es ja so aus, als habe er es mit dem Helfen nicht gar zu ernst gemeint. Er ruckte an dem Bügel und sagte nachdrücklicher:
» Ich werd ihn hineintragen!«
»So? Wirklich?«
Bei diesem Übermaß von Hänselei konnte er wahrhaftig nicht nachgeben! Und so schwenkten sie den Eimer bis zur Pumpe lustig zwischen sich hin und her. Hier aber mußten sie ihn wohl oder übel hinstellen. Die Köpfe näherten sich einander; der eine ihrer Zöpfe legte sich über seinen Arm; beide griffen gleichzeitig nach dem Pumpenschwengel; Peder kriegte ihn zuerst zu fassen, und da mußte sie versuchen, ihn wegzuschieben. Darüber mußte er lachen: er war ja doch bereits mitten im Pumpen! Er war jetzt sicher und fröhlich. Denn nun merkte er, daß er der Stärkere war, und getraute sich, sie anzusehen, ohne zu zwinkern, und eine Unterhaltung einzuleiten:
»Gefällt's euch bei uns im Westen?« wollte er wissen.
»Hier ist's so lustig!«
»Wie denn ›lustig‹?«
»Ja, hier ist so viel Platz zum Herumspringen!« Sie schaute über die Prärie und stützte dabei die Hände in die Seite, gerad wie eine Erwachsene.
»Oh freilich,« versicherte Peder mit Überzeugung, »hier draußen fehlt's wohl nicht an Platz!«
Der Eimer war voll. Peder trug ihn über die Hofreite und stellte ihn auf der Küchentreppe ab.
»Hab schönen Dank für die Hilfe!« sagte er mit tiefer, dunkler Stimme; ein kluckerndes Lachen saß darin, wie wenn jemand eine Freude empfindet, die er nicht recht bändigen kann.
»Oh, du –!«
»Ja?« Er schaute sie an, unschuldsvoll, schelmisch.
»Aus dir wird gewiß ein sonderbarer Pastor!«
» Pastor?«
»Vater sagt, du sollst einer werden. Da mußt du lernen, recht brav zu sein!«
»Hö hö,« nickte Peder. »Sollt mir nicht schwer fallen!«
Damit machte er kehrt und stolzierte zum Wagen. Eigentlich hätte er laufen müssen, aber das ziemte sich nicht für einen erwachsenen Kerl, – wenn vornehme Leut zuguckten!
Die Sonne hatte soeben ihr Auge geschlossen. Es fühlte sich hinterher so seltsam an; es wurde hier so still; die Landschaft hob sich empor, wie um zu lauschen. Eine Wiesenlerche erwachte, reckte den Hals lang und schlug ein paar Triller. Dann aber fand sie ihren Liebsten, und sie setzten sich beide zusammen, um sich eine Weile zu freuen; ehe sie es sich aber versahen, umgaukelte sie der Dämmerungstraum, und da vergaßen sie das Tirilieren.
Der Abend verdichtete sich unmerklich. Zwischen den blauen Fernen flimmerten weiche Farben. Töne waren ihnen nicht gegeben. Dennoch lockten sie seltsam. – – Alles nur Traum, in dem seltsame Märchen lebten. – – Jeder Laut verstummte. Die Prärie wurde leichter, undichter. Hatte zuletzt keine Schwere mehr. Lag nur und dehnte sich in blauschwarzem, undurchdringlichem Dämmerlicht. Wurde zu etwas Unwirklichem und schien dennoch mehr Macht zu entfalten, als in der Sonnenflut der Mittagshöhe. – – Lichter erwachten da und dort. Aber noch war keine Bewegung in ihnen. Nichts als hindämmerndes Glimmen.
Ein Wagen klapperte schwer und versonnen durch den Abenddunst. Peder lag auf der Bretterfuhre. Er hatte einen Packen aufgestellt und einen Heusack als Rückenstütze dagegen gelehnt. Ein gewaltiges Fuder, das er da aufgeladen hatte; er ließ den Pferden so viel Zeit, die Last weiterzuziehen, wie sie sich nur wünschten.
Übrigens hatte er auch selber nicht Eile. Bei der Ausfahrt hatte er versucht, das Wagengerassel mit Gesang zu übertönen, und das war ihm auch gut gelungen. Seine Stimme klang kräftig, wenn er sie richtig gebrauchte. Augenblicklich ließ er die Gedanken nur schweifen, träumte allerhand wunderliches Zeug, grad so viel, daß er nicht einschlief. – – Die abendliche Stille rundum fühlte sich an wie lauwarmes Wasser. – – Das Hemd hatte er über der Brust aufgeknöpft und die Ärmel weit über die Ellbogen aufgekrempelt. Ja sogar den Hosengurt hatte er aufgeschnallt, – diese laue Luft, wie tat sie doch wohl, diese weiche Seide, wenn sie sich um den Körper schmiegte.
Er guckte in die Luft. Der Abenddunst senkte sich tiefer und geheimnisvoller, je weiter es in ihn hineinging. Der zog ihn hinter sich her und wich ständig zurück, war lebendig nah am Körper zu spüren; und ließ sich doch nicht fassen. – – Ganz wie Gottes Wesen. – Sonderbar das von Gottes Wesen! Gott war nur Geist und hielt sich überall auf, dann saß er doch wohl auch in dem Dunst? Denn er wohnte im Sonnenschein und im Regen, im Sturm und im guten Wetter. Blumen und Gras atmeten von seiner Herrlichkeit, hatte der Pastor heute gesagt. – –
Er setzte sich auf und horchte. Ein Hund hatte gekläfft. War das weit weg gewesen? Der Laut hatte schläfrig geklungen und war bald verschollen.
Die Gedanken hoben sich und begannen wieder zu schweifen:
Auf Dohenys Heuboden, da war heut abend Tanz. Susie, sagten sie, tanze gut. Charley auch! – – Peder zog den Pferden eins über. Die durften sich jetzt einmal ein kleins bissel beeilen! – – Die Mutter sagte, der Tanz sei für das Jungvolk die gefährlichste Falle des Teufels. Ja, das sagte sie. Aber er kannte mehrere, die tanzten. Charley zum Beispiel. Und Charley war ein mordstüchtiger Kerl, – in mancher Hinsicht ihm sogar überlegen. Mut war in dem Gesellen, und Zug! Nichts, was der nicht gewagt hätte anzupacken. Peder hieb auf die Pferde ein. Eine Weile trabten sie schnell dahin.
– – Wenn nun Gott nur Geist war und allerorten zugegen, dann kam er doch wohl auch heut abend auf den Heuboden? Konnte es also gar so verkehrt sein, wenn auch er dort war? – – Was wußte denn die Mutter von Freude, sie, die es niemals wagte, sich zu freuen? – – Vielleicht war das immer so mit den alten Leuten – was sie nicht selber erprobt hatten, davor fürchteten sie sich? Leicht, sich mit der Sünde herauszureden, wenn sie sich im Grund bloß fürchteten! – – Pastor? Er und Pastor! – Obwohl – –. Peder richtete sich auf, stellte sich auf die Fuhre und lachte still dem Gedanken zu, den er vor sich sah: mußte doch fein sein, unter den Menschen herumzugehen und ihnen Vergebung der Sünden zu erteilen! ›Die gnädige Vergebung all deiner Sünden‹, – und das dann auch so zu sagen, daß die Menschen es auch wirklich glaubten und aufstanden und fröhlich und guter Dinge waren! – – Aber sie glaubten ja doch nicht daran! Niemals machten sie ernstere Gesichter, als wenn sie sich vom Altar zur Gemeinde wandten.
Er schaute sich im Abenddunst um; die Lichter waren jetzt mehr ins Glitzern gekommen. Da drüben lag der Pfarrhof. Plötzlich lachte Peder laut auf: ho, er glaubte zu wissen, wo die wohnte, die Pfarrersfrau werden sollte!
– – »Und jetzt regt einmal die Beine, ihr stinkfaulen Rösser!« Er ließ die Peitsche auf die Pferde fallen, aber nicht ärger, als daß sie sich ein paarmal freundlich mit dem Schweif bewedelten und darauf in derselben bedächtigen Weise weiterstampften.
Der Tag war versunken, als er daheim in die Hofreite einfuhr. Er spannte aus, tränkte die Pferde und brachte sie in den Stall. Er beeilte sich, denn er mußte doch geschwind einmal hin und sehen, wie weit sie heut nachmittag mit der Arbeit am neuen Kuhstall gediehen waren. Das Sparrengerüst reckte sich durchs Dunkel in die Luft. Hoch oben verschwand es. Hier ein spreizender Arm, dort ein anderer. Alles stumm und geheimnisvoll, gerade wie etwas Lebendiges, das sich zurückzog, weil es nicht gestört werden wollte. – – Montag würde das Dachdecken beginnen – da sollte es ein lustiges Leben geben auf dem Hof!
Bald darauf saß er am Küchentisch beim Essen. Die Mutter machte sich beim Herd zu schaffen und hing Kleidungsstücke über einen Stuhlrücken. Hemden, die zu morgen noch gebügelt werden mußten. Die Tür zur Wohnstube stand offen; dort war noch nicht Licht gemacht. Die Schwester spielte im Dunkeln auf dem Harmonium – eine weiche, traurige Melodie. Die Brüder schienen nicht daheim zu sein. Er mochte die Mutter nicht danach fragen; er wußte nur zu gut, wie ungern sie dieses Gerenn am Samstagabend sah. Sie war wortkarg, merkte er. – – Bei Dohenys war heut abend Tanz! – – Die Mutter war jetzt beim Herd fertig, kam und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
»Hast du die Fuhre heimgeholt?«
»Das hab ich!« Peder aß und fand kein Aufhören, wurde hungriger mit jedem Bissen. Schlaftrunkene Schlappheit lag in allen seinen Sinnen.
»Hast du auch Geld genug für sie mitgehabt?«
»Ja.« Peder faßte in die Tasche und legte einen Beutel auf den Tisch vor sie hin.
Sie nahm ihn, zählte nach, was darin war, behielt ihn in der Hand.
»Ich sehe, der Pastor hat dir heut etwas geschenkt.«
Peder wachte auf, er guckte die Mutter an und begann aufzumerken. Was kam jetzt? Ihr Gesicht war beschwert von vielen Kümmernissen.
»Ich will dir eins sagen, der Gabrielsen, der ist ein netter Mann!« versicherte Peder.
Die Mutter schwieg eine Weile. Als sie antwortete, bebte Grimm in der Stimme:
»Ich meine nur so viel, wenn er dir hat eine Bibel schenken wollen, hätt er dazu eine norwegische nehmen dürfen. Er, der ein gelehrter Mann ist, sollt besseren Witz haben!«
»Ach du!« Peder riß eine Scheibe Brot her und streckte die Hand nach der Butter aus.
»Dazu brauchst du nicht ›ach du‹ zu sagen! Es ist schon ohnehin arg genug, so daß nicht der Pastor noch nachzuhelfen braucht.«
»Ist es so verkehrt, in der Bibel zu lesen?« Peders Stimme klang scharf, die Augen starrten die Mutter schmal und glitzernd an.
»Du weißt, das mein ich nicht!« antwortete sie streng.
Peder fühlte ein paar Worte auf der Zunge brennen, aber die Mutter fuhr bereits fort:
»Bald gibt's hier nichts anderes mehr als Englisch! Auf englisch geht es draußen, auf englisch geht es drinnen. Die Sprache, in der wir von Arilds Zeiten an miteinander gesprochen haben, die werfen wir von uns wie einen alten Rock. – Und jetzt kommt auch noch der Pastor daher und sagt dazu sein Amen! Das ist lästerlich Tun!« Sie stieß den Geldbeutel auf den Tisch, um den Worten mehr Nachdruck zu leihen.
Peder sah geschwind auf, und er sah ihren Grimm. Aber sie sollte sich nicht einbilden, daß er vor solchen Ungereimtheiten klein beigab! In seine Worte kam ein Ton, der ihm selber nicht sehr gefiel – aber er ließ sich nicht Zeit, sich zu bedenken:
»Du bist lächerlich, das muß ich schon sagen!« Er lachte sogar ein wenig, hörte er selber.
» Was sagst du, Permann?« – Sie beugte sich weit über den Tisch vor.
»Ich sag, du bist närrisch!« rief er, denn mit irgend was mußte er um sich schlagen.
Die Mutter antwortete nicht, erhob sich geschwind und ging zum Herd. Dort blieb sie im Halblicht stehen. Auf dem Wandbrett überm Herd stand ein Bügeleisen; das stellte sie jetzt auf die Herdplatte und legte nach, nahm darauf die Hemden vor und glättete die Halseinfassung mit der Hand, legte jedes Stück zusammen und tat alles auf den Stuhl.
Peder wartete. Er war überzeugt, daß sie noch mehr zu sagen habe. Und er wollte ihr schon antworten.
Aber sie verharrte im Schweigen. Sie holte das Bügelbrett hervor und stellte es auf. Darauf ging sie in die Kammer; die Tür zog sie hinter sich zu.
Jetzt stand Peder auf und nahm seine Mütze – die Pferde waren zur Nacht noch nicht fertig besorgt. Ehe er hinausging, machte er noch einen Abstecher zur Schwester hinein; sie spielte noch immer, jetzt aber gedämpfter.
»Wo sind die Buben hin?«
»Ich weiß nicht.«
»Haben sie der Mutter nichts gesagt?«
»Das glaub ich kaum.« Die Schwester kam ah den Schluß des Liedes, ließ es in ein paar Akkorden ausklingen und leitete zu einer neuen Melodie über: ›Nun ruhen alle Wälder‹ …
»Hat die Mutter das Bügeleisen übers Feuer gestellt?« fragte die Schwester mitten im Spielen.
Aber da stand Peder bereits im Vorraum. Er atmete tief, lauschte. Die Nacht umfing ihn warm und zärtlich. Von der Landstraße her ließ sich das Rattern eines Wagens vernehmen. Da kam noch einer an. Jetzt fuhren sie um die Wette! Ein Juchzen erklang. Darauf schallendes Gelächter. Dann Stille. – – Bei Doheny tanzten sie heut nacht. Nichts als Jugend und Frohsinn. Allerlei Kurzweil gab es dort. – Und an einem solchen Schönwetterabend saß die Schwester daheim und pumpte Choralweisen aus einem alten, heiseren Harmonium heraus! Er selber durfte sich nicht rühren, damit nicht gar zu viel Englisch daraus werde, – ja, weiß der Himmel, war die Welt lächerlich! – – Peder ließ sich gute Zeit beim Besorgen der Pferde. Als er fertig war, ging er zum Windmotor und setzte sich.
Es wurde in dieser Nacht für Beret nicht viel mit dem Schlaf; aber das war sie schon gewohnt.
