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Die Insel Thanet.

(1858.)

 

Iusula rotunda
Tanatus, quam circuit unda,
Fertilis et munda
Nulli est in orbe secunda.

Mönchslatein.

 

Da, wo die Nordküste von Kent sich keilförmig in's Nordmeer streckt, lag in alten Tagen eine alte Insel, stolz – wie sie auf ihren Kalkfelsen sich erhob – von den ewig grünen, ewig kalten Wogen umgürtet; ... die Wonne und die Lust unserer sächsischen Vorfahren. Einer ihrer Mönche schrieb zum Preise dieses glückseligen Eilandes, der » Insula Tanatus« folgende Verse:

Die Insel Thanet ist rund –
Hat Wasser auf jeder Seite;
So schön und so gesund
Ist auf der Welt keine zweite.

Der gute Mönch schrieb sein lateinisches Distichon auf eine Mauer der Klosterkirche von Monkton. Denkt Euch nur diese Poetenseele – wie sie im härenen Mantel, mit nackten Füßen auf den kalten Steinplatten steht – wie sie durch das bunte Kirchenfenster hinausblickt auf die blühende Flur und den Wald und das bläuliche Meer, das im Sonnenschein flimmerte ... ach, sie möchte wol da hinausflattern und sich auch einmal in dieser üppigen Fülle wiegen, aber sie darf nicht, und mit einem wehmüthigen Lächeln malt sie ihren Seufzer auf den weißen Kalk der Kirchenwand. Ich kann an den armen Pater nicht denken, ohne ihn zu bedauern. Das war ein Manuskript aus Stein, das er uns hinterließ. Die Geschlechter eines ganzen Jahrtausend lasen es und lobten den Mönch von Monkton, der es geschrieben. Da kam im vorigen Jahrhundert ein Anstreicher über die Kirche – und man weiß es ja lange schon, daß die Anstreicher und Buchbinder immer die größten Widersacher solch alter Scripturen waren. Sie übertünchen Euch eine pompejanische Aphrodite und machen aus dem Wessobrunner Gebet Pappendeckel für die bischöfliche Bibliothek in Fulda. Auch die Inschrift des Mönches von Monkton ist verschwunden. Die Frau mit dem Schlüsselbunde, die Euch auf den Thurm von Monkton-Church führt, zeigt Euch noch die Stelle, wo sie einst gestanden; und Knight ist so gut gewesen, ihr in seinem » Tourist's Companion« eine Stelle zu gewähren, die ihr für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre Unsterblichkeit und alsdann einen sanften Tod in den Antiquarläden von Fleetstreet und High-Holborn garantirt.

Früher aber, viel früher schon, als der Vers, der sie besang, ist die Insel selbst verschwunden! Noch zur Zeit Beda's, den die Ehrfurcht und Dankbarkeit der Nachwelt den »Ehrwürdigen« genannt hat, des angelsächsischen Kirchengeschichtsschreibers, der im Jahre 735 – ein angelsächsisches Lied auf der Lippe – starb: rauschte der Meeresarm breit zwischen der Insel Thanet und dem Festland von Kent. »Da ist,« sagt der ehrwürdige Mann, der in seinen Ferien die Klosterluft von Wearmouth mit der frischeren und freieren der Wanderschaft vertauscht zu haben scheint, »da ist auf der Ostseite von Kent die Insel Thanet, eine ziemlich bevölkerte Insel, welche der Wantsum (so hieß jener Meeresarm) von dem Continent trennt, eine Strömung ungefähr 3/8 Meilen breit und an zwei Stellen fahrbar; und sie geht in die See an ihren beiden Enden.« Es scheint auch, als ob die Mönche sich wenigstens an einer von diesen beiden Stellen, nämlich dem altsächsischen Orte Sarre, der Fuhrgerechtsame und ihrer Einkünfte bemächtigt hätten. Es giebt eine ziemlich roh gemachte, alterthümliche Karte des Eilandes, welche ehedem dem Augustinerkloster in Canterbury gehörte, und auf dem Rande dieser Karte befindet sich ein wunderliches Bildchen. Es stellt ein ziemlich großes Boot mit einem Manne dar, welcher im Hintertheil desselben sitzt, und einen Laienbruder, auf dem rechten Arme ein Kreuz und in der rechten Hand einen Stab, welcher auf seinem Rücken einen Mönch zu dem Boote trägt. Der Name des Platzes ist auf der Karte »Sarre« bezeichnet. –

Aber Zeiten gingen und andere kamen und sie brachten Flugsand und Erdstürze mit – und was ursprünglich ein Arm des Meeres war, ward ein Strom, der aber schon unter der Regierung Heinrichs VIII. aufhörte, schiffbar zu sein; und aus dem Strome ward in unseren Tagen ein Flüßchen, das in den Dünensand von Sandwich verrinnt, und ein anderes, das bei Herne-Bay in's Meer fällt. Das Bett des Seekanals ist eine fruchtbare Niederung geworden, aus dessen Korn- und Hopfenfeldern der Pflüger oft im Frühling halbvermoderte Ruder und Ankerstücke zu Tage wirft, unter dessen fetten Rasenflächen der Hirtenjunge zuweilen noch rostige Ketten und morsch gewordene Kabel der alten Seefahrer findet. Die Insel Thanet ist keine Insel mehr, aber der Engländer nennt sie noch so zum Andenken an die fernen Tage, wo die römischen Eroberer unter Julius Cäsar hier landeten, wo die Männer aus Sachsen, deren Nachkommen wir noch heute an den schönen Haaren und dem blauen Auge erkennen, hier in Cantwara-Land saßen und die Normannen hier ihre Häfen und ihre Ueberfahrtsplätze, den heimischen Künsten gegenüber, hatten. Wunderbar genug, wie viel Nationen, wie viel Wechselfälle des Schicksals diese kleine Insel gesehen! Als die Dänen kamen, welche so tiefe Spuren in der Sprache und in dem öffentlichen Leben des englischen Volkes zurückgelassen, da (um das Jahr 864) schlugen sie ihre ersten Winterquartiere gleichfalls in Thanet auf. Derselbe Fleck, auf welchem sich die Jüten zuerst gegen die Britten festsetzten, war ausersehen, der Lagerplatz derer zu werden, die sie unterjochen sollten, wie sie früher jene unterjocht hatten. – Die Insel Thanet ist heute, nachdem der sächsische Kriegsruf verhallt und das »Haro! Haro!« der Normannen verklungen ist, nachdem die Mönche gestorben und die Klöster zerfallen sind, ein stilles, beschauliches Plätzchen geworden. Nur die Krämer, die Käsehändler und Shopkeepers von London senden im Monat Juli ihre Frauen und ihre Kinder hierher und holen sie im Monat September wieder zurück.

