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Gottes Mühlen

I

Die schläfrige Novembersonne wollte sich schon der Prärie nähern. Jetzt säumte sie einen Augenblick, um auf das Gewürm zu warten, das bald aus dem seltsamen Ameisenhaufen da unten herausgekrabbelt kommen mußte, damit sie denen noch heimleuchte, ehe sie zu Bett ging, – denn zu dieser Jahreszeit war ja sonst nichts im Auge zu behalten. Aufgeplustert war sie und blutrot vom langen Warten.

Doch im Schulhaus waren noch keine Anzeichen von Aufbruch zu spüren. Schwere, warme Glut lag in der Stube; sie färbte die Backen, die schräg über Büchern und Aufgaben auf den Pulten hingen, steckte Lichter an in kindlichen Märchenträumen, bis sie die Augen blendete und der Kopf sich hob; oder der wurde so dumpf, daß er so einen langen Bengel, der nicht gerade träumte, zu einem endlosen Gähnen verführte: Herrgott noch mal, nahm es denn heut gar kein Ende!

An dem vordersten Pult zur Linken steckten zwei Buben die Köpfe zusammen; der eine braun und kraus, der andere mattblond, mit dichtem Haar, das in gleichmäßigen Wellen nach hinten floß. Beider Schädel schienen hart zu sein wie Wurzelknorren. Der Braune stieß ab und zu wie ein Bock zu und puffte mit hitzigen Rucken; der andere wich jedesmal ruhig zurück, vergaß sofort und nahm wieder die vorige Haltung ein.

Die Buben standen im gleichem Alter, beide zwölfjährig.

Sie hatten es jedoch mit dem ›Erwachsenwerden‹ so ernst genommen, daß sie ein paar Jahre älter aussahen, – der Blonde war ein wenig kleiner, dafür aber stämmiger und solider gezimmert.

Jetzt faulenzten sie herum und zeichneten. Der Braune hatte damit angefangen, und da mußte der Blonde sich doch auch versuchen. Er legte gerade die letzte Hand an ein großes Soldatenlager: – im Hintergrunde Zelte mit einem Lagerfeuer davor, Artillerie an Hügelhängen postiert, Heeresabteilungen in Schlachtlinie; sie waren auf dem Bild etwas undeutlich und glichen großen Grashalmen, die der Wind bewegt; Offiziere zu Pferde, die der Künstler sich sehr befleißigt hatte, recht stattlich aussehen zu lassen. Es war ein großes Bild mit vielen Details. Der Bub war jetzt fertig und musterte die Zeichnung kritisch, verbesserte hier und dort, schrieb dann in großer Frakturschrift darunter: »Washington bei Valley Forge« …

Der Braune zeichnete zunächst die Fassade eines großen Hauses; davor einen Garten; inmitten des Gartens einen Baum, der voller kugelrunder Früchte hing; ein barhäuptiger Junge stand dicht am Baum und hieb mit einer Axt auf den Stamm los. Der Junge mußte, nach dem Gesichtsausdruck zu urteilen, voll rasender Wut sein, denn alles in der Zeichnung vereinte sich, ihm einen möglichst grimmigen Ausdruck zu geben: das Haar sträubte sich in störrischen Büscheln, die Linien des Gesichts waren verzerrt; aber das Geniale des Bildes lag hauptsächlich in der Haltung der Figur. Wie der da die Axt schwang, spritzte die Wut förmlich aus ihm heraus; rings in der Luft flogen Späne; jedesmal, wenn der Künstler einen neuen anbrachte, gab er seinem Kopf einen heftigen Ruck – daher das Puffen mit dem Kopf. Jetzt war auch er fertig und nahm lange sein Werk in Augenschein, zeitweilig völlig darin verloren. Dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht; über den letzten Span schrieb er mit kräftigen Zügen: »Damn it!« Damn it = Verflucht noch mal, oder: Hol's der Teufel! Wiederum prüfte der Zeichner das Kunstwerk, fand nichts hinzuzufügen und schrieb in Frakturschrift darunter: »Washington mit der Axt.« Mit einem letzten prüfenden Blick schob er es dem Kameraden zu und sah ihn fragend an, die Augen blitzten vor Leben und sprühender Schalkhaftigkeit.

Der Blonde übersah das ganze Bild mit einem Blick, ein kurzes »Ho!« entschlüpfte ihm, das er jedoch sogleich in einem Hüsteln versteckte, damit es nicht vorn am Katheder die Aufmerksamkeit der Lehrerin erwecke, und dann begann er das Bild in allen Einzelheiten zu studieren. Die Augen rundeten sich vor Bewunderung; jetzt kam er an jenes »Damn it!« über dem Span, und ein kalter Freudenschauer durchrieselte ihn ob solcher saftigen Unart. Er blickte den Kameraden mit Augen an, die deutlich ausdrückten: großartiger Kerl! – Ohne weiteres nahm er die Feder und schrieb seinen eigenen Namen darunter: Peder Sieg Holm; dann legte er die Zeichnung in ein Buch, das er heute mit nach Hause nehmen mußte. Der Kamerad lachte leise über diese ungeheuchelte Huldigung, nahm darauf seine Feder und schrieb seinen Namen unter Peders Bild: Charley Doheny; den Zettel steckte er sich gleich in die Tasche.

Ruhige Atemzüge von Kindern, die halb im Schlaf waren, dann und wann ein schweres, gequältes Aufseufzen, ab und zu das Rascheln von Papier, ein Buch wurde weggelegt, ein Fuß bewegte sich – diese Geräusche gehörten mit dazu, niemand beachtete sie. Erhabene Abendröte senkte sich durch das Westfenster über die Stube und legte sich schwer auf die Schläfrigen.

Auf der kleinen Tribüne hinter dem Katheder arbeitete die Lehrerin, Miß Clarabelle Mahon, unverdrossen an ihren Notizen zur morgigen Geschichtsstunde. Die weichen Fältchen unter den Augen trugen von der kürzlich gegebenen Geschichtsstunde her noch eine leichte Röte. Die Gedanken, die sie soeben zu einem Vortrag ordnete, gaben der Röte einen vertieften Schimmer und ließen das zarte Altjungferngesicht jung und fast schön erscheinen.

Die Röte hatte eine ganz natürliche Ursache: Vaterlandsgeschichte war ihr liebstes Fach, und nirgends noch hatte sie ihren Apostelberuf so stark gefühlt wie hier draußen am Spring Creek, wo sie alle diese Emigrantenkinder aus vieler Herren Länder, Norweger, Deutsche, Iren, zu hüten und zu betreuen hatte. Schon der Gedanke allein erweckte in ihr tiefe Rührung. Ja! Man sollte erfahren, daß sie die Fähigkeit hatte, den Geist Amerikas behutsam und leise in alle diese Herzen zu pflanzen – jenen mächtigen Geist, der die alte Welt zersprengt, die Tore zu einem neuen und gewaltigen Erdteile weit aufgemacht und darauf die Armen aller anderen Weltteile eingeladen hatte, herzukommen und sich an all dem Schönen hier zu freuen. Und sie waren hergekommen, alle die Armen und Elenden der Erde! Hier kauften sie Wein und Milch, ohne bezahlen zu müssen; hier hatten sie gesiedelt in frohem Glauben an ein Dasein, das schließlich in Vollkommenheit ausmünden werde! Aller andern Länder Geschichte war erledigt, abgetragen, verbraucht wie ein altes Gewand, das fortgehängt wird, weil es eben nicht mehr zu verwenden ist.

Ihr wohlmeinendes Lehrerinnenherz schlug höher über ihren Notizen; die Röte der Wangen steigerte sich zu Gluthitze: jetzt mußte hier das Fremde und Ungleichartige miteinander zu einer einheitlichen Sinnesart verknetet werden, die nur ein höchstes Ziel vor sich sah, zu einem einzigen Herzen, das in Güte schlug. Diese fremden Kinder waren der Ton, sie der Töpfer, die Vaterlandsgeschichte gab das Muster, nach welchem sie sie zu formen und zu bilden hatte. Miß Clarabelle Mahon verwandte die Geschichte ihres Landes wie der religiös Ergriffene die Geschichten der Bibel. Schwieg das Lehrbuch, so ergänzte sie sofort aus ihrem eigenen romantischen Vorrat. Heute nachmittag, beim Überhören der Größeren in dem Abschnitt über Washington bei Valley Forge, hatte sie sich für die große Persönlichkeit und ihr gewaltiges Werk wieder so begeistern müssen, daß sie den Unterricht vergessen und die ganze Klasse geheißen hatte zuzuhören, und dann hatte sie ihnen Anekdoten und Charakterzüge aus Washingtons Kindheit und Jugend erzählt. – Die Größe und Reinheit des Gemüts, selbst bei dem ganz jungen George Washington, die sei wohl etwas ganz Besonderes gewesen! An seinem achten Geburtstag habe der Vater ihm eine hübsche kleine Streitaxt geschenkt, damit der Junge sich früh darin übe, mit Waffen umzugehen – es seien dazumal unruhige Zeiten gewesen! Der Bub sei außer sich gewesen vor Freude, habe die Axt genommen und sei hinausgelaufen, um mit ihr zu spielen. Nun aber habe der Vater einen Kirschbaum im Garten gehabt, einen seltenen Baum, der die köstlichsten Früchte trug; der Vater habe ihn aus England eingeführt und mit großer Liebe gepflegt. Wie nun Jung-George sich dort mit der Axt vergnügte und sie bald an diesem, bald an jenem ausprobte, kam er auch an den Baum. Der sei gerade groß genug, so wollte ihm scheinen, seine Kräfte daran zu proben, und gedankenlos machte er sich daran, den Baum zu fällen! Als der Vater – er war ein strenger Mann – bald darauf in den Garten kam und die Untat entdeckte, kannte sein gerechter Zorn keine Grenzen; er rief seinen ganzen Hausstand zusammen und verlangte Auskunft. Sie müßten bedenken – hatte Miß Mahon erklärt – daß damals eine strenge Zeit gewesen sei, in der ein rechter Hausvater es für seine Pflicht angesehen habe, sowohl ins Verhör zu nehmen als auch zu strafen. »Was tut nun Jung-George? Und was würdet ihr, meine jungen Freunde, an seiner Statt getan haben? Und jetzt paßt gut auf: Jung-George tritt unverzagt vor und sagt: ›Lieber Vater, lügen kann ich nicht. Ich habe diese Missetat begangen! Bestrafe mich jetzt, wie ich es verdiene!‹ – Wie großsinnig gehandelt von einem Kinde! Welch ein Vorbild, welch ein Ideal für das ganze Leben! Tausenden und aber Tausenden von amerikanischen Knaben hat diese schöne Geschichte dazu verholfen, zum großen Manne zu werden!« –

Aber Miß Mahon hatte sich nicht Zeit zu langen Auslegungen gelassen; sie mußte schnell noch weitere Züge des jugendlichen Washington mitteilen – phantastische, unglaubwürdige Vorstellungen, die sich wie ein Märchen angehört haben würden, hätte aus der Erzählung nicht die Güte und innige Überzeugung der Erzählerin geklungen. Dennoch hatten ihr ein paar der Schüler etwas gestaunt und mit leisem Zweifel zugehört. –

Jetzt war sie endlich mit ihren Notizen fertig. Sie erhob sich, fingerte an der Goldkette, die ihr um den Hals und über den Busen hing, und räusperte sich kräftig zum Zeichen, daß sie sich jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit erbitte. Das Gesicht rötete sich noch mehr vor lauter Spannung auf das, was jetzt kommen mußte, obgleich sich gestern abend und vorgestern abend und alle übrigen Abende dasselbe zugetragen hatte.

»Charley Doheny, komm nach vorn!« Die Stimme befahl milde, aber es lag etwas Mattes und Sprödes im Ton, dem man nicht gut widersprechen konnte.

Der braunhaarige Bub in der ersten Bank zur Linken erhob sich sofort, gab dem Bein des Kameraden unterm Pult einen Tritt und stellte sich vor das Katheder; sein Gesicht schien todernst; aber in den Augen sprühte Lachen.

»So, und nun steht alle zusammen hübsch auf, – ohne Lärm, dann seid ihr artig!« gebot sie freundlich.

Lärm ließ sich jedoch nicht gänzlich vermeiden; Bücher mußten weggelegt, Hefte aufgehoben werden, ein paar Sitze klappten herunter, kleine Füße trampelten unruhig, Knüffe von Armen, die sich die Jacken und Mäntel anzogen, einer steckte sich eilig ein Buch in die Tasche und stupste dabei den Kameraden in die Seite, und da mußte doch zurückgestupst werden, – unterdrücktes Gekicher von denen in der Bank dahinter.

Die spröde Stimme klang energischer:

»Für heute sind wir fertig. Viel Gutes und Nützliches haben wir in diesen wenigen Stunden gelernt, Dinge, die uns dazu verhelfen sollen, große Männer und Frauen zu werden. Wissen ist die einzige Waffe, die wir gegen die Unwissenheit und die altererbten Bräuche, die wir aus fremden Ländern herbekommen haben, besitzen. Jetzt wollen wir den Tag damit beschließen, daß wir es uns ins Gedächtnis rufen, wie gut es uns geht, die wir in dieser gesegneten Heimat der Freiheit Bürgerrecht erlangt haben! Ob reich oder arm, wir dürfen alle frei von der lebenspendenden Quelle des Wissens trinken und somit lernen, Gentlemen und Ladies zu werden,« – Miß Mahon nannte die Ladies immer zuletzt – »und mithin Zugang zu den höchsten Stellungen des Landes zu gewinnen, obgleich wir doch nur Kinder von armen Auswanderern sind. Denkt an Lincoln! Die kümmerlichste Bretterhütte war das Heim seiner Kindheit, gleichwohl erreichte er die vornehmste Stellung der Erde! Jeder von euch allen kann so hoch steigen, wofern ihr es nur wagt, dem Ideal nachzufolgen!« – Charleys Kopf sank zwischen die Schultern, drehte sich, bis seine Augen die Seite der Mädchen erreichten, wo sie Umschau hielten. – »Jetzt wollen wir zum Schluß etwas von der großen Überlieferung hören, die uns die Väter des Landes geschenkt haben mit dem Geheiß, sie sorgsam zu pflegen. Charley Doheny, sage uns die Freiheitserklärung auf, – sprich laut und langsam, damit wir andern gut folgen können; paßt alle gut auf Charley auf, er hat eine so reine Aussprache. Es ist traurig, wie einige unter euch die Sprache unseres Landes mißbrauchen! Man sollte glauben, ihr seiet erst gestern herübergekommen! Eins, zwei, drei – fang an!«

Der Bub hob den Kopf; er sprach vor und die ganze Klasse im Chor nach; die Kinder waren gut eingeübt, und als sie erst im Rhythmus waren, konnten sie nicht eher wieder aufhören, als bis der letzte Satz gesprochen war. Währenddessen streckte sich Peder Holm so weit vor, wie der Anstand es irgend gestattete, um zu beobachten, ob Miß Mahon heute das Stück könne; denn Charley hatte darauf geschworen, daß sie gestern abend ins Buch geschielt habe!

Sobald Jeffersons unsterbliches Dokument abgetan war, sah Miß Mahon mit einem mütterlichen Lächeln zur Mädchenseite hinüber:

»Morgen wird eines meiner Mädelchen« – alle Kinder waren ›ihre‹ Kinder – »im Aufsagen anführen; ich sage noch nicht, wer. Nehmt deshalb das Buch mit nach Hause und lernt alle recht fleißig! – Charley Doheny, laß mich jetzt sehen, ob du in deine Bank zurückzugehen weißt, wie es sich für einen Gentleman geziemt. – Und jetzt, Peder Holm, komm du nach vorn.«

Aller Augen folgten den beiden großen Buben; ein paar Gören lachten: Charleys Gesicht hatte einen so putzigen Ausdruck, als er an dem Kameraden vorüberging. Miß Mahon wartete geduldig, bis Peder Aufstellung genommen:

»Laß mich jetzt hören, wie hübsch du heute abend die Gettysburg Gettysburg, Stadt in Pennsylvanien, bei der vom 1.–4. Juli 1863 eine der blutigsten Schlachten des nordamerikanischen Bürgerkriegs stattfand, durch die die Südstaaten-Armee zum Rückzug gezwungen wurde.-Erzählung vortragen kannst – gestern abend bliebst du, wie du weißt, stecken!« Die Stimme klang ganz besonders milde und mahnend. »Alle müssen aufpassen, damit wir dieses herrliche Stück auch lernen. Eins, zwei, drei – fang an!«

Peder Holm trug die Geschichte vor, laut und mit singendem Tonfall, mit religiösem Ernst. Nur einige von den Größten vermochten ihr zu folgen. Und jetzt reckte und streckte sich Charley, um zu belauern, ob die Lehrerin ins Buch gucken mußte.

»Nun singen wir ›Amerika‹; alle bleiben hinterher einen Augenblick stehen – ich habe euch etwas für Zuhause zu bestellen.« Sie verriet noch nicht, was es war, sondern stimmte das Lied an und sang vor.

Kaum daß die letzte Strophe verklungen war, trippelte schon die ganze Klasse vor Ungeduld; die größten Buben spürten keine Lust zu langem Warten und machten daraus auch kein Hehl; das nahm ja schon gar kein Ende mehr! Der fiel auch ewig etwas ein, womit sie einen ausgerechnet dann anöden mußte, wenn es Zeit war nach Hause zu gehn!

Miß Mahon trat an den Rand des Podiums und teilte mit:

»Heute abend um acht Uhr findet hier eine Versammlung statt; vergeßt nicht, das zu Hause zu erzählen. Es kommt sogar ein Redner aus Sioux-Falls, wichtige Sachen stehen zur Diskussion. Dieser Wahlkreis soll sich über einen Aufruf zu der Wahl für die Legislatur Legislatur = die gesetzgebende Versammlung des Territoriums. im nächsten Monat in Huron verständigen; wahrscheinlich kommt die Teilungsfrage zur Sprache; es müssen möglichst viele teilnehmen. Es würde auch nicht schaden, wenn Frauen mitkämen, – auch sie könnten Aufklärung brauchen; sagt einfach zu Hause, ich hätte es gesagt! – Und jetzt möchte ich, daß du, Peder Holm, und du, Charley Doheny, daß ihr beide heute abend auch herkommt. Meine beiden großen Jungen sagen so prächtig auf; vielleicht könnte ich es so einrichten, daß ihr auf die Tagesordnung kommt; aber ich wage es noch nicht zu versprechen, obwohl ich mir kaum etwas Passenderes denken könnte, als eine solche Versammlung mit den Stücken, die ihr eben so schön vorgetragen habt, einzuleiten. Ihr müßt also kommen!« – Miß Mahon sagte alles in einem Ton, als handele es sich um eine Versammlung, die sie selbst einberufen hätte, und als wäre sie die Leiterin des Ganzen. –

Die Schulstube begann sich zu leeren. Peder polterte aus seinem Pult nach vorn, der Kamerad etwas ruhiger hinterher.

»Soll – soll ich – heute abend auf der Versammlung aufsagen?« Der ganze Bub war ein einziges großes Fragezeichen. Er spürte eine Freude, ein Erstaunen, die ihm fast den Atem benahmen. – Er vor einem vollen Haus Erwachsener aufsagen! –

»Yes, du und Charley!« – Jetzt war das Klassenzimmer leer, und jetzt stieg Clarabelle Mahon vom Podium herunter und legte jedem Jungen eine Hand in den Nacken: »Geht jetzt heim und seht euch die Stücke noch einmal gut durch, daß ihr mir, die so unermüdlich mit euch strebt, nicht Schande macht! – Du, Peder, hast eine häßliche Aussprache, du müßtest jetzt eine Weile nur noch die Sprache deines Landes sprechen; aber das wird sich hier draußen ja schon noch alles geben, weißt du; sprich nicht ganz so laut, dann kommt deine schöne Stimme besser zur Geltung.« – Die Worte schmiegten sich weich und zärtlich um die Buben. Und jetzt neigte sie sich ein wenig über Peder; mit Daumen und Zeigefinger befühlte sie sein Ohrläppchen; die Hand war weich und warm, – sie fuhr ihm über die Backe. Der Junge wurde verlegen und entzog sich, sagte leise Gute Nacht und trabte hinaus …

 

II

Die Buben zogen sich auf dem Schulhof ihre dicken Jacken an, Charley lachend, Peder so tiefernst, daß sein Gesicht grimmig aussah. Leise fragte er:

»Kommst du heute abend?«

»Natürlich komme ich! – Vater holt den Mann aus Sioux-Falls, der reden soll. – Und du?«

Der andere guckte erst eine Weile schweigend zu Boden. – »Wenn ich darf,« sagte er dann zögernd und ohne aufzusehen.

»Darfst? – wo du Lincoln sein sollst?«

Peder antwortete nicht darauf, machte kehrt und begann auszuschreiten. Er knöpfte sich die Jacke am Halse zu; die Hand flog vor Erregung.

»Du mußt aber kommen!« Der andere kam ihm nach. – »Es wird fein! Der ist ein richtig toller Redner, – es wird knüppeldick voll, – die geraten sich in die Haare, kannst du dir denken, und dann werden sie so famos wütend!«

Peder schwieg noch immer und war ein Stück voraus; jetzt war er gleich am Hauptweg, wo er abzubiegen hatte – er blieb stehen:

»Wirst du aufsagen?«

»Wenn die's durchaus wollen!«

»Dein Stück paßt!« nickte Peder. »Paßt ausgezeichnet, sag ich dir – gerade, was die zu hören kriegen müssen!«

»Deins auch!«

Peder antwortete nicht; er dachte nach; sein Ernst war so stark, daß er auf der Stirn förmlich Höcker bekam.

»War dein Vater letzten Herbst in Sioux-Falls zum Konvent?«

»'türlich!«

»Hat er davon erzählt?«

»Kannst du dir doch denken! – Nächsten Monat geht er nach Huron; da wird über die Teilung und alles entschieden!«

»Entschieden, jawohl!« Peder stieß den Atem aus; seine Augen leuchteten jetzt, das Antlitz öffnete sich: »Glaubt er, daß Huron unsere Hauptstadt wird?«

»Das weiß er noch nicht; aber er spricht von nichts als der Teilung! Er sagt: Jetzt muß was daraus werden!«

»Du –,« Peder hatte Charley beim Arm gepackt, etwas Fieberhaftes war in ihm aufgesprungen: »was sagt denn dein Vater dazu, daß die unsere Regierung aus Yankton verlegt haben – so mir nichts, dir nichts mit der nach Bismarck abgezogen sind, Hunderte und Hunderte von Meilen in die Wüste dort im Norden?« – Der Bub mußte sich unterbrechen, um zu Atem zu kommen. – »Wo es nichts gibt als Büffel und Indianer und Wildnis?« Peders Antlitz war feuerrot, als er seine eingesperrten Gedanken jetzt hin ausschlüpfen ließ.

»Hängen sollt man die Gauner!« urteilte Charley, ohne sich einen Augenblick zu besinnen: dies Urteil hatte er oft genug äußern hören.

»Jawohl, hängen! – Denn dabei kann ja doch nie was Gescheites rauskommen – da oben in der Einöde – mit Staat und so.«

»Da oben?« schnob Charley verächtlich. »Da wo nichts anderes ist als Indianer und Auswanderer? – Aber jetzt wird das Territorium sofort geteilt, und dann können die dort hocken und sich den Schaden besehen, die Ochsen!«

»Weißt du was,« schlug Peder mit Inbrunst vor: »irgendwer sollte die Regierungen einfach wieder zurückbringen, – wenn nämlich auch jetzt wieder aus der Teilung nichts Rechtes wird! – Hat dein Vater darüber gar nichts gesagt?«

»Hö! gesagt! – Vater spricht überhaupt nur von Politik.«

Diese Enthüllung war so außerordentlich, daß Peder sie erst für sich eine Weile überdenken mußte. – Keine Sache für Charley, in allem flink und auf dem Posten zu sein, wenn er solchen Vater hatte, mit dem er über alles reden, von dem er lernen konnte. – Er aber, er trug sich mit allen seinen Sorgen so gut wie allein!

Die beiden Buben waren jetzt auf der Landstraße zu der Stelle gelangt, wo sie sich trennen mußten. Die andern Kinder waren schon weit weg.

»Komm mit mir mit,« schlug Charley vor, »dann bringe ich dich hinterher nach Haus und bitte für dich um Erlaubnis, – auf die Weise geht's leichter!«

Peder bohrte mit der Stiefelspitze im Weg. Das darfst du nicht, sagte eine Stimme in seinem Innern. Und zugleich sah er vor sich ein Bild, klar und deutlich: seine Mutter, die ihn daheim erwartete; immer wieder trat sie ans Fenster und schaute nach Westen; das Bild sagte noch vernehmlicher: Das darfst du nicht!

Charley brach in Lachen aus, in ein trillerndes frisches Lachen: »Jetzt siehst du genau aus wie Miß Mahon, kurz bevor sie eine Rede schwingen will, – kein Wunder, daß sie dich so gern hat!«

» Dich hat sie gern!« – Peders Gesicht war dunkelrot geworden.

»Hö! Hab's doch gesehen!«

»Und bei dir habe ich's auch gesehen!«

»Bei mir?«

»Jawohl, gerade bei dir. – Denn sie hat nämlich gerade dich gern!«

»Bist ja verrückt!« – Charley machte kurz kehrt und rannte davon. Peder hinterdrein. Diesen Punkt mußte er eingehender mit dem Kameraden erörtern – das vertrug keinen Aufschub! Und das Bild in seinem Innern war weg. – War übrigens auch richtig: wenn Charley mit ihm mitkam und erzählte, was die Lehrerin Komisches gesagt hatte, dann durfte er vielleicht. Dann sah Mutter gewiß ein, daß er, wenn er auf der Tagesordnung stand, – dann –. Und bei Dohenys dauerte es bestimmt nicht lange. Peder holte den Kameraden ein und schritt tüchtig aus, so daß der andere kaum mitkam.

– »Du,« Charley näherte sein braunes warmes Gesicht dem Peders, »sie hat auch heute abend dein Stück nicht gekonnt, – hat dreimal ins Buch geguckt!«

Peder lächelte still vor sich hin. Der Mund Öffnete sich, um etwas zu sagen, aber es wurde nichts daraus; er ging jetzt nur um so schneller; es entstand beinahe ein Wettlauf zwischen den Buben; bis beide ihre Schritte wieder verlangsamten.

»Hat sie meins gekonnt?« wollte Charley wissen.