Sonst hatte sie sich Rat gewußt gegen die Schlaflosigkeit; es half ihr schon, wenn sie sich rechtzeitig besann, ehe noch die Gedanken allzu unruhig wurden. Sie pflegte dann aufzustehen und Licht zu machen; die Bibel lag immer neben ihr auf dem Nachttisch; in die vertiefte sie sich, bis der Sinn sich in wohltuende Schlaftrunkenheit hüllte. Konnte sie dann, bis sie wieder ins Bett kam, die Gedanken um das Wort Gottes gesammelt halten, dann schlief sie gewöhnlich sogleich ein. Es gab jedoch Tage, an denen sie nur halbwach herumging und nicht wußte, kämpfte sie mit dem Traum oder mit der Wirklichkeit.
Groß und geräumig war es in Berets Kammer. In jenem Herbst, da der Per Hansen sein Haus gebaut, hatte er oft gescherzt, daß dies Gemach ihr Altsitzerstüblein sein werde, wenn der Permann sich erst verheiratet und den übrigen Teil des Hauses mit Kleinzeug bevölkert habe. – – Wer weiß, vielleicht hatte er damit etwas im Sinn gehabt? Eines war jedenfalls sicher: in dieser Kammer war er ihr gegenwärtiger als an jeder anderen Stelle der Farm. Zuweilen konnte sie ihn hierdrin geradezu reden hören. – – Das Bett nahm die eine Ecke ein; eine kleine Kommode – auf der stets eine weiße Decke lag – stand gleich neben der Tür; und neben dem Bett stand der Tisch, den sie schon benutzt hatten, als sie noch in der Rasenhütte wohnten, – auch der mit weißer Decke. Die Tochter haderte oft mit ihr um dieses Tisches willen: hätten sie es etwa nötig, solch Gerumpel im Haus aufzubewahren? Das nehme sich aus, als solle es ihnen nie beschieden sein, nach Art hablicher Leut zu leben! – Der Tisch war übrigens wirklich kein Staatsmöbel; der Per Hansen hatte ihn aus einem alten selbstgezimmerten Wagen, den sie auf der Wanderung hier heraus mitgeführt, zusammengenagelt; seine Platte war so locker gefügt, daß man die Finger durch die Ritzen stecken konnte, – der Per Hansen hatte damals am Material sparen müssen! – – Nun, während ihrer Lebenstage tat der Tisch seinen Dienst, späterhin mochten sie's mit ihm und dem übrigen halten, wie sie es wollten.
In der Ecke gegenüber dem Bett fraß ein Ungeheuer von einer Auswandererlade allen Platz. Auch auf die hatte die Tochter ein böses Auge geworfen, obgleich die doch die solide Verläßlichkeit selber war – groß und sonderlich sauber geschreinert, mit mächtigen massiven Eisenbeschlägen ringsum; doch der Zahn der Zeit hatte auch sie nicht verschmäht, der Anstrich war so gut wie abgewetzt; auf der Vorderseite könnt einer gerad noch Spuren einer Jahreszahl entdecken: Anno ..16. – – –
Beret steckte die Lampe an, als sie in die Kammer kam, trat zur Lade, hob den Deckel auf und setzte sich auf den Rand; so blieb sie eine Weile sitzen, als habe sie vergessen, was sie ursprünglich vorgehabt. Das Antlitz war von vielen Gedanken beschwert.
Der Lade entnahm sie eine Zierschachtel mit rundem Deckel. Sie war schwarz bemalt und mit gelben Figuren aus Strohhalmen beklebt – auf dem Deckel ein Haus, das eine Kirche vorstellte, mit einer ganzen Gemeinde auf dem Kirchgang dorthin; um die Ränder wand sich ein Kranz. Diese Schachtel hatte Vater ihr am Einsegnungstage geschenkt, auf daß sie sich des Gelübdes erinnere, das sie heute dem Herrgott gegeben. Sein Vater hatte sie eines Frühjahrs aus Finnmarken heimgebracht, als er mit auf die Fischerei an der Russenküste gefahren war. – Jetzt benutzte sie Beret als Geldschrein; auf die Banken hierzulande verstand sie sich nicht; wurde etwas verkauft und Geld heimgebracht, dann hob sie es in dieser Schachtel auf. Diesen Sommer, als sie den Bau des neuen Stalles begannen, hatte sie runde viertausend Dollar in ihr liegen gehabt.
Sie öffnete die Schachtel und nahm einen Zwanzigdollarschein heraus. Der war für die nächste Stadtfahrt; sie bezahlte für jede gekaufte Fuhre in bar, dann stand sie nicht bei irgendwem in den Büchern. – – Beret legte die Schachtel in die Lade zurück und schloß den Deckel, stand mit dem Geldschein in der Hand – richtig, dort lag ja der Geldbeutel! Sie tat den Schein hinein und lehnte sich gegen die Kommode. War der Permann nicht vorhin hinausgegangen? Dann hatte er sich also nicht Zeit genug für die Pferde gelassen, ehe er hereingekommen war?
Sie sah ›das Buch‹ ›das Buch‹ auch bei deutschen Bauern = die Bibel. an seinem gewohnten Platz auf dem alten Tisch neben dem Bett, nahm es, zog sich den Stuhl heran und setzte sich nieder, um zu lesen. Sowohl um höheren Frieden zu finden, als auch, um Gott zu gefallen, hatte sie sich das Ziel gesetzt, das Neue Testament auswendig zu lernen, und sie war bereits weit in das Johannesevangelium hineingekommen. – Aber heut abend wollten die Gedanken nicht recht an den heiligen Worten haften. Ab und zu sah sie auf, horchte, während sie versuchte, den Vers zu wiederholen. Sie hörte, wie Annemarie mit dem Bügeln fertig wurde, nach oben ging und sich zu Bett legte. – – Nicht viel Sorge mit ihr! – – Jetzt kam Peder herein; er blieb eine Weile in der Küche. Sie erhob sich halb vom Stuhl, – – nein, lieber auf ein andermal lassen! – – Sie hörte, wie er nach oben ging, – er trat heut abend so schwer in die Stufen, ein leises Lächeln lief über ihre Wangen. – – Oben wurde es still; nur bisweilen das Geräusch eines Fußes, der über den Fußboden scharrte; er ging heut abend noch nicht gleich zu Bett. – – Die Ursach war gewiß das Geschenk vom Pastor, das so prächtig war, – überaus gut Freund miteinander waren die beiden geworden! – – Ein bittrer Zug kam in ihr trauriges Gesicht:
Gottes Wort war also nicht mehr gut genug auf norwegisch. – – Oh nein, sie hatte es schon längst gemerkt, daß, wenn es hier vorwärtsgehen sollte, alles, was sie aus Norwegen mit hergebracht hatten, zu Grabe getragen werden mußte. – Wenn aber nun gar nichts anderes blieb als nur der Leib? Was für Geschöpfe wurden dann wohl aus ihnen? – – Daß ein studierter Mann auch nicht besseren Witz haben sollte! Und dabei wußte der Pastor, daß der Permann des Norwegischen durchaus mächtig war. Jetzt jedoch hatte er den Buben in seinem Verhalten bestärkt, so daß der ihr ins Gesicht schleudern konnte, sie sei närrisch! – – Ihre Züge beschwerten sich mit Kummer. – – Kaum abzuleugnen, daß auch andere im Hause Gleiches dachten, – es fielen bisweilen merkwürdige Äußerungen!
– – Wo steckten die bloß wieder heut abend? – – Das Buch sank auf den Schoß herab. Die Muskeln lockerten sich, nachdem sie so lange gespannt gewesen. – – Der Große-Hans, ja, der war jetzt bei der Sofie – – Gott gebe den beiden Verstand genug, daß sie sich davor hüteten, einander vor der Zeit zu nahe zu kommen! – – Ein lichter, freundlicher Schleier legte sich über die Wehmut in ihrem Gesicht. – – Er begann zwar frühzeitig, der Hansemann, – nun ja, er schlug halt nicht aus der Art.
Beret rückte auf dem Stuhl hin und her, sammelte ihre Gedanken und zwang sich dazu, bei dem Bibelabschnitt zu bleiben:
Jesus aber ging an den Ölberg.
Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte dar
und sprachen zu ihm: Meister, dies Weib ist ergriffen auf frischer Tat im Ehebruch.
Moses aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; was sagst du?
Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf daß sie eine Sache wider ihn hätten. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde. Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus (von ihrem Gewissen überführt), einer nach dem andern, von den Ältesten an bis zu den Geringsten; und Jesus ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend. Jesus aber
richtete sich auf; und da er niemand sah denn das Weib, sprach er zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt?
Sie aber sprach: Herr, niemand. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!
Aus dieser Geschichte hatte Beret schon so oft Trost geschöpft, daß sie sie bereits auswendig wußte. Dennoch wollte sie sich die Verse wiederholen, sowohl um sie in ihrem Gedächtnis mit denen zu verknüpfen, die hinterher folgten, als auch weil des Herren Wort aus ihnen so lebenspendend milde klang. – – Das Buch sank ihr wieder in den Schoß; viele Erinnerungen drängten sich vor – oh ja, fürwahr! – – –
Nach Mitternacht bog ein Buggy auf den Hof ein. Die Buben kamen leise ins Haus; sie hörte sie kaum. Sie lächelte vor sich hin – ja, heut abend hatten sie sich sogar draußen die Stiefel ausgezogen! – – Oben wurde es sogleich still.
Schließlich fühlte sie die Schläfrigkeit kommen; sie stand auf und legte das Buch weg, nahm die Lampe und ging in die Küche; hier ließ sie diese brennend auf dem Tisch stehen, während sie ihre gewohnte Runde durch Pferdestall und Kuhstall machte, um nachzusehen, ob auch kein Vieh schlecht daran war. Als sie dann wieder ins Haus kam, zog sie sich die Schuhe in der Küche aus. Einer Schachtel auf dem Wandbrett über dem Herd entnahm sie ein Stümpfchen Licht, steckte es an, ging darauf zur Bodentreppe, blieb stehen und horchte einen Augenblick, stieg leise hinauf und trat in Peders Kammer. Der Bub schlief, das Gesicht ihr zugekehrt. – – Lächelte er nicht sogar? Sie blendete mit der Hand das Licht ab und näherte sich dem Bett. – – Gottlob, jetzt war's ihm wohl zumute, er mußte sich in guter Stimmung gelegt haben! – Erleichtert trat sie an den Tisch und besah, was darauf lag – – da war auch die neue Bibel! – – Hatte er heut abend darin gelesen? – – In der, die sie ihm vor zwei Jahren geschenkt, in der hatte er nicht nachgeschlagen – nein nein, die hier war freilich ansehnlicher! Sie tauschte die Bücher um und lächelte. Als sie aber die norwegische dorthin legen wollte, wo die andere zuvor gelegen hatte, fiel ihr ein mit Bleistift beschriebener Zettel auf. – – Was war denn jetzt das? Über die ganze Seite hin immer dasselbe Wort? ›Else‹ stand da überall. Zu allerunterst aber und in schöner, großer Frakturschrift: ›Die gnädige Vergebung all deiner Sünden!‹ – »Kannst du mir sagen, womit der heut abend herumgefaselt hat?«
Sie ging leise die Treppe hinab und in ihre Kammer und legte sich zu Bett.
Aber jetzt war sie wieder völlig wach geworden. – – »Wo, meinst du, hat das Knäblein sich wohl diesen Namen hergeholt?« –
Die Leute wunderten sich und redeten über den neuen Pastor.
Als Tönset'n ihn am ersten Sonntag seiner Amtstätigkeit mit seinem gesamten Hausstand hatte aufmarschieren sehen, da hatte er ein Wörtlein darüber fallen lassen, daß sie, wenn sie etwa diese ganze Wolfsbrut mitzufüttern verpflichtet seien, bald auf die Armenkasse kämen, – ein Pastor sei es gewesen, den sie herberufen hätten, und nicht eine ganze Gemeinde! Die Diakone hätten das gefälligst vorher untersuchen sollen!
Dank der vielen Absonderlichkeiten, auf die der Pastor verfiel, wollte das Gerede auch nicht zur Ruhe kommen. Einer seiner ersten Einfälle war der Vorschlag gewesen, die Gemeinde Bethel möge sich doch mit St. Lucas zusammenschließen. – Ja, warum sollte denn das nicht gehen? wollte er wissen und hielt dazu seinen Bart umfaßt. Dasselbe Volk, derselbe Glauben, nicht wahr? Hier ständen die beiden Kirchen und täten sich gegenseitig Narren schelten. Warum denn nicht die Bethelkirche für den Konfirmandenunterricht einrichten? Wer hatte denn diese Sache bloß so gänzlich verfahren, wie? Glaubten sie, Gott sehe mit Wohlgefallen auf zwei Kirchen innerhalb derselben Bewohnerschaft?
Die Männer hatten ihm zugehört; sie hatten gelacht und die Achseln gezuckt. – – Bald ging das Gerücht, daß er Nils Nilsen in der Angelegenheit aufgesucht hätte, sowie mehrere der anderen ›Rebellen‹; niemand wußte, was er zur Antwort bekommen; aber er hatte jetzt doch schon seit einiger Zeit der Sache nicht mehr Erwähnung getan.
Das Gerede der Leute beschäftigte sich dauernd mit ihm. Ohne sich vorerst mit den Diakonen oder den Trustees zu beraten, hatte er den Sühne-Kirchgang für Mütter abgeschafft. Das sei ein Überbleibsel aus uralter Zeit, hatte er erklärt, als Barbarei anzusehen! Die Frau, die ihr Leben gewagt habe, um ein neues zur Welt zu bringen, die sollte man nicht abstrafen damit, daß man sie in den Prangerstuhl Nach altkirchlichem Brauch durfte eine Ehefrau, die Mutter geworden war, nicht eher wieder am allgemeinen Gottesdienst teilnehmen, als bis sie vom Geistlichen in öffentlicher Handlung »gereinigt« worden war ›von der Sünde‹ des Kinder-Gebärens! setze, – hätten sie nicht selber soviel Einsicht? Er verbreitete sich über dieses Thema so erbaulich vor der Gemeinde, daß die Leute ihn mit offnem Munde anstarrten. Keiner fand ein Wort der Widerrede.
– – Konnte dieser Mann denn auch wirklich rechtgläubig sein? Er verfiel auf so mancherlei Seltsamkeit. – Nun gut, sie wollten halt abwarten! – – Ein netter, umgänglicher Mann im übrigen.
Pastor Gabrielsen war noch nicht viele Wochen bei St. Lucas, als er damit anfing, Bibelstunden für die Jugend einzurichten. Diese Zusammenkünfte veranstaltete er in den verschiedenen Familien, damit die Leute, wie er erklärte, sich nicht bedrückt fühlten. Für die beiden ersten Male hatte er die Jugend auf den Pfarrhof geladen und hinzugesetzt, wenn jemand von den Älteren Lust hätte zuzuhören, so sei er herzlich willkommen.