Dorthin beschloß ich einst, während meines Aufenthaltes in London, zu pilgern. Ein Freund gab mir das Geleite. Es war auf einen Samstag im Juli. Der Tag war trüb und feucht; die Menschen auf der Straße und die Omnisbuspferde liefen verdrießlich durcheinander und bespritzten sich mit Koth. Ach, es war ein Tag zum Verzweifeln! Der Himmel lag platt auf den Dächern und an jeder Straßenecke stand der Nebel und die Polizei. Unser Weg führte uns in keine sonnigeren Regionen. Wir geriethen an die Themseniederungen, unter die Bögen von Londonbridge, und nachdem wir uns durch verschiedene dunkle Höfe und Gänge durchgefragt hatten, mußten wir wieder Fenchurchstreet hinaufrennen. Ich wollte um Alles in der Welt nicht, daß eine meiner schönen Leserinnen uns hätte so rennen sehen. Es sah gar nicht vortheilhaft aus – »in der Linken die Bagage, in der Rechten einen Schirm« ... und nun immer bergan, eine Straße, die immer voll Frachtwagen ist, und immer schmutzig und eng und schlüpfrig. Aber wir erreichten unser Ziel, die Station, und auf dem Hofe derselben dampfte die Locomotive. Das war just der Zug, den wir brauchten – der » husband train,« der am Sonnabend Nachmittag die gefühlvollen Käsehändler in die Arme der schöneren Hälfte ihres Daseins führt – und sie am Montag Morgen aus ihrem Liebestraum erweckt und zurück nach Poultry und Cheapside eskamotirt. Der ganze Zug wimmelte von Ehemännern und kleinen Bündeln, in denen sie ihr Nachthemd und ihre Pantoffeln hatten. Wir waren, wie der Dichter sagt, unter Larven die einzig fühlende Brust und unterhielten uns mit unserm Wagennachbar über die Freuden des Ehestandes.

» Well,« sagte dieser, »man empfindet diese Freuden hauptsächlich dann, wenn die Frauen vom Hause fern sind.«

Der gute Mann wollte, auf Ehre! das grade Gegentheil von Dem sagen, was er wirklich gesagt hatte. Aber er dachte nicht daran, daß sich Jemand im Wagen befände, der ihm seine Meinungen so aus der harmlosen Seele wand, um sie bei Gelegenheit unter die Leute zu bringen. Er hatte, müde von der Wochenarbeit, das Comtoir geschlossen – er war für die 36 folgenden Stunden ein freier Mann und ein glücklicher Mann ... verzeiht einem fahrenden » husband« seine Dummheit, ihr lieben Frauen!

Sausend fuhr der Zug durch den kühlen, wolkenschweren Juli-Nachmittag. Zu beiden Seiten ragten über den schwarzen Dächern die krummen, seltsam verbogenen Schornsteine. Wenn man die Londoner Straßen im Nebel und aus einiger Ferne betrachtet, so sehen die Dächer wie Bergrücken aus und die Schornsteine darauf wie verkrüppeltes Unterholz. Unter uns flogen die letzten Straßen von London dahin, immer entlegener, immer ärmlicher; Höfe, in die wir von oben sahen, und schmutzige Kinder, die darin spielten. Dann tauchten rechts die Docks herauf und das Masten- und Stangengewirr der Schiffe, die auf der Themse ruhten oder fuhren. Und links die Landschaft. O wie wehte ihr Athem so wohlig an dies Herz heran! Endlich einmal wieder der Frieden der stillen, unberührten Natur – endlich wieder Bäume, Felder mit der reifenden Ernte, Wiesen mit ruhig weidenden Heerden. Warum mußte ich immer an Göthe denken? Warum konnt' ich nicht aufhören, mir still zu wiederholen: »O wie fühl' ich in Rom mich so wohl!« – Es war ja nur ein kleiner Wechsel der Landschaft, des Himmels, der Luft – aber mit dürstender Seele sog ich Alles in mich! – Und dann kam der breite Wasserspiegel, und es war, als ob er sich nahe. In gleicher Höhe mit uns glättete sich die Fläche – ich hätte die Schiffe, die sie gelassen dahintrug, auf meine Hand nehmen mögen. Und endlich kam die scharfe, salzige Meerluft selber, der Zug hielt an und wir bestiegen in Thameshaven den Schraubendampfer »Ruby,« der nun rasch dem Meere zuschoß. Thalatta! Thalatta! Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer –

Wie einst dich begrüßten
Zehntausend Griechenherzen,
Unglücksbekämpfende, heimathverlangende,
Weltberühmte Griechenherzen. ( Heine.)