»Weiß nicht.«

»Hast du denn nicht aufgepaßt?«

»Sie – well, sie hat nachgeguckt,« gab Peder zögernd zu, ärgerte sich aber sofort darüber, wollte es bemänteln und fragte:

»Glaubst du, daß die Sache mit dem Baum Schwindel ist?«

»Mit dem Baum?«

»Na, das mit Washington?«

»Alles Schwindel!« In Charleys Seele regte sich kein Zweifel. – »Washington war keine alte Glucke, – das sind bloß Schulmama Schulmama = Jargonausdruck für Lehrerin.-Geschichten, daß Jungen so was tun!«

Die fabelhaft kecke Unehrerbietigkeit des Kameraden ließ Peders Augen aufs neue voller Bewunderung aufblitzen; und zugleich – das war so sonderbar – fühlte er ein Gruseln deswegen, daß einer von der geheiligten Person des Vaters von Amerika so garstig sprechen konnte; dasselbe Gruseln, wie wenn er sich mal recht großgetan und geflucht hatte. Eine Weile ging er in nachdenklichem Schweigen. Dann sagte er zaudernd: »Er wurde Soldat und – ja, und dann General.«

»Yes, Sir,« versicherte Charley mit großem Nachdruck, »der stach Menschen tot, hieb ihnen die Köpfe ab, schoß sie mit Kanonen zu Fetzen – zu Hackfleisch, mein Junge, – nein, der war keine alte Glucke!« Charley warf sich in die Brust und schritt aus; jetzt wölbte sich auch seine Stirn höckrig vor. »Ich will dir mal was sagen,« fügte er hinzu: »sie ist ein Schaf, das ist die reine Wahrheit!«

»Well, sie ist – so'n bißchen ulkig,« gab Peder zögernd zu.

»Ulkig – hö –! – Wie die sich an einen ankleistert und schöntut, – pfui, ätsch, ich hasse sie, – ich reiß aus der Schule aus und vor ihrem Geknutsche!«

»Du willst doch nicht etwa wirklich?«

»Yes Sir, – ich brenne durch!«

»Wohin?« fragte Peder ungläubig.

»Nach Black Hills, Junge! Da rühren sich jetzt die Indianer; da kann's Krieg geben, sag ich dir!« Aus Charleys Worten sprach solch strahlender Glaube, daß Peder mit fortgerissen wurde; und jetzt fiel ihm etwas ein, womit er heraus mußte – und auch das war etwas ungemein Wichtiges:

»Die im Bürgerkrieg sind fast alles Jungens gewesen, viele nicht älter als wir – das steht in einem Buch bei uns zu Hause. – Die könnten uns gut brauchen, wenn es da draußen losgeht, nicht?«

»Yes, Sir! – Und wird es mit den Indianern nichts, dann graben wir einfach Gold; toll, wie die da draußen in Deadwood hausen – steht alles in der Zeitung!«

Plötzlich lachte Peder los, vergnügt und strahlend: »Weißt du was: dann rutschen wir lieber gleich nach Norden, packen die ganze Blase in Bismarck ein und bringen sie wieder nach Yankton zurück, – die Kerle da oben, die können ja doch keinen Staat auf die Beine stellen – das sollten wir ihnen beweisen!«

»Dann gibt es Krieg, Jung!«

»Lincoln hat sich damals auch nicht drum geschert, als der Süden glaubte, er könne machen, was ihm passe, – solch ein Unrecht darf man auch heute nicht ungeahndet dahingehen lassen!« – Peder redete mit einer solchen inneren Wärme, als sei ihm dieses Unrecht persönlich angetan worden, und das fand Charley so merkwürdig, daß er ihn ansehen mußte: tat der sich hier etwa so dick, als sei er schon erwachsen? Aber Peders rotes Gesicht spiegelte gerade jetzt die schiere Redlichkeit wieder: die Augen leuchteten dunkelblau; das Gesicht war weit zorniger als das irgendeines Erwachsenen, den Charley hatte über Politik streiten hören. Und da lächelte er voller Bewunderung. Das gäbe einen herrlichen Spaß, wenn was draus würde!

 

III

Die zwei Buben waren derart in den Gegenstand ihres Gesprächs vertieft, daß sie die Außenwelt erst wieder wahrnahmen, als sie bereits auf Dohenys Hofreite standen. Shep, der Hund, weckte sie aus ihren Träumen; er fuhr ihnen zwischen die Beine, wedelte, sprang an ihnen in die Höhe und bettelte um Spiel und Liebkosung.

»Shep, alter Kerl, – bist du das!« Charley hatte den Hund in den Armen und tobte dann mit ihm über die Hofreite davon; für den Augenblick hatte er seinen andern Kameraden vergessen.

Peder sah sich um. Die Häuser lagen in einem Halbmond angeordnet: zur Rechten das Wohnhaus, ein kleines zweistöckiges Gebäude, das niedriger aussah, als es eigentlich war, weil jetzt rings um die Grundmauer Mist und Stroh aufgehäufelt lagen – zum Schutz vor dem Winter. In der Tiefe des Halbkreises standen zwei Rasenhütten und fröstelten, obwohl sie gut mit Stroh eingedeckt waren. Gleich neben den beiden Gammen Gamme = nordische Rasen- oder Erdhütte. erhob sich ein neues Granary, neu gestrichen und schön abgeputzt. Ganz links stand ein neuer Stall von so stattlichen Maßen, daß er alles übrige auf dem Hof in den Schatten stellte; selbst das neue Granary kam gegen ihn nicht auf.

»Komm herein und iß ein Butterbrot!« lud Charley ein. »Das dauert nicht lange!«

»Geh du nur allein, ich sehe mir lieber den neuen Stall an. – Mach rasch!«

»Guck dir an, was du willst, aber jag den Kühen keine Angst ein, die haben noch nie einen Norweger gesehen!«

Gleich darauf stand Peder im Stall; es war jetzt zwar gerade kein Lebewesen darin zu erblicken, aber es gab doch genug zu bestaunen: auf beiden Seiten eine Reihe Boxen, in denen Geschirre hingen; hinter dem Stallraum eine Bretterwand mit mehreren Türen, die alle offen standen. Peder schritt langsam hindurch. Hinter der Bretterwand war ein viereckiger Raum; auf der einen Seite führte eine Treppe zum Heuboden hinauf, auf der andern öffnete sich oben eine große Luke zum Heuabwurf. Hinter diesem Raum kam der Kuhstall; lange Reihen von Einzelständen auf beiden Seiten. Peder ging langsam hinein, blieb stehen und sah sich um – ein mächtiger Stall! Platz für wenigstens zwanzig Kühe!

Peders Überlegungen wurde ein jähes Ende bereitet: aus dem Halbdunkel sauste ein hart zusammengeknäulter Halmwisch ihm gerade in den Nacken. Er fuhr herum und glotzte, rot und verdutzt. Kein Laut zu hören, keine Menschenseele zu erblicken. Die Stille drückte ihm schier die Kehle ab, so daß er husten mußte. – Ob da Charley nicht wieder einen Schabernack vorhatte? – Peder tat ein paar vorsichtige Schritte, sah erst in den einen Kuhstand, dann in den nächsten, die Spannung riß ihm den Mund auf. Plötzlich huschte ein Dirnlein aus dem Stand dicht neben ihm heraus, – kurzes Kichern und verhaltne Lachwellen zitterten in der Luft; wie ein Pfeil war sie durch den freien Raum an ihm vorübergeschossen, die Bodentreppe hinaufgehuscht und verschwunden. Der Stall lag stiller und ausgestorbener denn je.

Peder fand endlich seine Beine wieder und setzte ihr nach. Was er wollte, wußte er eigentlich nicht, aber er fühlte Scham in sich kochen, weil ein Mädchen sich hatte erdreisten dürfen, ihn zu foppen! Er zögerte auf den oberen Treppenstufen. Über dem Heu lag stille, seltsame, wie im Halbschlaf schlummernde Dämmerung. Heuhalme knisterten und richteten sich auf. Er sprang ins Heu, stolperte, stand wieder auf, horchte. Lauter wunderliche Laute rundum; und doch sah er nichts sich regen. – War es dort? – Nein! da mußte es sein! – Wieder saß ihm etwas in der Kehle; er zitterte so sehr, daß ihm die Beine fast den Dienst versagten; der Mund war ihm trocken. – Wo hatte sie sich versteckt? Sie konnte doch nicht sehr weit weg sein? – Er stand muckmäuschenstill und horchte nach Halmen, die sich wieder aufsteiften – dort! – Peder hielt den Atem an. Im Nu war er da. Hier lag das Heu locker, eine Stiefelspitze guckte vor; Peder fegte es mit der Hand zur Seite und warf sich kopfüber hin – im selben Augenblick hielt er einen bebenden Körper in den Armen und preßte ihn an sich, damit der nicht entwische. Etwas weiches und warmes Lebendiges lag dicht an ihm. Es bewegte sich in kurzen, heftigen Stößen und schlug gewaltig, – furchtsames, warmes Leben, das geradeswegs in sein eigenes hineinwogte. Es wurde ihm unbehaglich zumute, er fühlte sich kraftberaubt und beklommen. Er wollte loslassen, wagte es jedoch nicht. Denn ließ er jetzt los, dann geschah ein Unglück – das fühlte er deutlich.

»Laß mich gehen!« bat es.

Peder lockerte den Griff, ließ aber nicht los.

»Laß mich!« klang es heftig und heiß dicht an seinem Ohr.

Bebend hob er den Kopf, um aufzustehen. Der Körper, den er umschlossen hielt, begann sich zu winden, eine Wange berührte die seine, er fühlte sofort: etwas so Daunenweiches und Feines hatte er nie zuvor gespürt. Sein Kinn sank in eine warme Halsgrube, dicht an die Wange gedrückt. Da ließen sich unten hurtige Tritte vernehmen; jemand kam in den Stall, blieb stehen, horchte. – Jetzt rief dieser jemand; unheimlich laut schallte es durch den großen, leeren Stall: »Peder!«

Die beiden sanken furchtsam zusammen; wurden eins, lagen, ohne sich zu rühren, wagten nicht, Luft zu holen, – wenn der Atem sich dann doch seinen Weg erzwang, hörte er sich an wie Donnerrollen.

»Peder!« – Die Schritte liefen durch den Stall. – »Peder – heiho!« Und dann wieder weiter hinten: »Pe–der!« Der Ruf hallte und schallte. Jetzt wieder draußen auf dem Hof, und jetzt rief der obendrein gar noch wie nach allem Lebendigen zwischen Himmel und Erde: »Susie, Susie! – Oh – Susie!«

Der Körper in Peders Armen wogte. Er fühlte Tränen an seinem Gesicht, heißen Atem, und jetzt klammerte sie sich hilflos an ihn. – Das Rufen draußen hörte auf. Da endlich vermochte Peder sich loszureißen. Angstvoll und verwirrt setzte er sich auf, lief dann zur Treppe; sein Körper schlotterte, daß er sich gegen die Wand stützen mußte. Unten im Stall hielt er inne, um zu horchen, wie ein Verbrecher, der sich verfolgt weiß. Nur ein Wunsch stand ganz klar vor ihm: sich ungesehen aus dem Staub zu machen.

Charley trieb sich draußen auf der Hofreite mit Shep herum; sobald er Peder aus der Stalltür flitzen sah, kam er auf ihn zugestürzt. Und jetzt ging eine wilde Jagd um den Stall herum los – Peder voran, mit zusammengebissenen Zähnen, Charley hinterher, schreiend und juchzend. Shep konnte bei diesem ganzen Hallo doch unmöglich untätig bleiben; er kam mit hängender Zunge angehetzt – eine Zeitlang neben dem einen her, gab ein wonneerfülltes Kläffen von sich, das den ganzen Hof in Flammen steckte; dann noch ein Kläffen, und jetzt ging's zu dem andern hin. – Aber der Hund begriff schnell, daß es auf den abgesehen war, der vorweglief, und hielt sich also an den; damit geriet er Peder zwischen die Beine, und da gelang es Charley, sich auf Peder zu werfen. Beide Buben stürzten hin, der Hund stand stolz mit den Vorderpfoten auf dem, der zu oberst lag, auf Charley.

»Jetzt – jetzt sei du – – meinetwegen Washington, du – oh!« – Dies keuchte Charley.

Die Buben rangen aus Leibeskräften, Charley gutgelaunt, obgleich er alle seine Kräfte brauchte. Immer wieder spritzte ein lustig neckendes Wort aus ihm heraus. Von Peder war nur abgebrochenes Gestöhn zu hören. Sobald er merkte, daß er nahe daran war, die Oberhand zu erlangen, lockerte er den Griff, bis er wieder unten lag – dann begann er von neuem. Dies wiederholte sich mehrere Male. Nach einer Weile gab er nach, rührte sich nicht, bis der andere rittlings auf seinem Rücken saß, da sagte er ruhig:

»Jetzt will ich nicht mehr, – jetzt muß ich heim!«

»Uff, wie stark du bist!« sagte der andere bewundernd und blieb sitzen. »Wo hast du bloß gesteckt?«

Peder begann sich zu winden und stand mit dem andern auf dem Rücken auf. Shep glaubte, es ginge von neuem los, bellte und umsprang sie in frohen Sätzen; solch einen Spaß hatte er lange nicht erlebt.

Aber es wurde nichts daraus; Charley ließ los, Peder buddelte rot und keuchend mit der Stiefelnase im Sande herum und brachte es nicht über sich, dem Kameraden ins Gesicht zu sehen; er wollte weglaufen, sich endlich auf den Weg nach Hause machen und bekam es doch nicht fertig. – Er hatte das Gefühl, als sei er nicht eher imstande sich zu rühren, als bis der andere es ihm erlaube. Mechanisch drehte er den Kopf nach dem Stall, der still und ausgestorben stand wie vorher.

»Wo hast du gesteckt?« fing Charley wieder an.

»Auf dem Heuboden,« gestand Peder, – er merkte, daß er blutrot wurde.

»Ist der nicht fein, findest du nicht auch?«

»Der ist – der ist großartig.« – Jetzt warf ihm Peder einen schnellen Blick zu, kam auf einen Ausweg: »Der hat wohl viel gekostet? – Wir müssen nächstens auch einen bauen!«

»Über zweitausend – der Vater hatte zwölf Mann dazu hier – das war ein Spaß!« erklärte Charley stolz. »Und ich habe die ganze Zeit mit angefahren; fuhr total allein nach Sioux-Falls, denk dir bloß!«

»Hö hö!« nickte der andere voller Anerkennung; und dann setzte er schüchtern hinzu, jetzt müsse er aber gewiß heim.

»Bist wohl verdreht! Erst mußt du mit zum Lunch hinein, der ist jetzt fertig!« bestimmte Charley, und da er an dem andern ein Schwanken bemerkte, setzte er hinzu: »Vater ist noch nicht gekommen, – es dauert nicht lange.«

»Na denn – well, ich muß aber nach Hause und mit in der Wirtschaft helfen.«

»Das Essen steht auf dem Tisch. Mach doch, komm!«

Peder stellte sich, als höre er nicht; er tat zaudernd ein paar Schritte, spürte, er könne den Kameraden nicht so stehen lassen, schlug einen Haken und kam zurück. – »Dann wollen wir uns aber beeilen!« sagte er schnell und gedämpft und ging mit in die Küche.

Die Schummerstunde wollte sich schon in der Stube zurechtlagern. Peder bemerkte, daß hier nicht aufgeräumt war; Kleidungsstücke und Tücher hingen an allen Wänden herum, Eimer und Schüsseln aller Arten standen wie Kraut und Rüben durcheinander an der Erde. Brot, Butter und zwei Glas Milch waren auf den Tisch gestellt; der Tisch war rein, das Essen sah appetitlich aus.

Aus dem Ofen, in dem es lustig knatterte, fiel ein flackernder Feuerschein in die Stube. In einem Lehnstuhl dicht neben der Ofentür wiegte sich ein uraltes Weiblein und strickte einen Strumpf. Man mußte sich zweimal nach ihr umsehen: – auf dem Kopf saß ihr eine schwarze Haube mit hohem Aufputz, der nickte zum Stricken; die unzähligen Runzeln des Gesichts hatten sich vergeblich nach mehr Platz umgetan, waren des Suchens müde geworden und lagen jetzt starr wie in einem Wurzelknorren geschnitzt. Das ganze Gesicht schien versteinert. Aber die strickenden Hände, die unablässig mummelnden Lippen und zwei dunkle Augen tief in dem Runzelgewirr – alles das bezeugte eine Glut, die noch nicht ausgebrannt war. Obgleich die Züge so verhutzelt waren, sprach reine Güte aus ihnen. Über die Brust herab hing eine Schnur aus großen Glasperlen, an ihrem Ende ein Kreuz; ab und zu ließ die Hand die Stricknadeln los und berührte eine der Perlen. Eine braune Tonpfeife mit schwarz angerauchtem Kopf lag neben ihr auf der Herdplatte; nach dem Tabakrauch zu urteilen, der in dicken Schwaden in der Luft hing, mußte die Pfeife eben erst beiseite gelegt worden sein.

Der Kopf wandte sich den Buben zu, als diese hereintraten, mummelnde, undeutliche Worte kamen wie aus einem langen dunklen Gang, und sogleich schien die Alte die beiden vergessen zu haben und wieder mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Peder war vor ihr stehengeblieben und vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren. – War das ein lebendiger Mensch?

Charley puffte ihn in den Rücken: »Setz dich auf die andere Seite des Tisches!« Er selbst nahm den Stuhl dicht vor ihm.

Peder zwängte sich um den Tisch herum und setzte sich. – Er hatte eine Brotscheibe genommen und wollte sie bestreichen, vermochte sich aber nicht zu regen; denn immer wieder mußte er zu der Alten hinlugen.

»Guck sie nicht an,« sagte Charley ruhig; »dann glaubt sie bloß, daß wir von ihr reden, und das kann sie nicht leiden. – Aber red, was du willst; sie ist stocktaub.«

»Hört sie gar nichts?« fragte Peder leise; trotz Charleys Ermahnung konnte er das Hinsehen nicht unterlassen.

»Nicht die Spur, außer bei dichtem Nebel und wenn wir ihr direkt was ins Ohr hineinrufen; aber sie versteht gut genug.«

»Sie muß mächtig alt sein!«

»Der Vater meint, sie sei hundert Jahre alt; sie ist seine Großmutter.«

»Kann sie reden?«

Charley lachte herzlich über die törichte Frage.

»Weiß Gott, das kann sie! Die erzählt fein, sage ich dir, wenn sie in Laune ist.«

»Das müßte herrlich sein!« Peders Gesicht hellte sich auf – er hätte ihr gern zugehört. – »Was erzählt sie denn?«

»Och, so alte Geschichten aus Irland. – Von Liebe und Schlägereien und so. Sie weiß auch viele andere. Eine davon handelt von Weizensaat, die vom Himmel herabpurzelte und in eine Kirchenglocke hinein; es hatte viele Mißernten gegeben, und daher war die Not groß, und da beteten die Priester, und die Nonnen sangen jede Nacht in den Kirchen. Eine wirklich schnurrige Erzählung; Vater sagt, es sei alles wahr.«

»Wovon spricht sie denn jetzt?«

»Sie spricht ja gar nicht!«

»Der Mund bewegt sich doch – hörst du nicht?« Peder fragte es leise und verwundert, während er verstohlen hinlugte.

»Ach, das meinst du? – Sie betet!«

Das wurde immer merkwürdiger. Nun aber verging Peder sogar das Staunen, denn jetzt tat sich die Tür auf, und eine Dirn kam herein; sie trug eine Armlast Holz, ließ es in die Kiste am Herd fallen und klopfte sich darauf im Ofenwinkel in aller Gemächlichkeit den Holzstaub ab.

Charley redete sie über die Schulter weg an:

»Wart man, wie ich dich verwichsen werde, Susie! Wo steckst du bloß den ganzen Tag?«

Das Mädchen schien sich die Drohung des Bruders nicht allzusehr zu Herzen zu nehmen. Leises Kichern antwortete ihm, und dann kam ein foppendes: »So wirklich, du!« Gleich darauf fügte sie hinzu: »Wer behauptet denn so was?«

Der Bruder überhörte die Frage: »Wo hast du gesteckt?«

»Oh – hab mich hier abgeschunden.« Und jetzt ging sie zum Angriff über: »Beeil dich lieber! Vater sagte, du solltest das Vieh in den Stall gebracht und außerdem gemolken haben, bis er nach Hause kommt! – Tut dir nur gut, der du den ganzen Tag herumgestrolcht bist! – – Haut Miß Mahon solche Burschen wie dich nicht durch?« – Das kam alles ruckweise, aber die Stimme klang dabei so weich und war so voller Lachen, daß es sich anhörte, als brächten die Worte eitel Freude. Peder lächelte unbewußt. – Sie löste ein Tuch vom Halse und hing es an die Wand. Darauf verschanzte sie sich hinter dem Stuhl der Greisin, legte die Arme auf die Rückenlehne und streichelte der Alten die Wangen. So konnte sie ihr Gesicht jeden beliebigen Augenblick hinter dem urgroßmütterlichen Kopf verstecken. – Tiefe Dämmerung lag über dem Zimmer. Im Herdwinkel war sie schon beinahe undurchdringlich. Ab und zu nur flackerte ein Lichtschimmer vom Herde auf und beleuchtete die Gesichter von Urahne und Urenkelin. Peder guckte geschwind hin, traf braune Lachbereitschaft, wurde glühend heiß und ließ die Augen nicht mehr herumschweifen.

Das Mädelchen war Charleys Zwillingsschwester. Die beiden ähnelten sich wie zwei Erbsen aus derselben Schote – nur war sie kleiner und schmächtiger gebaut; sah man beide Gesichter nebeneinander, so bemerkte man das aber nicht, weil das ihre von größerer Reife zeugte. Susie ging in diesem Jahre nicht zur Schule; die Mutter war im Frühsommer an der Auszehrung gestorben, und so mußte Susie den Haushalt besorgen.

Peder verschlang eiligst die Butterschnitte und goß die Milch hinterher, stand auf und ging um den Tisch herum.

»Brauchst nicht mitzukommen; – komm morgen zeitig in die Schule,« sagte er und faßte nach der Klinke. Etwas drehte ihm den Kopf herum und zwang ihn, zum Herde zu gucken. In dem flackernden Lichtschimmer tauchte das Mädelchen für einen Augenblick hinter dem Kopf der Alten hervor, war aber sogleich wieder verschwunden. – Im Nu war Peder aus der Türe, sprang mit einem Satz die Treppe hinunter und rannte davon.

 

IV

Tiefer Abend ringsum. Am Westhimmel verriet noch satte Röte, wo der Tag geblieben. Aus dem Halbdunkel hauchte es kühl und feucht. – – Heut nacht gibt's gewiß scharfen Frost, dachte Peder.

Peder hatte gute zwei Meilen Weges vor sich. Die erste halbe rannte er; dann aber ließ er nach, gab sich Zeit zum Atemholen, ging schließlich nur noch saumselig.

Ein dichtes Gewimmel seltsamer Gedanken senkte sich über ihn; sie zogen durch ihn hindurch und begannen mit so neuen und merkwürdigen Gefühlen zu spielen, daß sein Schreiten aufzuhören drohte. Und je langsamer er ging, desto mehr Macht bekam das Wundersame. Er merkte es nicht, denn er sang jetzt vor sich hin. Wurde gewahr, daß er sang, und unterbrach sich sogleich. Niemand durfte ihn jetzt singen hören – um keinen Preis der Welt! – Er fühlte es in der Brust schwellen; etwas Weiches und Warmes hatte von ihm Besitz ergriffen; es durchrieselte seinen ganzen Körper. Er fühlte, er wurde rot, und blickte sich scheu um. Hier sah ihn doch hoffentlich niemand? – Nein, wohl nicht. Aber der Abend stand dicht und stumm rundum und lauschte. Er spürte gut, daß der alles hören konnte – der Schall der Sohlen auf dem Weg klapperte wie lautes Gepolter; er setzte die Füße vorsichtiger auf. – Eine leise Angst lauerte in ihm und Unruhe und zitternde Verwunderung. Zugleich eine unbekannte Kraft. Und außerdem war ihm so fröhlich ums Herz. Plötzlich warf er die Arme vor und schwenkte sie im Kreise. Das waren Flügel, die ihn gut tragen konnten. Er hätte jetzt weit, weit hinter die Abendröte und hinein in den klaren hellen Tag fliegen mögen; denn da wartete etwas auf ihn. Er lachte diesem Etwas zu und ließ die Arme schneller kreisen!

– – Ihm wurde so heiß, er bekam Lust, sich auszuziehen. Mit einem Male wußte er, daß er einen Körper von Fleisch und Blut besaß. – Fühlte es sich so an, erwachsen zu sein?

Das Geschehnis auf dem Heuboden stand wieder klar und lebendig vor ihm. Die Füße krochen nur noch im Schneckentempo. – Etwas so Flaumweiches und Lebendiges! – Peder mußte lachen. – Das Herz hatte genau in seiner Hand gelegen, – er fühlte noch, wie es klopfte. – – Und sie hatte geweint – das war das Merkwürdige! Denn er hatte ihr doch nichts Böses tun wollen, – bloß sie so ein bißchen strafen, weil sie ihn zu Tode erschreckt hatte. – – Weshalb hatte sie bloß geweint? – Ja, weshalb hatte sie geweint? – – Die Kehle wurde ihm trocken; vor die Augen legte sich ein Schleier, weil das Dunkel, aus dem es ihn so anfröstelte, eine Wasserhaut darüber legte. Leise Kälteschauer durchjagten seinen Körper, obwohl ihm heiß und schwitzig war. – – Ein Heuwisch lag auf dem Weg und wartete auf den ersten Windhauch; recht gleichgültig, woher der wehen werde. Peder stieß ihn mit dem Fuß weg. – Da lag noch einer – hatten die heute Heu eingefahren? Hätten es besser verstauen sollen! Er mußte alle Heuwische aus dem Weg stoßen.