Die Leute kamen in Scharen. Beim zweitenmal war fast die ganze Gemeinde versammelt. Trotz der übergroßen Zahl der Gäste hatte die Pastorsfrau die ganze Versammlung mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Unfaßlich, wie sie das fertig gebracht, meinten die Leute. – Als der ernste Teil des Abends vorüber war, hatten die Mannsleut verstohlen die Kurzpfeifen hervorgeholt und angesteckt, und große Behaglichkeit und gemütlicher Schwatz hatten das Zusammensein beschlossen. Die Leute hatten sich nur ungern auf den Heimweg gemacht.
Als aber der Pastor auch für das dritte Meeting den Pfarrhof als Ort der Zusammenkunft ankündigte, weil nämlich niemand anders sich erboten hatte, da war Tönset'n aufgestanden und hatte gemeint, das gehe doch nicht gut an; das nächste Mal müßten sie mit seiner Farm vorliebnehmen; und zum übernächsten Mal sollte wieder ein anderer einladen. Das komme auf die Dauer auch billiger zu stehen! setzte Tönset'n hinzu. – Und Pastor Gabrielsen nahm das keineswegs übel auf; er nickte: gewiß, danke schön! und setzte hinzu, hier gäbe es nicht gerade einen solchen Überfluß an Behaglichkeit, daß sie nicht zusammenkommen und gegenseitig ihren Kaffee probieren könnten. Wie? Meinten sie nicht auch? – Der Pastor strahlte Tönset'n an.
Diese Bibelstunden hielt er auf englisch. Mehrere der älteren Leute schüttelten darüber den Kopf; sie setzten ihm auseinander, daß die Leute hier Norwegisch ausreichend verstünden, – was sollte das also? Da schmunzelte er wie einer, der eine Sache völlig durchschaut und weiß, daß er sich Zeit lassen muß mit den braven Leuten, die noch als Kinder zu rechnen sind: er halte die Bibelstunden keineswegs für die Älteren! Und die Jüngeren brauchten das Englische; die Jugend werde ihren Glauben in der Landessprache verteidigen müssen in zwanzig Jahren werde man in ganz Amerika nicht ein einziges norwegisches Wort mehr zu hören bekommen! – Diese Prophezeiung hakte sich fest und blieb sitzen. Als die Sprachenfrage fünfundzwanzig Jahre später die Gemeinde fast an den Rand des Abgrundes brachte, tauchte sie wieder auf und wurde zum Schlagwort.
Beret hatte an den beiden ersten Bibelstunden teilgenommen; dann blieb sie weg. Zuversichtlich war sie zur Quelle gekommen, hatte um Letzung gebeten, und dann hatte sie nichts anderes bekommen als lauwarme Tropfen.
Hinterher schwieg sie in bitteren Gedanken und grübelte nach. Sollte es ihnen wirklich so ergehen, wie der Pastor geweissagt hatte? – – Konnten norwegische Herzen zu so fremden Lauten schlagen? Bedeutete das nicht den Tod? – Nein, sie begriff nichts mehr. – – Konnte die Wiesenlerche das Zirpen des Sperlings annehmen und doch weiter Lerche bleiben? Und die Kuh vergessen, daß sie Kuh war, und anfangen zu grunzen? Die Pferde weideten unten in der Pasture Pasture = Weide. zusammen mit den Kühen, es waren ihrer wenige unter den vielen, aber die Pferde verfielen darum doch nicht darauf, zu brüllen wie die Rinder! – – Berets Gedanken beschäftigten sich unablässig mit dem Problem! – – Diesen Frühling hatte sie sich ein paar Enteneier kommen lassen und unter eine Glucke gelegt. Als es soweit war, schlüpften sowohl Kücken wie Entlein aus. Anfänglich hatte sie keinen gar so großen Unterschied gesehen. Aber mit jedem Tage wurden die Entlein mehr zu Enten, obwohl sie doch das gleiche Futter fraßen! Beret hatte es genau beobachtet und ihren Trost darin gefunden. Da konnten jene ja selber sehen! – – Gott sei Preis und Dank, daß es so war. – – Und jetzt kam der Pastor und behauptete, das habe alles nichts zu bedeuten. In zwanzig Jahren, hatte er gesagt! – –
Heute sollte die Zusammenkunft bei Gjermund Dahl stattfinden. Beret wollte gern, daß Gjermund morgen beim Dachdecken helfe. Wo der die Arbeit überwachte, da wurde sie ordentlich durchgeführt. Daher machte sie sich fertig und begleitete die Kinder.
Sie brachen erst in der letzten Minute auf, und das war Peders Schuld. Als sie fahren wollten und nach ihm riefen, war er noch nicht fertig gewesen, obwohl er fast den ganzen Tag oben in seiner Kammer zugebracht hatte. Die Brüder waren mißgestimmt deswegen und hielten damit auch durchaus nicht zurück, als er endlich zum Vorschein kam. Außerdem mußte auch noch die Schwester ihn aufziehen.
Peder kletterte auf den Wagen und ersuchte Annemarie, gefälligst den Schnabel zu halten; er sagte es so, daß jeder, der wollte, es auf sich beziehen mochte.
Er hatte nicht damit gerechnet, daß die Mutter mitkommen werde, und ihr nichts davon erzählt, daß er heute vorlesen sollte. Jetzt wußte er nicht recht, was tun; das Buch steckte unterm Arm innerhalb der Jacke, so daß niemand es sah.
Bei Dahls waren alle Zimmer bereits gedrängt voll, und mehr Gäste kamen noch dazu. Mrs. Dahl bewillkommnete Beret und ihre Tochter und bemühte sich selber darum, ihnen Plätze zu beschaffen. In einem Winkel der Küche tuschelte eine Schar von Mädeln, und hier blieb Annemarie hängen; Beret mußte bis in die Schlafkammer hinein, ehe sich ein Sitzplatz für sie fand.
Die Buben jedoch ließen sich im Vorraum nieder. Hier saß alles dichtgedrängt, Männer und Burschen; gedämpftes, gemütliches Schwatzen; der offizielle Teil hatte noch nicht begonnen.
Peder stellte sich neben die Tür. Er hätte sich lieber gesetzt, fand, er könne nicht stehenbleiben, weil alle ihn anstarrten. Warum stand er allein, obgleich alle andern saßen? Da warf auch der Große-Hans ihm Blicke zu! – – Ob er nicht lieber hineinging? Vielleicht suchte ihn auch der Pastor? – Drinnen war aber kein Platz. – Peder schwitzte Angst. Verstohlen mußte er unter die Jacke fassen, ob auch das Buch noch da war. – – So! Da räusperte sich Ole; Peder hörte gut, daß es ihm galt. – – Aber jetzt stand der Pastor in der Tür; er nickte Peder zu, und damit war alles in schönster Ordnung.
Die Versammlung wurde gleich darauf eröffnet. Der Pastor gab einen norwegischen Choralvers an, den er als allgemein bekannt voraussetzen konnte. Den sangen sie zur Einleitung. Darauf erhob er sich wieder und teilte ihnen mit, welchen Text er sich für heute ausgesucht, und fügte hinzu, daß er einen seiner Konfirmanden gebeten habe, das Kapitel vorzutragen. In diesen Knaben habe Gott ungewöhnlich gute Gaben gelegt; er wolle es vor der Jugend erwähnen, daß dieser junge Mann Theologie studieren und ein Diener des Herrn werden müsse. Die ganze Gemeinde solle dazu behilflich sein, indem sie ihn ermuntere – diejenigen, die dazu die Gabe hätten; diejenigen aber, denen die Gabe des Gebetes verliehen wäre, durch Gebet. Das Jungvolk jedoch solle in seinem Umgang mit diesem jungen Menschen behutsam verfahren! Denn es sei so seltsam damit: was dem Herrn geheiligt sei, das werde am leichtesten zuschanden – bisweilen. Sicher aber werde es in Gottes Augen Wohlgefallen finden, wenn die St.-Lucas-Gemeinde einst einen Apostel werde aussenden können! – – Kurz: der Pastor hielt förmlich eine besondere kleine Rede. Die Leute streckten sich vor und gafften: wen meinte der Pastor jetzt wohl?
Peder fühlte sich befangen und verwirrt, als er zum Vorlesen in die vollgepfropfte Wohnstube trat. Wo saß Mutter? – – Er hätte ihr gewiß vorher davon sagen müssen? – So peinlich, was der Pastor da soeben alles geredet hatte.
Er zog die Bibel heraus und begann. Die Stimme schwang in leiser Erregung, klang anmutig in ihrem jugendlichen Ernst. Er verstand den Inhalt, der Pastor hatte ihn einmal im Unterricht besprochen, und Peder wußte das ganze Kapitel auswendig. Trotzdem sah er ins Buch; er ließ sich gut Zeit, um es hübsch und deutlich vorzubringen; denn diese Schilderung war akkurat wie die Weise des Tambour-Ola – sie wurde um so schöner, je mehr Sorgfalt er dareinlegte. – Die Leute hörten zu, verwundert und mit großen Augen. Daß dieser Bube von der Beret Holm Gottes Wort auch gar so erbaulich vorzutragen verstand!
Beret saß mit Kjersti zusammen auf dem Bett. – Nein, was ging denn da bloß vor sich? – Als sie begriff, wem die Worte des Pastors galten, hatte sie aufstehen wollen, um zu widersprechen – keineswegs sollte der Permann hier in ihrer Gegenwart Gottes Wort auf englisch vorlesen! – – Aber da war er schon mitten darin. – – Jetzt ängstigt er sich, dachte sie; das höre ich seiner Stimme an. Gott gebe, daß es gut abläuft! Er hat sich doch wohl auch Zeit genommen, die Aufgabe ordentlich anzusehen? Sie zitterte und wagte kaum, Atem zu holen, bevor er am Ende war.
Von dem, was danach vor sich ging, merkte sie wenig, bis zum Schluß. Da aber stand die Kammer plötzlich voller Leute, die durchaus mit ihr reden mußten. Einige gaben ihr die Hand und meinten, wie froh sie doch sein müsse, daß sie einen solchen Sohn habe! »Ja,« ließ sich Kjersti vernehmen – und auch ein paar Tränlein vergoß sie – »hätte jetzt der Per Hansen gelebt, der hätte sich wohl gefreut! Obwohl es eigentlich von der ersten Stunde an offenbar gewesen ist, daß der Herrgott mit diesem Buben etwas Apartes vorgehabt hat. Ja, ich erinnere mich gar wohl der Nacht, in der er zur Welt kam!«
Jetzt ist es das beste, ich nehme mich in acht, dachte Beret; die Leute verstehen das nicht. – Wenn ich jetzt rede, dann glauben sie, ich sei hochmütig und möchte mich klüger machen als andere. – Etwas Ratloses lag über ihr. Die Nachbarinnen betrachteten sie: Beret Holm sieht heute stattlich aus. Oh ja – es ist halt nicht schwer, sich so ansehnlich zu halten, wenn einem alles stets nur gelingt!
Beret wollte in die Küche, um beim Herumreichen mitzuhelfen; der Pastor sah sie, kam sogleich auf sie zu und begrüßte sie.
»Du bist heute gewiß stolz auf deinen Jungen, Beret Holm?«
»Darüber hab ich noch nicht sonderlich nachgedacht,« sagte sie langsam.
»Du dankst doch wohl Gott für ihn?«
Beret antwortete nicht darauf; und da setzte er hinzu:
»Ich glaube, ich habe noch nie einen so begabten Konfirmanden gehabt; jetzt mußt du ihm dazu verhelfen, daß er Pastor wird!«
»Vor wem, meinst du wohl, sollte er einst predigen?« fragte Beret mit bebender Stimme.
Der Pastor starrte sie verblüfft an:
»Vor wem er predigen soll?«
»Ja?« – und jetzt lächelte sie sogar ein wenig.
»Ich verstehe wohl nicht recht, was du meinst, meine gute Mrs. Holm.« Das Gesicht des Pfarrers sah wirklich verlegen aus.
»Geht es so, wie du es weissagst, so gibt es in Amerika in zwanzig Jahren kein norwegisches Volk mehr.«
»Ach, das meinst du!« lachte er. »Aber genau genommen – gibt es das wohl auch schon jetzt nicht mehr. Nimm zum Beispiel dich selber: du siedelst und rodest und baust für Amerika, und somit bist du doch wohl Amerikanerin; deine Kinder –«
»Das weiß ich doch nicht so recht! Ich bin zu allererst Mensch. Höre ich auf, das zu sein, dann bin ich wohl kaum mehr von großem Nutzen für dies Land.«
»Aber,« wandte der Pastor mit herzlichem Wohlwollen ein, »du hörst doch wohl nicht auf, Mensch zu sein, weil du die Sprache wechselst!«
»Bist du dessen so sicher?« – Beret merkte, wie sie bebte, mußte jedoch fortsetzen: »In der Bibel steht von jenen zehn Stämmen, die verloren gingen und von denen man späterhin nimmermehr gehört hat.«
»Um ihrer Sünden willen; weil –«
»Daß sie so wenig achtgegeben auf ihre Muttersprache, das muß wohl ein Teil der Sündenlast gewesen sein – glaubst du nicht auch?«
»Nein, durchaus nicht, meine gute Frau, durchaus nicht,« – plötzlich erhellte sich des Pastors Gesicht: »Glaubst du, ich habe damit eine Sünde begangen, daß ich heute vor euch englisch gesprochen habe?«
»Ja,« sagte Beret ruhig, »das glaube ich.«
Der Pastor musterte sie zweifelnd. Sie waren beide von gleicher Größe. Sie trug heute ein schwarzes Kleid, gut geschnitten und schön gesäumt; auf ihrem Antlitz lag warme Röte; die Augen brannten klar und strahlend.
Pastor Gabrielsen vergaß sich vor lauter Eifer, strich sich den Bart nach oben und stopfte ihn in den Mund; dann ließ er ihn wieder fahren und strich ihn glatt.
»Meinst du, daß wir in Amerika in alle Ewigkeit weiter Norwegisch sprechen sollen?« Und jetzt lachte er, weil ihm die Frage so komisch vorkam.
Beret hörte das, und die Röte vertiefte sich noch; sie zupfte nervös am Taschentuch, legte es zusammen und faltete es wieder auseinander, – mit dem einen der Zipfel hatte sie besonders viel Beschwer.
»Ja,« sagte sie schließlich treuherzig und sah ihm gerade in die Augen. »Denn ich kann nun einmal nicht verstehen, daß die alte Sprache deshalb hinaus soll, weil eine neue Sprache hereinkommt.«
»Aber so ist es stets in der Geschichte vor sich gegangen; es ist kein – aber auch kein einziger – Grund dazu vorhanden, anzunehmen, daß sich in diesem Falle etwas anderes abspielen wird. Nimm zum Beispiel die Norweger, die damals nach –«
Beret unterbrach ihn mit etwas, was sie sogleich sagen mußte:
»Viel geschieht hier, was vordem nicht geschehen ist, und es ist ein wunderlich Ding mit dem, was einer will.«
Sie hatte noch mehr auf dem Herzen, was sie durchaus vorbringen wollte, aber da kam gerade Gjermund Dahl und zog den Pastor mit sich fort – jetzt müsse er schleunigst kommen, sonst werde der Kaffee kalt; sie hätten bereits die ganze Farm nach ihm abgesucht; seine Frau – well, er wolle lieber schweigen! Gjermund war heute so recht bei guter Laune, hörte es sich an.
