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Die Düne von Helgoland.

(1852. 1859)

 

Wer en goder Loots will sein
De pass wol up sin Lot un Lien.

Helgoländer Schifferspruch.

 

Erstes Kapitel.
Die Fahrt des Mercators.

Auf einer Fahrt nach Helgoland war es, wo ich das Meer zum erstenmale sah. Es ist lange her; acht Jahre, oder so, – aber ich werde den Tag nicht vergessen. Wie wir uns in früher, kühler Morgenstunde an Bord des Dampfers »Mercator« versammelten, die meisten echte Sonntagsgesichter, die den ganzen Ausflug nur zum Vergnügen berechnet hatten und damit sie doch auch mitsprechen könnten, wenn fürderhin vom Meere die Rede; wie wir Alle die Zeit nicht erwarten konnten, bis die Maschine in Freiheit gesetzt sei, und wie wir zuletzt, alle zusammen überglückselig, die ersten Stöße empfanden und dann hinausfuhren, zwischen den ankernden Schiffen im Hamburger Hafen und ihren Sonntagsflaggen. Es war ein recht kurzes Glück. Die Sonne ging Morgens, gegen sechs Uhr, wieder unter und wir sahen sie den ganzen Tag nicht mehr.

Nebel setzte sich zur Rechten auf die schönen Hügel des Altonaer Ufers und der dänischen Küste; und das hannoversche Land zur Linken lag in tiefe Schatten begraben. Die Sonntagsgesichter wurden darob höchst verdrießlich, und fragten den Capitain, ob es auf See immer so naß und so kalt sei? » Well«, sagte dieser – ein breiter Englishman mit dunkelrothen Bärten rund um das Gesicht, der von den fünfzig Jahren, die er zählte, zwanzig Jahre in Hamburg gelebt hatte, aber für sein Alter noch recht schlecht Deutsch sprach – » well, wie es will sein auf See, wir können nicht wißen jetzt. Sie mögen noch warten einige Stunden.« »Was, noch nicht auf See?« schrieen sie. Das Schiff ging allerdings schon recht munter auf und nieder; denn der Wind kam von West herein, und das Elbwasser, das hier stundenbreit mit der Ebbe ihm entgegenrollte, bäumte sich, so oft es von ihm schärfer gefaßt ward. Einer von der Gesellschaft, welcher ihr Vergnügungscommissarius zu sein schien, sagte, er sehe gar nicht ein, warum man hier auf Deck zu frieren brauche – er mache den Vorschlag, hinunter in die Salon zu gehen und dort mit einem Beafsteak und etwas Porter zu beginnen. Ja, sagten die Anderen; das sei ein Vorschlag zur Güte, und kurz darauf war das Deck leer und zuweilen hörte man von unten herauf Lachen und Gläserklang.

Unter den Leuten, welche oben blieben, fesselte mich eine Gruppe besonders; schon deshalb, weil sie auf einer Bank saß, dicht am großen Schornstein, woselbst es sehr warm und behaglich war. Die Gruppe bestand aus einem älteren Herrn mit grauem Kopf und schmalem, feinem Aristokratengesicht, mit steifen Vatermördern, hohem Filzhut und in einen Plaid gehüllt. Neben ihm saß eine dicke Dame in grüner Seide, Nebelkappe und Pelzmantel, mit einem höchst gemüthlichen Gesicht und der Eigenschaft, kein »sch« aussprechen zu können. Sie sei so müde, war das erste Wort, welches ich von ihr verstand, sie habe die Nacht fast gar nicht »geslafen«. Unter die Flügel dieser würdigen Matrone duckten sich zwei jüngere Geschöpfe; das eine davon ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren ungefähr, mit braunen Haaren, breit unter den Hut gepreßt. Das andere ein liebliches Kind von zehn Jahren mit hellen Locken rund um den Kopf. Der Herr mit den Vatermördern stand auf und trat zum Capitain, der ihn auf seemännische Art höchst respectirlich begrüßte.

»Sieh, sieh«, sagte die dicke Dame in Grün, – »das ist doch richtig der Capitain, der für den Vater ein Siff geführt hat, als der Krieg um Sleswig-Holstein angegangen war; und da haben ihn die Dänen gekapert und mit hineingenommen in den Sund. Davon weißt Du wol Nichts mehr, Angelika?