– – Aber daß sie geweint hatte und um seinetwegen und ihm trotzdem nicht böse gewesen war! Denn das war sie wohl eigentlich nicht? So hatte es sich doch nicht angehört, als sie hereingekommen war? – – Plötzlich stand ein Gedanke vor ihm, den er sich näher besehen und dazu stehenbleiben mußte: waren sie jetzt verlobt, er und die Susie? – – Die Frage ängstigte ihn. Zugleich aber kam ein Gedanke in voller Kraft angeflogen: wenn er verlobt war, so bedeutete das, daß er im Begriff war, ein erwachsener Mann zu werden – denn kleine Kinder verloben sich nicht! Peder reckte sich inmitten der verlassenen Prärie und dachte nach und grübelte. – – – In dem Dunkel im Westen fing irgendwo ein Hund zu bellen an, – ein wütendes, hitziges Kläffen. War das Shep? – Vielleicht kam jetzt Doheny aus Sioux-Falls nach Haus? – – Weiter im Südosten stieg ein starker Lichtschein am Himmel auf von einer brennenden Strohmiete; der Feuerschein wogte leuchtend in die Nacht hinaus; Peder schien es, als brülle es aus dem hervor. Peder fühlte die Kraft dessen, das dort gärte, und spürte, daß ihm das wohltat. – – Er nahm sich zusammen und lief; der Wind sauste ihm um die Ohren, kühlte so herrlich; er verlangsamte seinen Lauf, so daß er die Arme ins Dunkle strecken und mit ihnen rudern konnte, und dann lachte er wieder! – –

Der Tag war vergangen, als er schließlich auf der heimischen Hofreite anlangte. Im Küchenfenster blinzelte ein Licht in den Abend hinaus; es stand auf Ausguck nach ihm und fragte: kommst du endlich? – Er hörte die Frage nicht gern und bog nach den Wirtschaftsgebäuden ab, die sich im Dunkeln wie eine Reihe niedriger Strohmieten ausnahmen. Von einer der Mieten schallte eine kräftige Männerstimme ins Dunkel hinaus. – Das ist Ole, dachte Peder; jetzt spricht er eines der Pferde an. – – Im gleichen Augenblick öffnete sich die Küchentür, ein Lichtstreifen sprang über die Hofreite und fing ihn ein. Die Mutter kam heraus und stellte einen Eimer auf der Treppe ab, ging wieder hinein und ließ die Tür hinter sich angelehnt – also wartete da drin noch ein Eimer. – – Jetzt will die Mutter hin und die Schweine füttern, und das ist eigentlich meine Arbeit! – Er ermannte sich, lief über die Hofreite und trat in die Küche.

Das Licht blendete stark, so daß er sich abkehren mußte. Annemarie, jetzt fünfzehn Jahr, war bereits dabei, das Nachtessen auf den Tisch zu setzen; die Mutter stand beim Herd über einen Eimer gebückt; sie hatte Stallkleider an – eine alte Überjacke und eine dicke Strickmütze.

»Ich werd die Schweine füttern,« sagte er leise. – Das waren die ersten norwegischen Worte aus seinem Munde, seit er am Morgen in der Frühe von Hause weggegangen war; und ihr Klang, dazu der Anblick von Schwester und Mutter, die hier den ganzen Tag über so emsig das Haus besorgt hatten – das Aussehen des Zimmers und alles dessen, was hier stand und lag und sich verbarg, das fegte mit einem Zuge die ganze Welt weg, in der er tagsüber so kräftig gelebt hatte. Dies hier war eine andere Welt. Schon früher hatte er zuweilen dies Gefühl gehabt, aber heute abend beschlich ihn ein solches Staunen darüber, daß er sich umschauen mußte: gehörte er hierher, oder in das andere da draußen?

»Lang bist du geblieben, – ich wollt gerad hinaus und dich suchen,« sagte die Mutter, ohne sich nach ihm umzuschauen. Der Vorwurf schmerzte um so heftiger, weil die Worte so ruhig klangen. Er fühlte, wie sehr sie sich um ihn gebangt hatte. – – Er hatte ja doch gewußt, daß er nicht hätte mit Charley mitgehen sollen!

Die Schwester drehte sich nach ihm um:

»Hast nachsitzen müssen?«

»Nachsitzen, pö!« Peder würdigte sie keiner weiteren Erklärung; er ging zur Mutter, um ihr den Eimer abzunehmen:

»Im Schulhaus soll heut große Versammlung sein; auch aus Sioux-Falls kommt ein Redner; die Miß Mahon hat gesagt, ich müsse auch auf die Tagesordnung, und dann hat sie noch gesagt, du müssest auch kommen, Mutter!« erzählte Peder geschwind und tosend, fühlte aber zugleich, wie sonderbar sich das hier drin alles anhörte.

»Schütt beide Eimer in die Saubucht.« Die Mutter richtete sich auf und sah ihm ernst ins Gesicht. »Die andern haben ihr Teil schon bekommen.«

»Mais auch?« – Peder bückte sich und drehte sich zugleich von der Mutter weg.

»Nein, Mais mußt du ihnen noch geben. – Nimm den Eimer mit, der draußen auf der Porch porch = Vorraum. steht – laß nicht überschwappen!« Mehr sagte die Mutter nicht? Peder konnte das nicht begreifen.

Im Schweinestall stellte er die Tränkeimer ab, nahm die Schaufel und warf Mais in die Tröge. Sofort erhob sich in der Finsternis ein entsetzliches Rumoren bei diesen dunklen Teufeln – langgedehntes Heulen, Stupfen, wütendes Grunzen, rasendes Quietschen. Heut abend lachte Peder und schüttete ihnen mutwillig den Mais gerad auf die Rüssel – so, da hatten sie's, und da noch einmal! – Der Spektakel ging erst richtig los, als er ihnen den Trank in die Tröge goß; denn jetzt wollten sie alle auf einmal heran. Er bückte sich über den Pferch und zupfte die Ohren, die er erhaschen konnte. – – Es war heut abend doch gar zu lustig, das Schweinefüttern! – Aber er mußte sich wohl in den Stall hinübersputen und dem Großen-Hans beim Melken helfen.

In der Stallmitte unterm Dach hing die blakende Laterne. Peder hörte, wo der Bruder saß, nahm einen der Eimer und den Schemel, sagte gleichgültig »hello« und setzte sich unweit des Bruders.

Der Große-Hans antwortete erst, als er seine Kuh ausgemolken hatte, draußen im Gang gewesen war und die Milch in den großen Eimer gegossen hatte; als er dann aber wieder zum Stand kam, blieb er neben Peder stehen:

»'s war hohe Zeit, daß du dich heimgetrollt hast; das tust du mir nicht noch einmal! Die Mutter soll den Verdruß nicht haben, daß sie auf dem Gehöft herumlaufen und nach dir fragen muß!« – Aus des Bruders Worten sprach nicht so sehr Zorn als tiefer Ernst. Aber er war noch nicht fertig: »Was hast du denn den ganzen Tag getrieben?«

»Hö! den ganzen Tag!« schnob Peder.

»Ich frag dich, was du getrieben hast?« – Der Bruder kam ihm bedrohlich nahe.

»Getrieben?«

»Ja – getrieben?«

»Nichts weiter –«

»Heraus mit der Sprache!«

Peder begriff, daß es kein Drumherum gab – wenn der Große-Hans in der Laune war. »Bin halt bloß mit dem Charley mitgewesen, und da sollten wir Lunch kriegen – wenn du's denn durchaus wissen willst!

»Du hast's nicht nötig, auf den fremden Hof zu laufen zum Essen, – du bist bereits das zweite Mal zu spät gekommen, und jetzt hat's damit ein Ende – laß dir das gesagt sein!« – Der Große-Hans setzte sich an die nächste Kuh, und mehr wurde zwischen ihnen nicht gesprochen.

Grimm zitterte in Peder – bloß noch ein bissel warten sollten die! – – Zu viert paßten sie hier auf ihn auf; selbst Annemarie, das dämliche Gör, hatte ihren Senf dazuzugeben! – – Und der Große-Hans mit seinem verdammten Ernst mußte ständig in allem nachschnüffeln. – – Die Mutter, well – mit der war's etwas anderes. – Kurz und gut: abwarten, alle miteinander! bloß noch eine Weile abwarten!

Aber sein Unbehagen gab sich bald. Es war traulich und warm, hier zu sitzen und das Gesicht an die warme Flanke zu lehnen, zu spüren, wie der Atem der Kuh in ruhigen Zügen stieg und sank. Das Wiederkäuen rings um ihn wurde zu gemütlichem Plaudern, das er verstehen konnte. – – Sich eilen? – Bewahre! heut abend nicht! Der Bruder mochte schimpfen, so viel's ihn freute.

 

V

Das Nachtessen stand auf dem Tisch, als sie mit der Milch hereinkamen. Ole saß im Lampenlicht, das von dem Wandbrett für Uhr und Lampe herabfiel, und las The Sioux-Falls-Press. Peder guckte dem Bruder über die Schulter, während er darauf wartete, bis der Große-Hans sich gewaschen hatte, damit er heran konnte.

»Ihr haltet das neue Blatt? Was steht denn da drin von der Politik?« Er sprach unnötig laut, und als er keine Antwort bekam, fing er an, den andern laut vorzulesen:

»Die Legislatur tritt nächsten Monat in Huron zusammen – viele Versammlungen – die Leute verabreden die Instruktionen Instruktionen für die Wahlkandidaten, also = Wahlprogramm. – Versammlung in jedem Schulkreis – Viele gegen Teilung – Bismarck besteht auf Teilung und glaubt, daß jener Teil des Territoriums zuerst in die Union aufgenommen wird – –.« Peder vergaß sich, die Augen weiteten sich und leuchteten: »Hängen sollt man die Gauner!« – Noch ein paar weitere von Charleys Redewendungen hätte er jetzt brennend gern in die Stube geschleudert – aber er besann sich noch rechtzeitig.

Niemand schien auf ihn zu achten. Jetzt mußte er sich waschen, und dann legte der Bruder die Zeitung weg.

Gleich darauf saßen alle um den Tisch, und Peder sprach das Tischgebet.

Auch heute abend hatte niemand etwas zu erzählen. Peder war so an das Stillschweigen bei Tisch gewöhnt, daß es ihm kaum aufgefallen wäre, wenn heute abend nicht allerlei Ungesagtes darin gelegen hätte; das schwebte in der Luft, bat darum, zu Laut kommen zu dürfen, wurde geradezu aufdringlich. Er lugte verstohlen von Gesicht zu Gesicht; er sah, wie sie alle warteten und lauschten. Und da verstand er: das Merkwürdige, das, was mit ihm und Susie heute geschehen war, das war es, was mit dem Stillschweigen rang.

Gleich sprengte es den Zauber, und dann kam alles an den Tag. – Das darf nie und nimmer geschehen! dachte Peder. Er sah Worte vor sich und griff ungestüm danach. Und da fing er wieder von der Versammlung an, die heute im Schulhause stattfinden solle; laut und schallend – dann und wann kamen die Worte förmlich geströmt:

Sie sollten's nur glauben, der sei ein gewaltiger Redner, der den Vortrag halten solle – Doheny sei hingegangen, ihn zu holen! – Peder tat Doheny einstweilen beiseite, sprach erst von etwas anderm, holte ihn dann wieder heran: – yes, Doheny sei eigens darum hineingefahren – er komme heut zum Abend wieder heim, und den Redner bringe er mit. – – Doheny solle zur Legislatur in Huron; der glaube, daß Huron vielleicht Hauptstadt werde – bei Dohenys redeten sie überhaupt von nichts anderm mehr. – – Peder fiel ein, daß dieses viele Erzählen von Doheny am Ende auffällig sei, bat also um die Kartoffeln und fing jetzt wieder von Miß Mahon an:

Sie habe ihm befohlen zu kommen – – habe ihn einfach auf die Tagesordnung gesetzt, denn sein Lesestück passe so ausgezeichnet. – Miß Mahon sei eine ausnehmend tüchtige Lehrerin. – – Viele von den Kindern könnten freilich nicht so recht mit ihr auskommen – Peder lachte leise vor sich hin über etwas, was die andern natürlich nie würden begreifen können. – Ja, und ihr Vater sei in der Schlacht bei Stoneriver gefallen, ihre Mutter aus Gram darüber gestorben. – – Miß Mahon habe gesagt, auch die Mutter müsse heute abend kommen – – Könnten sie nicht alle zusammen im Lumberwagen hinüberfahren? – Annemarie brauche auch nicht allein daheim zu sitzen.

Peder schwätzte, als gälte es das Leben. Alle guckten ihn an, erst der eine, dann der andere; und dann sahen alle zur Mutter hin.

»Bist ja heut außer Rand und Band, Permann, – das alles haben wir schon einmal gehört,« sagte die Mutter ruhig; »und da ist es nicht mehr gar so seltsam – gönn uns jetzt die Ruh zum Essen.« –

Die Mutter legte zuerst das Besteck hin. Nach einer Weile das Mädchen. Die Brüder aßen ausgiebig. Der Große-Hans, der brauchte auch immer so lange dazu. Aber schließlich legte auch der den Löffel hin, so daß Peder endlich das Tischgebet sprechen konnte. Alle blieben mit gefalteten Händen sitzen. Und jetzt sang die Mutter einen Choral; die Stimme klang milde und spröde wie bei jemandem, der lange eine schwere Bürde getragen hat und nun müde und matt geworden ist. Die Schwester sang mit, die andern hörten zu.

Sobald sie mit Singen fertig waren und jeder seiner Beschäftigung nachzugehen begann, gewann Peder Ruhe und Sicherheit zurück – jetzt hätte auch er ein Liedlein anstimmen können! Die Mutter erhob sich, ging zum Herd und machte sich an einem Kessel über dem Feuer zu schaffen. Ole nahm die Zeitung vom Uhrbrett; Annemarie wusch die Abendbecher auf; der Große-Hans sah sich eine Maiserntenadel an, über die er sich heute nachmittag hatte ärgern müssen. – Peder jagte nach dem Buch mit der Erzählung von der Schlacht bei Gettysburg herum.

Er war doch zu gespannt, was die jetzt mit der Versammlung im Schulhaus vorhatten? – Well, lieber vorläufig den Mund halten, – die Uhr war erst ½7, und bis hinüber zur Schule sollte es nicht viel Zeit kosten!

Aber jetzt begann die Mutter beim Herd:

»Du, Permann? – Mußt mir heut abend den Eimer tragen, – bin gar so müd im Arm.«

Alle sahen sofort auf. Die Worte der Mutter klangen wie eine Bitte, wirkten jedoch wie ein Befehl; der tiefen Milde dieser Stimme war nicht zu widerstehen. Peder sah sogleich nach seiner Mütze; das Gesicht leuchtete kupferrot. Alle wußten – er selbst am allerbesten – jetzt kam das Verhör. Der Große-Hans betrachtete aufmerksam seine Nadel: nein, die Mutter, die war wirklich unvergleichlich! Das hatte sie sich ausgedacht, bloß um das Knäblein zu schonen! – Übrigens hätte sie ihn diesmal laufen lassen dürfen, er hatte ihm bereits alles verabreicht, dessen der gegenwärtig bedurfte.

Der Bub ging mit der Mutter über die Hofreite; er voran, sie mit der Laterne hinterher. Große Schatten huschten vor ihnen hin – unsicher, phantastisch, mächtig; die schwangen sich ins Dunkel hinein; sein eigener am weitesten – schien es Peder. Die Hofreite wich vor ihnen so seltsam zurück, fast so, als senke sie sich unter ihren Füßen. – – Beide schwiegen.

Es ging wieder zum Kuhstall.

Einen der mittleren Stände bewohnte ein uraltes, vermagertes Tier; das hatte sein Plätzchen hier gefunden, weil Beret Holm meinte, es sei die wärmste Stelle im Stall. Das Tier war einmal eine schmucke, stattliche Kuh gewesen und hieß Buntscheck. Der Name war alles, was ihr aus den Tagen ihrer Schönheit geblieben war. Weder gab sie Milch, noch war sie im Frühjahr oder im Herbst läufig; die Zähne waren ihr schon seit langem ausgefallen. Kam sie einmal ins Freie, so stierte sie stumpf in eine Welt hinaus, die sie nicht mehr verstand, zottelte um die Wirtschaftsgebäude herum, vorsichtig und bedachtsam, bis sie den wärmsten Sonnenfleck herausgefunden hatte, wo sie sich hinlagerte und das Maul in den Weichen versteckte. Um das Futter brauchte sie nicht zu jammern; denn sie bekam morgens und abends dicke, lauwarme Suppe und dazu so viel feingemahlenes Maismehl, als sie in sich hineinzuschlecken vermochte. Diese Kuh hatte damals die Fahrt mitgemacht, als die Familie aus Fillmore County hergezogen war, – an die dreizehn Jahre war das jetzt her. Sie zu verkaufen oder gar zu schlachten, das lag Beret Holms Gedanken geradeso fern, wie ihre eigenen Kinder umzubringen. Und kein anderer verstand mit Buntscheck richtig umzugehen. Spürte das alte Vieh eines andern Hand, so wurde es mürrisch und stieß. Im letzten Winter war es noch dazu blind geworden – vielleicht vor Altersschwäche, oder auch, weil es hier so lange im Dunkel gestanden hatte.

Die Mutter machte sich heute abend lange bei Buntscheck zu schaffen, kraulte die alte Kuh, während die ihr Mehlgetränk in sich hineinschlürfte, streute ihr noch Stroh unter, holte eine Pferdedecke und knüpfte sie um den alten, magern Leib.

Peder hatte kein Verständnis für diese Pimpelei mit einer halbkrepierten Kuh und hielt damit auch nicht hinterm Berg; was ausgelebt hatte, das pflegte man nicht mehr lebendig, trotz aller Mühe. Wie er jedoch jetzt auf die kahle Flanke hinleuchtete, stieg ein merkwürdiges Bild vor ihm auf – von einem lachenden Mädel hinter einem Stuhlrücken, das eine uralte, runzelige Backe streichelte. Das Bild war so kurzweilig anzuschauen, daß das Traurige, das ihm selber jetzt bevorstand, beinahe verschwand.

Es schien, daß die Mutter endlich die Kuh so sorgsam zur Nacht betreut hatte, wie sie es gern wollte. Peder befand sich im Stand daneben, die Laterne stützte er auf die Zwischenwand. Die Mutter ging zu Buntscheck hinein, nahm ihm die Laterne ab und ließ ihm das Licht ins Gesicht fallen.

»Viel gibt es, was du noch nicht verstehen kannst, mein Junge, aber das kommt schon noch mit der Zeit. Wir müssen die Buntscheck sorglich pflegen, selbst wenn sie alt ist! – – Erzähl mir jetzt, wie es zuging, daß du nicht rechtzeitig heimgekommen bist.« Die Stimme klang kameradschaftlich und freundlich.

Peder schluckte:

»Ich hab den Charley heimbegleitet.«

»Ja gewiß – aber so arg lang kann das doch nicht gedauert haben?«

»Wir mußten halt lunchen.«

»Ich wundere mich über dich, Permann! – Lunch und bei diesen Leuten?«

»Der Charley bat mich darum!«

»Jaja, mein Büblein, 's ist nichts Schlimmes daran. – Aber, schau, es gibt vielerlei, was die Leut dir anbieten und wozu du nein sagen lernen mußt. – – Dachtest du gar nicht daran, daß die Mutter deinetwegen sich ängstigen könnt?«

»N-nein … eigentlich nicht.« Peder versuchte sich zu ermannen. – – »Obwohl, freilich, ein bissel vielleicht doch.«

Eine lange Pause trat jetzt ein; für Peder war sie schwer zu bestehen, und sein Kopf sank tief herab. Die Mutter schob die Laterne weiter zurück, so daß das Licht sein ganzes Gesicht einfangen konnte; das brannte so bös, daß er sich abkehren mußte. – – Buntscheck stampfte und bereitete sich zum Hinlegen vor, hörte aber die Stimme der Hausmutter und unterbrach ihre Vorkehrungen.

»Was habt ihr euch denn erzählt, du und der Charley?«

»Oh – – wir sahen uns nur ihren neuen Stall an, – der ist groß, kannst du glauben! – – Ja, und das sag ich dir – so einen Burschen wie den Charley, den gibt's nicht noch einmal!« sagte Peder mit großem Nachdruck.

Eine neue Pause entstand. Und dann sagte die Mutter leise und warm:

»Mußt dir einen andern Kameraden suchen, Permann!«

»Warum denn?«

»Ja – schau: du bist Norweger und die sind Eiris Eiris = norwegisch-amerikanisches Platt, Bezeichnung für die Iren (the Irish)., aber das verstehst du freilich noch nicht, – ist übrigens auch nicht zu erwarten.«

»Darum sind sie doch wohl auch Menschen,« sagte Peder altklug und treuherzig.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Mutter:

»Ja, aber sie sind von einem andern Volk! – Sie haben einen andern Glauben, und Gesippung vererbt sich leicht; das ist wie mit dem Unkraut. – Es ist geradezu lästerlich, daß wir die Schule mit jenen zusammen haben müssen – es geht nicht an, daß man Weizen und Kartoffeln in ein und derselben Miete aufbewahrt. – Die das alles zu verwalten haben, hätten wohl soviel Witz und Verstand besitzen sollen!«

Der Bub erfaßte es nicht, und er wußte nichts darauf zu erwidern.

Aber jetzt begann die Mutter von neuem:

»Jetzt bitt ich dich um eins, Permann,« sie kam ihm einen Schritt näher, so daß sie ihm die Hand auf die Schulter legen konnte: »Das tu mir nicht öfter! – Komm heim, sobald ihr fertig seid mit der Schule! – Daheim bange ich mich und kann's nicht ändern – – und dann wird alles so trüb für mich. – – Von dem Augenblick, wo du in der Frühe gehst und bis du am Abend heimkommst, habe ich keinen andern Gedanken. – – Ich glaub, ich bin wie der Vogel, der es nicht vermag, seine Jungen zu hüten. – – Doch der Herrgott weiß es wohl am besten, was er mit dem allen im Sinn hat!« Die Mutter sprach leise, mühsam; bekümmerter Ernst lag in der Stimme, die dem Buben unmittelbar zu Herzen ging. Er mußte sich aus dem Lichtkreis flüchten; Schluchzen schüttelte ihn. Die Mutter ließ sich gut Zeit. – – Nach einer Weile sagte sie ruhig, als wäre nichts zwischen ihnen geschehen:

»Aber ich glaub beinah, wir stehen und verschwätzen hier die Zeit, und die Buntscheck kann sich nicht lagern!« – Sie wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte, nahm dann die Laterne und blieb in der Stalltür stehen, bis er nachkam. – Als sie die Tür gut geschlossen hatte, sagte sie milde:

»Jetzt lauf nach einer Armlast Holz, dann brauch ich es nicht zu tun.«

Das traf den Buben schlimmer als all das andere: denn das Sorgen für Brennholz war während der Maisernte die Aufgabe, für die er voll verantwortlich war. Ja, jetzt sah er ein, wie schlimm die Versäumnis gewesen war! Und da war es gewiß mit dem Übrigen ebenso, wenn sie es sagte! – Peder kniete vor dem Holzstapel hin, rieb sich das Gesicht mit dem Jackenärmel ab, nahm überlegsam Scheit auf Scheit und legte es auf den Arm.

Die Mutter trat in die Küche, hängte die Stallkleidung auf, ging in ihre Kammer und verweilte dort lange. Als sie wieder in die Küche kam, hatte sie sich gewaschen und war in Feiertagskleidung. Sie sah den Großen-Hans an, als erwarte sie seinen Rat; aber die Frage, mit der sie jetzt kam, richtete sich an alle:

»Was glaubt ihr, wäre Sinn darin, wenn wir hinüberführen? – – Freilich: hat erst die Lehrerin nach mir geschickt, so wäre es nicht hübsch, wenn ich daheim bliebe. – – Ich mein, ihr schirret die Pferde an, ihr Buben!«

 

VI

In den achtziger Jahren ging ein gewaltiges Frühlingswetter über alle diese Gebiete im Westen. Von Urbeginn an hatte die Prärie ungestört Sonne und Feuchtigkeit geschlürft und in den unendlichen blauen Tag hinaufgeschaut, der über sie hinwegkreiste, und gelauscht auf das, was die Dämmerungsbrise ihr des Abends an seltsamen Mären brachte. Jetzt jedoch hatte die Riesin, die Ebene, anderes zu denken.

Die Erdhütten zerfielen und mischten sich mit der Erde, von der sie genommen waren. Erde bleibt immer Erde und war nimmer zum Obdach für Menschen bestimmt, solange die noch auf zwei Beinen herumgehen. Große Wohngebäude und mächtige Wirtschaftsgebäude schossen allerorten empor. Zur Sommerszeit versuchte die Riesenebene es mit dem Tornado; im Herbst und Frühling griff sie zum Präriebrand, so daß Himmel und Erde eine einzige Lohe wurden; im Winter ließ sie alles Ungemach los, das sie erdenken konnte, Blizzards und Kälte. Und alles doch ohne jedes andere Ergebnis, als daß die Häuser sich nur noch weit schneller wieder erhoben, als sie sie zu zerstören vermochte. Sogar die Elemente des Himmels bekamen es jetzt zu spüren, daß man sich vor Menschenmacht hüten soll, zumal, wenn sie sich mit der Freude verbündet.

Die Neuansiedler befuhren alle die endlosen Steppen, in großen Scharen sowohl wie in kleinen. Nacht und Tag kamen sie gezogen. Wo die Eisenbahn voraussauste, flogen die Westfahrer nach, gerade wie die Möwe dem Schiff aufs Meer hinausfolgt. Die Alten hätten sich niemals eine solche Menschenmenge vorstellen können. Die Menschen sahen zu und lachten, lachten freudig dem Traumbild entgegen, das sie kommen sahen: die ganze unendliche Weite voll goldenen Korns! Denn ein Neukömmling nach dem andern stieß den Pflug in die Erde; bald wogte Acker neben Acker von Himmelsrand zu Himmelsrand. – Sollten die Leute hier nicht Hütten bauen, wo alles, was Krume über sich kriegte, wuchs, daß einer es hören konnte? – »Es ist geradezu gefährlich,« sagten die Landagenten, »die Toten in diesen Boden zu legen, – stellt euch bloß vor, wenn die anfingen zu wachsen! Was würde dann daraus? Der Herrgott schafft immerweg mehr Menschen, so sonderbar es auch sein mag, nicht aber mehr Boden. Liebe Leute, seid vorsichtig mit dem, was ihr sät und pflanzt!« – – Und eine Rekordernte folgte der andern durch sämtliche achtziger Jahre. Die Heuschreckenzeit war zur seltsamen Mär aus uralten Zeiten geworden – es war seither unendlich viel geschehen.

Große Verkehrswege fingen an, sich von Ferne zu Ferne zu schwingen – von dem einen Städtchen zum nächsten, es war zugleich die Zeit des Wegebauens.

Und County und Kreisverwaltung mußten organisiert, Behörde und Obrigkeit aller Art gewählt werden, um alles zu lenken. Schule und Kirchengemeinde und Gemeinderat. Und unzählige Ämter und Komitees und Kommissionen. Der Zufall konnte bisweilen eine verlauste Ratte von Strandhocker zum Amtsvorsteher über hundert und zweihundert Seelen machen. Nie wurde gefragt, was ein Mann gewesen war – das hätte für so manchen zur Klippe werden können; man fragte nur: hatte er den Kopf am rechten Fleck, und war auch was drin? Und verstand der Mann sich aufs Reden, und zwar auf englisch? Denn eine Sprachenverwirrung, weit schlimmer als zu Babels Zeiten, ein Getöse von entsetzlich geradebrechtem Englisch erschütterte die Luft.