Bald schaukelten uns die Wellen, dabei tiefgehendes Gewölk und Möven mit breiten Flügeln – das Wasser röthlichgrün, mit spritzenden Schaumstreifen. Die halbe Gesellschaft war krank, ehe wir über den Punkt hinaus waren,

Ove nei salsi flutti
Il bel Tamigi amareggiando intoppa,

»wo,« wie Ariost singt, »in die salzigen Gewässer die schöne Themse fällt, mit verbitterndem Strom.« Wir hatten, was der englische Seemann » a rough sea« nennt; und da wir zur Rechten immer das Land in Sicht behalten mußten, so fuhren wir auf dem wildbewegten Küstenmeer. Die Wellen schlugen alle zehn Minuten über Deck und netzten uns bis auf die Haut. Da hättet Ihr unsere lieben Ehemänner sehen sollen! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viele seekranke Ehemänner gesehen. Welche Opfer brachten sie ihrer Liebe! Aber da half nun Alles nichts – der Wind bekümmerte sich nicht darum und der Schiffsarzt nahm mit kundiger Hand eine Sonderung vor: die kranken Schafe wurden zur größeren Sicherheit für sie und Andere auf die windstille Seite gebracht, die wetterfesten Böcke blieben auf der anderen. Und so ging's lustig unter dem Kreuzbanner des heiligen Georg von England weiter. O, wie die Wolken so goldig, so verlockend über dieser schweren See standen! Ein mattes Abendroth öffnete den Himmel – und man sah hinein wie in eine Götterdämmerung. Und das Auge ruhte schwermüthig auf der schönen Täuschung, und die Seele jammerte und verlangte hinein, und das Schiff flog vorbei. Wir gingen immer dichter an die Küste heran. Die Fahrstraße wird hier sehr schwierig. Es kommen flache Stellen und dann Sandbänke und schwarze Klippengürtel, die Anfänge der gefährlichen Godwin-Sands, um die das Wasser strudelt und zuckt und mit weißem Gischt hoch aufspritzt. Die weißen Kalkfelsen stehen wie Festungsmauern, glatt und senkrecht, unersteiglich hoch, unten von dem wilden Meere umspült, – und oben leuchtet die grüne Rasenfläche, hier mit einem zerfallenen Thurm, mit den Trümmern der Arx Ruochim, »Thanet« war der sächsische Name der Insel; bei den Briten hieß sie » Ruoichin« ( Ruith-in, Stromeseiland, weil ein Strom in der Thatet, der Wantsum, es erst dazu machte). Die Römer kannten natürlich nur den celtischen Namen. eines alten Römercastells, mit einem Leuchthaus. Dabei muß sich das Schiff hier um eine ankerfeste Tonne und dort um eine in den Wellen hüpfende Bake winden –

Dies England lag noch nicht, und wird auch nie
Zu eines Feindes stolzen Füßen liegen,
Wenn es zuerst nicht half, sich selbst verwunden.

( König Johann V.)

Wie eine Festung steht es da. Die Felsen seine Mauern, die grünen Dünenhügel seine Wälle und Bastionen, und das ewige Meer selbst sein brückenloser Graben.

Nachdem wir um die letzte Bank gesteuert waren, ging der Curs direct auf's Land. Die Hafenstädte der Insel Thanet erschienen. Broadstairs auf seinen weißen Klippen; Margate, amphitheatralisch um seine Bucht gruppirt, in der Mitte der viereckige Kirchthurm, wie der Thurm eines alten Ritterschlosses. Wir konnten bei Margate nicht anlegen. Das Meer war zu bewegt und die Dämmerung machte jeden unsicheren Weg noch unsicherer. Wir gingen wieder ins Meer hinaus und erst nach einer halben Stunde waren wir in Ramsgate, das sich mit seinen Hafenbauten und seinen Häuserterrassen herrlich präsentirte und unser Schiff und uns in seinem breiten Bassin freundlich aufnahm. An das Eisenstakett der Hafenbrücke gelehnt, standen die Penelopen und Andromachen der seekranken Ehemänner; wie auf den Zinnen eines Seeschlosses standen sie da, ihre Kleider flatterten im Sturme, ihre Taschentücher wehten den Aussteigenden Grüße entgegen ... Aber Seekrankheit und Romantik, was sind das für heterogene Dinge! Sie schwankten noch sehr und sahen blaß und demüthig auf das Glück am Ufer; aber man darf sich wol dem schönen Gedanken hingeben, daß die Liebe der Ihrigen und der aufwirbelnde Dampf des Theekessels sie bald zu einem besseren Leben erweckt habe.

Wir indessen suchten Herberge und fanden sie in einem Hotel, das sich mit stolzer Front dem Hafendamm, dem Bassin, dem Weltmeere zukehrt: die Frische des Meeres, die Sturmluft wehte kräftig von unten herauf durch unser Zimmer. Es dämmerte; das Toben der See klang gedämpft an unser Ohr. Als es dunkel geworden war, wandelten wir durch die Straßen der vom Sonnabendmarkt belebten, munter erleuchteten Hafenstadt.