– – »Auf dieser Mrs. Holm sitzt ein kluger Kopf,« hörte Beret den Pastor Gjermund anvertrauen, als die beiden ihres Weges gingen.
Sie befand sich plötzlich in der Wohnstube allein. Was für eine Verkehrtheit hatte sie nun jetzt wieder begangen? Sie schaute sich um und empfand ein sonderbares Wohlbehagen.
In der Küche herrschte große Emsigkeit, viele Frauen waren beim Anrichten; Beret ging auch hinaus – vielleicht wurde noch Hilfe gebraucht – aber dann sah sie, daß sie überflüssig war. Sie hatte keine Lust zum Plaudern und trat in den Vorraum hinaus, um sich ein wenig abzukühlen.
Herrlich klares Wetter draußen. Der Hofplatz wimmelte von Menschen; in einiger Entfernung stand ein weißgedeckter, langer Tisch, er brach fast zusammen unter der Fülle von Butterbroten, Kuchen und Krapfen; Duft von frischgekochtem, starkem Kaffee schwebte in der Luft; die Leute hatten zugelangt und saßen und standen beim Essen und Trinken in Gruppen herum, – überall gemütliches Plaudern und Frohsinn, fast wie bei einer Hochzeit.
Ein Stück weiter, auf der hinteren Hofreite, vergnügte sich die beinahe erwachsene Jugend mit lustigen, lärmenden Spielen. Beret mußte doch zusehen, ob jemand von den Ihren mit dabei war. – Wie die tobten!
»Ein Witwer sucht eine Frau!« entspricht unserm »Eins zwei drei Fanchon!« oder »Böckchen, Böckchen, schiele nicht!« rief ein Bub mit tiefer Stimme, sprudelnd von unbändigem Lachen.
Da, mein ich, hat doch wieder einmal der Permann seine Streiche vor? fragte sich Beret.
Ein mächtiges Gejage entwickelte sich jetzt; es hatte eine blonde Dirn zum Ziel, die auf dieser Seite der Reihe angelaufen kam, als gälte es das Leben; sie schlug viele Haken, lief hierhin und dorthin, um dem Verfolger zu entgehen; aus der Reihe der Paare rief man ihr zu. Schließlich fing Peder das Mädel ein. Da mußte ungewöhnlich viel Spaß dahinterstecken; denn sie lachten sich gegenseitig laut ins Gesicht; das Mädchen überließ ihm ihre Hand und das sogar, bis sie an ihrem Platz in der Reihe waren.
– Ich tät doch gar zu gern wissen –
Da klang Sörines Lachen neben Beret:
»Ja, meiner Treu, hat der Permann da nicht die Pastorstochter erwischt! – Der hat schon gewußt, wen er nehmen sollt!«
»Ist denn die eine von des Pastors Kindern?« fragte Beret leise.
»Ja freilich – Pastors Else.«
»Nein, was du sagst – Else heißt sie?« Beret wurde plötzlich lebhaft.
»Ja, die Älteste. Komm jetzt, wir wollen uns Kaffee holen.«
Beret wurde erneut schweigsam. Sie betrachtete die Gesichter ringsum, während sie aß. – – Wie sich die Leute heute freuten! So zufrieden also waren sie darüber, daß es hier in Amerika in zwanzig Jahren keine Norweger mehr geben würde! Und ihr eigner Pastor – ihre Hand flog, daß sie den Teller hinsetzen mußte – der entfremdete den Eltern die Herzen der Kinder! Wenn der Hirte so war, was konnte man dann von den Schafen erwarten?
Sie machte sich jetzt daran, Gjermund zu suchen. Wenn sie an einer Gruppe vorbeikam, hielt sie einen Augenblick an, um zu grüßen. Sie glaubte zu bemerken, daß die Leut das gern sahen, und ließ sich recht viel Zeit dazu, brachte es aber nicht so herzlich heraus, wie sie gern gewollt hätte, denn sie wurde des Gefühls nicht Herr, daß sie hier unter ihrem eigenen Volk als eine Fremde herumging.
Als sie Gjermund endlich gefunden und ihm ihre Bitte vorgetragen hatte, da lachte er nur und sagte, er wäre auch ohne ihre Aufforderung gekommen; es klang so erfreut, gerad, als hätte sie ihm eine Ehre erwiesen. – – Andere traten herzu und erkundigten sich, wie es denn mit dem Bauen stehe – brauche sie nicht Hilfe? – Sie wurde ganz ärgerlich auf sich, weil sie nicht mit größerem Frohsinn zu antworten vermochte.
Als Beret sah, daß Tönset'n im Begriff war, aufzubrechen, ging sie zu ihm und fragte, ob nicht er und Kjersti auf dem Heimweg bei ihr hereinschauen wollten, – sie hätte gern etwas mit ihnen besprochen. Tönset'n schlug ihr sofort vor, sie möge doch mit ihnen mitfahren, die Jugend könne sich selber überlassen bleiben; die Gesellschaft, die höre ja noch lange nicht auf, da die Sonne noch so hoch am Himmel stünde!
Das sah auch ganz danach aus! Das Spiel ging jetzt ungezwungener vor sich, nun tat das gesamte Jungvolk mit.
Beret sprach ein paar Worte mit dem Großen-Hans und fuhr mit Tönset'n zusammen.
Zu Hause angekommen, banden sie die Pferde an und begaben sich zum neuen Kuhstall. Den Windmotor hatte Tönset'n schon vorher so oft besichtigt, daß er ihn auswendig kannte – er wollte sich zum Herbst selber einen anschaffen, das war seit langem beschlossene Sache. Er humpelte in dem neuen Gebäude herum, stieß den Stock auf, während er sich räusperte: »Ja ha ja – ja, das will ich glauben!« – Nachdem er sich eine Weile umgeschaut, sagte er entschieden: das werde fürs Rindvieh viel zu groß und fein, – für einen schäbigen Kuhstall hätte sie nicht soviel Geld wegwerfen sollen. Und das wisse er, dies hätte der Per Hansen selber nicht viel prächtiger fertiggebracht.
Beret mußte ihn anschauen; andere hatten ihr das auch schon gesagt, und obwohl sie wußte, daß es keineswegs der Wahrheit entsprach, empfand sie es doch immer wie einen warmen Verband auf einer schmerzenden Wunde.
Ein Buggy bog auf die Hofreite ein; es war Sörine, die hören wollte, ob sie morgen nicht helfen dürfe.
Berets Augen blinzelten:
»Ich hatte vor, dich heut darum zu bitten, könnt mich aber nicht dazu bereden – du hast ohnehin genug zu beschicken.«
Die andere sah weg und sagte langsam:
»Hier gibt es nicht so viel Zerstreuung, als daß wir derer, die vorhanden ist, nicht bedürften.«
Die Sonne wollte bereits zur Rüste gehen. Die neuen Bretter in den Stallwänden färbten sich golden, und dadurch wurde der frische Föhrenduft nur noch voller und köstlicher. Beret nahm Bretterenden, legte sie auf Nagelfäßchen und lud die Gäste ein, Platz zu nehmen; sie selber lehnte sich gegen die Wand.
»Alles ist dir geglückt,« sagte Sörine. – »Nicht, als ob ich dich beneidete.«
»Ich sag, wie ich heut bereits gesagt,« meinte Kjersti, »hätt der Per Hansen gelebt, so weiß ich, hätt er sich gefreut!«
Da sagte Beret langsam:
»Wie gut ich's eingerichtet habe, wird erst die Zukunft erweisen. Aber das weiß ich, daß ich stets nur daran gedacht habe, wie er es wohl angefangen haben würde.« – – Sie schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr. Erinnerungen aus den ersten Jahren tauchten vor den Augen der andern auf. – – »Ich bin froh, daß ihr gekommen seid. Ich hab es nötig, mich mit euch auszusprechen: – war er jetzt am Leben, so weiß ich, daß er morgen ein Richtfest veranstaltet haben würde. – – Und nun weiß ich nicht, ob das recht ist?«
»Bestes Kind,« rief Tönset'n bestimmt und schlug sich aufs Knie, »bleib mir vom Leibe mit recht oder nicht recht! – – Alles ist recht, wofern es nur schicklich geschieht! – Und so viel wissen wir doch alle, daß, soll das Haus dicht und warm halten, der Dachfirst beim Richtfest begossen werden muß!«
Beret lachte leise:
»Was meint ihr dazu, ihr Frauen?«
»Gib du nur den Mannsleuten einen Schnaps, wenn du ihn hast; davon werden sie so behend in der Hosen!« riet Kjersti.
Sörine sah Beret an, verwundert; die Augen wurden schmal und fröhlich. Aber sie sagte nichts.
»Nein, das tue ich nicht,« antwortete Beret, und ein Lächeln zuckte um ihren Mund. »Den Branntwein, den habe ich all mein Lebtag gehaßt. Aber jetzt sollt ihr hören, woran ich gedacht hab: ich möchte dich, Syvert, dazu bereden, morgen zur Stadt zu fahren und einzukaufen, was zu einem Glas Punsch gehört. Und den mußt du dann zubereiten. – – Und jetzt sagt mir: meint ihr, ich bin närrisch, daß ich an derlei denke?«
Tönset'n sprang auf und stieß den Stock auf die Erde.
»Närrisch?« rief er begeistert. »Närrisch? Daß du nur so lästerlich reden kannst! Das hab ich nun immer gesagt, und die Kjersti weiß, daß ich's getan hab: deinesgleichen darin, sich verständig einzurichten, gibt es nicht in ganz Dakota Territory! – – Sorg du dich nicht; das Amt, das du mir soeben übertragen hast, das werd ich schon verwalten. Einen Punsch werd ich brauen, so lecker, daß du gern den Pastor dazu laden kannst!« – – Plötzlich leuchtete eine Idee in Tönset'ns Augen auf: »Aber ein klein wenig gestoßenen Kaneel muß ich hineintun dürfen, – nur ein winzigs bißchen, versteht ihr, dann kommt der Geschmack um so klarer heraus!«
Kjersti und Sörine mußten beide lachen. Aber Beret blieb ernst.
»Das tu ich um des Per Hansen willen. Er hat in jenem Winter, in dem er umgekommen ist, von dem Stall gesprochen; seitdem ist manches Jahr vergangen, – und noch bin ich nicht weiter gekommen, da könnt ihr sehen, wie tüchtig ich bin!«
»Und das sag ich dir, Beret,« versicherte Tönset'n mit inniger Feierlichkeit, »weiß er, wie weise du alles nach ihm eingerichtet hast, dann liegt er in Ruhe und Frieden – zweifle nimmermehr daran!«
Berets Kinder kamen früher heim, als sie erwartet hatte. Peder war heut abend der verkörperte gute Wille, hüpfte um die Mutter herum und wollte ihr bei allen Arbeiten zur Hand gehen; als sie den Kälbern zu saufen geben wollte, war er bereits zur Stelle und trug ihr den Eimer hin. Während sie die Milch abteilte, fragte er – mit lieber und leiser Stimme – ob er nicht hinüberreiten und Charley zum Richtfest einladen dürfe.
»Dazu wär's heut abend wohl zu spät,« sagte die Mutter freundlich überredend.
Peder wurde sogleich mutiger!
»Oh nein! Das Stück will ich mir wohl übernehmen, hinüber- und herüberzureiten, derweil du nur ein einziges Mal mit den Wimpern zuckst!« versicherte er treuherzig. – – »Es ist halt nicht so einfach für mich,« fügte er hinzu, »der Charley hat mich aufs Richtfest hin geradheraus angesprochen, als ich ihn traf, und er ist doch nun mal mein bester Kamerad.«
Die Mutter schwieg eine Weile.
»Ist dir soviel darum zu tun, so mußt du ihn wohl herbitten, obwohl wir es nicht nötig haben, die Eiris um Hilfe anzugehen.«
»Das weiß ich wohl, aber du kannst dir nicht denken, was für ein kecker Bursch der Charley ist.« Peder ermannte sich und sagte abschließend: »Ich werd mich recht beeilen!«
Bald darauf ritt er weg.
Aber er war dann doch nicht sobald zurück, wie er es sich gedacht hatte. Das Gehöft der Dohenys lag stille da. Shep begrüßte ihn nicht, niemand kam heraus, und das kam ihm sonderbar vor. Er sah, daß jemand daheim war, denn unten schien aus jedem Fenster Licht, und so band er kurz entschlossen das Pferd beim Stall an und ging hinein.
Die Stube war voller Gäste. Er wurde sogleich verlegen. Charley war nicht zu Hause, und da weder Doheny noch irgendein anderer von den Eiris morgen mittun sollte, fand er, er könne sich seines Auftrags nicht entledigen. Aber da sah er doch wieder einmal so richtig, wie dumm es von den Norwegern war, sich immer mit einem Zaun zu umgeben und abzusperren. Denn Doheny, der selber gebaut hatte und so prächtig gebaut hatte, wäre akkurat der Mann gewesen, den sie hätten dabei haben müssen!
Peder hörte dem Geplauder eine Weile zu, ohne ein Wort vorbringen zu können. Er konnte sich nicht darauf einlassen, auf Charley zu warten, und sogleich fortgehen mochte er auch nicht – – hier waren übrigens auch Leut, von denen er gern noch ein bissel gesehen hätt. Die Tür zur Küche stand offen. Susie war beim Limonade-Zubereiten; er wußte, daß es Limonade war, denn er hörte, wie sie Zitronen zerschnitt und den Saft auspreßte. Ging er jetzt, so hatte es den Anschein, als schäme er sich; blieb er sitzen, so mußten die annehmen, er wollte bewirtet werden, – alle hörten ja doch, womit sie draußen beschäftigt war.
Das Gespräch schien sich nur mühsam weiterzuschleppen. Waren die etwa seinetwegen geniert? – Das war doch nicht nötig! Er stand auf, um zu gehen, und sah vor lauter Entschluß grimmig aus.
»Nein,« bat Doheny ihn lachend, »jetzt mußt du warten, bis wir zu sehen bekommen, womit Susie sich in der Küche aufhält; denn du fürchtest dich doch nicht vor den Irländern.«
Alle lachten so herzlich über diese Worte, daß Peder wieder auf seinen Stuhl sank.
Ihm gerad gegenüber saß eine Frau und wiegte ein Kind auf dem Schoß; sie hatte ein schönes Gesicht, aus dem so viel Güte und Einsicht sprach, daß er sie immer wieder anschauen mußte, – er lächelte sie an, ohne es zu wissen.