Gar mancherlei brachte die Gemüter in jenen Tagen zum Gären. Da draußen in den Black Hills, da grub man das Gold aus der schwarzen Erde hervor. Gerüchte von Roheit und Totschlag verbreiteten sich aus jenen Gegenden. Dort war Manneskraft auch Mannesrecht. Farming war nun mal nur Farming; es währte lange, bis einer auf die Art zu Reichtümern kam; manch armer Schlucker setzte seine Zuversicht aufs Glück, verkaufte sein bißchen Eigentum zu dem Preis, den er gerad erwischen konnte, und lief seines Weges, ja, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

Und längs der neuen Bahnlinien schossen die Städte aus der Erde auf wie die Gopher Gopher = Prärie-Eichhörnchen.-Lager. Ja, das heißt: was man da so ›Städte‹ nannte! – Oft waren sie schon da, ehe noch die Bahn hinkam. Denn es gab genug Leute, die akkurat auf den Tüpfel genau wußten, wo die Linie entlangführen werde, bevor sie im entferntesten festgelegt war. Dann zogen sie kurz entschlossen hinaus, entwarfen die Stadt, steckten die Hauptstraße ab, die ›Mainstreet‹, reservierten Grundstücke für Posthaus, Schule, Bank, ›Saloon‹ Saloon = Wirtshaus, Kneipe. und Kirche. Man spekulierte in großem Maßstabe; es kam vor, daß ein Mann seine ganze Habe mit einem Wurf wegwarf, hinauszog und wieder von vorn anfing. Das Abenteuer, das Märchen lagen in der Luft. Und es ging hiermit wie mit den Prophezeiungen vom Weltuntergang: jetzt kam er, kam unausweichlich! – – Wer die Gelegenheit wahrnehme und kaufe, so hieß es allgemein, der werde steinreich – Irrtum ausgeschlossen! – Trafen sich die Männer im Saloon, dann sprühten die Augen sogleich helle Flammen: wart bloß ab, bloß noch einen Augenblick, sag ich dir! – – Es wurde mit einer Kraft der Überzeugung geredet, die den härtesten Unglauben zu Boden schlug.

– – Eine unruhige Zeit, voll von großartigen Gedanken, voll von kraftstrotzenden Worten. Man lauschte ihnen, schlürfte sie in sich hinein, bis man wie in trunkener Freude herumtaumelte. Das Märchen lag über den Gemütern wie bebende Sonnenglut im Hochsommer.

Aber das Merkwürdigste von alle dem war doch dies, daß jetzt hier draußen ein Staat entstehen, aus den Steppen rundum ein untrennbarer Teil der großen Union werden sollte! Und die Hauptstadt einem vielleicht gerad vor der Stubentür liegen konnte! Denn weiter nach Westen als Pierre konnte die doch unmöglich verlegt werden! In dieser Gegend wetteten die Leute auf Huron; mehrere redeten sogar auch von Sioux-Falls. Nun, das mochte nun gehen, wie es wollte; aber ein Staat sollte jetzt also gegründet werden, und zwar einer, der sich mit jedem beliebigen andern messen konnte! – – Wartet bloß ab, ihr werdet's schon sehen – bald, sehr bald, Mannsleut! –

Beret Holm und ihre Söhne trafen erst in der allerletzten Minute im Schulhaus ein. Viele Leute waren bereits da. Vorm Haus wimmelte es förmlich von Pferden und Gefährten; drin war alles gepfropft voll von Männern. Ein eigenartiger Anblick: dick vermummte bärtige Männer, in jedes Kinderpult zwei gequetscht; an den Wänden drängte sich Jugend, in den Gängen zwischen den Pultreihen standen sie in dichten Schlangen; ein paar hatten ein Bein über eine Pultecke hängen; dieser und jener von den Sitzinhabern schob ein Knie vor, lachte einem Gesicht zu, und sogleich saß ihm jemand rittlings auf dem Bein.

Die Frauen hatten sich augenscheinlich nicht sonderlich um Miß Mahons Einladung gekümmert, abgesehen von den unruhigen Vögeln, die die Flügel lüften, sobald sie ›Aufregung‹ wittern. Nicht eine einzige ältere Frau war in der ganzen Versammlung.

Beret Holm betrat die vollgepackte Stube, bekam das ganze Sturzbad dieses Anblicks auf einmal ins Gesicht und wurde ängstlich. Ein lähmendes, niederdrückendes Gefühl beschlich sie: hier hast du nichts zu suchen! Mit demselben Bescheid begegneten ihr Augen und Gesichter, lächelnd fragende Mienen, Staunen, das Antwort heischte; Köpfe beugten sich zueinander und tuschelten.

Aber jetzt kam Miß Mahon durch den Raum auf sie zugeschwebt und nahm sich ihrer an. Sie lächelte mit einer solch großen Liebenswürdigkeit, daß Beret darüber befangener wurde als über alles andere. Miß Mahon führte sie zu dem vordersten Pult in der Mitte, bat den Mann, der dort saß: »Lassen Sie diese Dame bitte sitzen« – und sagte dann zu Beret: »Ich freue mich so sehr darüber, daß du die Arbeit beiseite getan hast und gekommen bist, – wir Frauen sind nicht dümmer als andere, das glaube ich nun einmal nicht!« Beret sank neben einem fremden Mann auf das Bankende nieder. Er nickte ihr gutmütig zu und sah sich dann triumphierend um: ja, Mannsleut, hier sitze ich jetzt als der Alleinbegnadete unter den Männern!

Miß Mahon trippelte nervös auf dem kleinen Fleck herum, der ihr im Gedränge noch geblieben, lächelte bald dem einen, bald dem andern Bekannten zu, sprach ab und zu mit einem hochgewachsenen schönen Mann, den alle sogleich als den Fremden erkannten, und mit Michael Doheny, der neben diesem Manne stand.

Und nach einer Weile trippelte sie aufs Podium hinauf, wandte sich der Versammlung zu, in der sogleich Stille eintrat, und räusperte sich nicht wenig nachdrücklich; die linke Hand spielte mit der Goldkette. Darauf hieß sie die Versammlung in bewegten Worten herzlich in ihrer Schule willkommen. Es sei eine Ehre – eine große Ehre für sie persönlich, daß der Distrikt heute abend hier zusammengekommen sei – – Vollkommen klar sei es: sollten die herrlichen Zukunftsverheißungen, die über diesem Lande schwebten, eingelöst werden, so müsse die Schule bei der Lösung mithelfen. Denn ›the common school‹ sei Wehr und Waffe der Nation, – sie sei das klopfende Herz, aus der Kraft für die Zukunft fließen müsse. Nein, sie müsse noch stärkere Worte gebrauchen: die Schule sei der Born des Volkes, aus dem alles Große und Schöne entspringen sollte. – – Als Wildfremde sei sie, die Lehrerin, im Herbst zu ihnen gekommen, aus den wohlgeordneten Verhältnissen des Ostens – jetzt erbitte sie sich von ihnen die Erlaubnis, ihnen einen Einblick zu geben in das, was sie hier im Westen erstrebe. Das Gesicht strahlte vor Güte und romantisch-altjüngferlicher Ergriffenheit: sie wußte, ihre letzten Worte hatten schön und erhaben geklungen, und nun winkte sie Charley nach vorn!

Der Bub wickelte sich aus einer der Schlangen heraus und betrat widerstrebend das Podium. Sie strahlte ihn an, legte ihm die Hand auf die Schulter und ließ sie dort, während sie ihm etwas zuzwitscherte, was durchaus niemand sonst hören durfte: mit dem Hemdkragen war nicht alles ganz in der Ordnung, der eine Zipfel hatte sich, schien's, vorgenommen, sich hervorzustehlen, aber glücklicherweise hatte sie es noch rechtzeitig entdeckt. Mit einem mütterlichen kleinen Klaps stieg sie herab und stellte sich neben den Vordersten auf, von wo aus sie bekümmert zu ihrem Herzensjungen aufschaute.

Kaum war Charley allein gelassen, als er auch schon mit der Freiheitserklärung loslegte und sie, so schnell er konnte, herunterhaspelte. Wut kochte in ihm, so daß er dem ersten besten hätte in die Augen springen mögen, – da hatte die sich jetzt angesichts der ganzen Siedlung an ihn herangeschmiert! – Als er endlich beim letzten Paragraphen war und das Ende winkte, da legte er sich tüchtig ins Zeug; die Worte sprudelten ihm nur so aus dem Mund; die klassischen Sätze ratterten bei dem Tempo, das er ihnen gab. Und als er zu Ende damit war, schlug er die Augen nieder, halb aus Schüchternheit, halb aus Wut, und sah die beiden Worte, die im Buch darunterstanden – ›John Hancock‹ – vor sich. Eine große Papierkugel, die jemand fortgeworfen hatte, ehe die Versammlung zur Ruhe gekommen war, die sah er auch. Jetzt gab er der mit voller Wucht einen Tritt und schmetterte hinterdrein: »John Hancock!« – Die Versammlung klatschte gewaltig; mehrere lachten; ein paar Tollköpfe riefen hurra! Miß Mahon jedoch wischte sich die Augen, bewegt über den vielen Applaus, den ihr geliebter Bub erntete. Und dann sah sie sich nach Peder um und winkte den heran, jetzt müsse er schleunigst herbei!

Wieder bestieg sie das Podium zu einer kleinen Rede. – Jetzt sollten sie die schönsten Worte zu hören bekommen, die Gott der Herr jemals einem Amerikaner in den Mund gelegt habe, – sie sollten Lincoln selber hören dürfen. Und es sei ihr Herzenswunsch, daß seine großen Gedanken ihnen so recht innig zu Herzen dringen möchten in diesen ernsten Zeiten! –

Gleich beim Hereinkommen hatte sich Peder unter die Menge an der linken Wand gemischt. Er hatte heute abend ein so wunderliches Gefühl: Mutter war mit! – – Immer wieder mußte er zu ihr hinsehen: – – Mutter – hier dabei! Das Merkwürdige war wirklich geschehen, daß sie aus ihrer eigenen Welt heraus und in die seine hineingekommen war. Dort saß sie jetzt neben Pat Murphy, gerad als gehöre sie her, und kein Unglück trat ein! – – Verstohlen blickte er sich um, und die unmittelbare Nähe der großen Versammlung raubte ihm den Atem; das Pochen seines Herzens übertönte alles andere; hörten die andern es nicht? So gewaltig schlug es heut abend. In dem Gedränge gegenüber befand sich ein sommersprossiges Gesicht voller Quecksilbrigkeit und Lachlust. Er war fest davon überzeugt, daß es ihn beim Hereinkommen gesehen hatte – vorläufig wollte er nicht wieder hinsehen.

Peder hörte Charley aufsagen und spitzte sofort die Ohren. Was war denn mit dem los? War der heut abend wütend? Nein, da redete er aber wirklich viel zu schnell! Und es überkam Peder eine zuversichtliche Ruhe: er konnte seine Sache besser machen!

Er betrat das Podium, wo Miß Mahon ihn erwartete. Auch an ihm hatte sie herumzuzupfen und auch ihm noch etwas zuzuzwitschern, – was er nicht hörte; denn jetzt spürte er plötzlich die ganze Gewalt des lebendigen Ungeheuers vor sich, alle die fragenden Augen, die ihn aus dem Halbdunkel heraus anglühten. – – Mutter – wo war Mutter? Da unten saß sie, gerade vor ihm. Er umfing das Gesicht mit einem Blick, und es war jetzt anders, als er es sonst gesehen: – so aufgeschlossen, und so herzlich gut in den Augen, und so feierlich, als bete sie. Das Traurige, das ihn daheim im Stall fast erdrosselt hatte, lag jetzt nur wie ein Rahmen um Mutters Gesicht. – Jetzt wollte er es ihr recht zeigen, wie schön seine Welt war!

– – – »Four score and seven years ago,« begann er freudig. Die Worte saßen; es hallte aus ihnen zurück, wie wenn er auf dem Brunnenrand lag und Steinchen hinabfallen ließ – ein seltsamer, geheimnisvoller Laut mit tiefem Klingen darin. – Mutters Antlitz war ganz offen, die Augen klar wie Glas, so daß er tief hineinsehen konnte. Noch nie hatte er sie so gesehen. Und jetzt sagte er den Abschnitt nur für sie her, mit großer Innigkeit, kraftvoll und tief empfunden. – Dem Ungeheuer vor ihm wagte er nicht entgegenzutreten; das lag da auf der Lauer und wollte sich über ihn werfen, sobald er es ansah. Nur die Mutter, nur die Mutter sollte all das Schöne zu hören bekommen! Aber dann kam er an –

»But in a larger sense we cannot dedicate, we cannot consecrate, we cannot hallow this ground,« – und war damit bei jenem Teil der Rede angelangt, den er so überaus gern hatte, und jetzt war das Ungeheuer weg. Er sah über die Versammlung hin, aber das rief keine Furcht mehr hervor, sondern nur noch warme, zitternde Freude. Und auch die Gesichter vor ihm begegneten ihm mit Freude und hatten nichts als Wohlwollen für ihn, und er erhob die Stimme, daß es von den Wänden hallte:

»That this nation, under God, shall have a new birth of freedom; and that government of the people, by the people, for the people shall not perish from the earth.«

Peder stieg unter einem Sturm von Beifall herunter und war sich dessen kaum bewußt. Eine sonderbare Müdigkeit senkte sich über ihn, die Knie zitterten – jetzt hätte er gern heimgehen wollen! – – Er stand so weit vorne, daß er das Gesicht der Mutter sehen konnte, das sich ihm sofort zuwandte. Es war besorgt, aber froh. – – Hatte sie etwa Tränen in den Augen? Was gab es denn? Jetzt war doch alles so kurzweilig und akkurat, wie es sein sollte! – –

Aber dann bekam er anderes zu bedenken, denn jetzt nahm die eigentliche Versammlung ihren Anfang.

 

VII

Allmählich trat wieder Ruhe ein, man setzte sich zurecht in Erwartung des Vergnügens, um dessentwillen man eigentlich gekommen war. Jetzt trat Michael Doheny vor und begann scherzend: da ihnen ein Mitglied seiner Familie soeben mit so gründlicher Orthodoxie auseinandergesetzt habe, wonach sie sich zu richten hätten, jetzt und für alle Zukunft, so bliebe ihnen eigentlich nichts anderes mehr übrig, als heim und zu Bett zu gehen. Wirklich ärgerlich für ihn! Denn heute sei er eigens nach Sioux-Falls gefahren, um Unterhaltung für sie herbeizuholen. Hier sitze Senator Mc Gregor und brenne darauf, sich mit ihnen über allerlei zu unterhalten. Wer jetzt jedoch seines Weges gehen wolle, ohne den Herrn noch anzuhören, der möge es ruhig tun! – – Sobald das Händeklatschen sich gelegt hatte, stellte er Senator Mc Gregor vor.

Der Senator betrat das Podium. Jemand unten in der Versammlung sagte laut: »Da seht ihr den vor euch, Mannsleut, der unser erster wirklicher Gouverneur von Dakota wird! Guckt ihn euch an!« Und es ging ein mächtiges Beifallsgetöse durch die Versammlung.

Mc Gregor schien sich auf dem Podium gut zu gefallen und musterte gelassen die gespannten Gesichter. Wohlgekleidet und stattlich, ruhige Sicherheit im ganzen Wesen, ein Gesicht, aus dem Verstand sprach. Und nun begann er seine Rede – anfänglich schmunzelnd:

– Der Vorschlag, heim und zu Bett zu gehen, sei ganz nach seinem Geschmack. Er sei stark in Versuchung, ihn zu befürworten und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Obwohl: wolle einer gut schlafen, so müsse rundum Ruhe und Frieden herrschen. Und jetzt kämen die historischen Begebenheiten hier draußen so rasch herbeigetrabt, daß derjenige, der ihnen folgen wolle, weder abends noch morgens Ruhe fände, – ja sogar mitten in der Nacht müsse er aufstehen und sich umschauen!

»Yes, Sir, da trafst du den Nagel auf den Kopf!« ließen sich mehrere Stimmen vernehmen.

Aber, fuhr er fort, wenn sie dereinst alle Angelegenheiten in Ordnung gebracht und die Maschinerie richtig in Gang gesetzt haben würden, dann käme auch wohl die Zeit des Ausruhens, vorausgesetzt daß – ja, daß dann noch einer der Anwesenden am Leben sei! – – Vor allen Dingen wolle er nun aber gern den beiden Buben danken, die ihnen heute abend Amerikas Glaubensbekenntnis aufgesagt hätten, nicht zuletzt aber auch ihr, die es jenen beigebracht hätte, es so schön vorzutragen – und er machte Miß Mahon eine galante Verbeugung. – Denn während er den Buben zugehört habe, sei die Hoffnung in ihm erstanden, daß die Bürde, an der die Alten sich müde schleppten, von der Jugend aufgenommen und weitergetragen werden würde; sie, die Jugend, schiene von rechtem Schrot und Korn zu sein! – –

Damit war er bei seinem Thema. Gleichmütig, wohl auch gelegentlich nachlässig, warf er die Gedanken hin, aber so launig, gemütlich und selbstsicher, daß sie sich festhakten und hängen blieben.

Er entwickelte zwei Gedankenreihen: erstlich, daß sie jetzt zusammenstehen müßten wie ein Mann und daran festhalten, daß das Territorium geteilt werde. Sodann, daß Dakota bei der kommenden Session des Kongresses in die Union aufgenommen werden müsse. Ehe das nicht erreicht sei, sei niemand von ihnen völlig Herr im eigenen Hause, das sähen sie wohl alle ein. Denn solange die Beamten von Washington ernannt würden und sie selber nichts anderes dabei zu tun hätten, als jene mit Dank und Verbeugung entgegenzunehmen, müßten sie sich mit der Sippschaft abschinden, die ihnen aus Washington zugeschickt werde – und sei der Hammel auch noch so räudig!

– – Heiße das aber Freiheit? Gleiche das dem, was Jefferson sich darunter vorgestellt habe? Sei dies Lincolns ›Freiheit des Volkes durch das Volk und für das Volk‹? Nein! Bevormundung, und sei sie noch so trefflich, werde niemals Freiheit!

Die Stube dröhnte vom Beifallsklatschen. Nur hier und da fand sich ein drohendes Gesicht, das besagte: wart du bloß! Wenn du fertig bist, dann haben wir ein Wörtlein zu deiner Teilung zu sagen!

Sobald die Beifallssalve sich gelegt hatte, ging es weiter:

Er wisse wohl, daß es hier noch eine Opposition gegen die Teilung gebe. Dagegen sei nun mal nichts zu machen; es werde immer Menschen geben, die sich nicht auf ihr eigenes Bestes verstünden, – Menschen, die man nicht einmal in den Himmel bekäme, selbst wenn Sankt Peter die Pforte noch so weit öffne und winke, bis ihm die Arme abfielen! – – Warum wären denn diese Leute aber gegen die Teilung? Nun, die Mehrausgaben schreckten sie. Sie rechneten nämlich so: für zwei Mann sei es billiger, gemeinsam eine Hose zu haben, als wenn jeder sein eigenes Paar besäße! Vielleicht stimme es. Aber warum dann nicht auch gleich nur ein Paar Stiefel oder nur eine Frau? Das sei zweifellos noch billiger. Aber die arme Frau! Die bekomme viel zu bewirtschaften! Nein, fuhr er mit erhobener Stimme fort, wer gegen die Teilung arbeite, der sehe nicht die Zukunft des Landes vor sich, in dem sie wohnten. Wenn der Landbau hier draußen erst seinen Höhepunkt erreicht habe und sie dann ihre eigene Verwaltung, gewählt vom Volk und verantwortlich dem Volk, besäßen, dann würden die Steuern niedriger sein als jetzt, die steuerliche Leistungsfähigkeit jedoch viele Male größer.

– – Ein grimmiges Knurren an einigen Stellen der Versammlung begrüßte diese Versicherung. Mc Gregor bedankte sich lächelnd und fuhr fort:

Sie müßten doch wohl einsehen, daß Dakota Territory ein zu gewaltiges Reich sei, um einen einzigen Staat abzugeben! Eine allmächtige Vorsehung hätte diesen Teil der Erde aufgehoben und nicht zugelassen, daß er entdeckt wurde, ehe die Menschen sich so weit zu Aufklärung und Wissenschaft und Volksregierung und Bruderschaft durchgerungen hätten, daß sie imstande seien, die unbegrenzten Werte, die hier lägen, nutzbar zu machen. Zweifle wirklich jemand in dieser Versammlung daran, daß Dakota Territory dazu ausersehen sei, das größte und fruchtbarste Kornreich der Welt zu werden? Ja, begriffen sie denn nicht, daß dieses Reich mit seinen vielen Sonderinteressen durchaus so stark in Washington vertreten sein müsse, als irgend erreichbar sei? Der Süden mit seiner Baumwolle – der stehe solidarisch! Aber hier, in dieser Gegend, entfalte sich jetzt das wichtigste Blatt des Vierklees mit ganz andern Interessen, Interessen, die wahrgenommen zu werden verlangten – wie werde es mit denen gehen? Bliebe das ganze Territorium nur ein Staat, so bekomme es in Washington lediglich zwei Senatoren; machten sie aber zwei Staaten daraus, bekämen sie deren vier! Sähen sie denn nicht ein, wie das bei entscheidenden Fragen ins Gewicht falle? – Die Bevölkerung hier draußen werde vielleicht auf sechs Millionen Menschen anwachsen; einige rechneten auf weit mehr; und diese sechs Millionen sollten im Senat nur zwei Mann sitzen haben? Geradesoviele wie Rhode Island mit seiner Handvoll Einwohner? In diesen Prärien könne man bequem hundert Rhode Islands so gut verstecken, daß das eine die andern 99 nie wiederfand! Habe aber irgendwer schon mal gehört, daß Rhode Island sich mit Massachusetts oder Connecticut zusammenschließen wolle, um Ausgaben zu sparen? Oh nein! Kein Amerikaner verkaufe sein Erstgeburtsrecht um so geringen Preis! Das würde bedeuten, daß man das Grundprinzip verleugne, auf dem das ganze Land beruhe!

Senator Mc Gregor schloß damit, daß er eine Resolution an die Legislatur vorschlug, die darauf hinausging, daß diese sofort bei ihrem Zusammentreten im nächsten Monat eine Delegation nach Bismarck entsenden möge, um die Territorial-Legislatur dazu zu bewegen, die Teilungsfrage auch dort an die Spitze der Tagesordnung zu stellen. Denn, so fügte er lachend hinzu, wenn man recht tüchtig an beiden Enden ziehe, müsse es ja wohl bald reißen! – Ob Dakota oder der Teil da im Norden zuerst in die Union aufgenommen werde, beschwere sein Gewissen wenig, wohl aber das: ob er ein freier Mann im eigenen Hause werde, der das sichere Gefühl haben könne, daß in dem nächsten auch einer sitze, der ebenso frei sei wie er. Dann erst könne er es verantworten, heimzugehen und sich zu legen. –

Die Stimmung flammte mit einem Male lichterloh. Erst sollte diese Resolution diskutiert und dann darüber abgestimmt werden. Alle wußten, daß mehrere der Anwesenden anderer Ansicht waren als der Redner. Jetzt erst wurde es interessant! – Und kaum hatte Mc Gregor die Tribüne verlassen und Doheny den Platz des Vorsitzenden eingenommen, als auch schon drei Mann auf den Beinen waren und das Wort verlangten. Die Leute reckten die Hälse, um besser zu sehen und zu hören; die beiden Polonaisen schwankten wie Baumreihen im Sturm.

Die schärfste Stimme dieser drei gehörte einem stämmigen stattlichen Greis, dem jedoch die Gicht sichtlich zugesetzt hatte; über den störrischen Bart, der einst in so kräftigem Rot zu leuchten pflegte, hatte das Alter seit langem seinen Schnee gelegt. Ohne abzuwarten, ob ihm das Wort erteilt werde oder nicht, steckte er beide Daumen in den Hosengurt und wetterte los, und zwar so amüsant, daß alle sogleich in gute Stimmung kamen. Doheny sah keinen andern Ausweg, als den Mann ausreden zu lassen; Miß Mahon jedoch saß mit brennenden Backen dabei, wegen des fürchterlichen Englisch, das der Mann vorbrachte. – Es war der alte Syvert Tönset'n.