In der Lage und ganzen Erscheinung erinnerte mich Ramsgate auffallend an Helgoland. Am Meere und auf dem Strande ist so eine Art von »Unterland,« und an den Steinfelsen, die hier weiß, steil und schroff aus dem Meere steigen, zuckt wie der »steinerne Blitz von Helgoland« an zwei Stellen eine ähnlich kühne Treppe, die »Jakobsleiter« ( Jacob's ladder) in's Oberland empor. – Die Hauptstraße von Ramsgate ist die High-Street, die Hochstraße, die vom Meere in die Stadt und weiter in's Land hinaufführt. Sie ist die Straße der Passage, des Handels und Verkehrs, und sie findet sich in der gleichen Bauart und mit demselben Namen in fast allen englischen und walisischen See- und Küstenstädten. Ich erinnere mich noch sehr wohl der hübschen Waliserin, mit der ich von Corven nach Llangollen in der Stage-Coach fuhr. Sie war kurz vorher bei Verwandten in London gewesen und konnte nun nicht müde werden, von den Herrlichkeiten dieser Stadt zu erzählen. »Und eine Hochstraße haben sie da – ich sage Euch eine Hochstraße, die ist wohl vier Meilen oder fünf lang und eine viertel breit.« Sie meinte Oxford-Street; offenbar waren ihr die Begriffe von Hauptstraße und Hochstraße identisch und sie sind es in der That allen Bewohnern der englischen Küste. Die Hochstraße von Ramsgate erschien sehr freundlich; alle Läden waren hell, das Geschäft blieb lebhaft, bis in den späten Abend, in den Markthallen flackerten die Gaslichter und in ihrem Scheine bespiegelten sich die frischen Früchte und die allerliebst gruppirten Blumensträuße, und es waren frische und allerliebste Mädchen, die sie zum Verkauf feilboten. Und dazu Musik und der ganze Trubel und Jubel eines Badeortes; vom Meere her auf ewig der starke, belebende Hauch und das Säuseln der Bäume vor den dunklen Kirchenpforten. Wir fühlten uns wie die Kinder; wir lachten, wie alle Anderen, und scherzten wie sie, und blieben vor den leuchtenden Fenstern stehen und kauften uns Früchte und Blumen. Und dann verließen wir die Straßen und stiegen zu den Klippen empor und zu dem einsamen Meere, welches dicht unter uns und vor uns dumpfrollend über scharfes, schwarzes Urgestein heranschäumte. Hinter uns funkelten die Lichter der Stadt, und das Hafenbassin strahlte sie aus seiner Fläche wider sammt den dunklen Masten und Seilen und Stangen der ruhenden Schiffe. Und dann die Leuchtthürme im Hafenthor und auf den fernen Felsen, ach, diese bunten Hoffnungslichter, an denen jetzt vielleicht das Auge manches sturmgeschaukelten Seefahrers hing!

Aber friedvoll uns zur Seite, am Berg hinauf, standen die steinernen Häuser und die Villas – die Fenster halb verhängt – und es waren süße Claviermelodien und Guitarrenklänge und Gesang, die in die Nachtluft hinausschaukelten. So lagen wir auf der Felsenspitze, bezaubert von all dem Wunderbaren, von der Nacht und den Lichtern, von dem Sturm und der Musik ... aber unser Herz lauschte auf den Gesang der rollenden Wogen, der weltumwandelnden, uranfänglichen – ach, diesen Sirenengesang, der schon Tausende verlockt und schon Tausende verdorben hat. Es ist das Wiegenlied, das der Seemann hört, wenn er sich Nachts in seine Koje streckt, das Ohr an die Planken gelehnt; es ist der Freudenchor, der sich in den Jubel der Matrosen mischt, wenn hoch vom Mastkorb das selige Wort: »Land!« erschallt – und es ist der Grabgesang, der dumpf heranbraust, wenn der Sturm das Fahrzeug zerbrochen, wenn seine Bewohner versunken, wenn hier noch eine Stange auf- und niedertaucht und dort noch eine Planke, und da an den treibenden Mast ein Mensch sich geklammert hat – ein Mensch mit blauen Lippen und verworrenem Haar voll Schaum und Wasser ... allein, allein ... über sich den grauen, feuchten Himmel und um sich und unter sich und ringsum tausend Meilen weit Nichts als brausende Wogen ...

Da standen wir auf und gingen zu den Wohnsitzen der Menschen zurück. Vor uns wandelten in der Dunkelheit einige Gestalten, die wir wol auch für Menschen halten mußten, obwol wir ihre Sprache nicht verstanden. Es war kein Französisch, es war kein Italiänisch, und Englisch konnte es doch auch nicht sein, obwol es bald so klang. Endlich faßten wir uns ein Herz und redeten sie deutsch an; und siehe da – sie antworteten uns als Landsleute.

»Aber was habt Ihr denn da unter Euch für eine Sprache geredet?« fragten wir.

»Ei, mir hab'n gesprochen, wie mer bei uns zu Haus, in Limburg, im Nassau'schen, sprech'n.«

Also Nassauer in Ramsgate! Es waren die Musikanten von Ramsgate; und weit waren sie schon gewesen, diese nassau'schen Spielleute. Der eine war in Petersburg gewesen, der Andere in Pesth und Ofen; sie kannten die halbe Welt.

Nachdem wir nun wußten, wer sie seien, wollten sie das auch von uns wissen. Das war ganz natürlich. Sagte der Eine von ihnen: »Ihr seid wol mit Eurer Herrschaft hier?« Ist das nicht ächt national, jeden Deutschen zunächst für einen Bedienten zu halten? ... »Ja,« sagten wir, »wir sind mit unsrer Herrschaft hier, und unsere Herrschaft hat uns ausgeschickt, ein paar Flaschen voll Seeluft zu holen.« – »Seewasser, wollt Ihr sagen,« corrigirte einer von den Nassauern. – »Nein, Seeluft – Seeluft will ich sagen.« – »Eine wunderliche Herrschaft!« murmelten die klugen Nassauer. »Wollt Ihr uns Eurer Herrschaft empfehlen und uns wissen lassen, wo sie Quartier nimmt? Es ist nur von wegen des Ständchens, wißt Ihr!«