Die Frau fragte lachend, ob es denn wirklich wahr sei, daß die Norwegischen sich vor den Iren fürchteten.
Darüber lachten sie alle mächtig und sahen ihn an.
Entsetzlich zwirblig sind diese Leut! dachte Peder und saß um so steiler auf seinem Stuhl. Plötzlich glätteten sich die Runzeln auf seiner Stirn zu einer munteren Antwort, die er in sich singen hörte. Er überlegte, ob er sich damit herauswagen könne.
»Darüber könnte der dort doch sicher Auskunft geben,« lachte Murphy und nickte nach Peder hin.
» Der sieht aber nicht so aus, als fürchte er sich!« sagte die Frau hell und vergnügt.
»Nein, nein; aber er ist aus unserer Schule herausgenommen worden, was nun immer der Grund gewesen sein mag. Es ist so eigen mit den Norwegischen; in allem wollen sie unter sich bleiben, nur nicht in der Politik; da wollen sie uns dabeihaben und raufen wie der Gottseibeiuns selber.«
»Gerad wie wir!« antwortete die Frau entschieden. »Ich für mein Teil halt es für klüger, untereinander zusammenzuhalten, als sich gegenseitig die Pelze zu zerfetzen, so wie wir es gern tun.«
Mrs. Murphy fand, sie müsse ihrem Mann gegen die blonde Frau zu Hilfe kommen, und sagte etwas spitz, die Irländer bedienten sich wenigstens einer Sprache, die jedermann verstehe; bei denen brauche niemand zu argwöhnen, daß sie den Leuten Leben und Ehre absprächen. Sie erinnere sich noch, wie sie und Mrs. Mc Bride einmal auf einer Sitzung des Frauenvereins bei Mrs. Tönset'n gewesen seien; da hätten sie beide den ganzen Tag dabeigesessen und doch keine zehn Worte von dem verstanden, was gesprochen wurde! Sie habe gut gemerkt, daß man über sie und Mrs. Mc Bride geredet habe, habe das von den Gesichtern ablesen können. Ja, das sei ein Tag voller Drangsal gewesen! – – Peder fühlte, daß sich diese Vorwürfe wegen des damals Geschehenen an ihn richteten.
Aber jetzt geriet die Stube in die Flammen einer heftigen Diskussion darüber, inwieweit die Norwegischen recht hätten, wenn sie in Amerika Norwegisch sprächen.
Die Norweger hatten unter den Anwesenden zwei Verteidiger – Doheny, der alles, was er sagte, mit so viel Spott tränkte, daß nicht recht zu wissen war, was er in Wirklichkeit meinte; und dann die blonde Frau. Sie war die eifrigere; und da sie stets den Nagel auf den Kopf zu treffen wußte und Ausdrücke fand, in denen es blinkte, wurde die Debatte sehr lebhaft.
Niemand kümmerte sich um Peder, der sich allen Blicken preisgegeben fühlte. Das drehte sich ja doch alles um ihn. – Gehen? Jetzt? – Nein! Er hatte ihnen zu zeigen, daß die Norweger keine Furcht vor dem Eiris hatten! Er ließ den Blick herausfordernd von einem zum andern wandern. – Ja, da saß er jetzt also!
Endlich kam Susie mit einem Tablett und bot Getränke und Kuchen an. – Sie war heute doch ungemein munter; das Lachen schimmerte wie ein Sternenschweif hinter ihr her, bis sie zu ihm kam – da erlosch es. Sie kehrte den übrigen den Rücken zu. Peder sah sie groß an, bettelte geradezu um Hilfe. Aber sie hielt ihm nur das Tablett hin, sagte auch nicht ein winziges Wörtchen, blickte nicht einmal auf; über ihrem Gesicht lag es wie ein Spötteln, und das war weit schlimmer als alles andere. Die Stille um die beiden herum wurde unheimlich, alle schwiegen und horchten ihr nach.
Peder goß das Glas in sich hinein, stand auf, sagte laut sein Dankeschön, zögerte noch einen ganz kleinen Augenblick, ob ihm etwa jemand was zu sagen habe, denn das müßte er doch wohl noch abwarten!
Es war ihm nicht recht bewußt, wie er dann schließlich hinausgelangt war; seine Knie zitterten, brennende Scham darüber, daß er die Flucht ergriffen hatte, schrie laut in ihm – – jetzt lachten die da drin gewiß tüchtig hinter ihm her!
Er band das Pferd los und stieg auf. Doch als er gerade im Begriff war wegzureiten, ging die Küchentür auf. Susie kam heraus und blieb im Lichtschein stehen. Er schaute geschwind hin, versetzte dem Pferd einen tüchtigen Hieb und ritt dicht an der Treppe vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er bemerkte jedoch trotzdem, daß sie die Stufen herunter kam. – – Rief sie ihm nicht nach? Seinethalben mochte sie jetzt ruhig dort stehen! –
Schmuck war der Stall, den Beret jetzt baute, neuartig war er, und doch wußte sie aufs Tüttelchen genau, wie er aussehen werde. Sie hatte sich diese ganzen Wochen über ihn wie an dem Anblick eines lieben Bekannten erfreut, dessen Bild man jahrelang vor sich gehabt hat und den man nun selber kommen sieht. Bei jeder Planke, die eingefügt wurde, war sie ihrer Sache sicherer geworden.
Sie hatte den Kuhstall seit jenem Frühling, da sie den Per Hansen unter den Rasen gebettet, nicht aus den Gedanken gelassen. Ein solches Großunternehmen, das bringe sie nicht fertig, hatte sie sich anfänglich gesagt; sie habe auch nicht die Mittel dazu. Aber der Kuhstall wurde mit jedem Jahr unentbehrlicher; sie sah sich alle die neuen Ställe an, die in der Nachbarschaft entstanden, verglich sie mit dem von ihr geplanten und bekam es doch nie so heraus, wie sie es wollte.
Ja, hätte sie noch gewußt, wie ihn der Per Hansen sich gewünscht hatte! Den Kuhstall hatte er oft erwähnt; aber das einzige, worauf sie sich deutlich besann, war, daß Kuhstall und Pferdestall unter demselben Dach sein sollten. Und das war auch richtig; denn solch ein Haus wurde traulicher und gemütlicher, sowohl für Rind wie für Roß.
Sie war schon vor zwei Jahren fest entschlossen gewesen, ans Bauen zu gehen; denn da besaß sie ausreichend Geld; die Kreatur litt Unbill im Winter, und es war jeden Herbst eine unausstehliche Plage, die alten Schuppen wieder so weit auszuflicken, daß das Vieh einigermaßen geborgen war. Da, eines Abends, als Ole wieder im Farmerblatt schmökerte, fand er darin unversehens die Zeichnung von einem Kuhstall, wie der Vater ihn geplant hatte! Er wartete nicht erst ab, was sie dazu meinte, sondern rief sogleich den Bruder heran: sei dies hier nicht akkurat der Kuhstall, von dem der Vater an jenem letzten Tage mit ihnen geplaudert hätte? – Ole zeigte auf ein paar Einzelheiten, und da erinnerte sich auch der Große-Hans der Worte des Vaters. In dem Kuhstall des Farmerblatts lief längs des ganzen Dachfirstes eine Schiene, an der man das Heu über den Boden fahren konnte. Daß man das Heu fahren und abwerfen könne, genau da, wo man wollte, das hatte sich damals so handlich und schnurrig zugleich angehört, daß es sich den beiden Buben eingeprägt hatte. – – Die Beret schnitt sich die Zeichnung aus und besah sie sich oft, ohne daß sie ein klares Bild dadurch gewann, wie das alles einzurichten war – sie mußte sich wohl erst noch besser in die Sache hineindenken. Hätte sie nun vorschnell drauflos gebaut, so wäre er nicht so geworden, wie der Per Hansen es sich gedacht hatte! Sie überlegte so lange, bis es in jenem Jahr zum Bauen zu spät wurde.
Ähnlich im nächsten Sommer. Als der Große-Hans eines Abends über dem Farmerblatt saß, da sprang er plötzlich auf, kam geschwind zur Mutter und zeigte ihr etwas, das schändlich interessant sei, eine Windmühle, die für die ganze Herde Wasser pumpe. Und daneben war eine Mühle derselben Art zu sehen, die mahlte den Mais für die Schweine. Unter den Abbildungen stand ein langer Bericht, daß die Großfarmer im Osten solche Einrichtungen bereits seit langem benützten und diese den Holländern abgesehen hätten. Die Mühle errichte man in der Nähe des Kuhstalls, der Wasserbehälter, der Tank, könne entweder draußen oder drin stehen; in Gegenden mit kalten Wintern müsse der Tank drinnen eingebaut werden, dann friere das Wasser nicht ein.
»Ja, das da ist doch nicht wahr!« rief Beret und mußte alles noch einmal erklärt bekommen. Als die Kinder ins Bett gegangen waren, nahm sie das Blatt vor und machte sich daran, die Zeichnungen aufs neue zu studieren. Ging das wirklich an? Das war doch das Artigste, was sie bisher gesehen! – – Ob eine solche Mühle wohl gräßlich kostspielig war? – – Wenn es anging, den Wind dazu zu bringen, daß er all das Wasser, dessen sie für Pferd und Rind bedurften, für sie heraufpumpte, da konnte sie, Beret, sich doch wohl die Zeit dazu gönnen, es sich genau anzusehen, wie er das tat! – – Etwas Warmes, fast Kurzweiliges legte sich über die Abbildungen: hatte auch der Per Hansen an das hier gedacht? Es sollte recht artig sein, wenn sie selber ein Weniges dazulegen konnte!
Eines Tages, bald darauf, als sie gerade den Schweinen das Wasser hintrug, kam ein Handelsmann vorbeigestrichen; der Mann war Norweger und ihr schon von früher her bekannt. Der erzählte ihr von Norwegern drüben in der Gegend von Brookings, die sich letztes Jahr das prächtigste Großwerk Amerikas aufgebaut hätten: einen neuen Kuhstall mit Windmühle draußen, Wassertank drinnen und einer Milchkammer gleich dabei, in der die Milch die ganze Zeit über im kalten Wasser stehe.
Beret bedachte lange, was der Mann ihr berichtet hatte. Eines Samstags nahm sie dann schließlich den Großen-Hans mit sich und fuhr nach Brookings, blieb bis zum Montag und kam heim mit dem festen Entschluß: so ungefähr müsse sie bauen, und jetzt.
Und als sie in diesem Jahr die Frühjahrsbestellung hinter sich hatten, da war es endlich soweit gewesen. Den Windmotor hatte sie zuerst gebaut, darauf die Milchkammer. Aber den Wassertank legte sie draußen an, dazu hatte der Farmer ihr geraten; sie habe dann weniger Plantscherei im Stall, und der Behälter könne auch größer sein.
– – –
Zum Dachdecken bekam sie das reine Wunschwetter. Es war still und klar, und der Himmel wölbte sich tiefblau um die Sonne.
Sobald sie die Morgenwirtschaft besorgt hatte, ging sie in ihre Kammer und machte sich zurecht. Sie hatte sich im Winter ein Ginghamkleid genäht, dunkelgrün von Farbe, mit schwarzen kleinen Karos; sie hatte das Kleid gern, weil sie fand, daß es ihr ein frischeres Aussehen gebe. Darauf band sie sich eine Hardangerschürze vor, zierlich genäht und gestickt, mit einer Häkelkante unten herum. – – Beret sah in den Spiegel und mußte lächeln – jetzt war sie beinah soweit! Unterm linken Ohr hatte sich der Spitzenkragen in den Halsbund hineingeschoben, so daß der Hals an dieser Seite zu lang herausschaute. Sie ließ sich gute Zeit, den Kragen richtig einzunähen.
Gegen neun Uhr brachte sie den Männern das Frühstück. Das ständige Tik-tak-tak auf dem Dach machte sie ganz wirr im Kopf; scharfe Mannsstimmen riefen bisweilen etwas dazwischen, das Gelächter schien dort oben recht locker zu sitzen; Peder und Charley (der Bub hatte dagestanden, als sie heut früh herausgekommen war) huschten über das Dach hin und her wie zwei Wiesel – sie waren heute Handlanger; außer ihnen arbeiteten acht Mann beim Dachdecken. – – Tambour-Ola lachte herzlich, konnte sie hören; der mußte heut in guter Stimmung sein; Berets Wangen wurden röter. Sie wartete, bis die Männer heruntergekommen waren, gab Peder Bescheid, ihr die Tassen hereinzubringen, wenn sich alle ausreichend gestärkt hätten, und ging sogleich hinein, um mit dem Mittagkochen anzufangen, – da kam auch schon Sörine.
Heute summte sogar die Beret zuweilen bei der Arbeit vor sich hin. Die Weise eines alten Liebesliedes, das sie daheim im alten Lande in ihrer Jugend oft gesungen hatten, wiegte sich vor ihr; ehe sie sich's versah, sang sie leise. Sie ertappte sich dabei, daß sie sich ein bissel schämte. Um sich dessen zu erwehren, fragte sie die Nachbarin, ob sie sich noch der Worte erinnere. Nein, das tat Sörine nicht; und da sang Beret ihr alle Strophen vor. Beiden schien das kurzweilig. Aber Annemarie lachte sie aus: wenn jetzt gar zwei alte Frauensleut so herumdalberten, dann sei es nicht mehr ganz geheuer!
Fenster und Türen standen offen. Der Tag trug das Hämmern vom Stalldach zur Küche herein, aber hier tat es dem Kopf nicht weh. Alle Augenblicke stand Beret am Fenster und schaute hinüber: die Buben waren gar so wild, wenn sie sich nur in acht nahmen – sie sowohl wie die andern.
Gerad als sie hinaus wollte, um die andern zum Mittag hereinzurufen, kam noch ein Gast zum Hof. Der Pastor war im Süden der Prärie auf Krankenbesuch gewesen, fuhr nun hier herum nach Hause und fand, er müsse sich doch auch einmal das Bauwerk ansehen, von dem alle soviel Rühmens machten.
Die Sörine erblickte ihn zuerst. »Jetzt mein ich fast, du bekommst vornehme Freunde, dort kommt der Pastor! Bitt ihn nur herein, hier gibt's Speis und Trank genug.«
Beret schaute hinaus und schwieg; sie band sich die große Arbeitsschürze ab, die sie über die andere getan hatte, und ging zum Willkommengruß hinaus.
Der Pastor stand neben dem Buggy.
»Ja, da hast du mich also!« begrüßte er sie. »Heute lassen wir die Waffen ruhen, der Kopf ist dir viel zu voll von anderem; ich mußte ohnehin hier vorbei, und da konnte ich nicht umhin, hier hereinzuschauen und zu sehen, was ihr vorhabt.« Er schüttelte ihr herzlich die Hand.
Beret rief Peder vom Dach herunter, er solle das Pferd in den Stall bringen. Etwas Entschiedenes und beinahe Trotziges sprach aus ihrem Wesen. Dann wandte sie sich dem Pastor zu: wenn er vorliebnehmen wolle mit dem, was sie gerad vorbereitet habe, so sei er zum Mittag willkommen, sonst müsse er weiterfahren.