– – Well, Teilung oder nicht Teilung, das sei ihm so ungefähr Wurscht; obwohl der Herrgott ihnen genug gegeben, daraus sowohl zwei wie auch vier Staaten zu machen, das sähen sie doch wohl selber! – Tönset'ns Rechte ließ den Hosengurt los und beschrieb einen Bogen. – Nicht als ob er etwas dagegen habe, es mit bloß einer Hose und einer Alten daheim zu probieren. Er entsinne sich noch der Zeit, da er sich nicht einmal soviel habe leisten können. Sie hätten die Heuschreckenjahre hier erleben sollen, da die Leut an den Daumen sogen und die einzige Hose, die sie gemeinsam besaßen, flickten und immer wieder flickten! Jetzt sei es keine Sache, zu reden und den großen Mann zu spielen, und die Hosen anzuhaben vor den Weibern! Well, er wolle heut abend nicht etwa eine Rede loslassen – hier seien, schiene es ihm, viele solche, die vor Predigtsucht platzten. Aber er habe da eine Frage auf dem Herzen, die er gern von einem auseinandergesetzt bekommen würde, und das sei akkurat die: warum sie denn im Außenpolitischen gar nicht weiterkämen? Sie hätten's versucht mit nur einer Bäuerin, hätten sich auf jede Weise gedreht und gewendet, aber die Karre habe sich nicht vom Fleck gerührt. Jetzt hätten sie eine Weile mit zweien herumklabastert, doch es sei gerad so vertrackt wie zuvor. Deshalb wolle er der Legislatur vorschlagen, daß sie's halt auch einmal probiere ohne Hose sowohl wie ohne Bäuerin. Damit sie einmal zu sehen bekäme, wie sich das ausnähme! – – – Und jetzt wolle er sich erlauben, Mc Gregor zu fragen, der ja doch in Washington gewesen sei, wozu die da herumtrödelten und woran, in des Henkers Namen, es denn hapere? Hier hätten sie jetzt wegen dieser Staatenfrage gerauft, soweit er zurückdenken könne; hätten Versammlungen und Konventionen abgehalten, hätten sich, wahrhaftigen Gott, aufs verkehrte Ende gestellt und seien doch nicht weiter gekommen als bis zum A vom ABC! – – Tönset'n erhitzte und ereiferte sich immer mehr: dieses Reich hätten sie entdeckt, ohne Hilfe der Pfaffen oder der Polizei, hätten sich hier angesiedelt als ein freies, sich selbst regierendes Volk; Millionen Acres Wüste hätten sie urbar gemacht; Kirchen und Schulen hätten sie errichtet, hätten sich Beamte gewählt und alles in Gang gesetzt, bis alles so fein ging wie eine Uhr. Und jetzt komme das Merkwürdige, das er nicht enträtseln könne: als sie dann zu Uncle Sam gekommen wären und ihm das Ganze auf einem Silberteller angeboten hätten, da sei der nur drum herumgegangen, habe mit dem Schwanz gewedelt und nicht gewußt, was tun. Der scheine schon reichlich tapprig zu sein, der Alte! – – Er für seinen Teil habe es satt, hier andauernd auf Freiersfüßen zu wandeln und nie weder ein Ja noch ein Nein zu bekommen. Sie hätten sich schließlich nichts anderes erbeten als ihr sonnenklares Recht. Sie seien hier draußen doch keine unkonfirmierten dummen Gören mehr! Er wolle es denen schon beibringen, daß der Norweger sich seit tausend Jahren selber regiere, ohne weder den Kaiser noch den Papst zu fragen, in welches Hosenbein er zuerst fahren solle. Und ungefähr so stehe es auch mit den Eiris. Er selber habe als Erster in dies Land Kanaan Einzug gehalten, als Erster sein Hauszeichen in den Boden gesteckt. Niemand könne es ihm verdenken, daß er, ehe er ins Grab steige, gern sehen wolle, was aus dem Lande hier draußen werde. Und jetzt bringe er den Antrag ein, daß sie dieser Staatenfrage auch nicht im entferntesten Erwähnung tun sollten – jedenfalls vorläufig nicht. Hätten sie letzten Herbst nicht sowohl Gouverneur wie auch Legislatur gewählt, ohne daß Mond oder Sterne um deswillen das Rülpsen bekommen hätten? Jetzt sollten sie nur ruhig so weiter arbeiten an ihren Siebensachen, ohne nach Washington zu schielen; dann könne der Alte da hinten sich diesen Stecken eine Weile beriechen! – –

Tönset'n schien schwer beleidigt darüber, daß das Territorium nicht schon seit langem als Staat anerkannt war, und er machte daraus wahrlich kein Hehl. Sein Gesicht war rot, als er sich setzte, aber er war ungemein zufrieden mit sich: er hatte denen die Wahrheit gesagt! – – – Ein paar klatschten wütend, andere trampelten, viele lachten, einer rief Tönset'n zu, er solle weiter reden. – – Nein, das ist wirklich einmal kurzweilig! fanden die meisten.

 

Von dem Augenblick an, da Senator Mc Gregor seine Rede begann, bis zu jenem, da er vom Podium heruntertrat, hatte Peder ihn mit den Augen verschlungen; der Mund stand ihm vor Spannung offen. – – Überaus merkwürdig! Dieser Mann war in Washington gewesen; er hatte im Senat Dakota Territory vertreten; er hatte mit den Größten des Landes verkehrt, und dennoch wohnte er in Sioux-Falls – war geradezu als Nachbar anzusehen!

Anfänglich hatte Peder das Äußere des Mannes am meisten gefesselt – der elegante Anzug, die leichte, unbefangene Art des Auftretens: er stand da wie zum lustigsten Spiel. Und dann die Art und Weise seines Vortrags! Peder las die Gedanken, ehe sie kamen; denn nur ihre Einkleidung war neu für ihn, die aber war freilich von ebenso vollkommener Eleganz wie Mc Gregor selber. Er folgte begierig. Was in Miß Mahons Mund glitschig und süßlich klang, hörte sich hier an wie die Vollendung selbst. So also war Englisch, wenn es korrekt gesprochen wurde! – – Peder ballte die Fäuste; ein unerschütterlicher Entschluß ergriff Besitz von ihm – so schön zu reden, wollte auch er lernen! – – Und plötzlich stand klar vor ihm, daß Miß Mahon recht hatte mit ihrer Behauptung, er dürfe zu Hause nicht soviel norwegisch sprechen, denn auf die Weise werde Englisch nie etwas anderes für ihn sein als eine Fremdsprache. – – Well, er wußte jetzt einen Ausweg: von jetzt ab wollte er sich des Norwegischen nur noch mit Mutter bedienen!

Aber dann wurden diese Überlegungen in den Hintergrund gedrängt; er hatte begonnen, Mc Gregor einzelne Worte nachzusprechen, und probierte es immer wieder, bis er den rechten Klang herauszuhaben glaubte. So verloren war er darin, daß er zusammenzuckte, als ihn jemand in die Seite puffte und flüsterte:

»Willst du etwa noch eine Rede vom Stapel lassen?« Er ward darüber so verlegen, daß er sich sofort einen andern Platz suchte.

Jetzt aber hatte Tönset'n angefangen, und Peder mußte zu Boden sehen; denn der hörte sich ja geradezu schauderhaft an: jedes zweite Wort mordsverkehrt; die Sätze standen auf dem Kopf; die Formen quietschten förmlich. Peder mußte sich fragen, ob wohl alle Norweger auf die Weise Englisch sprachen. – – Nein, doch wohl nicht. – Annemarie sprach übrigens wirklich hübsch.

Tönset'n hielt seine Ansprache von seinem Platz aus. Die Leute vor ihm drehten sich um, um ihn besser vors Glas zu kriegen. Peder, der auf der gleichen Seite stand wie Tönset'n, wurde verlegen über all die forschenden Augen und wagte kaum aufzuschauen. – – Aber an einer Stelle in der Schlange gegenüber war jemand, der ihn nicht zufrieden lassen konnte. War es Susie? Er errötete. Wie hätte er sie angesichts dieser Mauer von Gesichtern wohl angucken können! – – Immer wieder ließ er die Augen geschwind hinüberflitzen, – bloß ein hurtiger Blick, denn vielleicht war sie's gar nicht. Im gleichen Nu wandte Susie gleichgültig den Kopf, so als habe sie durchaus nicht nach ihm hingesehen. Das war schlau von ihr; und er war nicht ganz sicher, ob sie dabei nicht ein bissel lächelte. Über der warmen Freude darüber vergaß er Tönset'n samt allen den starrenden Augen. – – Wenn sie jetzt wegsah, konnte er sie wohl ein wenig betrachten? – Irgendwohin mußten die Augen doch gehen! Guckte sie wieder her, dann war er schon auf der Hut und wich rechtzeitig aus! – Das matte Licht milderte ihre bräunliche Hautfarbe. – Ihr Kleid hatte einen Spitzenkragen; die Wange hob sich weich davon ab. – – Er mußte diese Backe genauer in Augenschein nehmen; er hatte sie unlängst an seiner gefühlt; da war sie so warm und daunenweich und verängstigt gewesen! – Er hätte ihr gern erzählt, daß er ihr nichts Böses hatte zufügen wollen. – –

Seine Augen leuchteten warm. Er merkte, sie wurde unruhig; sie wechselte den Fuß und gab sich Mühe, Tönset'ns entsetzlicher Rede zu folgen.

Ob sie wirklich fühlte, daß er sie anguckte? Merkwürdig! – Er starrte aus Leibeskräften. – – Plötzlich wandte sie den Kopf und sah auf; er hatte gerade noch Zeit, zur Seite zu blicken. – Da aber kam er auf etwas wirklich Durchtriebenes: er ließ die Augen von dem einen zum andern gleiten, gleichgültig, so, als sei er müde vom Zuhören, bis er sie durch den Augenwinkel beobachten konnte. Dann schlug er die Lider nieder, ließ den Blick an ihr vorübergleiten, guckte wieder auf und bekam sie in den andern Augenwinkel. Unversehens sah sie wieder her; er sah sofort zu Boden und lächelte strahlend. – Nach einer Weile kehrte er ihr das Gesicht offen zu, aber ohne aufzusehen; das Herz pochte, – das war fast atemraubend! – – Jetzt gucke ich nicht eher wieder hin, als bis Tönset'n fertig ist, nahm er sich vor; dann aber wage ich es; dann ist gewiß solch ein großes Durcheinander. – Gerade als er diesen Vorsatz gefaßt hatte, hustete sie – er hörte gut heraus, daß das Hüsteln gemacht war; daß sie aber ausgerechnet jetzt darauf verfiel, war so ungemein merkwürdig, daß er durchaus herauskriegen mußte, was sie vorhatte: und denk einer an, da wartete sie im Halbdunkel wahrhaftig auf seinen Blick! Die Augen leuchteten dunkelbraun und höchst lebendig. Warum kannst du mich denn gar nicht in Ruhe lassen? fragten sie neckend; sie lächelte dazu und warf den Kopf in den Nacken. – – Nein, was für einen Schabernack hatte sie jetzt vor? – – Er hatte so viel, was er notwendig mit ihr bereden mußte! – – –

Und dann war sie ihm in der allgemeinen Unruhe entglitten; Tönset'n setzte sich; die stehende Reihe geriet in Bewegung; Dennis Mc Gilligan tat einen Schritt seitwärts, und nun verdeckte er sie völlig.

Peder suchte auch bald nicht mehr nach ihr, denn er war völlig von dem in Anspruch genommen, was jetzt geschah.

Ein hochgewachsener blonder Mann bahnte sich einen Weg zur Tribüne, drehte sich zur Versammlung, ohne aufs Podium zu steigen, stützte den rechten Ellbogen auf das Katheder und schlug das linke Bein über das rechte; es glitzerte in seinen Augen; man wußte nicht recht, ob spöttisch oder schüchtern. Und dann begann er sich einen Weg durch seine Gedanken zu bahnen, stoßweise und mit vielen Pausen, bisweilen hörte es sich an wie ein Selbstgespräch.

Das war Gjermund Dahl. Er galt als einer der klügsten Männer der Siedlung, war vor zwei Jahren Mitglied des Konstitutionsrates gewesen, ebenso letzten Herbst, und versah im übrigen viele Vertrauensämter.

– Das sei also Senator Mc Gregors Rechenexempel, begann Gjermund und machte eine Pause, wie um es zu betrachten. – – Zwei Staaten kämen also nicht teurer als einer – glaubten sie? – Halte diese Rechnung wirklich Stich? – – Zwei Legislaturen; zwei Gouverneure; das Doppelte an Verwaltung und Schulwesen; kurz, von allem das Doppelte. Und das solle nicht mehr kosten? – – Wenn das in Sioux-Falls so sei, daß man da für denselben Preis alles doppelt erhalte, so fahre er noch heute abend hinüber – dann müsse Sioux-Falls die Hauptstadt von Dakota werden!

Gjermund nahm den Ellbogen vom Katheder und richtete sich auf; ein leises Lächeln lag auf seinem Gesicht; die Fragen kamen kurz und bündig: Mc Gregor müsse sich zufällig ein wenig verrechnet haben, wie es Politikern ja bisweilen passiere! Etwa doppelt so teuer werde es sie zu stehen kommen. – Und der Vorteil? – Sie sollten sich den Vorteil doch einmal ein wenig genauer betrachten. – – Vier Senatoren in Washington an Stelle von zweien – war das ein großer Gewinn? – Vielleicht zwei Chancen mehr für Ämterjäger; einen andern Gewinn könne er, Gjermund, dabei nicht herausfinden. Denn sollten diese vier sich allein sowohl gegen den altmodischen demokratischen Süden wie auch gegen den industrietollen Osten behaupten, so sei ihre Stellung von vornherein aussichtslos. Selbst wenn sie das Territorium in zehn Staaten aufteilten, könnten sie gegen die beiden andern Gruppen nichts ausrichten. – Aber sie wollten sich die Rechnung noch etwas genauer besehen:

Gesetzt den Fall, sie bekämen zwei Staaten und zwei Senatoren für jeden Staat, welche Garantie sei dann dafür gegeben, daß diese vier ständig zusammenhielten? – War Konkurrenz zwischen den beiden Staaten nicht denkbar, oder Streit und Zwist? Er argwöhne, daß da in der Rechnung irgendwo ein Fehler stecke. – – Und wenn wirklich Dakota Territory das mächtigste Kornreich der Welt werde – übrigens ein schöner Gedanke, für den man sich erwärmen könne – so sei doch kaum anzunehmen, daß der Süden oder der Osten es riskieren könnten, solch ein Reich zu beeinträchtigen. Denn darauf gehe er jede Wette ein: ob die Menschen nun bei der Baumwolle schwitzten oder im Bergwerk grüben oder Tabak verkauften, Brot hätten sie immer nötig! Wer solle da also versuchen, ihnen Nachteile zuzufügen? – Nein, eher als das Große auseinanderzureißen, sollten sie es vielmehr stark ausbauen. Darin liege Sinn und Frommen; dann erst werde das Große schön! – – Es habe sich so günstig geschickt, daß die gleiche Bevölkerung sich über das ganze Territorium verbreitet habe: Deutsche, Irländer und Skandinaven – alle drei als Geschwisterkinder anzusehen – und die gleiche Betriebsweise im Ackerbau von einer Ecke zur andern. Ein Volk, mit denselben Zielen und den gleichen Nöten. Und dies Reich sollten sie jetzt auseinanderreißen, bloß um noch zwei Politiker mit Stellen zu versorgen! Wie? Eine Uhr auseinandernehmen und die Teile verhökern? – – Gjermund reckte sich, und jetzt erst sah man, was für ein Hüne er war. – – Nein, begann er bedächtig von neuem, er bringe einen Antrag ein, in dem Sinn enthalten sei: sie sollten die Legislatur ersuchen, eine Delegation nach Bismarck zu schicken, die mit den Leuten im Norden wegen Vereinbarung eines gemeinsamen Staats verhandeln solle – noch seien sie nicht so weit auseinander, daß der Bruch nicht mehr zu heilen wäre!

Gjermund war noch nicht auf seinen Platz zurückgelangt, als das Unwetter auch schon losbrach. Die heftige Agitation für und gegen die Teilung, die nun schon seit bald fünf Jahren betrieben wurde, hatte die Gemüter so reizbar gemacht, daß der winzigste Funke sogleich eine Feuersbrunst entfesselte. Jetzt standen drei Anträge zur Diskussion; um Tönset'ns kümmerte sich außer ihm selber niemand; wegen der beiden andern jedoch raste der Sturm. Es zeigte sich aber bald, daß Mc Gregors Plan die meisten Anhänger hatte. Dafür freilich waren die ›Anti-Teiler‹, wie sie genannt wurden, nicht nur die mutigsten, sondern auch die ungestümsten bei der Beweisführung. Als Michael Doheny fand, es werde so spät, daß sie schließen müßten, und eine Abstimmung vornahm, erhielt der erste Antrag die vierfache Mehrheit. Da aber stand Gjermund Dahl sogleich auf und schleuderte die Drohung in die Versammlung, daß die ›Anti-Teilungsleute‹ nächsten Sonnabend abend im Tallaksen-Schulhaus eine Versammlung abhalten und sich dort über eine Resolution einigen würden, in der Sinn sei!

 

VIII

Beim Aufbruch gab es reichlich Lärm und Gedränge; Cliquen quetschten sich zusammen; hier und dort gab es lautes Gezänk. Charley schlüpfte durch die Menge, bis er neben Peder stand. Susie erblickte den Bruder und kam folglich auch dorthin. Das Geruder um die drei trug sie wie eine Woge und pferchte sie so dicht zusammen, daß sie bei der Enge nicht einmal miteinander reden konnten. Lustig war das, und darum lachten sie auch.

Peders Hand berührte unbeabsichtigt die Susies. Er fand, er müsse um Verzeihung bitten, und umschloß sie; sie war warm und so klein, daß seine große Pratze gleich Lust bekam, sie festzuhalten; und Susie versuchte auch gar nicht, sich ihm zu entziehen. Je länger er die Hand hielt, desto weicher und feiner wurde sie, und desto mehr glaubte er mit seinem Händedruck anzudeuten.

Und jetzt machte Peder eine Entdeckung, die war so sonderbar, daß sein Mund sich vor Verwunderung öffnete: er sah Susie von der Seite, und da hatten ihre Augen einen doppelten Boden! Sie waren gar nicht braun, wie er die ganze Zeit geglaubt hatte, sondern blau – von einem strahlenden kräftigen Blau.

An der Oberfläche schwammen ein paar braune Flecke, schwebten dort wie leichte Gutwetterwolken an einem tiefen Nachmittagshimmel. Peder war so in diese merkwürdige Entdeckung vertieft, daß es ihm sofort von der Zunge rutschte: »Kannst du mir sagen – willst du mich etwa hinters Licht führen?« – Und da lachte sie und sagte, er sei ein feiner Redner, und es glitzerte dabei so lustig in dem Blau unter dem Braun, daß er laut loslachen mußte. Aber dann sah er zu Charley hin! –

Das Treiben um sie wurde gewaltig; einige drängelten hinaus, andere wollten wieder hinein, um jemanden zu holen, der da drinnen noch immer diskutierte. Und jetzt kam Miß Mahon angestürzt – vor ihr zerteilte sich der Strom – und schleppte beide Buben ab. – – Sie wollten doch nicht etwa gehen, ohne den Senator begrüßt zu haben? Oh, wie stolz sie auf sie sei, sie seien so brav gewesen! – – Sie nahm sie ins Schlepptau durch den Strom, leitete sie sicher und stellte sie Mc Gregor vor. Der vornehme distinguierte Mann unterhielt sich mit ihnen wie mit Erwachsenen und durchaus wie mit seinesgleichen. Ja, versicherte er ihnen, zwei so tüchtige Burschen würden gewiß im Staate Dakota noch von sich reden machen. Wie glückbegünstigt sie seien, daß sie da beginnen konnten, wo die Weltgeschichte anfing! Dieses Reich hätten ihre Väter entdeckt und den Grund gelegt, jetzt sei es die Aufgabe solcher Jungen wie sie, darauf den Bau zu errichten! – – Senator Mc Gregor hielt geradezu eine private kleine Rede für sie, und alles war so hübsch gesagt und er selbst ein so ansehnlicher Mann, daß Miß Mahon vom Zuhören und Zugucken Tränen in die Augen bekam. Ach, wie schön war doch das Erhabene!

Peder gelangte hinaus und auf den Wagen, er wußte kaum wie. – – Ole kutschierte; die Mutter saß neben Ole; der Große-Hans stand hinten auf und hielt sich an der Rücklehne. Peder hatte den ganzen Rücksitz für sich – er bedurfte heute abend keines Haltes. Wie ein übervolles Gefäß, das bei dem geringsten Stoß überschwappt, so spürte er heute abend in sich den Drang, all dem Merkwürdigen, das ihn erfüllte, Luft zu machen. Er begann eine Melodie, summte sie in wirrer Freude und wußte es selber nicht. Am Osthimmel stand ein großer Stern, der blinkte ihm Goldfunken geradeswegs in die Augen. Jedesmal, wenn der Wagen über eine Unebenheit humpelte, reckte er die Arme vor – – nicht um sich zu stützen, bewahre, dessen bedurfte er nicht; aber er fühlte eine so sonderbare Leichtigkeit im Körper, daß er gut hätte fliegen können, und da war es so lustig, es mit den Armen zu versuchen!

Die Stimme der Mutter weckte ihn: »Könnt ihr mir sagen – singt der Permann heut nacht?« Da erst wurde ihm bewußt, daß er sang. Er merkte, Mutter mochte es nicht gern, und hörte sogleich auf.

Heut abend war es eine Kleinigkeit, artig zu sein; er war bereit, alles zu tun, worum sie ihn baten, und sei es auch noch so unbillig. Jetzt aber hätte er wirklich gern nach Herzenslust singen mögen! Wäre er allein gewesen, so hätte er zum Himmel hinaufgesungen, bloß um zu hören, wie es gegen das blaue Gewölbe da oben hallte. Peder lachte: da war ja gar kein Gewölbe! Das hatte Miß Mahon kürzlich erzählt. Er hatte lange darüber nachgedacht und sich keinen Reim daraus machen können: nichts als goldene Stecknadelköpfe von hier bis, ja – bis – bis wohin? – Wer doch herausfinden könnte, was dahinter lag – hinter – – ja, hinter dem also, wo es aufhörte! Nein – es hörte ja gar nicht auf! – – Peder sah zu den Sternen hinauf und lachte herzlich vor sich hin: du große Welt – es mußte lustig sein, einst zu den Erwachsenen zu gehören!

– – –

Dies wurde für Beret Holm wieder eine ihrer durchwachten Nächte. Sie waren gegen elf Uhr heimgekommen, die drei Buben hatten die Pferde in den Stall gebracht und waren sogleich nach oben gegangen. Sie hatten sich draußen gestritten, und kaum waren sie in ihrer Kammer, da ging es auch schon wieder los. Peders Stimme, jung und hochzart, wenn sie angestrengt wurde, überschrie die tiefen, schweren Stimmen der Brüder. Die Mutter mußte zur Treppe, um zu hören, worum es ging, und da war es nichts als wiederum diese ewige Politik. Es schien, daß die beiden Ältesten es mit Gjermund hielten, und da wollte Peder ihnen ihre Irrtümer nachweisen; er mußte schnell sprechen, und dabei klang seine Stimme so dünn. Ein paar kraftvolle ›Halt den Mund, marsch ins Bett mit dir!‹ von dem Großen-Hans stellten oben endlich Ruhe her. – Die Buben sprachen heute abend auch Englisch, hörte sie. – Es wurde hier im Hause jetzt reichlich viel Englisch gesprochen! –

Beret machte sich in der Küche zu schaffen. Das Hafermus war zum Frühmahl vorzubereiten, und sie konnte auch gern schon den Tisch decken – sie mußten morgen früh wieder zeitig in die Maisfelder. Ob wohl der Vorrat an unzerlöcherten Fäustlingen auch noch groß genug war? Sie nahm sich einen schweren Haufen aus einem Korb und setzte sich an die Lampe zum Stopfen. Alle ihre Erlebnisse von heute abend kamen herbei, legten sich vor die Arbeit und wollten gern um und um gekehrt werden. Das waren nicht wenige, und als sie erst begann nachzuprüfen, kam noch so mancherlei dazu.

Beret hatte sich im Schulhaus alles genau mitangehört. Das meiste war über sie hinweggeflogen wie fremdes Geräusch, das sie nichts anging. Der Sinn war ihr von früher her bekannt, übrigens stand er auch deutlich genug auf den Gesichtern der Redner zu lesen, er lag in der Luft, er strömte aus der Stimmung heraus; man sprach ja von nichts anderm mehr als von Politik. Sie hatte nur gestaunt, daß die Leut über solch eine Frage des langen und breiten schwatzen konnten; ob hier nun ein oder zwei Staaten entstanden, machte das Leben deshalb nicht leichter.

– – – Und dann der Permann, – ja, du große Welt, der Permann! Sollte man es glauben, daß der Bub dagestanden und so schön vor einem vollgepfropften Haus geredet hatte, als habe er in seinem ganzen Leben nichts andres getan! Sie hatte seine innige Hingabe an den Inhalt seiner Worte herausgefühlt – es herausgefühlt und sich auch in gewisser Weise gefreut, sich aber dennoch geängstigt – woran man sich so innig hingab, das nahm einen leicht ganz gefangen! Und jetzt, beim Alleinsein, befiel sie Sorge: nie hätte sie ihn für etwas so gewinnen können. – – Waren fremde Kräfte am Werke, ihn ihr zu nehmen? Ach ja, das war wohl nicht zu leugnen; und nie war es so schlimm damit gewesen, erst seit er im Herbst auf die Schule gekommen war.

– – – Etwas dort drüben hatte sie zornig gemacht. Sie dachte jetzt daran, und die Hand zitterte ihr so stark, daß sie die Arbeit sinken ließ:

Die meisten waren bereits gegangen, die Buben spannten draußen vor, sie saß im Mantel und wartete. Da war diese Närrin von einer Lehrerin zu ihr gekommen, hatte sich neben sie gesetzt, ihr beide Hände auf die Knie gelegt, ihr ganz aus der Nähe ins Gesicht geguckt und angefangen, mit einer innigen Vertraulichkeit zu sprechen, die so groß war, daß Beret sich vor Befangenheit nicht zu lassen wußte. Und nur über Peder – wie tüchtig er sei, wie begabt er sei, wie stolz sie beide auf ihn sein könnten – auch sie erhebe Mutteranspruch an ihn, das solle Beret nur glauben! Habe er nicht unvergleichlich gut aufgesagt? – Er müsse auf die höhere Schule! Kein Zweifel, daß er zu etwas Großem ausersehen sei – oh, es sei herrlich, solche Schüler in Obhut zu bekommen! – – Und dann hatte sie sich noch honigsüßer gestellt und noch leiser gesprochen: sie habe Beret etwas über ihren Sohn anzuvertrauen, und sie müsse als Mutter zusehen, ob sich das nicht einrichten ließe: well – es sei: Peder spreche Englisch mit ausländischem Akzent, und den müsse er um jeden Preis ablegen! Man stelle sich vor: ein Amerikaner, und zumal einer mit solchen Gaben, der kein reines Englisch spreche! Und verliere der Bub nicht jetzt die fremde Aussprache, dann behalte er sie sein Leben lang. – Beret war zuletzt in Grimm geraten über diese butterweiche Mutter-Betulichkeit einer Wildfremden; hatte ihr in ihrem gebrochenen Englisch zu verstehen gegeben, es sei gewiß mehr vonnöten, daß der Bub seine eigene Mutter verstehen lerne, als daß er so überaus fein in seiner Redeweise werde! – Wäre nicht der Große-Hans gekommen, um anzukünden, es sei alles fahrtbereit, sie hätte nicht gewußt, was sie alles in ihrem Ärger herausgesprudelt haben würde, das sie später bereut hätte.

Beret nahm einen Fäustling auf und untersuchte den Schaden. – Mit dem lohnte es gewiß nicht mehr? Sie betrachtete das Loch. – – Ein unglückseliges Zusammentreffen auch, daß sie zufällig zu dem Schulbezirk westlich vom Creek Creek = Bach. gehören mußten. – – Daß die Obrigkeit es auch so unverständig eingerichtet hatte! – Hier hatte sie die Menschen zusammengemengt, gerad, als seien die nichts anderes als der Trank für Schweine! – – Niemand sollte ihr weismachen können, daß diese Obrigkeit von Gott eingesetzt sei. – – Ach nein, hier regierten die Menschen, der Herrgott hatte da nicht viel dreinzureden!

Neben der Uhr hing von Berets verstorbenem Mann eine Lichtbildvergrößerung von stattlichem Format und in breitem Rahmen, umwunden mit schwarzem Flor. Das Bild war in ihrem letzten Jahr in der norwegischen Heimat auf einem Jahrmarkt aufgenommen worden. Der Per Hansen mußte an jenem Tage ausnehmend wohlgelaunt gewesen sein: wenn das Licht günstig auf das Bild fiel, lachte der da oben an der Wand zu allem, was sie in der Stube und Kammer planten. Heute nacht, wie so oft zuvor, wenn sie keinen Ausweg fand, saß Beret vor dem Bilde, als wolle sie den Per Hansen um Rat angehen.