Als wir in die Stadt zurückgekehrt waren, leuchteten am Strande noch die Public-Houses und lustige Musik schallte aus jedem von ihnen. Wir traten in eins derselben und befanden uns plötzlich in einer sehr wunderlichen Gesellschaft. In einem langen schmalen Saale saßen an drei Tischen, eng nebeneinander junge und alte Männer, Matrosen, Handwerker, Schreiber, Ladendiener, und rauchten aus Thonpfeifchen mit rothen Siegellackspitzen und tranken Grog und Porter und sangen dazu aus vollen Kehlen. Der Flügel, welcher ihren Gesang begleitete, stand an der obern Seite des Saales und im Präsidentenstuhle saß, wie das Programm besagte, Mr. Summers, »der machtvolle Baritonist der Londoner Concerte,« und es ging ganz parlamentarisch her. Mr. Summers rief zur Ordnung und hatte immerdar ein sehr ernstes und würdevolles Gesicht, mehr fast als der Sprecher im Unterhause, und er schlug mit seinem hölzernen Hammer auf den Tisch, daß die Gläser klingelten. Jeder von der Gesellschaft mußte ein Lied singen und beim Refrain stimmten alle Uebrigen laut ein. Es waren viele gute und kräftige Stimmen dabei, und es war ein Vergnügen, ihnen zuzuhören. Besonders gefiel mir folgendes Lied, welches ein junger Mann in blauer Jacke und buntem Halstuch – wie ich hörte, Steuermann eines heut eingelaufenen Dreimasters von Newcastle – sang:

Das Leinen feucht und hoch die See,
Ein Wind, der scharf uns faßt,
Das weiße Segel rauschend füllt
Und beugt den schlanken Mast.
Und beugt den schlanken Mast, hurrah!
Und freudig vor ihm her
Fliegt wie ein Aar das Schiff und läßt
Altengland tief im Meer.

»O sanft und freundlich sei der Wind!«
Rief manche Schöne leis –
Ich aber will ihn scharf und kühl,
Und Wogen, hoch und weiß.
Und Wogen, hoch und weiß, hurrah!
Und leicht darüber her
Tanzt unser Schiff und wir darin,
Und uns gehört das Meer.

Dort in dem Horn des Mondes sitzt
Der Sturm – das Wetter braut;
In jener Wolke lauert Blitz,
Der Wind stöhnt dumpf und laut.
Der Wind stöhnt dumpf und laut, hurrah! –
Wie funkelt's um uns her!
Die hohle Eich' ist unser Schloß,
Und unser Reich das Meer!

Lauter Jubel folgte dem Gesang –

Die hohle Eich' ist unser Schloß,
Und unser Reich das Meeer!

so klang es aus Aller Mund und Herzen. – Der Hammer des Chairmanns dröhnte auf der Tischplatte, die Gläser klingelten, der Steuermann aus Newcastle, der während seines Gesanges gestanden hatte, setzte sich – und der Ruf nach Taback, nach Grog und Porter, und Lachen und munteres Gespräch begann auf's Neue. – Unser Nachbar war ein ehrsamer Bürger aus London, der zwei schöne Töchter und ein allerliebstes Großtöchterchen bei sich hatte. Der gute Mann hatte schon viel mehr getrunken, als ihm recht und verträglich war, hielt uns in der Freude seines Herzens für Franzosen vom Leicester-Square und wollte uns absolut mit Gin und heißem Wasser tractiren. Seine beiden schönen, schwarzgekleideten Töchter, besonders die eine mit den dunklen großen Augen und den langen Wimpern sah ihn ein- über's andere Mal bittend an, und das Großtöchterchen hing sich an seinen Arm, aber er ließ sich gar nicht irre machen. Er rühmte »unsern« Kaiser und sagte, daß ihm derselbe noch Geld schuldig sei. Da er noch als Prinz in Picadilly gewohnt habe, da sei er sein Schuster gewesen; und er habe noch eine unbezahlte Rechnung aus jener Zeit liegen. Aber diese Rechnung wolle er um keinen Preis weggeben; er denke noch selbst einmal nach Paris zu kommen und dann solle ihm die Rechnung, meinte er, gut zu Statten kommen. – Mit dem Schlage Mitternacht – der ersten Stunde des anbrechenden Sonntags – wurde die Versammlung aufgehoben, der Wirth entließ seine Gäste und bat sie, am nächsten Montag Abend doch ja wiederzukommen.