Oh nein, keineswegs, er wolle heut nicht bleiben! Es seien heute ohnehin hier so viele, – zum Essen sei er nicht gekommen.
»Viele? Sind es bei dir daheim etwa wenige?« – Es hörte sich an, als zöge sie ihn ein wenig auf.
»Wenige? Du lieber Himmel, nein!« lachte der Pastor munter. »Aber bei mir sind es erst allmählich mehr geworden, so daß man sich nach und nach hat daran gewöhnen können.«
Beret schaute ihn an, um den Mund lag ein spöttischer Zug.
Jetzt kam Peder vom Dach, sie gab ihm Bescheid wegen des Pferdes und hieß ihn sich eilen, denn das Essen warte auf dem Tisch, er solle auch die andern gleich benachrichtigen; damit ging sie ins Haus.
Der Pastor sah sich derweilen auf der Farm um. Staunen über alles – wie wohlgepflegt es war, wie verständig eingerichtet, und das alles hatte eine einfache Frau aus dem Volk fertig bekommen! Sein heller Frohsinn belebte sich, daß er strahlte.
Jetzt kamen die Männer vom Dach geklettert; er begrüßte alle mit Handschlag. Den Charley kannte er noch nicht; er las jedoch so Vielversprechendes in diesem Jungengesicht, daß er lange mit ihm plaudern mußte.
Der Tisch bog sich geradezu unter all den herrlichen Sachen. Der Pastor erhielt den Platz am oberen Tischende. Sobald sich alle gesetzt hatten, faltete er die Hände und betete, schön und lange – auf englisch. Beim Herde standen derweile wartend die Frauen mit geneigten Köpfen, Beret blaß und zitternd. – – Dies wagte er also wirklich – hier in ihrem eigenen Hause!
Sörine und Beret warteten bei Tische auf; die erste bot Kartoffeln und Tunke herum, Beret folgte ihr mit Fleisch und Eingemachtem. Als sie dem Pastor die Schüssel reichte, zitterte ihr die Hand:
»Es ist freilich ungewiß, ob du unsere Speis auch essen kannst, – die ist norwegisch zubereitet.« Die Worte hatten Gewicht, ihr Klang ließ alle zu ihr hinschauen; den Großen-Hans mit geschwindem Blick; er nahm die Tasse, ging zum Wasserzuber, trank und sah die Mutter dabei groß an.
»Wir müssen uns hüten vor der Sünde des Ärgernisnehmens,« sagte der Pastor versöhnlich.
Darüber lachte Beret unnötig laut:
»Darin stimme ich dir bei! Und wenn ich zum Pastor zu Besuch komme, werde ich bemüht sein, mich der Sitte des Hauses zu fügen.«
»Wofern du nicht glaubst, daß diese verkehrt ist,« fiel ihr der Pastor sofort in die Rede und fühlte, jetzt habe er die Oberhand.
Beret war inzwischen an das untere Tischende gelangt, an dem Peder und Charley saßen; von hier konnte sie des Pastors Gesicht sehen – und das war ihr übrigens auch gerade recht:
»Du meinst also, es sei verkehrt, in einem Hause, in dem alle miteinander Norwegisch sprechen, vor dem Mahl auf norwegisch zu beten, weil ein fremdes Knäblein dabeisitzt, das es nicht versteht?« Ihr Zorn ließ sie schneller sprechen.
»Ja, denkt, wenn's ihn anstecken tät?« fragte Tambour-Ola treuherzig dazwischen, während er ihr die Schüssel abnahm. »Denn sollt etwa der Eiris versuchen, das Tischgebet auf norwegisch zu beten, da würd es rein närrisch!«
Diese Bemerkung zerriß die schwüle Stimmung; die meisten lachten. Als wieder Ruhe eingetreten war, sagte der Pastor ernst – die Antwort kam nicht ohne Gereiztheit:
»Wenn wir einem Fremden etwas Gutes antun können, warum sollten wir's ihm nicht gönnen? Nur solche Handlungsweise macht das Leben der Menschen untereinander erträglicher.«
Beret füllte jetzt beim Herd Braten auf der Schüssel nach; alle, die sie sehen konnten, beobachteten sie.
»Wenn nun aber das, was mir frommt, keineswegs für ihn gedeihlich ist? Und gesetzt nun, daß ich das, was ich dafür zurückbekomme, gar nicht brauchen kann?« Ihre heftige Erregung hatte sich gelegt; statt dessen machte sich jener eigentümliche Hang, den Grund der Dinge zu suchen, bemerkbar, der allen an ihr immer besonders auffiel.
»So verkehrt geht's in der Welt gewißlich nicht zu,« meinte der Pastor milde und ließ das Thema fallen.
Gjermund Dahl begann sich jetzt mit dem Pastor wegen des Kirchhofs zu unterhalten. Mit dem müsse bald etwas geschehen, denn das Unkraut reiche einem bereits bis an die Knie; es sähe dort aus wie in einer Ferkelbucht. Mehrere hatten den Eindruck, als mache Gjermund dies dem Pastor zum Vorwurf, und der faßte es auch so auf: er gebe zu, daß etwas getan werden müsse. Im übrigen aber fühle er sich nicht so sehr bekümmert wegen der Toten, die ständen in eines Höheren Obhut; hier auf Erden hätten die Lebenden ihr Recht!
Abgesehen von diesem Gespräch und hin und wieder einer trockenen Bemerkung Tambour-Olas herrschte bei Tisch Stillschweigen. Die Stimmung war gedrückt. Die Söhne des Hauses waren mißgestimmt. Peder saß glühheiß am unteren Tischende und stopfte in sich hinein, was er konnte. Ole war zuerst fertig, er stand auf und verließ die Stube ohne ein Wort. Erst als die andern bereits bei der Arbeit waren, zeigte er sich wieder – da kam er aus dem alten Kuhstall.
Gegen die Vesperzeit aber kam Tönset'n mit der Frau angefahren. Den Stock hatte er heute daheim gelassen; dennoch trabte er so leicht und geschäftig herum, als hätte er nie so etwas wie Gicht in seinen Gliedern gespürt. – Er brachte den Gaul in den Stall, ging zum Wagen zurück, kramte etwas Schweres, in einen Beutel gewickeltes hervor, steckte es sich vorsichtig unter den Arm und trug es zum Haus hinauf, wo er begehrte, allsogleich mit der Hausmutter persönlich sprechen zu können. »Bestes Kind,« fertigte er Sörine ab, »von dem hier verstehst du nicht den Deut!« – Die Augen glitzerten schmal, den Hut hatte er im Nacken, und er sah ungeheuer wichtig aus. – – »Jetzt stell mir die Kruke ja an einen kühlen Ort!« bedeutete er Beret. »Ja, du hast doch wohl Kaneel im Hause?«
Er hatte jetzt nicht Zeit, sich länger aufzuhalten, sondern mußte sich sogleich weitersputen, um zu sehen, wie es mit dem Dachdecken ging. Auf dem Wege dorthin schwenkte er am Wagen vorbei und zog eine Flasche hervor, die dort unter der Jacke versteckt gelegen hatte; die steckte er sich unter den breiten Vorderschurz der Hose und knöpfte gehörig wieder zu. Sodann ging's zum neuen Stall. Kurz davor blieb er stehen, steckte die Daumen in den Hosengurt und rief hinauf, was sie denn da oben trieben. Seien sie etwa immer noch nicht fertig? Womit in aller Welt hätten sie denn den ganzen Tag verbummelt? – – »Könnt ihr mir sagen, habt ihr da oben ein Tau?«
Tönset'n mußte auch aufs Dach, gar keine Frage! Zwei Mann stiegen in die hölzerne Dachrinne hinunter; mit dem Seil, das sie ihm zuwarfen, seilte er sich unter den Armen an; dann ging es mit ihm die Leiter hoch, er kletternd, sie ziehend.
»Zerrt doch nicht so!« rief er. »Seht ihr denn nicht, daß ihr mir schier die Arme ausreißt?« Die Himmelfahrt endete erst auf dem Dachfirst; hier setzte er sich überquer, verschnaufte und schaute sich um.
»Kannst du mir sagen, du, Gjermund, der du ein so verständiger Mann bist und diesem Geschäft vorstehst, deckst du den Stall ein, ohne den Dachfirst erst zu befeuchten? Da war es wahrlich an der Zeit, daß ich kam!« Die Mannsleut unterbrachen die Arbeit und scharten sich um ihn. »Packt euch, ihr Knäblein,« bedeutete er Peder und Charley, »jetzt halten die alten Veteranen Kriegsrat!«
Mit ungemein ernster Miene zog er aus der Tasche einen kleinen Zinnstauf Stauf = Becher, kleiner Humpen., den er in Papier eingewickelt hatte, und holte die Flasche aus ihrem Versteck hervor. »Jetzt, Gjermund, mußt du heran und schmecken. Wärest du nicht in der Politik so närrisch, dann wärst du ein kreuzbraver Kerl! – Well, tut nichts, jetzt trink du nur!« – Tönset'n schenkte ein, bis die Flasche leer war; dann aber wollte er unverzüglich wieder hinunter: er habe was anderes zu tun, als hier oben herumzusitzen! Beim Abstieg aber vertraute er sein Leben keiner andern Seilhilfe an als der von Gjermund Dahl.
Der Tag ging zur Neige. Allmählich bekam die Sonne ein glutrotes, schweres Gesicht. Die Prärie dehnte sich in blauer, schläfriger Stille.
Da hörte auch das Gehämmer auf dem Stalldach auf. Die Männer wuschen sich im Vorraum, ihre Stimmen hörten sich ganz besonders fröhlich und leichtbeschwingt an nach solch einem langen Arbeitstag. Und als Tönset'n mit einer großen Kumme Punsch herauskam und jedem ein volles Glas einschenkte, verschlechterte sich die Laune keineswegs. Dies sei von der Hausmutter persönlich, bemerkte er; jetzt sollten sie hineingehen und sich hübsch und schicklich dafür bedanken. »Ja, wartet mal noch ein wenig, Mannsleut, wollen sehen, ob nicht am Ende noch ein ganz winziges Tröpfchen darinnen ist. – – So! Und jetzt eilt euch – drinnen wässert den Weibern schon der Mund nach dem Trunk!«
Damit trippelte er ins Haus und schenkte den Frauen ein. Beret fand den Punsch zwar etwas zu süß, trank aber das Glas aus. Ebenso die beiden andern. Sörine streichelte Tönset'n lachend die Backen – das sei ja geradezu Hochzeitsgebräu! Darüber geriet er in solche Begeisterung, daß er auch ihr die Backen streicheln mußte. Großer Jubel darob in der Küche!
Am Abend warteten Annemarie und Kjersti auf; die beiden andern aßen mit den Männern zusammen. Geplauder und Lachen rings um den Tisch. Lustige Erinnerungen aus den ersten Jahren tauchten auf und erheiterten. Alle hatten sie diese Geschichten schon oft gehört, aber darum waren sie nicht weniger ergötzlich. Charley sah von einem zum andern und versuchte zu erraten, worüber sie denn jetzt wieder lachten; er puffte Peder in die Seite um Bescheid, und da der noch toller lachte als alle andern, mußte Charley mit einstimmen, ob er wollte oder nicht. Auf der ganzen Prärie fanden sich gewiß nicht drolligere Leute als diese Norweger!
Kaum waren sie alle gesättigt, als Tönset'n auch schon in die Höhe fuhr, sich einen Augenblick in die Küche verzog und mit der vollen Punschschale zurückkehrte. Die Männer starrten vor Staunen. Möchte er ihnen nicht verraten, wo er diese Quelle entdeckt habe? Das wäre doch wohl nicht gar der Windmotor, der das da aus dem Erdinnern heraufpumpte? Ja, dann würden sie sich bereits morgigen Tages einen zulegen!
Es verfing nicht bei Tönset'n; er schenkte zuerst der Beret ein, darauf reihum; dann ergriff er sein eigenes Glas und stellte sich am unteren Tischende auf. Hier wartete er, bis er aller Blicke auf sich vereint hatte. Und jetzt hielt er eine Rede auf den wackersten Großfarmer von Spring Creek, sie, die nur ein Weib sei und ihnen doch allen den Rang abgelaufen habe. Ehe er sich's versah, hatte er sich in so großen Ernst hineingeredet, daß ihm die Tränen über die Backen liefen; aber nun wurde er so beredt und kam auf solch unterhaltsame Wendungen, daß alle fanden, es sei einzig schön und erbaulich. Und er selber fand das auch. – – »Ja,« schloß er, »und wenn ihr jetzt versprecht, brave Kinder zu sein, dann bekommt ihr noch einen Gutenachtstropfen!« Schon war er wieder draußen und füllte die Schale von neuem. Und wie er es nun auch angefangen haben mochte, das Gebräu war jetzt erheblich herzhafter.
Sie blieben lange bei Tisch sitzen. Tambour-Ola sandte jetzt Strahlen aus, die sogleich Gelächter entzündeten. Unversehens kam er jedoch auf ein Kriegserlebnis zu sprechen. Sörine merkte, er war nun in der Stimmung, in der es anging, ihm mehr zu entlocken, und um den andern ein wenig von all dem Merkwürdigen zu zeigen, womit der Ola sich trug, bat sie ihn, zu erzählen. Und er tat es. Tiefe Dämmerung, reich an mancherlei Seltsamkeit, erfüllte die Stube und verdichtete sich derweilen immer mehr. Jetzt tat er sogar, wozu ihn Sörine niemals hatte bewegen können: er berichtete von seinen Erlebnissen im Gefangenenlager zu Andersonville. Die Hülle sank unmerklich von ihm ab, die Erzählung floß still, in trauriger Hingegebenheit; knappe Wellen von Schmerz wogten darunter. Zuletzt summten die Worte von dem tiefinnerlichen Leiden, das sich unter ihnen regte.
Kjersti hatte noch nie so schön berichten hören; es bedrückte ihr Herz – das war ärger noch als eine Unwetternacht daheim in Nordland! Irgend etwas mußte sie unternehmen: sie steckte also kurzerhand die Lampe an und stellte sie auf den Tisch.
Da unterbrach sich Tambour-Ola jäh, stand auf, beschattete die Augen, als blende sie das Licht. »Dank schön für die Unterhaltung!« sagte er – das Gesicht war eine einzige höhnische Grimasse – und damit ging er.
Beret stand auf, ging um den Tisch herum zur Tür, besann sich und blieb stehen: er hätte so nicht gehen sollen – – nicht, bevor sie mit ihm gesprochen hatte!
Die andern blieben sitzen, Sörine mit feuchten, strahlenden Augen, die ausdrückten: da könnt ihr sehen! Ist er nicht prächtig, mein Herzensbub?