– – – So? Der Permann war also nicht fein genug in der Aussprache? – – Und die Mutter sollte sich dazu hergeben, in einer fremden Zunge zu äffen, um sein Englisch zu verbessern? – Und jetzt schon sprachen ihre Kinder bald nicht anders mehr als Englisch, falls sie sich nicht selber am Gespräch beteiligte. Es ist bald nicht mehr allzu viel von uns übrig, erzählte sie dem Bild. Bald können wir nicht einmal mehr sprechen! – Das Gesicht im Dunkeln schien lächelnd zu fragen, was sie da für närrisches Zeug schwätze. – – Es wurde weit über Mitternacht, und noch immer saß Beret beim Stopfen. – –

Beret half am Vormittag wie auch am Nachmittag eine Zeitlang beim Husking Husking = Ernte, bes. vom Mais.. Am Vormittag arbeitete sie gemeinsam mit dem Großen-Hans; denn bei dem dauerte das Wachwerden am längsten; am Nachmittag erntete sie mit Ole, der wurde der Sache am schnellsten überdrüssig, und dann ließ er so viel stehen. Auf die Weise erhielt die Mutter gute Gelegenheit, mit den beiden großen Buben unter vier Augen zu sprechen.

Die Fuhre war am nächsten Morgen beinahe halb voll, ehe einer von ihnen das Schweigen brach. Der Große-Hans war der Mutter ein gut Stück vorangekommen. Jetzt streckte er einen Augenblick den Rücken und machte sich an seinem Handschuh zu schaffen. Die Mutter sah hurtig auf, fuhr aber gleich wieder in der Arbeit fort.

»Ich mein, ich sei heut geschwinder als du,« sagte er und zog sich den Fäustling wieder an.

»Schaut fast so aus.«

Die Mutter hatte heut ein müdes Gesicht, fand er und machte sich daran, auf dem noch fehlenden Stück ihres Streifens zu ernten. Als sie wieder Seite an Seite begannen, fragte sie:

»Was meinst denn du zu jener Lehrerin?«

»Weiß nicht recht. Schaut mir so aus, als habe sie nicht alle ihre Geißen daheim« – er besah den Cob Cob = Maiskolben., den er gerade abgerissen hatte, warf ihn in den Wagen und beeilte sich hinzuzufügen: »Aber sie sagen, sie sei flink – – – – den Permann hat sie doch gewiß vorwärts gebracht.«

Die Mutter antwortete nicht, und da nahm der Große-Hans das Geplauder wieder auf:

»Hast du mir ihr gesprochen?«

»Das habe ich – – und bekam den Eindruck, als gehe es dort verkehrt zu.«

»Woher denn?«

»Es ist ihr in den Sinn gekommen, wir täten hier bei uns gar zuviel Norwegisch sprechen« – Beret warf einen Maiskolben in den Wagen – »und solch eine Närrin vermag genug Verkehrtes anzurichten bei einem unvernünftigen Kind!«

»Das hat sie gesagt?« – Der Große-Hans sah seine Nadel aufmerksam an.

»Das hat sie gesagt – ja.«

»Wo, meinst du, hat sie diese Auskunft her?«

Beret lachte mit bitterem Unterton:

»Sie kann das doch an dem Permann hören, wenn er Englisch spricht, kannst du dir denken! – – So eine alberne Närrin kommt auf so mancherlei!«

Der Große-Hans wurde noch röter und herrschte die Pferde an, sie sollten sich gefälligst den Streifen hinauftrollen. Er hatte einen Kolben abgerissen, um den viel dürre Hülse saß; jetzt ließ er sich Zeit, sie abzuklauben. – Es wunderte ihn keineswegs, daß man's aus ihrer aller Aussprache heraushörte – keineswegs. – – Jetzt also waren sie auch um deswillen ins Getratsch gekommen, daß sie nicht ordentlich sprechen könnten! – »Das hat sie gesagt?« wiederholte er leise und machte sich wieder ans Pflücken.

»Hörst es ja! – – Und jetzt hab ich mir überlegt, daß wir es versuchen müssen, den Jungen auf die Tallaksen-Schule zu bringen, – denn es ist nicht recht von uns, daß wir ihn hier mit all den Eiris gehen lassen!«

»Nein, nein – – aber, schau, wir sind doch nun einmal in Amerika!« sagte der Große-Hans düster und machte sich wieder eifrig hinter die Arbeit.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel; ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag schien heraufzukommen; Beret löste das Kopftuch und hängte es über den Wagenkasten. Als sie dann antwortete, klang ihre Stimme ungewöhnlich sanft:

»Gleichwohl müssen wir uns wie Menschen schicken! – – Und jetzt meine ich, wir können's nicht mehr verantworten, das länger fortgehen zu lassen!« – Der nächste Kolben saß sehr fest, es entstand eine Pause, während sie ihn abriß. – – »Wir müssen heut abend hinüber, du und ich – ich hab es mir heut in der Nacht überlegt. – – Solange das Wetter gut ist, kann er reiten; späterhin mag er beim Johannes Mörstad in Kost kommen, – brave Leut sind das, er wie sie. – – Und jetzt hilf mir, es zustand zu bringen!« – – Etwas Warmes und Liebes hatte sich in Berets Stimme geschlichen; es hörte sich an, als wolle sie einen guten Kameraden zu etwas bereden, von dem sie im voraus wußte, daß er es nicht gern tue, wofür sie ihn aber um jeden Preis gewinnen müsse.

»Da kriegen sie auf der ganzen Prärie wieder was zum Tratschen!« entfuhr es dem Großen-Hans; er riß Kolben um Kolben ab und schleuderte sie in den Wagen, ohne aufzusehen.

»Oh, das Unheil bestehen wir wohl!« meinte sie zuversichtlich und beruhigend. Sie versuchte in seinem Gesicht zu forschen, aber vergebens; denn jetzt schuftete er gewaltig und war ihr bereits wieder ein Stück voraus.

Mehr wurde zwischen ihnen darüber nicht gesprochen. – Am gleichen Abend fuhren sie ostwärts, um sich zu erkundigen, ob Peder drüben eingeschult werden könne.

 

IX

Nun hatte es sich aber an jenem Abend bei der Versammlung im Schulhaus so getroffen, daß John Bolgen zuvorderst in der Pultreihe zur Rechten saß. Er war ein ruhiger, wortkarger Mann, der langsam dachte, und alles, was er zwischen die Finger bekam, umständlich hin und her drehte; aus dem Grunde pflegte er meist etwas hinterher zu kommen, sei es im Denken oder im Tun; die Leute hatten sich oft darüber geärgert und ihm einen Spitznamen angehängt, und seither hieß er in aller Leute Mund recht und schlecht ›der Letzte‹.

Neben ihm saß Tom Eriksen. Die Versammlung wollte immer noch nicht beginnen, und ›der Letzte‹ hatte bereits den gesamten Gesprächsstoff erschöpft, der ihm irgendwie zu Gebote stand, und saß jetzt da und wußte in aller Welt nicht, was mit sich anfangen. Da entdeckte er das Buch, das Peder im Pult liegen gelassen – es hatte ihm schon die ganze Zeit vor der Nase gelegen – und war gerettet. Er machte sich flugs ans Lesen, hier ein paar Worte, dort ein paar Worte, und betrachtete alle die schönen Bilder. Wie er so blätterte, kam er an die Zeichnung, die Peder hineingelegt hatte, nahm das Blatt vor, faltete es auf und studierte es lange und tiefsinnig. Zu guter Letzt kam es ihm so eigen vor, daß Kinder sich in der Schule mit dererlei beschäftigten, daß er seine angeborene Schüchternheit völlig vergaß: er puffte den Tom in die Seite, legte die Zeichnung vor den hin und begehrte zu wissen, ob der ihm erklären könne, was das hier zu bedeuten habe. Tom war in der Landesgeschichte hinreichend unterrichtet, so kannte er denn auch die berühmte Kirschbaumlegende und fing an, über den wütend zuhauenden George Washington zu lachen. Doch auch er fand, es sei eine recht sonderbare Unterrichtsmethode für Kinder, und gab die Zeichnung weiter an Ole Hegg, der am Pult hinter ihm saß. Ole Hegg nahm das Kunstwerk eine Weile in Augenschein und hielt es einer öffentlichen Besichtigung für würdig; so wanderte es die ganze Reihe herunter, wurde studiert und kommentiert; einer von den Irländern hinten musterte es und rief laut: »Da kann man ja sehen, was diese furchtbaren Norweger vorhaben!« Schließlich gelangte es zu Pat Murphy zuvorderst in der Nachbarpultreihe, der sich noch geradeso weit bezwang, daß er es nicht Beret vorwies. Pat war ein wohlmeinender Mann und hatte Mitleid mit der Mutter eines Sohnes, der so verderbt war, daß er sein Pläsier an solchen Zeichnungen fand; und schob die Zeichnung mithin wieder John ›dem Letzten‹ zu. Der fingerte eine Weile an ihr herum, faltete sie zusammen, faltete sie auf und grübelte ergiebig darüber nach, ehe er sie ins Buch zurücktat. Nach Schluß der Versammlung jedoch nahm er das Blatt mit sich und legte es beim Hinausgehen der Lehrerin aufs Katheder. Denn jetzt endlich hatte sich ein Gedanke in ihm zur Klarheit durchgerungen: Schulkinder dürfen nicht Fluchworte schreiben, es war ohnehin schon plenty von Bösem in der Welt! – – Das gleiche dachten die andern, die die Zeichnung gesehen. Einige fügten dann für sich noch hinzu: Beret Holm, die selber doch in jeder Hinsicht so frömmelte, möge in ihrem eigenen Hausstand besser zusehen. Und sie hielten mit ihrer Ansicht auch nicht hinterm Berge. –

Miß Mahon trippelte am nächsten Morgen zur Schule in dem rosenroten Gefühl eines Daseins, das sich auf Erden nicht besser hätte arten können. Der Herbsttag umgab sie in lässiger Erhabenheit. Die Sonne lag in satter Nebelluft und faulenzte nach Herzenslust. In den Maisfeldern am Weg schepperten die dürren Maisblätter im Winde. Es klang in Clarabelle Mahons Ohren wie Gesang.

Sie war heute in der Stimmung des gestrigen Abends aufgestanden und befand sich noch immer darin. Welche Bedeutung die Versammlung für die Entwicklung dieses Distrikts hatte, übersah sie nicht. Für den starken Willen, der hier so hochgemut einer großen Zukunft entgegenstrebte, fehle ihr das Verständnis. Aber: die beiden Jungen hatten vorzüglich abgeschnitten, die Jungen, die sie unterrichtet hatte! Peders Englisch hatte nicht einmal so schlecht geklungen, – sie wollte ihm den Akzent schon noch abgewöhnen! – – Das Bild des Knaben verschwand; ein anderes tauchte auf – Senator Mc Gregor! Ihre Stimmung wurde warm und zärtlich, als sich ihre Gedanken um den vornehmen distinguierten Mann verdichteten, der sich mit ihr so feingebildet und nett unterhalten hatte. Er hatte ihre Hand recht lange gehalten, sie geradezu geliebkost – mit seinen feinen, weichen Fingern! – – Heute beim Frühstück hatte sie sich vergessen und törichterweise Mrs. Murphy gefragt, ob Senator Mc Gregor schon verheiratet sei. Mrs. Murphy hatte so lange und herzlich lachen müssen, daß sie schließlich selber mit eingestimmt hatte. – – Farmerfrauen waren so gewöhnlich! – Warum sollte sie denn nicht danach fragen dürfen? – – Es wäre doch – well, es wäre doch immerhin interessant, so etwas zu wissen? – – Und jetzt hatte sie auch ihren Plan entworfen: Sie wollte ihm schreiben und ihn bitten, ihr Bücher zu leihen! Er verstand gewiß, wie überaus wenig Anregung in dieser Wüstenei zu finden war und wie elend und verlassen sie sich unter diesen Auswanderern fühlen mußte! – – Und bei der Gelegenheit wollte sie ihm dann zugleich für all das Große und Schöne danken, womit er sie gestern abend in seiner Rede beschenkt hatte. So etwas ließ sich in einem Brief viel hübscher und wärmer ausdrücken. – – Dann bekam sie einen Antwortbrief und konnte wieder für den danken: ein reger Briefwechsel entstand, es wurde wie ein Märchen! – –

Sie trat in die Klasse, legte ab, öffnete das Fenster und bereitete alles vor. Noch war kein Kind gekommen; sie ging aufs Katheder und setzte sich; in dem Rechenpensum der Großen standen heute ein paar widerspenstige Aufgaben – sie dachte mit Seufzen daran: uff! diese Arithmetik!

Auf dem Katheder lag ein Blatt Papier mit einer Zeichnung; sie nahm es auf, breitete es vor sich aus und besah es geistesabwesend. Das Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das jäh erstarrte und sich höchst seltsam ausnahm; die Augen begannen übernatürlich klar zu leuchten, erhielten einen gläsernen Glanz; auf den Backen zeigten sich Hitzflecken; der Kopf beugte sich vor. Als sie endlich die ganze traurige Wahrheit erfaßt hatte, streckte sich eine rohe, harte Hand aus und riß all ihre Träume herzlos in Stücke. Tränen ließen die Woge ihrer Gefühle zurückfluten; ein gerechter Zorn ergriff sie; sie sprang hoch, stampfte auf, ballte die Hände – oh, dieser mißratene Junge, Sprößling eines ausländischen Weibes! – – Und der wagte, der erdreistete sich, mit den Heiligtümern der Nation hier in ihrer Schule Spott zu treiben! – – Sie sprang vom Katheder, schritt in heftiger Erregung auf und ab:

Ihr lag die Pflicht ob, sogleich die Behörde zu verständigen und sie zu veranlassen, daß man den Jungen in Fürsorgeerziehung nehme, – wo aber befand sich denn in dieser barbarischen Umgebung die Behörde? – – Nein! Den Schulvorstand wollte sie einberufen, – oh, sie wollte ihm schon alles im rechten Lichte darstellen – sie wollte es ihm so ausmalen, daß er zur Handlung schreiten mußte – – der Bub mußte weg, weit weg – einen solchen Benedict Arnold Benedict Arnold, einer der begabtesten Generäle des Unabhängigkeitskrieges der Union; anfänglich auf seiten der Amerikaner kämpfend, ging er später, durch unausgesetzte Demütigungen und Beschuldigungen gereizt, zu den Briten über. Daher sein Beiname »the traiter« = der Verräter. duldete sie nicht in ihrer Nähe! – – Sie konnte sich im Augenblick ihrer rasenden Wut auf keine Strafe besinnen, die der Größe des Vergehens angemessen gewesen wäre. – – Das war der schwärzeste Undank – die Bosheit eines verderbten Herzens – Aufruhr geradezu – Verrat – Hochverrat – Todsünde! – Oh – ach!

Sie bemerkte kaum, daß die Kinder allmählich kamen; sie setzte sich, stand auf, ging hinaus, kam herein. Die Uhr zeigte mittlerweile auf neun, und da mußte also der Unterricht auch heute seinen Anfang nehmen.

Jedoch nicht in der üblichen Weise. Sonst hatten sie immer des Tages Mühe mit dem Absingen von ›Amerika‹ beschlossen; heute begannen sie mit diesem Lied. Und jetzt geschah es, daß der Gesang, als sie zum letzten Vers kamen, in unheimlichem Schweigen erstarb; ein Kind nach dem andern mußte zur Lehrerin hinsehen und verstummte; zuletzt starrte die ganze Klasse sie in ängstlichem Staunen an. – – Was war das bloß? – –

Miß Mahon hatte bis zum dritten Vers mitgesungen, dann hatte sie einfach nicht mehr gekonnt. Das Bewußtsein, daß ein Verräter dieses Lied mitsang und noch dazu in ihrer Schule, überwältigte sie vollkommen. Das Taschentuch mußte heraus, und kaum, daß es ihre Augen berührte, brach die Tränenflut hemmungslos hervor; sie drehte sich um; krampfhaftes Zucken schüttelte ihren schmerzlich gebeugten Rücken; das war so unheimlich, daß ein paar von den Kleinen zu heulen anfingen; die andern saßen in der unheimlichen Stille wie die Bildsäulen.

Endlich schien sie ihrer Trauer Herr zu werden. Sie drehte sich ihnen wieder zu; von einer Stelle der gegenüberliegenden Wand war Putz abgefallen; die Augen suchten diesen Fleck und hefteten sich daran. Und nun begann sie eine Rede, unterbrochen von vielen lastenden Pausen:

Sie sei geschlagen – – zerschmettert. – – Ihr bliebe nur noch eines: ihr Amt niederzulegen und zu flüchten – an einen Ort, wo niemand sie kenne. – – In Stille zu sterben, sei das beste Geschick, das sie treffen könne. – – Was geschehen sei, sei zu schwer für einen Menschen. – – Ein solcher Kummer – – eine solche Schande – –!

Als sie merkte, wie gespannt alle folgten, fuhr sie lauter fort, die Augen lösten sich von dem Wandfleck und wanderten zu den Schülern in den vordersten Bänken:

– – Es sei etwas Gräßliches geschehen, erklärte sie düster und flocht eine lange Pause ein, die um so drückender war, als manchem jetzt Dinge einfielen, die er lieber nicht gerade vor breitester Öffentlichkeit erwähnt wissen wollte. Wieviel sie wohl wisse und woher zum Kuckuck, fragten sich diese Bösewichter gespannt. Charley guckte Peder an: hatte er etwa gepetzt? Und dabei war der selber nicht besser! – Peder starrte schuldbewußt auf die Wand: Susie hatte gestern abend also etwas geklatscht! – Belle Flanagen, das größte der Mädel, hatte in der letzten Pause einen Brief von Mike O'Hara bekommen, in dem – in dem – –. Belle wurde puterrot und griff sich an den Busen, wo die schriftliche Antwort auf den Brief steckte. – Der siebenjährige Arnold Solum plärrte los in dem Bewußtsein, daß er gestern abend den Hund auf die Katz gehetzt hatte. – Die meisten jedoch harrten stumm und ohne Nachdenken der kommenden Ereignisse.

– – Wie verderbt, fuhr Miß Mahon fort, wie so ganz voller Schlechtigkeit müsse die Saat sein, die in diese Kinderseele gesät worden sei, wenn sie bereits in so jugendlichem Alter solche Früchte zeitigen könne! – Wenn so etwas weiterwuchern dürfe, werde ihr schönes Vaterland – das Land, das Washington gegründet und für das Lincoln und ihr geliebter Vater den Märtyrertod erlitten hätten – bald in einen stinkenden Sumpf der Bosheit verwandelt sein. Dann aber werde Finsternis über der Welt brüten, wie einstmals, und die Menschheit werde wieder zurückgestoßen werden in hoffnungslose Hörigkeit. Das dürfe nicht geschehen und solle nicht geschehen, solange sie und ihre Amtsschwestern auf ihrem Posten zu stehen und ihre Pflicht zu tun vermöchten! – – Miß Mahon fand, das klinge prächtig; und jetzt hoben sich auch aller Augen zu ihr in scheuer, starrender Aufmerksamkeit. Wieder einmal fühlte sie sich in der Rolle des Töpfers vor dem Lehmklumpen – sie gewann daraus Stärke und Selbstvertrauen.

Ihr Blick wanderte, bis er zwischen den Köpfen der beiden Buben in der ersten Bank rechts stehen blieb; und jetzt sagte sie mit erhobener Stimme:

»Und nun, Peder Holm, nun habe ich dir ein paar Worte zu sagen: du hast Amerika verraten! – Den Vater des Vaterlandes hast du zum Gespött gemacht, zu einem jämmerlichen Hanswurst, du – du – dessen Mutter nicht einmal so viel Englisch beherrscht, daß man sie verstehen kann! – Eine Schlange habe ich an meinem Busen genährt – das ist der Lohn dafür! – Die Strafe, die dir zukommt, vermag ich, ein schwaches Weib, dir nicht zu geben, das mag der Behörde überlassen bleiben; doch soll so etwas nicht ungestraft in meiner Schule vor sich gehen – der Hehler ist nicht besser als der Stehler. Hol dein Geschichtsbuch vom Katheder und reiche es mir!«

Peder saß wie versteinert. Ein paar heftige Blutwellen spülten über seine Backen, wogten zurück und hinterließen die Blässe des Todes. Er saß unbeweglich wie ein Marmorbild.

»Ich befehle dir, herzukommen!«

Peder saß.

»Wagst du es wirklich, mir zu trotzen?« Sie stampfte heftig auf.

Vor Peders Auge schwammen Nebel; in ihm tobte ein fürchterliches Ungeheuer und wollte ihn zerfetzen, und das sollte es auch! Er taumelte aus der Bank, blieb stehen, legte den Handrücken über die Augen, um den Blick vor dem Entsetzlichen zu schützen.

»Hol dein Buch – – willst du etwa nicht gehorchen – wie?« – Miß Mahons Oberkörper schoß vor, die Worte drangen fauchend aus ihrer Kehle; ein paar von den Kleinsten gröhlten laut und trauten sich nicht mehr hinzusehen.

Ein Gedanke stand deutlich vor Peder: gehorchte er nicht unverzüglich, so stürzte sie sich in der nächsten Sekunde auf ihn, und er fühlte deutlich: dann sterbe ich! – – Er schleppte sich zum Katheder, nahm das Buch, schloß die Augen und reichte es ihr. – – Aber da kam ja hinterher kein Schlag? Er mußte aufsehen.

Miß Mahon sprang vom Podium, ergriff einen Stuhl, stellte den mit dem Rücken gegen die Wandtafel, nahm sodann daneben Aufstellung. – – »Hier!« die Hand wies dramatisch auf den Stuhlsitz – – »Setz dich hierher! – Und jetzt lernst du alles über Washington – alles, sage ich dir, – auswendig! – Und jedesmal vor Beginn des Unterrichts und zum Schluß wirst du ein Stück aufsagen – – das sei deine Strafe, bis ich dich den Händen der Behörde übergeben kann!«

Sie hatte ihre Rede noch nicht beendet, als Peder schon auf den Stuhl geklettert und in sich zusammengesunken war.

Jetzt kam ihr ein Lichtblitz; sie hob das Haupt, benommen von ihrer Macht; sie sah über die Klasse hin, die Augen flammten in gelblichem Schein:

»Auf daß niemand mich der Ungerechtigkeit zeihe, werde ich euch jetzt zeigen, was dieser Benedict Arnold getan hat. Tretet alle vor.« Sie wartete einen Augenblick, und als diesem Befehl ihrer Meinung nach nicht schnell genug Folge geleistet ward, wiederholte sie lauter: »Sofort, sage ich!« Darauf ergriff sie die Zeichnung und befestigte sie mit einer Reißzwecke an der Wandtafel über Peder, wandte sich sodann zur Klasse, die jetzt um das Podium versammelt stand, und wies auf das Bild:

»Da! – Da seht, was dieser Fremdling in seinem Herzen trägt gegen den – – gegen den,« es klang, als sei sie am Ersticken: »gegen den Schöpfer Amerikas!«

– – Und sie zeigte auf die Worte über dem Span: »Könnt ihr dies sehen? – Mike O'Hara, lies es laut vor!« – Mike kriegte Angst, räusperte sich, sagte: »Damn it,« fand, er hätte es nicht genugsam ihrer Wut angepaßt, und wiederholte es laut und deutlich. – – »Da hört ihr's! Ist das nicht unglaublich? – Solche Worte legt er George Washington in den Mund, ihm, dem Noblen, über dessen Lippen niemals etwas Unreines geflossen ist! – Urteilt nun selbst!«

Miß Mahon reckte sich auf wie eine beleidigte Göttin der Gerechtigkeit, die im Begriff steht, das Urteil zu fällen.

Dahin kam es jedoch nicht. Sondern es geschah etwas ganz anderes, etwas völlig Unerwartetes, das blendete wie ein Blitz, alles war wie gelähmt, sie selber auch:

Charley Doheny war auf ihr Geheiß aufgestanden wie alle, hatte sich aber durchaus Zeit gelassen. Jetzt boxte er sich einen Weg durch den Ring, sprang aufs Podium, stieß hart gegen den Stuhl, auf dem Peder saß, und stieß wutschnaubend hervor:

»Herunter mit dir!«

Ohne weiteres riß er die Zeichnung von der Tafel und hielt sie drohend Miß Mahon entgegen: »Das ist meine! Die geht dich nichts an, merk dir das!« Und jetzt, da die Berserkerwut über ihn gekommen war, brauchte er mehr Atemraum, um nicht zu ersticken. Der Ring stand dicht und ängstlich unten; neben ihm ließ Peder halb entseelt den Kopf hängen; und hier stand diese alte Gluckhenne, diese Qualmpumpe, und schleimte Bosheit über ihn aus! – – Charley brauchte mehr Platz; er packte den Stuhlrücken vor ihm und rüttelte ihn, bis Peder stand:

»Herunter mit dir, verstanden!« – – Und dann stieß er den Stuhl mit dem Fuß hinterher.

– – »Charley Doheny!« –

»Yes, ma'am!«

»Wie kannst du es wagen –!«

»Wagen?« – Er hob die Hand, um ihr einen Katzenkopf zu verabfolgen. – Aber der Arm sank plötzlich herunter, die Raserei lief von ihm ab wie Wasser: – die stand ja da, so hilflos und aufgeplustert wie ein verregnetes Huhn! Statt dessen kam sein geduckter Kopf ihr drohend nahe:

»Werden wir heut vielleicht noch mal mit dem Unterricht beginnen?«

Damit ging Charley an seinen Platz und setzte sich; Peder folgte ihm; und nun kamen auch die andern so weit zur Besinnung, daß sie ihre Plätze wiederfanden.

Miß Mahon sank auf dem Stuhl vorm Katheder zusammen, die Arme gekreuzt, den Kopf daraufgelegt; der Rücken wogte auf und nieder. – – Die Rechenstunde verging; es war an der Zeit, mit dem Lesen zu beginnen. Da ging sie hinaus und blieb lange draußen. Und als sie wieder hereinkam, war nichts Auffallendes sonst an ihr zu sehen, außer daß ihr Gesicht rot und geschwollen war.

 

X

Am darauffolgenden Montagmorgen stand Peder eine Stunde vor Schulzeit im Stall und striegelte einen grauen Gaul, der auch als Reitpferd diente, wenn einer der Buben eilends eine Besorgung zu machen hatte. Peder nahm es heute genau damit und striegelte sorgsam und lange, besonders die Mähne, bis sie wie Seide über den Hals herabfiel. Endlich schien ihm das Roß schön genug zu sein; er führte es hinaus, schwang sich in den Sattel und ritt über die Hofreite an die Küchentreppe. Hier hielt er und wartete, daß man ihm seinen Schulimbiß, eine Tagesration, im Eimer hinausreiche.