Von meinem Bette sah ich noch lange auf's Meer hinaus, wo die Leuchtthürme schienen, und als ich am andern Morgen erwachte, da war mein erster Blick wieder das klare Hafenbassin mit den geankerten Schiffen, und die See von Böten belebt – und in der Ferne die letzten Küstenstriche von Kent mit Wald, Wiese und Dörfern, und darüber das matte Blau des Himmels und die großen Wolken. Es war eine duftige Frühe mit halbsonnigem Wolkenhimmel, dieser Sonntagsmorgen. Dann ist das Meer doppelt schön – der leichte Nebel beschränkt den Blick, und die Seele träumt in diese Dämmerung so viel Liebes hinein, so viel Schönes! – Auf dem Badestrande sah es noch ziemlich leblos aus, die meisten Badekarren standen noch unbenutzt. Die Saison war kaum angegangen, und die armen »Bathers« hatten gar nichts zu thun. Dafür hatten sie denn auch hinlänglich Zeit, uns mit ihren Einladungen und Zetteln zu verfolgen. In der That sind hier die Badeeinrichtungen sehr bequem und comfortabel und dabei viel billiger, als in den belgischen und französischen, und mindestens ebenso billig als in den deutschen Seebädern. Das Bad für die einzelne Person kostet etwa 5 Sgr., und es kostet verhältnißmäßig noch weniger, wenn zwei zusammen in derselben Karre baden. Wir aber wollten gar nicht baden, und wir sagten ihnen das auch deutlich genug. Aber sie ließen nicht nach, uns zu verfolgen. » Sir, a most comfortable machine,« rief der ganze Schwarm, dem sich bei jeder folgenden Karre ein neues Glied anschloß. »Ennuyirt uns nicht länger!« riefen wir endlich unmuthig. »Sir,« erwiderte Einer von den Burschen, »Ihr werdet Euch gewiß nicht länger ennuyiren, wenn Ihr in meiner ausgezeichneten Maschine baden wollt!« Man sieht, daß die freie Concurrenz die Bathers von Ramsgate nicht blos dienstfertig, sondern auch witzig gemacht hat, während die monopolisirten Baigneurs von Ostende weder das eine noch das andere sind. – Endlich waren wir der Zudringlichen ledig und standen nun allein auf dem weißen Kalkgeröll, über welchem das Seemoos wie ein Teppich hängt. Der Strand ist hier meistens sehr steinig, und auf dem Sande zwischen den Steinen lagert reichlich Seegewächs von der zartesten röthlichen Alge bis zu dem laubartigen faulenden Seetang. Muscheln liegen nur hier und da unter dem Sande, und auch das spärlich. An einigen Stellen ist weicher feuchter Sand, auf welchem sich die schönlinige Wellenbewegung genau und fein abzudrücken pflegt. Längs des Strandes hochauf stehen die weißen glänzenden Felsen, und von oben nicken die Bäume und winken die freundlichen Häuser, die in ihrem Schatten gebaut sind. – Weiter östlich auf dem Strande steht ein Obelisk zum Andenken daran, daß König Georg IV. sich hier »am 25. September 1821 eingeschifft hat, um sein Königreich Hannover zu besuchen, und daß er am 4. November desselben Jahres glücklich hierher zurückgekehrt ist.«

Uebrigens liegen fast alle Seestädte der Insel Thanet, in ähnlicher Weise wie Ramsgate, in jenen natürlichen Einbuchten im Kalkfelsen, welche – an dieser Küste » gates« oder » stairs« genannt – sich nach dem Meere zu öffnen. Daher der Name dieser Städte, wie sie der Reihe nach an der Küste hinunterliegen: Westgate, Swinfords-gate, Margate, Kingsgate, Broadstairs, Ramsgate. – Wir besuchten zunächst Margate. Die Landstraße dahin führt über die Küstenhügel und sie ist auf beiden Seiten von blühenden Gärten und fruchtbarem Ackerland eingefaßt. Zwischen dunklen säuselnden Bäumen liegt hier und da eine freundliche Cottage – Landhäuser, um deren weiße Steinwände sich Epheu und Immergrün schlingt. Einige sind ganz mit Rosen umwunden. Wie lieblich muß sich die Welt aus solch einem Rosenfenster betrachten lassen! Wie der Weg steigt, hat man über's wallende Kornfeld fort einen Blick auf die See, der sich erweitert, je höher man kommt, bis zuletzt die Bläue in ihrer ganzen Weite mit weißen Segeln und ziehenden Masten heraufdämmert. Zur Linken läuft die Eisenbahn, die London mit Dover und Folkstone und der ganzen Küste von Kent verbindet – die große Fahrstraße zwischen England und dem Continent. Wir, auf dem Dache einer Stage-Coach, erfreuten uns der schönen Sonntagsfrühe von ganzem Herzen und wir grüßten all' die munteren Landmädchen, die des Weges gingen und jeden vergnügten Menschen, soviel ihrer in den leichten Korbwägelchen an uns vorüberrollten.

Nach einer Fahrt von kaum einer Stunde stiegen wir die High-Street von Margate hinan, zum Pier und zum Hafen. Auf der Landungsbrücke sah es sehr lebendig aus, man erwartete den Dampfer von London und das Meer war so blau, so still, so sonntagsschön! Sonntäglich gekleidete Männer und Frauen saßen auf den Bänken oder lehnten sich über die Brückengeländer und horchten auf das Rauschen der Wogen. Das Meer hatte seinen Sonntag; es lächelte und küßte die Säume des Himmels. – Immer freilich sieht es nicht so friedselig aus auf dem Hafendamm von Margate. Gegenüber liegen die Godwin-Sands, und schon manches Schiff sah man da scheitern und sinken und kein menschlicher Arm konnte mehr helfen. Die Godwin-Sands ziehen sich in einer Länge von ungefähr zehn Seemeilen längs der Ostküste von Kent bis nach Dover hinunter, an manchen Stellen vier, an anderen eine Meile breit. Ihre Entfernung von der Küste variirt zwischen drei und sieben Meilen, doch kann man sie zur Zeit der Ebbe deutlich erkennen.