Aber Tönset'n bemerkte nichts von alledem; er räusperte sich, weil ihm der Mund so trocken war. »Jetzt hört ihr's einmal, was das Land uns gekostet hat!« sagte er düster und mußte sich schneuzen.
Alle waren gegangen, nur Sörine war noch geblieben. Peder hatte die Mutter gebeten, Charley im Wagen nach Hause bringen zu dürfen. Das hatte sie ihm gern erlaubt, er könne dann zugleich auch Sörine heimfahren.
Aber Sörine wollte heut abend nicht fahren.
»Jetzt bring du mich ein Stücklein auf den Weg,« sagte sie zu Beret, »ein wenig frische Luft nach all dem Schmausen tät uns beiden gut.«
Sie gingen miteinander auf die Hofreite hinaus. Die Prärie dehnte sich im Dunkel voller Macht und Geheimnis. Am Westhimmel hing ein schmaler Mond, erst drei Nächte alt. Der kündete trockene Witterung an, wie es schien.
»Ja, diesen Monat gibt's hier auf der Prärie kein nasses Auge,« scherzte Sörine.
Darüber lachten beide, und dann setzten sie sich noch für eine Weile an den Windmotor.
»Es ist gut, daß ich dich einmal für mich allein haben kann,« begann Sörine. »Heut abend muß ich mit dir über etwas sprechen. Etwas Wichtiges, und du hast mehr Verstand als ich.«
»Was sagst du – etwas Wichtiges?« fragte Beret erstaunt.
»Ja, etwas Wichtiges, und jetzt möchte ich, daß du mir akkurat sagst, was du darüber meinst.«
»Dazu bin ich kaum der rechte Mann,« lachte Beret leise, schien sich aber doch über das unverhohlene Vertrauen der andern zu freuen.
»Es ist ungemein wichtig; und darum komme ich auch gerade zu dir damit.«
»Da muß es etwas recht Wunderliches sein!«
»Das ist es auch! Ja!« Sörine schwieg ein wenig; dann plötzlich rückte sie mit der Sprache heraus: »Ich gehe mit dem Gedanken um, mich zu verheiraten!«
»Was sagst du?« rief die Beret und faßte sie beim Arm.
»Dacht mir's schon, daß du aus den Wolken fallen würdest. Doch auch ich muß mir wohl einen Zeitvertreib finden. Ich bin kein so tüchtiger Farmer wie du, und da muß ich mir halt einen zu Hilfe nehmen.« In ihren Worten lagen Ernst und Scherz zugleich. »Was meinst du dazu?«
Beret hatte den Arm der Nachbarin fahren lassen und schwieg.
Und jetzt brachte Sörine einige von den Gedanken vor, mit denen sie sich schon lange getragen: »Hans Olsen hat mir zeit seines Lebens nur Gutes gegönnt, und ich glaube, auch gegen dies hätt er nichts einzuwenden.«
Beret verharrte noch immer im Schweigen. Das, fand Sörine, war sonderbar; sie hatte erwartet, daß die Nachbarin sich freuen werde, und jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, als säße die weit, weit weg von ihr.
»Wer sollt es denn sein?« fragte Beret schließlich so leise, daß die andere nur mit Mühe die Worte auffing.
Da wurde Sörine lebhaft:
»Ja, schau, das ist es ja gerad! Die Leut finden, er ist sonderbar, und da weiß ich halt nicht so recht – – aber das kommt nur daher, daß sie ihn nicht kennen; denn, glaube mir, ein besseres Herz – –«
»Hat er denn mit dir gesprochen?« fragte Beret scharf.
Sörine glaubte Spott aus der Stimme herauszumerken und konnte das überhaupt nicht verstehen:
»Du glaubst doch wohl nimmermehr, daß ich um ihn gefreit hätt?«
»Aber Beste, ich weiß ja doch noch gar nicht, von wem du redest!« lachte Beret bitter.
Sörine war gleich wieder ausgesöhnt. Sie war halt so bei ihrem Kram gewesen, daß sie sich nicht hinreichend erklärt hatte. »Ja, schau, es ist der Tambour-Ola. Und jetzt hat er schon so lange davon gesprochen, daß ich ihm endlich eine Antwort geben muß.«
Die Pause war lang. So lange wartete Sörine, daß sie ganz traurig wurde. Da hatte sie nun der Beret das größte Geheimnis anvertraut, um ihre Meinung darüber zu hören, nicht gerade deshalb, weil sie dessen bedurfte, – denn heut abend hatte sie ihren Entschluß gefaßt, – sondern weil es sie drängte, mit einem Menschen darüber zu sprechen, zu dem sie Vertrauen hatte; und nun wurde das in solcher Weise aufgenommen!
Endlich sagte Beret hart: »Ja, der verfällt auf so mancherlei Seltsames, der Bursch!«
»Das hast du sonst nie gesagt,« meinte Sörine betrübt, »und du kennst ihn doch so gut wie ich!«
»Und deine Kinder?«
Wieder glaubte Sörine, es klinge Spott aus den Worten, und sie konnte es doch durchaus nicht verstehen. Diesmal zögerte sie mit der Antwort: »Die Sofie ist jetzt erwachsen. Ich weiß nicht, was mit dem Großen-Hans und ihr werden mag, – meinem Hans ist der Ola von Anfang an gerad wie ein Vater gewesen.«
Die Beret erhob sich jäh: »Du sollst es bedenken, das ist alles, was ich sagen kann! – – Da höre ich ein Kalb im Stalle poltern; ich muß hin und nachschauen, was da los ist.« Sie machte sich auf den Weg, hielt aber noch einmal inne und sagte: »Willst du warten, bis ich wiederkomme, so bringe ich dich ein Stück auf den Heimweg.«
Nach einer Weile kam sie zurück; aber es saß niemand mehr bei dem Windmotor. Sie hatte sich freilich viel Zeit gelassen beim Kalb – reichlich Zeit sogar; nun, da die andere gegangen war, wurde ihr doch unbehaglich zumute. Sörine hätte warten sollen! Sie hatte nötig etwas zu fragen gehabt – – wenn sie nun schon einmal raten sollte. Und auch dies war wichtig!
Beret stand unschlüssig: ›sie kann doch noch nicht weit gekommen sein? Vielleicht hol ich sie noch ein, wenn ich mich sogleich aufmache. – – Ich muß mit ihr reden, ehe sie ihn trifft – das hat sie wohl kaum bedacht.‹
Beret machte sich auf den Weg, anfänglich zaudernd, dann jedoch schneller, bis sie beinahe lief und stehenbleiben mußte, um Atem zu schöpfen – – hier galt es, ein Unglück zu verhüten, Sörine war so unvernünftig. Es gehörte eine behutsame Hand dazu, mit dem Mann umzugehen! Glaubte sie wirklich, sie könne ihm alles geben, dessen er bedurfte? – – Arme Sörine, es wäre am schlimmsten für sie selbst, denn sie hatte sich mit so etwas noch nicht versucht! – Beret schritt wieder aus. Keineswegs durfte sie ihn nehmen – nur Unheil würde daraus entstehen.
Als sie die Landstraße ein Stück hinaufgekommen war, hörte sie ein Fuhrwerk. Sie blieb stehen und horchte. Fanden Bekannte sie hier zu dieser Tageszeit herumscharwenzeln, dann glaubten sie sicher, es sei irgend etwas Schlimmes im Anzug. Sie stieg ins Gras und duckte sich. – – Der kam nicht schnell heran. Stand der Wagen still? Nein, jetzt hörte sie ihn deutlicher. – Ihre Sinne spannten sich, fingen junge Stimmen auf – Was? Du liebe Zeit! War das nicht der Permann? Fuhren die hier immer noch auf der Prärie herum?
Das Pferd zottelte nur gemächlich voran. Ab und zu blieb es stehen, riß sich ein Maul voll Gras vom Wegrand und stand, während es fraß. – – War das da die Stimme von einer Dirn? Beret erhob sich halb. Das Burschl fuhr doch nicht etwa um diese Nachtzeit Mädel spazieren? – – Da kamen sie! – Wieder duckte sie sich, sie zitterte derart, daß sie sich an den Grashalmen festhalten mußte. – – Eine warme Stimme, in der die Freude gluckste, redete im Dunkel, Peders helle Stimme schmiegte sich darein. – – Das war doch nicht die Pastorstochter? Unmöglich! War der Bub grundnärrisch geworden? Sie wollte aufspringen und ihn unwirsch zurechtweisen, er solle sich gefälligst sogleich heimscheren; aber sie war wie benommen. – – Da rollte der Wagen hart an ihr vorbei. Was redeten sie da? Jetzt tuschelten sie so leise, daß sie die Worte nicht auffangen konnte. – – Die Dirn saß doch wohl nicht etwa auf seinem Schoß! – – Der Wagen zerrann im Dunkeln. Jetzt fuhr er schneller, das hörte sie am Hufschlag. – – Kam der Bub etwa um diese Zeit der Nacht mit Gästen heim? – – Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich Beret und eilte zum Hof.
Das Gehöft lag menschenleer und still. Sie lief erst in die Ställe. Der Wagen stand nicht zwischen den Kornkrippen, wie er es sollte. Sie lief in den Pferdestall, die leere Box gähnte sie an. Von dort eilte Beret zum Hauptweg hinunter, hier blieb sie lange horchend stehen. Sie hörte nur die Nacht – und ihr hämmerndes Herz.
Angst peitschte sie. Jetzt stand sie mitten auf der Hofreite und horchte. Der Wind rüttelte am Rad des Windmotors, das hörte sich an, wie wenn ein gewaltiger Vogel mit den Flügeln schlägt. Beret lief ins Haus, riß sich die Schuh von den Füßen, steckte eine Kerze an und sauste die Treppe hinauf. – – Sie konnte sich ja verhört haben. Vielleicht schlief er bereits? – – Sie sank auf das leere Bett. Und sie fühlte so deutlich, als ob einer ihr's ins Ohr flüsterte: jetzt hast du deinen Buben verloren, Beret Holm! – – Das ist nimmermehr wahr! wimmerte sie leise, stand auf, um hinunterzugehen und noch einmal nach ihm zu suchen. Die Tür zum Zimmer der beiden Älteren stand angelehnt, sie schob sie auf und leuchtete hinein. Der Große-Hans war noch nicht heimgekommen, auch der nicht. – – Sie trieben sich jetzt hier im Hause weidlich herum, wahrhaftig, das taten sie! – –
Beret ging in ihre Kammer hinunter. Hier zündete sie die Lampe an, nahm die Bibel vor, ließ sie jedoch liegen – was nützte das wohl, wenn doch niemand darauf hörte? – – Das Licht blendete, sie mußte aufstehen und den Docht ein wenig herunterschrauben. – – Da kam endlich der Große-Hans. Sie erhob sich halb – – nein, dies hier mußte sie versuchen, allein zu tragen!
Die Nacht schien nicht enden zu wollen. Als es eins schlug, wollte Beret ihren Ohren nicht trauen. Vielleicht ging die Uhr falsch? Sie begab sich in die Küche und leuchtete hinauf: der kleine Weiser zeigte wirklich erst auf eins.
Sie vermochte es nicht, sich wieder hinzulegen. Sie trat hinaus in den Vorraum. Die Angst hatte sich zu einem leisen Nagen gelindert, das vor ihrem Herzen lauerte. Und jetzt fanden die Gedanken so gut Spielraum. Sie flogen hin und her und kamen unablässig mit demselben zurück und waren lauter Selbstbezichtigungen. Sie beschienen ihr eigenes Wesen und zeigten es ihr: da siehst du es, wie der Baum, so die Frucht! Es wurde zum Kehrreim, der Wind hörte ihn und wiederholte ihn sogleich – sie vernahm deutlich die Worte.
Gegen zwei Uhr bog ein Wagen auf die Hofreite ein, der Gaul pruschte ausgiebig, Beret erkannte ihn sofort. Da ging sie in ihre Kammer und legte sich aufs Bett. Heut nacht brachte sie es nicht zustande, mit ihm zu reden. – Peder schlich sich die Treppe hinauf, so leise, daß sie ihn kaum hörte.
Sie lag mit geschlossenen Augen. Hinter den Lidern liefen die Gedanken hin und her und leuchteten, bis sie brennendes Sengen verspürte. Endlich und allmählich graute der Morgen. Die Vöglein erwachten und begannen zu zwitschern. Jetzt fiel auch die Wiesenlerche mit ein. – – Klares Wetter auch heute.
Noch eine Weile blieb sie liegen – es tat so gesegnet wohl, sich zu strecken. Als sie sich angekleidet hatte, nahm sie ›das Buch‹, und blätterte lange darin. Endlich fand sie, wonach sie suchte, und las langsam:
»Und wenn die Tage des Mahles um waren, sandte Hiob hin, und heiligte sie, und machte sich des Morgens früh auf, und opferte Brandopfer nach ihrer aller Zahl; denn Hiob gedachte: Meine Söhne möchten gesündigt und Gott abgesagt haben in ihrem Herzen. Also tat Hiob allezeit.«
– – –
Sie ließ die Buben eine gute halbe Stunde länger schlafen als sonst, weckte Annemarie und hieß sie das Frühmahl herrichten. Sie selber war draußen bereits in voller Tätigkeit, als die Buben herauskamen. Und da war sie ungemein bedacht darauf, bald ihre Arbeit hinter sich zu bringen. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, die Milch abzurahmen – sie müsse alsobald weg, unterrichtete sie den Großen-Hans. Darauf ging sie ins Haus, wusch sich umständlich und zog sich das Bessere an. –
Sörine war es nicht gerade wohl zumute, als Beret bald darauf zu ihr in die Wohnstube trat und darum bat, ein paar Worte mit ihr ganz allein sprechen zu dürfen. – – Was gab's denn heut nun wieder? Die Beret war rot und gedunsen im Gesicht, gerad, als käme sie von einer übergroßen Anstrengung. – – »Willst du dir nicht einen Stuhl nehmen?«
Nein, Beret wollte sich nicht setzen. »Ich wollte dich gestern abend gern heimbegleiten, und dann wurde es nichts damit. So komm halt jetzt ein wenig mit mir mit.«
Ihre Stimme klang so sonderbar, daß die Sörine auf keine Ausrede kam und mitging.
Als sie den Weg ein Stück hinunter waren, blieb Beret stehen:
»Es war nur das, was ich dir sagen wollte, daß ich glaube, du solltest ja sagen.« Sie bückte sich und riß einen langen Grashalm ab und begann ihn zwischen den Fingern zu streifen. »Aber du mußt behutsam verfahren – – nicht ein jeder weiß mit dem Tambour-Ola umzugehen, das glaube ich,« fügte sie ungewöhnlich sanft hinzu.
Sörine merkte nicht, daß ihr die Tränen über die Backen liefen. – – Es war so überaus lieb gesagt von der Beret!
In der Woche vor der Einsegnung nahm der Pastor jeden Konfirmanden noch einmal persönlich vor; dies sei, sagte er den Eltern, um den jungen Menschen einen guten Rat mit auf den Weg zu geben, gerade, wenn sie im Begriff ständen, ins Leben zu treten.