Heute brachte ihn die Mutter selbst. Allein sie übergab ihm den Eimer nicht sogleich; sie streckte die Hand unter die Mähne des Pferdes und klopfte es erst ein wenig. Das Licht fiel ihr kräftig aufs Gesicht und zeigte alle die Runzelchen um die Augen; Peder fand, sie sehe heute alt und armselig aus. – Jetzt hat sie bestimmt etwas zu sagen, dachte er. Er wollte gern weg und bückte sich nach dem Eimer.

Sie tat, als sähe sie es nicht. Nach einer Weile kam sie mit dem, was ihr am Herzen lag.

»Ich bin heut recht froh, mußt du glauben. Ich hab den Herrgott darum gebeten. Wunderlich sind seine Wege; aber das ist nicht unser Sach!« – Die Hand ließ die Mähne und legte sich ihm auf den Schenkel, die Stimme wurde leise und eindringlich, – er sah, die Augen waren feucht: »Ich hab heut nacht gewacht und darum gebetet, daß er mit dir sei, wenn du jetzt dort drüben beginnst, und ich bin gewiß, daß er's gewährt. – – Hier ist der Imbiß.« – Sie reichte ihm den Eimer hinauf.

Ohne etwas zu antworten, nahm Peder ihr den Eimer ab; er wagte die Mutter nicht anzusehen. Wie eine schwere Bürde lag es auf ihm, als er über die Hofreite ritt. Das Weinen war ihm nahe; aber das ging nicht an, er war ja doch ein erwachsener Bursch; nur die Augen mußte er sich wischen. Dann ermannte er sich: nicht jeder konnte zur Schule reiten! – Er guckte in den Tag hinein und lachte, zog dem Gaul eins über und ritt zu. Der Gedanke, wie verkehrt herum sich alles für ihn schicke, wollte ihm nicht Ruhe lassen: da sollte er jetzt auf eine englische Schule zusammen mit den Norwegern, weil die Mutter sich sorgte, daß unter den Irländern etwas von deren Wesen an ihm haften bleiben könne! Sonderbar mit der Mutter – zuweilen verstand sie schlechthin alles. Dennoch schien es, als ahne sie nicht den Tüttel von dem merkwürdig Großen und Schönen, das hier allerwärts hervorleuchtete und in das er mittenhinein mußte, weil es das Seine war. – – Das war so dumm von ihr, daß er geradezu darüber lachen mußte. – – Aber daß auch die Brüder diesmal nicht ein gutes Wort für ihn eingelegt hatten! Die wenigstens hätten doch begreifen müssen? Jetzt würden die Leut all das Schlimme glauben, dessen Miß Mahon ihn beschuldigt hatte, wenn er vor dem Tratsch ausrückte. – – Charley und Susie, die würden lachen und ihn hänseln, weil er zu den Norwegern sollte, um norwegisch zu bleiben, er, der noch nicht einmal reines Englisch sprechen konnte! –

Peder kreuzte unten bei Tönset'n den Bach und ritt dann ostwärts über die Prärie die vier Meilen bis zum Tallaksen-Schulhaus. Etwa auf der Mitte des Weges überholte er einen Buben und eine Dirn, die am Wegrand dahinstapften. Den Buben kannte er gut; es war der Joseph Granem, die Dirn war gewiß die Schwester – Agnes hieß sie ja wohl.

Peder grüßte ›hello‹; Joseph antwortete ›hello‹ und warf ihm einen schnellen Blick zu. Peder glaubte ein Spottlächeln in seinem Gesicht wahrzunehmen; das Dirnlein wanderte mit gesenkten Augen fürbaß. Peder zügelte das Pferd und fragte auf englisch:

»Wollt ihr zur Schule?«

»Ja.« – Das war die ganze Antwort.

»Da will ich auch hin!« Peder versuchte fröhliche Sicherheit hineinzulegen.

»Zu uns?«

»Ja gewiß!«

»Hö – soso.« – –

Peder hätte sich ihnen herzensgern angeschlossen; aber die beiden stierten nur geradeaus auf den Weg; Joseph schwieg, das Mädel hatte auch kein Wort zu verlieren, und da wurde das Schweigen so peinlich, daß Peder dem Pferd einen Hieb versetzte und davonritt. – War nicht seine Absicht, sich an Leut heranzumeiern!

Ein Stück weiterhin wurde er zu kurzem Aufenthalt gezwungen. Hier war Nils Rognaldsen bei der Maisernte, hatte gerade zwei Streifen besorgt und war nun zum Wenden auf den Weg gefahren. Als der sah, wer da ankam, setzte er sich auf dem Wagenkasten behaglich zurecht, um ihn zu erwarten.

Nils war ein gesprächiger Mann, der gern die Gelegenheit zu einem Schwatz ergatterte; es war auch gerad die Mitte der Schicht und akkurat die Zeit, ein wenig zu rasten. Er hatte von dem Skandal im Murphy-Schulhaus gehört, und da mußte er durchaus Bescheid haben, wie denn alles sich zugetragen hätte. – Rognaldsen forschte und grub: Peder glaubte hinter den Fragen listige Freude zu merken; er wäre am liebsten entwischt, aber der Wagen versperrte den Weg. Der Mann sprach noch dazu Norwegisch, und das machte es nur noch schlimmer; denn da war es, als erhielten Peders eigene Worte nicht die Bedeutung, die er ihnen beilegen wollte, und zudem hörte sich auf norwegisch alles weit garstiger an.

– – Soso! Also so hing das zusammen! Well, well! – Warum hatte er denn diese mistige Henne nicht mit den andern Buben zusammen gehenkt? – Und warum jagte die Schulverwaltung die nicht zum Bezirk hinaus? – Wie hatte sie ihn doch gleich genannt? – So? Benedict Arnold? Was war denn das für einer gewesen? – – Soso – well! – Aber stimmte es, daß Peder sie ersucht hatte, in die Hölle zu fahren, und daß sie ohnmächtig geworden war und damit gedroht hatte, sich ein Leid anzutun, und daß jetzt daraus ein Prozeß entstehen werde? – – Well, well, well, schlimme Geschichte, all right! – – Und jetzt wolle Peder es also hier mit der Schule versuchen? Well – hier sei's ein anderer Zirkus, darauf könne er sich verlassen, denn die Nellie Quam, die sei ein tüchtiges Frauenzimmer! – – Aber was habe denn die Mutter zu dem allen gesagt? – – So. – – Nein, war das die Möglichkeit! – – – Wie weit waren sie denn mit der Maisernte? Bald fertig? –

Während der Ausfragerei klaubte sich Rognaldsen Körner aus einem großen Kolben; endlich schien er genug Gewißheit bekommen zu haben, setzte sich zurecht und fuhr wieder in den Acker hinein.

Peder ritt nach Osten in den großen sonnensatten Tag und achtete kaum auf den Weg. Hier hatte ein Fremder ihn nackend ausgezogen, ihn nach allen Seiten gedreht und gewendet und ihn dann ausgepeitscht! –

Der Weg zu den Mörstads führte am Schulhaus vorbei. Peder sah die Tür offen stehen, als er hinkam; eine Schar Mädel hielt sich auf der Vortreppe auf; ein paar Buben rekelten sich an der Sonnenwand. Er sah das alles, und die Stimmung wurde um so finsterer; er hieb auf den Gaul ein und ritt in gestrecktem Galopp vorbei.

Die Mörstadkinder waren bereits gegangen, als er dort anlangte. Er nahm sich gute Zeit, das Pferd einzustellen und ihm Heu vorzuwerfen, ging dann hinein, um Mrs. Mörstad guten Tag zu sagen; dabei beeilte er sich, – denn er wußte, sie war eine plauderlustige Frau. Doch die drei Viertelmeile zur Schule legte er gemächlich zurück; er wollte erst hinkommen, wenn alle wohlbehalten in der Klasse waren, hatte er sich ausgerechnet!

Und so traf es sich auch. Als er zur Schule kam, war keine Menschenseele mehr draußen zu erblicken. Er ging in den Flur und stellte den Eimer ab, zögerte einen Augenblick, überlegte, ob er ihn nicht besser woanders hinstelle, und rückte ihn dorthin. – – Merkwürdig, wie klapperig ihm die Knie waren. Er mußte etwas verpusten, bevor er anklopfte.

Eine kräftige Frau in blauem Kleid mit weißem Spitzenkragen öffnete; das Gesicht war derb; die Augen lagen grau und klar tief in ihren Höhlen und betrachteten alles mit kühler Ruhe. Sie erkannte ihn sofort, wie es schien.

»So – da hätten wir dich! Ich befürchtete schon, daß deine Mutter sich anders entschlossen habe. Du hast doch nicht etwa die Gewohnheit, zu spät zu kommen, denn das geht hier nicht! – Und jetzt beeilen wir uns recht, denn die andern sitzen schon längst mitten in der Arbeit.« – Die Worte kamen ruhig, selbstverständlich, und die Stimme klang vor allem so tief und angenehm.

Sie hatte ihn inzwischen beim Arm hereingeführt.

»Dies ist Peder Holm,« stellte sie ihn einer großen Stube voller starrender Augen vor – Augen, die stachen, Augen, die forschten; und ein paar der größten Buben grinsten ihn böse an. »Er hat die Irländer satt bekommen und soll es jetzt hier versuchen.« Damit brachte sie ihn zur vordersten Bank in der Mitte. – »So, Jim, laß du ihn hier neben Nils sitzen, du bekommst einen andern Platz.« – Dann sagte sie wieder zu Peder: »Wir fangen bei uns vorne an und rücken nach hinten, je nachdem wir flink und artig sind, – dich kennen wir noch nicht; du, Nils, nimmst dich seiner vorläufig an.«

Es war nicht leicht, all diesen gaffenden Augen Widerstand zu leisten. Heftiger Trotz regte sich in Peder; er warf den Kopf in den Nacken; die Brauen runzelten sich: glotzt, soviel ihr wollt! Aber dann hielt er doch nicht stand vor all dem Staunen ringsum, das zu fragen schien, was er hier denn eigentlich zu suchen habe; er wurde blaß und sah zu Boden.

Ein langer, schlaksiger Bengel, blond wie er selber, war in der Bank sitzen geblieben, in der die Lehrerin ihm seinen Platz angewiesen hatte; er war schiefäugig und schielte Peder mit einer Miene an, die besagte: das paßt mir nur wenig! Peder sah nicht das Gesicht, sondern wie schmutzig die Hand rings ums Gelenk war. Wo mochte der daheim sein?

Peder setzte sich zurecht, schweren, bekümmerten Sinnes und so müde, als käme er von schwerer Arbeit. Die Augen hinter ihm pikten ihn in den Nacken wie Nadelspitzen. Gerade vor sich hatte er die Wandtafel; zu oberst stand in Schönschrift: »Dies ist eine amerikanische Schule; beim Spiel und bei der Arbeit sprechen wir nur Englisch.« Er las es sich ein paarmal durch und fühlte Scham in sich aufsteigen. Er konnte den Kopf nicht zur Seite drehen – da warteten die Augen auf ihn; er versuchte geradeaus zu blicken, aber die Worte auf der Tafel mochte er nicht noch einmal lesen; und so blieben ihm nur der Pultdeckel zur Augenweide und das schmutzige Handgelenk des Kameraden; der hatte auch noch einen übelriechenden Atem.

Auf dem Pult lagen ein paar Bücher; mechanisch nahm Peder das oberste und begann darin zu blättern. Es war eine Geographie mit vielen Bildern. Nach einer Weile kam er an eins, das ihn zu näherer Besichtigung reizte: ein wütender Bär und ein Mann im Kampf. Das Untier hatte dem Mann bereits beide Vordertatzen auf die Schultern gelegt; der aber schien ein unerschrockener Bursch zu sein; ein Dolchmesser ragte ihm aus der einen Faust; der Arm war zurückgezogen; im nächsten Nu war der Stahl gewiß im Herzen des Untiers begraben. – Über dem Bild stand nur das eine Wort: Norway. Darunter hatte jemand mit Bleistift geschrieben: A Norskie A Norskie, etwa = ein Norwegerlein; Spitzname wie Eiris für Ire.. Peder las langsam und genau den kurzen Paragraphen über das Land seiner Väter, der unter dem Bilde stand. Während seiner ganzen Schulzeit blieb dies die einzige Kunde, die er von dem Lande und dem Volke erhielt, von dem er abstammte. – – Ein Gefühl, als sei er unpäßlich, befiel ihn. Er schlug das Buch zu und legte es wieder hin, erhaschte einen Gedanken, dem er gleichmütig folgte, und fand dadurch Erleichterung: wenn du erst erwachsen bist, dann reist du so weit weg, daß du nie wieder etwas von Norwegen zu hören bekommst! – – Sein Gemüt war so wund, daß er sich hätte hinlegen und flennen mögen.

In der ersten Pause blieb er auf Geheiß der Lehrerin im Zimmer; sie wollte feststellen, wie weit er in den einzelnen Fächern vorgedrungen war, und welche Bücher er benutzt hatte. Und da sie ihn nun einmal hier unter vier Augen hatte, so konnte es nicht schaden, wenn sie bei der Gelegenheit dahinterkam, was sich eigentlich zwischen ihm und Miß Mahon zugetragen hatte. Sie fragte nach vielem und fragte lange. Aber bei ihr war das nicht weiter schlimm – die derben freundlichen Züge kamen ihm mehr als halbwegs entgegen und nahmen alles so selbstverständlich. Zum Schluß lachte sie nur und meinte, sie beide würden schon gut Freund miteinander werden, – keine Gefahr! Dann gab sie ihm Aufgaben auf.

Peder druckste noch an etwas, was er ihr gern noch gesagt hätte, gewann es aber nicht über sich; wer weiß auch, ob sie es recht verstanden hätte.

Allmählich, sehr allmählich kam die Mittagspause heran. Peder tat wie die andern, holte den Eßeimer herein und aß in der Bank. Und jetzt hatte er reichlich Platz; denn Nils hatte sich mit seinem Essen eine andere Stelle gesucht. Das fand Peder sonderbar und dachte darüber nach; und je länger er dies tat, desto schwerer fiel ihm das Schlucken: Nils wollte nur dann neben ihm sitzen, wenn er es mußte. Auch Joseph Granem hatte vermieden, mit ihm zu sprechen, hatte nicht einmal den Schulweg mit ihm machen wollen; die Schwester hatte nicht gewagt, ihn anzusehen. – Rognaldsen hatte so geredet, als sei er der größte Verbrecher der Welt. Sollst sehen, die Leut glauben, ich hab etwas richtig Böses getan, dachte er bei sich. – Das Hinunterschlucken wurde ihm immer schwerer.

Die meisten kürzten die Essenspause möglichst ab. Sobald einer fertig war, ging er mit seinem Eimer hinaus. Alle drehten sich nach Peder um, die meisten fragend; schließlich wurde ihm das so öde, daß er es gar nicht mehr beachtete, wenn jemand vorbeiging.

Draußen hob sogleich Lärmen und frohes Spielen an; Stimmen johlten; Gelächter schallte kräftig und ansteckend; aber von den größten Buben vernahm Peder keinen Laut. – Wenn ich jetzt hier sitzen bleib, glauben die, ich fürcht mich vor ihnen. Die stehen hinter der Hauswand und reden über mich, – jetzt geh ich akkurat zu ihnen hinaus! – – Ich stopf die Hände in die Taschen, stell mich zwischen sie, gerad als gehörte ich dahin. – – Mir fällt schon noch immer etwas ein, was ich ihnen dann sage, denn Angst hab ich nicht! – Daß er keine Angst habe, wiederholte er mehrmals im stillen und fügte hinzu: das sind ja doch bloß Buben! – Den Eimer stellte er mit großer Umsicht beiseite, ehe er hinausging.

Die Kleinsten spielten Greifen; zwei Scharen von den größten Mädeln saßen in der Sonne und spielten ›Jacks‹; zwei Bübchen veranstalteten auf dem Weg einen Wettlauf; ein paar andere suchten auf der Prärie nach Gopherlöchern; sechs von den größten lümmelten an der Sonnenwand. Peder erblickte sie, sobald er um die Ecke kam, und schlenderte auf sie zu. Irgend etwas mußte gesagt werden – das fühlte er – und so meinte er erwachsen:

»Da seid ihr ja, Mannsleut!«

Niemand antwortete fürs erste; ein verlegenes Grinsen huschte über die Gesichter; der Nächststehende kreuzte die Beine, sah verschmitzt in die Luft und spuckte. Endlich fand einer am andern Ende seine Sprache wieder und sagte auf norwegisch:

»Ja freilich, da sind wir!«

Da platzte das verhaltene Grinsen; die ganze Reihe brach in Gelächter aus. Lloyd Bolgen, ein langer Fläz von einem Buben, der in der Mitte stand, wiederholte kluckernd in derselben Sprache: »Ja weiß Gott, da sind wir!« Und das schien so komisch zu sein, daß sich wieder alle vor Lachen ausschütten wollten.

Peder versuchte ein Lächeln, das nicht so recht gelang; er schlenderte die ganze Reihe entlang, sah den Nils zu äußerst stehen, und da sie ja Pultkameraden sein sollten, ging er hin und stellte sich neben ihn. Nils rutschte weg, soweit er der andern Buben wegen konnte, und es entstand eine gähnende Leere zwischen Peder und der übrigen Schar.

Peder empfand, wie peinlich das alles war, vermochte jedoch nicht, seines Weges zu gehen; nein – jetzt erst recht nicht!

Gleich darauf ließ sich eine hohe singende Stimme auf norwegisch vernehmen – Lloyd mußte wieder sein Mütchen kühlen:

»Nimm dich bloß in acht, Nils!«

Und jetzt fragte Lloyds Nebenmann zur Rechten – gleichfalls auf norwegisch:

»Was für eine Sorte war denn eigentlich der Benedict Arnold? – War's nicht ein Nordnorweger?«

Ein tiefes, wonneerfülltes Gurgeln durchlief die ganze Reihe. Nils mußte sich nach Peder umsehen, um die Wirkung der Worte zu beobachten; das eine schielende Auge heftete sich zwinkernd auf Peder und fragte, ob das stimme, während das andere geradeaus in die Luft stierte.

Aber Peder beachtete ihn nicht; eine kalte, gleichmütige Ruhe erfüllte ihn; Schauer durchliefen ihn; er merkte, daß er furchtbar blaß war und die Lippen trocken waren, daß er sie lecken mußte. – – Bleibt sich eigentlich gleich, wieviel Keile dabei für mich herauskommt, dachte er – dem müssen wir jetzt ein Ende machen! – Er trat von der Wand weg, faßte die beiden in der Mitte scharf ins Auge; ging stracks auf sie zu, setzte die Ellbogen kräftig zwischen sie ein und sagte in schierstem Nordländisch:

»Platz da, ihr Burschen, – hier steh jetzt ich!« –

Und damit quetschte er sich zwischen sie; und wie um der Aufforderung größeren Nachdruck zu verleihen, kreuzte er die Arme über der Brust und ließ die Ellbogen recht vorstehen. Jetzt habe ich gleich die ganze Sippschaft über mir, dachte er und fror, daß sich die Gesichtsmuskeln zusammenzogen; für die beiden Nächststehenden sah es aus, als lache er ihnen zu.

Nils löste sich als erster von der Wand; er mußte sich die Entwicklung dieser Sache aus einem gewissen Abstand besehen; der Bub am andern Ende der Reihe wurde von demselben Bedürfnis erfaßt, der daneben gleichfalls und schließlich auch der, der neben Nils gestanden hatte – da grinsten sich jetzt die vier und die drei gegenseitig an!

Peder hörte Worte an den Ohren vorbeisingen und sprach sie nach:

»Hier gibt's jetzt reichlich Platz!«

Plötzlich schoß Lloyd wie ein Pfeil auf die andern zu, legte zweien die Arme um den Hals und sagte etwas, aber so leise, daß Peder es nicht hören konnte; und nun kam der sechste auf etwas, was er den andern durchaus sagen mußte, und begab sich eiligst zu ihnen. Da standen nun alle sechs eng zusammengeklumpt mit verschlungenen Armen und schwätzten leise und eifrig; ab und zu drehte sich einer nach der Wand um.

Peder stand noch immer dort; die Kälteschauer verstärkten sich; der Hals war ihm so trocken und eng, daß er schmatzen mußte; die Glieder wurden merkwürdig schwer; eine Hand wühlte im Magen herum; die Augen hingen wie festgenagelt an der Gruppe dort drüben; die Sekunden zogen vorüber, gedehnt wie Jahre.

– – Traurig, daß ich hier heute jemanden umbringen muß; aber es hilft nichts. Für Mutter ist es am schlimmsten! Susie wird glauben, daß ich ein übler Schurke bin. Die Gedanken kamen wuchtend, er stöhnte unter ihrem Gewicht.

Zuletzt hielt er's nicht mehr aus: eine Minute länger, und er schrie los. Plötzlich merkte er, daß er sich auf die Schar zubewegte, dicht vor ihr stehenblieb, und hörte sich in munterem Tone sagen:

»Werdet ihr denn gar nicht fertig, ihr Burschen?« Aber es klang heiser und war nicht zu verstehen. Und da wiederholte er es auf englisch, zwar gewiß verkehrt, obwohl es so an der Wandtafel stand. Er wartete eine Weile ab, und er lachte sogar auch ein wenig. Übrigens war es dieser Hals von Lloyd, der ihn so lange zögern ließ; er mußte sich die Stelle merken, wo er zupacken und zudrücken wollte. – Oh – wie er zudrücken wolltet Dem den Atem ausquetschen! – Nachdenklich steckte er die Hände in die Taschen und begann über den Hofplatz zu schlendern, ohne zurückzusehen. Kamen die jetzt nicht, und zwar sogleich, dann ging er einfach davon und heim – ja, jetzt ging er also!

 

XI

Unter den Mädeln, die dicht an der Wand, ›Jacks‹ spielten, hockte eins, das dem Spiel bloß zusah – braunäugig und dunkelhaarig, in jedem Nerv erwachendes Leben, reif für ihr Alter und schon zu erwachsen, um sich etwas aus dem Spiel zu machen, aber doch noch so viel Kind, daß sie es nicht lassen konnte, in der Nähe zu bleiben. Ihr Anblick erinnerte an eine volle Pfingstrosenknospe, die bereit ist, sich dem ersten Sonnenschein zu öffnen.

Weil ihr Gefühlsleben sich so sehr dem des reifen Weibes näherte, hatte sie nur wenig Kameraden in der Schule. – – Sie hatte die ganze Geschichte von Peder und dem Aufruhr in der Spring-Creek-Schule gehört und war gleich Feuer und Flamme gewesen. Sie hatte ihn heute beim Hereinkommen beobachtet, hatte einige von den Äußerungen aufgefangen, die die großen Buben sich zugetuschelt hatten, gesehen, daß er beim Essen allein blieb, und das Spottlächeln bemerkt, das viele im Vorübergehen für ihn hatten; und sie war so empört darüber gewesen, daß sie sich nur mit Mühe davon zurückhielt, sich mit ihrem Eimer neben ihn zu setzen.

Als Peder herauskam, vergaß sie das Spiel und folgte allem, was unter den Buben vorging, – sie saß so nahe, daß sie jedes Wort auffangen konnte. Als sie sieht, daß er sich dem Knäuel der sechs nähert, springt sie auf, macht einen Bogen über den Hof und geht hinein; im Flur zaudert sie, kehrt wieder um und stellt sich auf die Treppe, bleibt vorgeneigt stehen und horcht auf das geringste Geräusch.

Als Peder an der Ecke vorbei und den Weg hinuntergeht, macht sie eine Bewegung, als wolle sie hinunterhüpfen; aber sein gerunzeltes Gesicht scheucht sie zurück. – – Gleich darauf kommen drei Buben auf der andern Seite der Treppe Vorbeigelaufen, halten jedoch lange genug inne, um einen Blick in den Flur zu werfen, ehe sie weiterrennen. Da kommen die andern drei dicht an ihr vorbei und machen es ebenso. Sie wartet ab, bis sie die sechs Peder umringen sieht, als er soeben am Hauptweg ist und nach Westen abbiegen will.

Noch einen Augenblick zögert sie. Aber dann nimmt ihr das, was in ihr ringt, alle Beherrschung; sie macht einen Satz, steht unten und läuft den Buben nach. Sie kommt gerade zur rechten Zeit, um Lloyds singende Stimme zu hören, als er sich Peder nähert:

»Jetzt sollst du herrliche Keile besehen, mein Guter!« Die Drohung kommt mit großem Nachdruck.

Lloyd hat noch nicht ganz ausgesprochen, als sie auch schon vor ihm steht:

»So, jetzt wag es, du Feigling du! – – Schäm dich! – – Oh – wie ihr's kriegen sollt!«

Der Angriff kam ebenso plötzlich wie unerwartet.

»Ach fahr zur –!« Lloyd zog den Fuß an sich, um ihr einen Tritt zu versetzen, besann sich aber noch darauf, daß man ein Mädchen nicht stoßen dürfe, setzte den Fuß wieder hin und mußte ein paar Schritt von ihr weg tun; er fuchtelte zur Abwehr mit den Armen.

Das Mädchen hinterher, unvermindert drohend und in sprühendem Zorn: »Wenn du ihn anrührst, dann schreie ich, – oh, du sollst es kriegen!«

Die Schar teilt sich jetzt; Lloyd und seine beiden Gefolgsleute stehen auf der linken Seite, die drei andern auf der rechten; das Mädchen und Peder in der Mitte; er verdutzt, als wäre er daheim in seinem Bett eingeschlafen und plötzlich an einem wildfremden Ort aufgewacht.

Da sagt Jim in der Gruppe rechts möglichst aufreizend auf norwegisch:

»Schau, es ist halt ihr Schatz, Lloyd, – zu Thanksgiving Thanksgiving = Erntedankfest, einer der vornehmsten Festtage der anglikanischen Welt. wollen sie heiraten!«

Das Mädchen kehrt sich um und mustert ihn; die Augen sind verengt und rund. »Sag das noch einmal!« Wie um besser zu hören, kommt sie ihm näher. Und plötzlich wird ihr Jims Grinsen, das immer noch zu sehen ist, unerträglich. Die Hand fährt heraus, unerwartet, in kochender Wut, und klatscht ihm mit einem saftigen Knall ans Ohr.

»Schlägst du die Leut?« schreit Jim heftig.