Es giebt eine alte Sage, daß hier einst die Besitzungen des verrätherischen Godwin, Earls von Kent, gewesen, und daß sie zur Strafe für seinen Verrath an König und Vaterland von der See verschlungen wurden, nachdem die Schlacht von Hastings geschlagen. Wie sittlich-tief, wie poetisch-erhaben ist der Gehalt dieser Sage! Den Untergang des Landstrichs, auf welchen die Sachsen bei ihrer Landung den ersten Fuß setzten, und den Tod des letzten Sachsenkönigs, welcher ein Sohn Godwin's gewesen, verbindet sie in ihrer tiefsinnigen Weise; und im Geiste des Germanenthums, welches Nichts so sehr brandmarkte, als den Verrath, stellt sie als letzte Folge desselben den Fall der Sachsen vor den erobernden Normannen dar. Die Godwin-Sands aber sind bis auf diesen Tag der Schrecken der Seefahrer geblieben; nicht blos, daß die Schiffe auf ihnen scheitern: sie verschlingen sie auch. Das Schiff, das hier auf den Grund geräth, ist unrettbar verloren; die nächste Fluth wühlt es in den Sand, und die zweite und dritte rauscht schon über seine Mastspitze dahin, die – ein trauriges Leichenmonument! – noch einige Zeit bei Ebbe sichtbar zu sein pflegt. Nach schweren, stürmischen Wettern soll man in früheren Zeiten oft zehn, zwölf dieser Mastspitzen längs der Küste von Kent gezählt haben. Und im Winter, wenn das Wetter stürmte und drohte, dann lagen auf diesem Brückenkopf die festen, gehärteten Gestalten, die hundertfach geprüften Männer in ihren Lederhosen und ihren Theerhüten – und auf dem Fort lagen sie und jeder Felsspitze – die ganze weite Wasserwüste, wie sie da, Grau in Grau, vor ihnen wallte, ward von Fernröhren unaufhörlich bestrichen. Nachtwachen und Signalfeuer wurden unterhalten – und bei dem ersten Anblick eines bedrohten Schiffes, bei dem ersten vom Sturme gedämpften Nothruf, wurden die Rettungsböte ausgesetzt und fort ging's auf See, wie sie auch toben, wie rasend der Sturm auch sein und aus welchem Viertel er sausen mochte. Kein Winter verging, wo diese braven Kerle nicht Menschenleben genug gerettet hätten. Aber seltsam ist es, daß sie für das Bergen von Strandgütern, nicht aber für die Rettung von Seeleuten und Passagieren eine Belohnung beanspruchen konnten. Oder sollte in diesem alten Herkommen die schöne Meinung ausgedrückt sein, daß – wer mit Gefahr seines eigenen Lebens – ein anderes rette, eine That vollbringe, die man mit irdischem Lohne nicht bezahlen könne? –

Jetzt freilich ist das Geschäft der Bootsleute von Kent aus; denn dies Geschäft bestand in der Hülfleistung gegen Gefahren, die nun längst verschwunden sind. In vergangenen Zeiten mußte die ganze unermeßliche Schifffahrt des Londoner Hafens immer einmal zu einer Zeit oder der anderen und unter mehr oder weniger schwierigen Umständen bei diesen Dünen vor Anker gehen. Schiffe, die nach auswärts gingen, fanden ihre Vorräthe nicht ausreichend und ihre Ausrüstung mangelhaft; heimkehrende Fahrzeuge hatten zufällige Schäden zu verbessern und verlorene Matrosen zu ersetzen; und beide zugleich wünschten mit den Küsten bis zum letzten Moment die Verbindung aufrecht zu erhalten. Alles dies gewährten die Bootsleute von Kent. In ihrem kräftigen und wolgeübten Handwerk begegneten sie dem rauhesten Wetter; schifften Güter und Passagiere hin und her, sorgten für Vorräthe aller Art und durchsuchten die Fahrstraße nicht selten nach Ankern, die ihre Kunden daselbst zurückgelassen. Für solche Dienstleistungen ernteten sie Belohnungen, die natürlich nicht karg gemessen waren und sie hatten in der That ein gutes Leben bei so einträglichem Verdienst. Aber der Fortschritt der Nation hat ihr Gewerbe zerstört. Die Frachtfuhrleute und die Schiffer von Kent hat das gleiche Schicksal getroffen. Die Dampfer machen die Schifffahrt unabhängig von Wind und Wogen, und die Fahrzeuge, die aus dem Londoner Hafen kommen oder dahin gehen, werfen nicht mehr Anker an diesen Dünen, sondern schwimmen den Kanal hinunter oder hinauf, wie die Reise eben geht. Wenn unvorhergesehene Umstände sie auf der Fahrt aufhalten, so sind sie nicht mehr schlecht gebaut und schlecht ausgerüstet, und die verbesserten Maschinen unserer Tage sorgen dafür, daß die Anker nicht mehr verloren gehen. Passagiere und Güter (zu einer Zeit bezahlte das Londoner Postamt allein den Bootsleuten etwas wie 2000 Pfd. Sterling das Jahr) haben andere und bequemere Punkte zum Ein- und Ausschiffen gefunden, und Plymouth und Southampton haben den Dünen von Kent allen Zoll und altes Einkommen entführt.

In vorigen Tagen waren die Männer von Margate auch die kühnsten Schmuggler im ganzen großbrittanischen Reiche. Aber auch die Zeit liegt schon ziemlich weit zurück; aus den kühnen Seefahrern, Schmugglern und Contrebandisten sind ruhige Bürger geworden, welche Badekarren in's Wasser schieben und Badehäuser halten. Namentlich ist High-Street reich an diesen Badehäusern, die sich mit einem luftigen Salon und Altan mit Leinendach gegen das Meer öffnen. Aus diesen Salons führt eine Treppe nach dem Strand und den Badekarren hinunter, und wie sie den Kurgästen vor dem Bade einen erfrischenden Anblick gewähren, so bieten sie ihm nach demselben Erfrischungen anderer Art: Thee, Kaffee, ein verstimmtes Pianino und die Margater Zeitung. Außerdem liegen in diesen Salons auch die Werke des pp. Peter Theophilus Turner, Schulmeister und Poeta Laureatus von Margate, auf. Die Leute von Margate sind sehr stolz auf ihren Dichter, und mit Recht, wie folgende Stelle aus einem seiner Gedichte, in welchem er den Begriff eines Margater Badehauses definirt, beweisen mag:

Am Rande des Weststrandes in High-Street
Steh'n viele Badehäuser, wie man sieht.
Sie heißen so; doch sind sie nicht zum Baden:
Denn dies geschieht vielmehr an den Gestaden,
Und zwar zu größerer Anständigkeit,
In Bademänteln lang und ziemlich weit.