Anfangs gefiel es den Leuten; das sei schön gehandelt; aber bald entstand auch darüber Gerede: bei einigen von dem Jungvolk währe diese Unterredung nur kurze Zeit, während andere hingegen eine halbe Stunde und sogar eine ganze in der Sakristei blieben. Sonderbar! Bekam nicht ein jeglicher seinen vollen Anteil an des Pastors ›gutem Rat‹? Machte der etwa Unterschied zwischen den Leuten? So etwas sei man hier nicht gewohnt – Amerika sei ein freies Land! – – Dann aber war die Einsegnung selber so schön und feierlich und die Jugend erwies sich bei der Prüfung als so trefflich vorbereitet, daß das Greinen sich legte. Zwei wurden auf englisch abgefragt, und das, fanden viele, wäre gar merkwürdig mitanzuhören gewesen.
Peder war zu Donnerstag morgens neun Uhr in die Sakristei bestellt worden. Die Mutter hatte die ganze Zeit hindurch über das, was sie wußte, geschwiegen, war verschlossen und vergrübelt herumgegangen und hatte viele Gedanken gedreht und gewendet. Mittwoch abend bat sie Peder, mit ihr auf den Indihügel zu gehen. Peder schaute sie verwundert an und kam mit.
Beret setzte sich auf die Bank und meinte ruhig, sie habe schon ganz vergessen, wie schön es hier oben sei. Peder stand stumm etwas abseits und sah in den Abend hinaus.
Die Mutter begann, sie sprach leise, bekümmert und zögernd.
Morgen solle er zum Pastor. Und am kommenden Sonntag werde er einem, der noch höher stand, begegnen; denn da werde er vor den Herrgott selber treten, um sein Taufgelübde zu wiederholen. Verstehe er auch, was das bedeute, und fühle er sich bereit für die ernste Stunde? Denn es käme im späteren Leben keine ernstere, aber auch keine herrlichere, das wisse sie.
Peder hörte ihr nur halb zu. Heute lag der Abenddunst blauschwarz auf der östlichen Prärie; den Kirchturm konnte er nicht erkennen, denn der war aus rohem Holz. Die Kirche selber sah nicht größer aus als ein großer, weißer Stein. Jetzt jedoch, wenn er recht scharf hinguckte, wuchs sie – jetzt sah er fast auch den Turm.
Er schwieg, die Mutter hub von neuem an, sanft und traurig:
Um keines der Ihren habe sie sich so innig gesorgt. Frühzeitig habe er die Vaterhand entbehren müssen. Vielleicht habe sie es in vielem verkehrt angefangen, obgleich sie nie etwas anderes als sein Wohl im Auge gehabt habe.
Peder merkte, daß er sich gegen diese Traurigkeit wappnen müsse. Das Rad der Windmühle nahm sich aus wie ein weißer Kranz auf blauem Grunde, – das mußte er der Mutter zeigen.
– Dachte der Bub wirklich an derlei, während sie mit ihm von solch großen Dingen sprach? – Ihr Ernst vertiefte sich: jetzt dürfe er sich nicht durch so etwas ablenken lassen, sondern er solle sich zu ihr setzen und mit ihr reden.
Peder kam näher heran, blieb aber stehen.
Fühle er sich völlig bereit, das Gelübde abzulegen?
Oh, er so gut wie die andern. Peder wurde gegen seinen Willen in ihren Ernst mit hineingezogen.
Die andern mochten für sich selber einstehen. – Jetzt solle er zum erstenmal am Heiligen Abendmahl teilnehmen, den Leib des Gottessohnes essen und sein Blut trinken – er denke doch wohl an das, was von dem geschrieben stehe, der unwürdig esse und trinke? – – Jetzt säumte die Mutter lange, ehe sie fortsetzte. Er habe in der letzten Zeit an gar vielem herumgenascht. Wenn er fühle, daß er jetzt das Gelübde nicht ablegen und am Abendmahl nicht teilnehmen könne, dann wollten sie lieber warten.
Die Mutter stand auf, und jetzt tat sie, was sie viele Jahre nicht mehr getan – sie legte ihm den Arm um den Hals. Da merkte sie, daß er größer war als sie – vor ihr stand ein voll erwachsener junger Mann!
Peder schaute weg.
Die Mutter sprach leise, innig mahnend, Peder hörte der Stimme an, daß Tränen jetzt nahe waren:
»Was du in jener Nacht für Narrenstreiche vorgehabt, als du mit der Dirn vom Doheny herumkutschiert bist, das weiß ich nicht, – – es sah eigen aus – gebe Gott, daß ihr beiden nichts Verkehrtes vorhabt!« – Die Mutter unterbrach sich, um ihres hervorbrechenden Schluchzens Herr zu werden. – »Aber das sollst du wissen, Permann, so voller Angst bin ich nicht mehr gewesen, seit dein Vater ausblieb. – – Niemals hab ich es mir träumen lassen, daß jemand von den Meinen sich mit den Eiris auf Torheiten einlassen werde! – – Ich mußte mit dir darüber sprechen, ehe du morgen zum Pastor gehst. Trägst du an etwas, so mußt du es dann bekennen!«
Peder war wie mit Blut übergossen.
Als die Mutter aufs neue zu reden begann, da war sie bei etwas anderem, und jetzt gelang es ihr nicht ganz, die Tränen zurückzudämmen:
»Du bist jetzt erwachsen – – ich will, daß du dich vorsiehst. – – Solltest du an denen dort drüben hängenbleiben, dann hast du keine Mutter mehr – denn das überlebe ich nicht!«
Peder tat ein paar Schritte, blieb aber sogleich wieder stehen – – sie hatte gewiß noch mehr zu sagen.
»Willst du mir jetzt versprechen, an meine Worte zu denken?« Sie bat milde und kam ihm nach.
– – Sie gingen hügelabwärts. Peder schien der Weg zu den Häusern endlos lang. –
Am nächsten Morgen stand er zur festgesetzten Stunde in der Sakristei. Der Pastor hatte heute ein ernstes Gesicht, aber das Heitere, Lichte klang dennoch durch, als er sogleich anfing:
»Ja ja, mein guter Peder, mit dir, glaube ich, hat es keine Gefahr. Du bist der beste Konfirmand, den ich je vorbereitet habe. Das erzähle ich dir, weil ich will, daß du weißt, welche vortrefflichen Gaben Gott dir geschenkt hat, und damit du ihm aus vollem Herzen dafür dankst, wenn du am kommenden Sonntag vor sein Antlitz trittst.«
Peder sank in den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Der Pastor blickte ihm mit Wärme ins Gesicht und fuhr fort:
»Ich habe schon früher mit dir davon gesprochen, und jetzt laß es mich wiederholen: weihe dein Leben dem Dienst des Herrn. Nichts ist schöner. Willst du den größten Reichtum erlangen, so mußt du diesen Weg einschlagen. Die alten Israeliten hoben ihre begabtesten Söhne für den Herrn auf und weihten sie seinem Dienst von Kindesbeinen an. Dein Vater hat das nicht für dich tun können – jetzt tue ich es an seiner Statt!« Der Pastor kam um den Tisch herum und legte ihm die Hand aufs Haupt.
Peder kreuzte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf; plötzlich bebte sein ganzer Körper in heftigem Schluchzen.
Der Pastor mußte sich schneuzen.
»Darüber darfst du nicht weinen, mein junger Freund! Das geistliche Amt kann zwar oft schwer auf einem lasten, aber nichts ist wiederum köstlicher, als wenn es sich erst in einem klären will. Ich wollte, mir hätte an meinem Einsegnungstag ein Seelsorger zur Seite gestanden, der dasselbe für mich getan hätte! Vieles wäre mir dann erspart geblieben, viel Sünde und viele Tränen. – – Geh jetzt heim und verbringe diese Tage in Stille!« Der Pastor klopfte ihm herzlich den Rücken.
Daheim wollten Schwester und Mutter wissen, wie es ihm beim Pastor ergangen sei, worin er abgefragt worden sei, und was der Pastor gesagt habe.
Peder gab keine Auskunft darüber, weder an diesem Tage noch später; er hielt sich abseits und war äußerst wortkarg; er mied jedes Alleinsein mit der Mutter. Aber sie hörte, wie er jede Nacht lange aufblieb; daß er lernte, dessen war sie sicher; denn sie konnte es jedesmal hören, wenn er die Füße rührte. In der Nacht zum Sonntag wurde sie so müde von dem Wachliegen und Harren, daß sie einschlummerte, bevor er sich gelegt hatte. Als sie am Morgen hinaufkam, um ihn zu wecken und ihm Segen zum Tage zu wünschen, da lag er vollständig angekleidet auf dem Bett. Er hatte wohl die Nacht durchwacht.
»Ist dir schlecht?«
»Nein.« Peder kehrte das Gesicht zur Wand.
»Schläfst du nicht in der Nacht?«
Peder antwortete nicht. Die Mutter ging wieder hinunter, leichteren Sinnes; denn jetzt war gewißlich ein Höherer am Werk in dem Permann! –
Wunderherrliches Wetter! Die Kirche war allzu klein. Es war die erste Einsegnung, die der Pastor in St. Lucas vornahm: die Leute kamen weit her, um ihn zu hören und Bekannte zu besuchen, die Konfirmanden hatten. Selbst Leute von Bethel waren darunter; die waren zeitig gekommen und hatten zu hinterst in der Kirche Platz genommen, auf daß sie keinem von denen, die hier ein Anrecht hatten, im Wege seien – nein, das wollten sie um keinen Preis! Und als die Kirche erst voll war und die Leute dicht gedrängt in den Gängen standen, da blieben sie sitzen, um nur ja keine Störung dadurch zu veranlassen, daß sie hinausgingen.
Die Prüfung ging wie am Schnürchen. Der Pastor war so schlicht, das Gesicht strahlte so herzliche Aufmunterung, daß das Jungvolk gar nicht anders konnte, als frisch und frei von der Leber weg antworten. Einen solchen Konfirmanden aber, wie diesen Buben der Beret Holm, das sahen alle ein, hatte St. Lucas wohl kaum je aufzuweisen gehabt. Aber sie hatte freilich auch gewartet, bis der alt genug geworden war. Geradezu unziemlich sei es, fanden etliche, einen erwachsenen Burschen hier zwischen den Kindern zum ersten Male vor den Altar treten zu lassen.
Als aber Peder vorm Altar stand und der Pastor ihm die Fragen vorlegte, da hatte der Bub sowohl Mund wie Sprache verloren: er versagte. Der Pastor glitt darüber hinweg, er verkürzte nur die gewohnte Pause hinter jeder Frage ein wenig: so etwas war ihm schon früher vorgekommen; und auf diesen Konfirmanden, das wußte er, konnte er sich verlassen. Den Leuten in den vorderen Bänken fiel es freilich auf, und sie fanden, das sei ein sonderbares Verhalten sowohl von Seiten des Pastors wie auch von der des Konfirmanden.
Die Mutter saß in einer der vordersten Reihen und hatte sich schon erwartungsvoll darauf gefreut, Peders tiefe Stimme bei den Antworten zu hören; das würde ihr die Gewißheit geben, deren sie so sehr bedurfte. – Und jetzt kam kein Laut aus seinem Munde! Es dunkelte ihr vor den Augen; sie fühlte, die Kirche begann zu schlingern wie ein Boot bei schwerer See.
Aber sie bekam bald andere Sorgen. Als Peder sich vom Knieschemel erhob, schwankte er, daß er sich am Altargitter festhalten mußte. Das Gesicht war bleich und verzerrt. Kaum hatte er das Gestühl erreicht und sich gesetzt, als er auch schon ohnmächtig wurde. Der Große-Hans holte ihm eiligst Wasser. Es entstand nicht wenig Unruhe. Der Pastor konnte erst nach geraumer Zeit in der heiligen Handlung weiter fortfahren.
Der Festgottesdienst hatte sehr lange gedauert. Sobald sie nach Hause kamen, ging Peder zu Bett. Die Mutter ging hinauf und setzte sich auf den Bettrand, redete ihm lange und innig zu, ohne jedoch anderes zur Antwort zu bekommen, als daß ihm nichts fehle. Nur ein wenig schwindlig sei ihm. Zum Nachtessen stand er auf, aß mit den andern und half hinterher in den Ställen das Vieh besorgen. Dann aber ging er sogleich wieder nach oben und legte sich hin.
Wie immer, wenn welche von den Buben abends ausgegangen waren, lag Beret auch heute wach und wartete. Ole kam heut abend zeitig heim. Mit dem Großen-Hans zog es sich bis nach Mitternacht hinaus. Die Uhr hatte schon zwölf geschlagen, als er endlich kam. Da schlummerte sie sofort ein, sie hatte in der letzten Zeit viel Schlaf entbehren müssen.
Aber sie hatte noch nicht lange geschlafen, als sie sich im Traum abmühte, wieder aufzuwachen, ohne daß es ihr gleich gelingen wollte. Ein großer Vogel flog über ihrem Kopfe hin und her und flatterte mit den Flügeln; sie sah ihn nicht, hörte nur das Flügelschlagen; das kam ihr so sonderbar vor, daß sie davon erwachte. Und da vernahm sie Schritte auf der Treppe. Es kam einer vorbeigeschlichen und war dabei so still, daß sie sich anstrengen mußte, um das Geräusch aufzufangen.
– Das ist der Permann, das merke ich am Schritt.
Sie hörte, daß er draußen in der Küche ein wenig verzog, ehe er hinaushastete. Beret stand geschwind auf, warf sich ein Kleid über und ging in den Vorraum hinaus. Stand und horchte und sah. Das Mondlicht blendete mit großer Gewalt. Die Nacht mußte schon weit vorgeschritten sein. – – Dort im Pferdestall regte sich etwas. Der Bub machte sich doch nicht etwa bei den Rössern zu schaffen? Sie lief über die Hofreite, blieb vor der Stalltür stehen und sah ins Dunkel. Da drinnen war jemand. Da erschien Peder in der Tür mit einem Gaul, dem er den Zaum aufgelegt hatte. Er war völlig angezogen, in Arbeitskleidern – das sah sie zuerst – und trug ein Paket unterm Arm. Jetzt fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht, und sie sah vor sich das blasseste, was sie je von einem Menschen gesehen.
»Permann!« rief sie hart.
Der Bub zauderte eine Weile. Darauf murmelte er etwas, was sie nicht verstehen konnte, und führte den Gaul in den Stall zurück.
Die Mutter lief ihm in den Stand nach, packte ihn beim Arm und rüttelte ihn:
»Kannst du mir sagen, was du jetzt vorhast?«
Peder schob sie zur Seite, so unwirsch, daß sie fast gefallen wäre:
»Ich wollt nur ein wenig nach draußen und reiten!« sagte er heiser, ging an ihr vorbei und hinaus.