»Nein,« sie ringt nach Atem, »nicht anständige Leut!«

Der Ingrimm darüber, daß der klug ausgetüftelte Angriffsplan von dieser hochnäsigen Dirn zerstört worden ist, läßt Lloyd rot sehen; er springt auf sie zu und packt sie fest am Arm:

»Das geht dich alles gar nichts an! Scherst du dich nicht augenblicklich weg, so wirst du – wirst du –!« Er findet kein ausreichend vernichtendes Drohwort und stottert weiter: »wirst du – wirst du –!« Nils' Schielauge hat inzwischen irgendwo in der Luft das fehlende Wort entdeckt, eilt dem Mitverschwörer zu Hilfe und sagt innig, mit einem tiefen Brummen:

»Skalpiert!«

Das Mädchen versucht den Arm loszuwinden und kann nicht. Da hebt sie den Kopf, aus dem Dunkelbraun der Augen sprühen Funken. Aber da sieht sie, daß Peder sich Lloyd von hinten nähert; noch ist in seinem Gesicht zu lesen, was sie vor einer Weile bemerkte – nur geballter und entschlossener. Solch einen Ausdruck hat sie noch in keinem Gesicht gesehen. Jetzt geschieht ein Unglück! durchzuckt es sie, und unversehens bricht sie in den lauten, schallenden Ruf aus: »Miß Quam!« Sie sieht, daß Peder zur Besinnung kommt und unschlüssig steht – und da ruft sie noch einmal aus Leibeskräften:

»Miß Quam! Miß Q-ua-m!«

Alle starren sie entsetzt an. Ist sie verrückt geworden? Jetzt die Lehrerin herbeizurufen!

Aber der Sturmknoten ist gesprengt. Etwas Dumpfes und Hilfloses hat sich über die Buben gelegt; sie harren schicksalsergeben der Wirkung des Alarmrufs. Und die läßt auch nicht lange auf sich warten: die beiden kleinen Wettläufer hatten sich, des Spielens müde, die beiden dicksten Zaunpfähle zum Horst ersehen, waren hinaufgeklettert und schleckten nun da oben Herbstsonne; kaum hören sie das Rufen, als sie auch schon merken, daß irgend etwas Ungewöhnliches im Anzuge ist, und laut jubelnd brüllen sie: »A fight, hurra!« hopsen herunter und kommen angelaufen. Ähnlich zündet der Hilfeschrei auf der Prärie: alle sehen her und kommen angerannt. – Zu allerletzt schreitet Miß Quam herbei. Wie die Glucke, die den Kücken folgt, wiegt sie sich hinterher, ohne Hast, ohne Spur von Erregung.

Bei Miriams Rufen hat Lloyd locker gelassen: jetzt ist alles verpfuscht – damn her! Er bahnt sich mit Hilfe der Ellbogen einen Weg durch die Menge; die großen Bengel halten es für das klügste, seinem Beispiel zu folgen, – sie sehen jedoch Miß Quam sich ganz gemächlich nähern und finden plötzlich, es habe schließlich keine so sehr große Eile.

Lloyd kommt der Lehrerin zuerst in den Weg. – Die Gören sollen sehen, daß er nicht einer ist, der sich drückt! Bückt sich und reißt einen Halm ab, während er darauf wartet, daß sie an ihm vorbeigeht.

Aber das fällt ihr durchaus nicht ein; gerade vor ihm bleibt sie stehen, die klugen Augen durchforschen ihn von Kopf bis Fuß.

»Was habt ihr denn jetzt wieder ausgefressen?«

»Och! Bloß ich und der Peder!« Er richtet sich gleichgültig auf und will sich entfernen.

Da tut sie, was Lloyd um alles in der Welt nicht will: sie faßt ihn unter und schlendert mit ihm weiter, und jetzt sitzt er in der Klemme und möchte los.

»So – du und er?«

»Yes.«

»Hier sagen wir: Yes, Ma'am,« berichtigte sie, »und du hast angefangen?«

»Well –«

»Well, ich habe gehört, wie du gegen ihn warst, als er herauskam. Das war ungemein häßlich von dir, Lloyd! Peder hat nichts Böses getan.«

»So? – mein Vater hat die Zeichnung mit seinen eigenen Augen gesehen!« Lloyds Augen schimmern jetzt weißlich, die Stimme quietscht vor Wut.

»Wann?«

»An dem Abend in der Versammlung!«

»Das will ich gern glauben; aber bisweilen sehen die Leut nicht richtig, und das begreifst du nicht.« – Ruhig und einfach begann sie ihm den Zusammenhang zu erklären und schloß: »Und jetzt sieh zu, dich mit Peder zu versöhnen; und zwar muß das von dir ausgehen! Laß mich einmal überlegen: – ich gebe dir bis morgen abend Zeit; dann kommt ihr beide zu mir, aber erst nach der Schule. Ist dann nicht alles allright, gehe ich zu deinem Vater und du mußt von hier weg. Vergiß also nicht: morgen abend! Und ihr kommt beide! – Ja, du begreifst doch wohl, daß das wichtig ist?«

Oben auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen; jetzt ließ sie seinen Arm los; die grauen Augen ruhten noch immer auf ihm, klug und kühl, aber auch das Hausmütterliche ihres Wesens hatte dort seinen Quell.

– – –

Die andern standen gaffend auf dem Weg: was war denn das nun wieder? – Wurde nichts daraus? – Wer hatte gerauft? – – Etwas lag in der Luft – eine Stille, wie nach einer unerwarteten Explosion – – das mußte jener Eirisbub gewesen sein, der hatte mit dem Lloyd Händel gesucht. Denn das wußte doch jeder: schlimmere Raufbolde als die Eiris gab es auf der ganzen weiten Prärie nicht. Sie beglotzten Peder, die Mädchen mit halboffenem Mund und schrägem Kopf, die Buben in zitternder Wonne – hier gab's bestimmt bald mächtigen Krach! Der Lloyd steckte nicht viel ein, bevor er heimzahlte, und zwar mit Zinsen! Wollen ihn lieber gleich deswegen aushorchen. – – Die Buben verzogen sich paarweis oder in kleinen Gruppen; und als die Mädels das sahen, zogen sie hinterher.

Peder sah sie weggehen; eine beklemmende Last hob sich von ihm. Sein ganzer Körper lebte sogleich freudig auf. Die Prärie und alles rundum lag gebadet in aufmunterndem Schönwetter. Es war hier im Osten der Prärie geradezu lustig! Hätte er jetzt den Charley hier gehabt, er wäre hinter ihnen hergezogen und hätte sie gehänselt. Charley verstand das fein.

Aber da merkte er jemanden in seiner nächsten Nähe. Was wollte der? – Hö, da stand ja das Mädel von vorhin! Er sah sofort die Szene vor sich, wie sie dem Jim so vortrefflich eins hinter die Ohren gab, und begann leise zu lachen. – »Da hätte ich beinah tüchtig Wichse gekriegt!« sagte er auf norwegisch, erinnerte sich, daß sich das nicht gehörte, und wiederholte es auf englisch. – – Das Mädchen kehrte sich ab. Heulte sie? Was hatte denn das zu bedeuten? – – Er suchte nach etwas Tröstlichem, konnte sich aber noch nicht völlig von den Gedanken an die soeben durchlebte gefährliche Lage befreien und sagte fröhlich: »Gut, daß du kamst!« Er nahm sie leicht bei dem Arm, den sie sich vor die Augen hielt, um die Hand zu fassen und sich recht schön zu bedanken; aber da warf sie sich schluchzend auf den Wegrain. – Er stand wie aus den Wolken gefallen – so etwas war ihm noch nicht vorgekommen!

Peder sah, wie es in ihr ruckte und zuckte – ein reifer, blühender Körper, weich und anmutig gerundet; das Gesicht barg sich im Ellbogen. – – Prächtiges Haar hatte sie! – Jetzt ist ihr schlecht! Armes Ding! Wenn ich ein bissel weggeh, wird ihr schneller wieder gut; denn mir geht es immer so, dachte er und ging. – – War das nun etwas, darüber zu weinen? Mädels waren doch merkwürdige Kerle! Ein Bild, dunkel, fern, versuchte sich ihm zu zeigen, ohne sich klar herausschälen zu können, ein liebes und schönes Bild, von dem keine Seele wußte – von einer feuchten Wange an seine gelehnt, von einem tödlich verängstigten Herzen, das an dem seinen schlug, und von einem Paar Augen, wie des Herrgotts blauer Himmel, mit leichten Abendwolken davor. – Herrgott, was für Augen in so einem Mädel saßen! – – Well, das war etwas Lustiges, das paßte nicht her und mochte bis später warten! Denn dies Mädel hier, das weinte wirklich und tatsächlich, lag da allein und flennte. Bin ich wohl so einer, daß die Mädel weinen müssen, wenn ich bloß an sie rühre? Er fühlte ein Zittern, aber er war zugleich fröhlich. – – Jetzt reut es sie gewiß, daß sie den Jim geohrfeigt hat, – so etwas schickt sich auch nicht für Mädels! – Was hatte Jim doch gesagt? Peder hörte es deutlich und mußte wahrhaftig über solch einen Kohl lachen; – jetzt ging er einfach hin und sagte es ihr: um deswillen brauche sie nicht zu weinen, durchaus nicht!

Da saß sie am Rain und wartete auf ihn. Über den braunen Augen lag ein dünner, feuchter Schleier; sie wurden darunter so weich, und so merkwürdig durch das Lächeln, das aus ihnen heraus ihm entgegenhuschte. Das Lächeln kam übrigens von dem ganzen Gesicht, von Wange und Mund und Kinn und Hals, am meisten jedoch vom Munde – weich und scheu, wie bei jemandem, der ein Geschenk herzlich darbringen möchte, sich dessen aber schämt. Peder schaute sie so lange an, bis er vergaß, warum er eigentlich gekommen war. Er fühlte eine gute, eigene Müdigkeit in sich aufkommen, und mit einemmal warf er sich neben sie ins Gras.

Da stand sie auf. Während sie sich den Rock glatt strich, fragte sie:

»Wirst du bei uns zur Schule gehen?«

»Vielleicht.« Er zögerte mit der Antwort und sie sagte etwas mürrisch:

»Weißt du's denn nicht?« Sie sah ihn an und lachte: »Aber dann darfst du nicht raufen!«

»Damit halte ich's wohl, wie's mir paßt.«

»Raufen ist bös.«

»Zwei von denen kriegen noch was ab!« nickte er entschlossen einem Etwas zu, das er vor sich sah. »Und vielleicht werden's auch drei; der Jim könnt am Ende auch was brauchen!«

»Du darfst nicht!«

Peder suchte nach einer Antwort; ehe er sie fand, läutete die Schulglocke; er sprang auf, und sie gingen nebeneinander den Weg hinauf. Ihr Gang hatte etwas Wiegendes, als höre sie Klänge voll tiefer Freude; immer wieder mußte er sie anschauen.

»Wie heißt du?« fragte er.

»Miriam – Miriam Nilsen.«

» Nils Nilsen?«

»Ja.«

Peder sah sie mit großen, verwunderten Augen an, – darüber hätte er doch gar zu gern noch etwas mehr Bescheid gehabt. Und mit einmal fühlte er inniges Mitleid mit ihr – wenn jetzt ihr Vater von dem Vorgefallenen zu wissen bekam – –.

»Wo biegt euer Weg von der Landstraße ab?«

»Zwei Meilen nach Norden und eine Meile nach Osten.«

»Leicht zu behalten!«

»Warum denn?«

»Denn da gehe ich bloß geradeaus und biege rechts ab!« Und sogleich setzte er hinzu: »Seid ihr viele auf dem Heimweg?«

»Nur auf der ersten Meile.«

»Nur auf der ersten?«

»Die andern gehen dann nach Osten. – – Mußt nicht mehr raufen!«

»Ich hab nicht gerauft!« Jetzt lachte er wieder.

»Du wolltest aber!« Und jetzt lachte auch sie, aber tiefer als er und schwerer. – »Was hättest du getan, wenn ich dir nicht zu Hilfe gekommen wäre?«

»Hö, getan!« – – Da waren sie schon so dicht an der Treppe, daß er für den Augenblick der Antwort überhoben war.

– – – –

O you youths, Western youths,
So impatient; full of action, full of manly pride and friendship,
Plain I see you Western youths, see you tramping with the foremost,
Pioneers! O pioneers!

Have the eider races halted?
Do they droop and end their lesson, wearied over there beyond the seas?
We take up the task eternal, and the burden and the lesson,
Pioneers! O pioneers!

All the past we leave behind,
We debouch upon a newer mightier world, varied world,
Fresh and strong the world we seize, world of labor and the march,
Pioneers! O pioneers!

O ihr Burschen, Westlandburschen,
So begierig; voller Tatkraft, voller Mannesstolz und Freundschaft,
Klar seh ich euch Westlandburschen, seh euch wandern an der Spitze,
Pioniere, Pioniere!

Stocken jetzt die alten Rassen?
Sinken, enden ihre Arbeit, müde, jenseits dort der See –?
Tragen wir die ewge Mühe und die Bürde und die Lehre,
Pioniere, Pioniere!


Was vergangen, bleibt dahinten.
Brechen durch zu einer neuern, größern Welt, buntern Welt,
Frisch und stark die Welt wir packen, Welt der Taten und des Fortschritts,
Pioniere, Pioniere!

Peder hatte sich verspätet. Diese drei Strophen hatte Miß Quam kurz vor Schulschluß an die Wandtafel geschrieben und sie von den beiden obersten Abteilungen abschreiben lassen, damit sie sie daheim zu morgen auswendig lernten. Sie hatten sie mehrere Male im Chor aufgesagt. Miß Quam sprach mit und schien dabei ein anderer Mensch zu werden; die hohe Gestalt begann sich in den Rhythmen zu wiegen; die grauen Augen leuchteten lebensvoll und froh – sie wurde schön. Peder hatte das Blatt Papier in der einen Hand und ließ den Blick von ihr zu den Worten wandern, während er kräftig und klar mitsprach. Aber dann hatte er im letzten Vers einen Fehler entdeckt, den er noch verbessern mußte. Daher die Verspätung.

Jetzt zäumte er seinen Gaul vor Johannes Mörstads Stall; es ging ihm nicht schnell genug, und deshalb herrschte er den Klepper an, er solle den Kopf gefälligst stillhalten. Eines von den Mörstad-Mädels hatte ihm soeben die Einladung überbracht, er solle zum Lunch hereinkommen. Er hatte es abgelehnt – er hatte für so etwas jetzt nicht Zeit! Ehe er noch den Riemen zugeschnallt hatte, erschien Mrs. Mörstad selber im Vorraum und rief ihm zu. Ohne zu antworten, schwang er sich in den Sattel und trabte im Bogen über die Hofreite. Die lebendige Kraft und Unruhe, die er unter sich fühlte, übertrug sich auf ihn selbst: er saß hoch oben und konnte vorwärts, so schnell er wollte. ›Fresh and strong the world we seize‹ Frisch und stark die Welt wir packen. – Heiho! – – Er hielt einen Augenblick vor der Porch und sagte nur geschwind, er müsse eilig heim und mithelfen, alle seien bei der Maisernte, auch die Mutter! – Aber er danke Mrs. Mörstad vielmals! Ein andermal vielleicht, er esse gern gut. – Schön Wetter heut für die Ernte! – – Er redete hastig und laut, sah Mrs. Mörstad nicht an und war seines Weges geritten, ehe sie noch ein Wort erwidern konnte. – – Da hat Mrs. Holm einen wirklich prächtigen Buben! dachte sie und ging ins Haus.

Eine wühlende Unruhe saß Peder im Körper. ›Fresh and strong the world we seize!‹ sang es in ihm. Noch ein paar andere Verse waren von ähnlich prachtvollem Schwung, aber auf die konnte er sich nicht besinnen, hatte auch nicht Zeit, nachzusehen. Er trieb das Pferd an, bis er an den Kreuzweg östlich vom Schulhaus kam; hier schlug er ein langsameres Tempo an und schaute sich um. – Hier könnt ich wohl nach Norden abbiegen, überlegte er. Diesen Weg bin ich noch nicht geritten, und es kann nie schaden, sich umzutun. Er bog in den Weg ein und ritt nach Norden; der Gaul war nicht einverstanden, er schnob leise und fing an, langsam zu trotten. – – Solche Mucken bei einem Pferd! Peder mußte ihm ein paarmal etwas versetzen, ehe es sich wieder ermunterte, und jetzt ging's Galopp; da wurde er gerüttelt, daß er sich gut festhalten mußte. Die Luft preßte sich um die Backen und drückte ihm Wasser aus den Augen, fortwährend hielt er Ausschau und horchte atemlos durch das Sausen.

Die erste Meile lag offen vor ihm, geradehin wie ein Bindfaden, ohne eine lebende Seele. Jetzt ritt er so schnell, wie das Pferd nur hergab, jagte an dem Wege rechts vorbei, wo er gerade noch ein paar Gestalten weit im Osten aufblinken sah.

Gleich nördlich dieser Wegkreuzung wies die Landschaft ein paar Unregelmäßigkeiten auf. Einmal vor langen Zeiten mußte die Prärie auf den Gedanken gekommen sein, daß es sich vielleicht nicht schmuck ausnehme, bloß so flach und breit dazuliegen, und da hatte sie sich gerührt, und gar nicht einmal so wenig; kaum aber bemerkte sie all die Höckerchen, die sich unter ihrer Haut bildeten, als sie sofort einsah, daß sich das nicht gehöre. Aber wie sehr sie sich jetzt auch reckte und streckte, die Höcker bekam sie doch nicht weg, die blieben sitzen und erinnerten sie an ihre Eitelkeit. In den Senken war das Land im Frühjahr und Herbst so moorig, daß dort kein Durchkommen war, ein Umstand, den der erste, der dieses Weges gekommen, bereits entdeckt und sich darum oben an den Abhängen gehalten hatte; die nächsten waren seinen Spuren gefolgt, und mit der Zeit waren diese Wagenspuren zu einem Wege geworden, der sich jetzt eine gute halbe Meile lang in vielen Windungen hinschlängelte.

Auf einer der Kehren vor ihm sah Peder einen einsamen Menschen wandern und einen Eimer schwingen. Nein! Hättest du das gedacht! Hier sollt einer auf Leute treffen! Wer mochte das sein? Er wischte sich die Augen und ritt langsamer; sein Herz hämmerte.

Miriam blickte nicht auf, als er sie erreichte, sondern fragte leise – und er glaubte zu vernehmen, daß ihre Stimme zitterte:

»Mußt du denn auch diesen Weg entlang?«

Peder fühlte, jetzt hieß es sich zusammennehmen, wollte er ein paar Worte herausbekommen:

»Ich biege dort an der Ecke nach Westen ab. – Ich reite schnell, siehst du!« – Dieser Grund war unzureichend, er suchte nach einem triftigeren; und da ihm nichts einfiel, wartete er darauf, daß sie ihm aushelfen solle. Je länger die Pause sich dehnte, desto beschämter fühlte er sich. – Das wurde unerträglich; sie schritt weiter, ließ den Kopf tief hängen; hier saß er hoch oben und sah ihr gerad auf den Nacken, und der Weg war so tief und schmal, daß er nicht neben ihr herreiten konnte. – – Verstand sie denn nicht, daß er mit ihr reden mußte? Konnte sie denn nicht stehenbleiben? Und jetzt waren sie gleich an der Wegecke!

»So wart doch!« sagte er heiser, ließ sich heruntergleiten, nestelte sich die Zügel um den Arm und lief hinterher.

Sie blieb weder stehen, noch sah sie sich um.

Er holte sie ein und bekam nur eben noch das halbe Gesicht zu sehen. Die starke Röte darauf leuchtete, darunter lag etwas, was einem Lächeln glich.

Da schnob das Pferd so lange und nachdrücklich, daß die Stille unterbrochen wurde. Peder schöpfte tief Atem und verfügte wieder über seine Stimme:

»Wollt halt bloß einmal sehen, wie weit's hier herum war, mußt du wissen!«

»Jetzt mußt du nach Westen abbiegen!« Es war plötzlich ein starker Eifer in ihr; sie ging schnell. Noch hatte sie ihm keinen Blick geschenkt.

– Fürchtet sie sich etwa vor mir? – – Peder atmete schwer:

»Wenn ich dir nicht gut genug bin zur Gesellschaft, kann ich ja meines Weges reiten! – Übrigens wollt ich dir nur für deine Hilfe danken.« Die Stimme hatte einen höhnischen Ton bekommen, und er blieb stehen, um aufs Pferd zu klettern. Er wollte sich doch den Leuten nicht aufdrängen!

Da machte auch sie halt, setzte den Eimer hin und kehrte sich ihm gerade zu:

»Bist du jetzt wieder zornig?« Die Worte schlüpften aus einer tiefen Röte hervor, aber auf eine so herzensgute Weise, daß er alles vergaß und an sie herantrat. Dann sagte er schnell:

»Fein war's von dir!«

»Was denn nur?«

»Daß du dem Jim eins an den Kopf gabst!«

»Findest du?«

»Freilich!« Peder legte frohe Überzeugung in dies Wort.

Jetzt war die Reihe, etwas zu sagen, wieder an ihr, aber sie fand nichts, sie fühlte sich geradezu hilflos. Nach einer Weile kam es furchtsam, und es hörte sich an, als bäte sie für sich:

»Ich freute mich, als du in die Klasse kamst!«

Und mit eins geschah etwas Unausdenkbares; beide standen sie furchtsam: sie faßte seine beiden Hände, zog ihn näher heran und sagte:

»Jetzt mußt du gehen!«

»Oh ja!« Peder lachte unnötig laut.

»Geh jetzt, – hörst du nicht?« hauchte sie flehentlich. Aber das dunkelbraune Etwas in ihr stand offen, weit und warm, und bat, er solle eintreten. Und er konnte es doch nicht begreifen.

Peder versuchte zu lachen; es gelang ihm nicht, weil er eine so starke Freude in sich wogen fühlte. Eine unbekannte Kraft, unter deren Druck er bebte, schreckte ihn. – – Daß sie vor ihm Furcht hatte, das war das Sonderbarste von allem! – – Seine Hand machte sich los und strich ihr über die Backe. Das war so tolpatschig und derb, fand er, und was unter seiner Hand lag, fühlte sich so unvergleichlich fein und daunenweich lebendig an; er mußte versuchen, ob es ihm nicht besser glückte, wenn er beide Hände nahm. – – Um ihn und in ihm brauste ein gewaltiger Sturm. Er hörte nichts als den. – Sie kamen einander so nahe – – noch näher mußten sie. Die ganze Zeit hingen ihre braunen, verschleierten Augen an den seinen. Ist es dein Ernst? baten sie. – – –

– – –

Ein entsetzlich wütendes ›Kra‹, von einem noch wütenderen ›Krä‹ gefolgt, krachte gerade über ihren Köpfen; plötzlich stand die Luft in Flammen von heftigen ›Kra-Krä, Kra-Krä‹; das hörte gar nicht auf!

Das Gekrächz kam von einem alten Krähenpaar, das zu lange im Urwald um einen der Seen weit in Minnesotas Norden in den Herbst hinein gebummelt hatte; als sie heute früh beim Erwachen merkten, wie scharf der Frost bereits stach, da hatten sie gleichsam zu grübeln angefangen darüber, wie schnell doch die Zeit vergehe, und hatten die Flucht ergriffen. Je weiter sie flogen, desto üppiger stieg der Tag herauf; es ging in weichen Sonnenschein und warmen Herbstdunst hinein. Krähenvater, der voranflog, begann zu überlegen, ob er heut morgen nicht etwa geträumt habe? Jetzt kam ihm all die schöne fette Atzung im Norden in den Sinn, und er machte einen weiten Bogen nach Westen, ständig auf Ausguck nach stillen Wäldern und neuen Seen. Erst als die frühen Abendlüfte ihm begegneten, kam er so weit zur Vernunft, daß er gerade Richtung beibehielt. Schließlich stiegen ein paar abseitige Hügelreihen aus der Landschaft unter ihm auf. Hier ließe sich vielleicht ein Schlummerplätzchen für die Nacht auffinden. In den Maisfeldern rundum lag sicher genug Futter für den leeren Darm, wenn's einen nicht allzu sehr nach rohem Fleisch gelüstete. – – Der Alte hielt tief und steuerte gerade drauflos. Plötzlich tat er einen jähen Stoß nach oben, so daß es im Gefieder brauste; gerad unter ihm standen zwei Gestalten, die eine ein Pferd, die andere –? Seine Augen wurden rot vor Wut; er schrie seiner Alten ein rasendes, giftiges ›Kra‹ zu, sie solle ihren Bürzel in acht nehmen, und da – sah er, daß aus dem einen Menschen zweie wurden!

Das Rabengekrächz gellte fürchterlich durch den stillen Abend und warnte alle und jeden, doch ja gut aufzuhorchen: hier gehe es nicht mit rechten Dingen zu!

Peder und Miriam fuhren auseinander, von Entsetzen benommen; das Verwirrende, das Seltsame, das sie umfangen gehalten, das sie vor trunkener Freude besinnungslos gemacht, war weg – spurlos, unwiderruflich. Ein paar fahlgraue Hügelhöcker waren geblieben; alle öde und häßlich, aber so angelegentlich aufhorchend, daß man kaum Atem zu holen wagte. Über die Prärie im Westen guckte eine große Sonne, blutrot und erhitzt im Antlitz, und fragte, was denn los sei.

Ehe Peder recht zu Bewußtsein kam, hatte Miriam den Eimer aufgenommen und schon lief sie davon.

Er sah ihr nach – Mädels waren doch höllisch schreckhaft! Zog dann das Pferd an der Mähne zum Wegrand; er fühlte sich plötzlich so matt, daß er kaum hinaufzukrabbeln vermochte. Es mußte wohl kühl geworden sein, denn er schlotterte, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte.

Aber nicht lange, und die lebendige Bewegtheit des Gauls brachte ihm aufs neue eine starke Zufriedenheit mit sich und der ganzen Welt zurück. Holla! Jetzt war er bald erwachsen! Und abermals fühlte er in sich einen Rhythmus, in dem er mitschwingen mußte. Er steckte die Hand in die Jackentasche, holte den Zettel hervor und guckte hinein. Merkwürdiger Vers, der sang ganz von selber!

All the past we leave behind,
We debouch upon a newer mightier world, varied world,
Fresh and strong the world we seize, world of labor and the march;
Pioneers! O pioneers!

Das wollte er wahrhaftig Mutter vorlesen! Er gab dem Pferd einen Hieb und ritt im Takt des Verses: ›Fresh and strong the world we seize!‹

Die breiten Halme in den Maisfeldern raschelten und nickten dazu: recht so! – – Jetzt war die Sonne untergegangen, nur tiefe Glut war zurückgeblieben. Die lachte ihm zu, er möge nur kommen! –


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