Seht, da habt Ihr einen Wasserdichter ersten Ranges! Die Nähe des Wassers ist gefährlich!

Wir nahmen in glühender Mittagshitze unseren Weg wieder landein. Auf eine Weile vertauschten wir das Rauschen der See mit dem Rauschen des Kornfeldes. Ueber uns, im wolkenlosen Sonnenhimmel, flog die Lerche; und Bohnenblüthe und Thymian schickten ihre berauschenden Mittagsdüfte aus. Zuweilen kam ein erfrischendes Wehen vom Meere, das unter den Küsten schlief, herauf und kühlte unsere glühenden Stirnen. O, es war eine selige Wanderung voll süßer Träume und stiller Erinnerungen. Einmal machten wir Halt in einem kühlen Hofe, den kleine friedvolle Steinhäuschen, ganz von Rasen bedeckt, umfaßten. In dieser glücklichen Abgeschiedenheit leben zwölf unverheirathete Frauen, denen ein eigenes kleines Vermögen und die Milde des Stifters dieses Sitzes ein sorgenloses Leben gewährt. Sorgenlos ist es – aber wie viel süße Sorgen giebt es, nach denen das Menschenherz verlangt, und die diesen Zwölfen versagt sind, ewig versagt bleiben? ... Auf dem Rasen in der Mitte des Hofes unter einer blühenden Linde spielte das Kind der Haushälterin dieser Anstalt. – Ein andermal lagerten wir uns in den Buchenschatten eines stattlichen Parkes; dann passirten wir St. Peters, dessen ehrwürdige Dorfkirche sich eben zum Nachmittagsgottesdienst öffnete und die Seelen der beiden Wanderer mit vollem Orgelschall füllte. So gelangten wir nach Broadstairs, durch dessen alterthümliches York-Thor wir die High-Street hinunter nach dem Meere gingen. Broadstairs ist der fashionableste von allen Badeplätzen auf Thanet; es ist der Lieblingsaufenthalt von Charles Dickens, und der Sommerausflug Ferdinand Freiligrath's. Auf den Klippen, dicht über dem Wasser, steht eine Reihe prächtiger Häuser, und in einem derselben, dem renommirten Albion-Hotel, hielten wir unsern Mittag. Wir saßen am Fenster und unser Blick ging auf die See. Und mein Herz ging mit dem Auge, und ich konnte Nichts essen, wie sehr mich auch gehungert hatte. Neben mir setzte sich ein Schatten nieder – ach, der schöne Schatten, der herauftaucht, wo immer ich das Meer sehe. »Weißt Du noch«, sagte der Schatten, »wie wir in Ostende zusammen am Meere saßen, Du und ich und noch viele andere Menschen, die glücklich waren und lachten und scherzten? O, sie lachen nicht mehr und sie scherzen nicht mehr ... und ich ... o sieh, o, ich bin ein Schatten geworden ... ich folge Dir noch und ich sehe Dich noch ... aber Du ... Du kannst mich ja niemals wiedersehen!« ... Ich war sehr betrübt, glaubt es mir, über das, was der Schatten gesagt hatte, und ich ging hinaus und blieb eine gute Zeit draußen. Mein lieber Freund war just mit dem gebratenen Hühnchen fertig geworden, als ich wieder hereintrat. »Nun wollen wir eine Cigarre rauchen und eine Tasse Kaffee trinken,« sagte er. Und ich sagte: »Ja, das wollen wir!« Aber rauchen im Albion-Hotel? Welcher Gedanke! Wenn wir nicht im Saale rauchen dürften, so solle man uns das Rauchzimmer weisen. »Es giebt kein Rauchzimmer im Albion-Hotel – die Damen, die hier logiren, können Tabak absolut nicht riechen!« Dann bringt uns den Kaffee in den Garten hinaus, an's Meer, in die sausende Luft. »Ja, aber rauchen darf man da auch nicht; die Damen, die hier logiren, können Tabak nicht einmal sehen!« Gott segne die englischen Damen und das Albion-Hotel in Broadstairs!

Unser Heimweg nach Ramsgate führte am Küstensaume dahin. Wir verloren das Meer nicht mehr aus dem Gesicht. Rechts, auf einer Klippe, ragte ein allerliebstes Schlößchen, East Cliff Lodge, die Sommerresidenz Sir Moses Montefiore's, der hier in dem thurmgekrönten Bau mit seinen Zinnen und Bögen das ganze Jahr hindurch eine Synagoge, einen Schlachter und einen Vorsänger erhält. – Die Sonne ging indessen immer tiefer, sie sank in rothes Sturmgewölk, das mit dem Abend aus dem Meere gestiegen war, und ihr blendend heller Scheidestrahl zauberte mit einmal fern im Osten Land herauf. Wie ein goldener Streifen zeichnete es sich auf der dunkelnden Fläche des Horizontes ab – es waren die Gestade von Frankreich, die Küsten der Normandie!

Der Abend war rauh und stürmisch. Das Wasser sprang wild gegen den Hafendamm von Ramsgate und die Wellen schlugen herüber; und es regnete und stürmte noch immer, als wir am andern Tage Abschied vom Meere nahmen. Wir nahmen den Landweg und da war nicht viel Besonderes zu sehen. Das einzig bedeutende Bild war die ehrwürdige Kathedrale von Canterbury, die mit ihren gewaltigen Thürmen, ihren gothischen Fenstern, ihren dunkeln Mauern und Strebebögen über die Häuser der alten, hochberühmten Bischofsstadt emporragte. Dann lehnte ich mich wieder in die Ecke des Wagens zurück und erst der Lärm von Londonbridge Station weckte mich aus meinen Träumen vom Meer und Allem, was es mir je gegeben und je genommen! –


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