Das Kind schüttelte den Kopf, daß ihm die hellen Locken über die Augen flogen. »Mußt nicht!« sagte die Graue – »willst Du wol die Locken nicht so vertoddern?«

»Aber ich besinne mich noch recht gut darauf,« sagte die Achtzehnjährige mit dem braunen Haar. »Ich war damals beim Onkel in London, und die Geschichte vom Vater und seinem gekaperten Schiffe stand in der »Times«, und der Onkel las sie der Tante vor, und da hörte ich sie auch«. –

»Kläre!« rief da der Herr mit den Vatermördern, ihr Vater, und sein Deutsch hatte einen scharfen Anstrich von Englisch, als ob er ein geborner Engländer sei, »komm doch hierher. Kläre! Ich will Dich einmal unserem wackeren Capitain präsentiren!«

Kläre stand auf und das Angesicht des wackren Capitains, das sonst schon roth genug war, nahm jetzt die braunrothe Couleur seines Backenbartes an, indem er Klären begrüßte.

Das ging auf dem Quarterdeck, in der Nähe des großen Schornsteins vor, dessen Rauchsäule dick und trüb in den aschgrauen Himmel stieg und nur zuweilen, wenn der Wind hineinfuhr, das Deck und die darauf befindlichen Passagiere, die hellen Locken Angelika's und die braunen Haare Klären's mit Kohlenresten bestreute. Auf der Luftseite, als suche er den frischen Wind und das herüberspritzende Wasser, ging ein junger Mensch, blutjung und hübsch gewachsen, und mit einem Gesicht voll Intelligenz und Gutmüthigkeit, und mit einem paar sehr schwärmerischen Augen. Diese Augen hatte er immer – Gott weiß wie – auf den Platz gerichtet, an welchem sich Kläre befand; und indem er selber in Wetter und Wind zwischen Steuer und Lootsenbrücke hin- und herwanderte, machten seine Augen ihre besonderen Wanderungen von der Bank am großen Schornstein, wo Kläre gesessen, bis zu der Treppe des Capitains, wo sie nun stand. »Wenn der sich mit seinem Herzen nicht in die braunen Haare dieses Mädchens verwickelt hat, so will ich selber mein Lebtag keine braunen Haare mehr hübsch, keine dunklen Augen mehr gefährlich und keine rosigen Lippen mehr einladend finden, einen Kuß darauf zu drücken!« dachte ich, auf meinem Tabouret, welches ich mir an Leeseite aufgestellt hatte. »O du armer, verliebter Seefahrer!« dachte ich weiter; »warum machst du es nicht, wie es die Dänen mit dem »Siff« ihres guten Vaters gemacht haben? Warum kaperst du nicht?« – Kein Gedanke daran; er ging hin und her, und her und hin, und seine Augen thaten desgleichen.

Endlich kam Cuxhafen, die rothe Tonne und die See! Auf eine Weile ließ ich Vater, Mutter, Töchter und den einsamen Liebhaber. Mich grüßte das Element, welches mir in späteren Jahren noch so bedeutungsvoll werden sollte; und ich – ein junger Studiosus dazumal, im zweiten Semester der Jurisprudenz beflissen – grüßte es wieder. In der ganzen Majestät seiner sonnelosen Unendlichkeit lag es vor mir – unter einem Himmel, graugelb, wie es selber; mit seinen breiten Wogen, eine hinter der anderen herstürzend und sich unter unserem Kiel einwühlend, so daß das gute Schiff bald oben saß und bald wie an einer Hügelwand hinunterschoß, Schaum und Brausen zurücklassend. Dazu strich der Wind breit und voll über die hin- und hergewälzte Masse der Wasser, und es wehte mich an wie eine neue Luft und eine neue Zukunft. Bote einer fernen, unbekannten Welt war mir der Wind, und lustig mit dem Schiffe machte mein Herz seine Sprünge – Well' auf, Well' ab. Es war das Gefühl, eine neue Welt entdeckt zu haben, welches meine Seele so weit machte – so weit wie das dunkle Meer, wie den dunklen Himmel selber.

Aber den Sonntagsgesichtern, die nun aus dem Salon heraufstürmten, war das noch lange nicht »Meer« genug. »Ist das Alles?« fragten sie den wackeren Capitain. » Well«, sagte dieser höchst gleichmüthig, »das ist Alles!« – Die Sonntagsgesichter hatten sich etwas ganz Anderes unter dem Meer vorgestellt – Stürme, daß die Masten zitterten, Wellen, so hoch – wie nach ihrer Einbildung höchstens noch der Mont Blanc sein könne, – allerlei Unwetter, wilde Thiere, Haifische und dergleichen – kurz, etwas Absonderliches, von welchem sich daheim erzählen ließe. Dies war aber das allergewöhnlichste Einerlei, welches sich ein Mensch vorstellen kann. Ein bischen gelbes Wasser, wie man's in der Elbe auch hat, wo sie am breitesten ist; ein bischen Wind, nicht der Mühe werth, um deswegen einen ganzen Sonntag und den Montag obendrein daran zu setzen – ein paar Wellen, die immer dasselbe Geräusch machten und dem Schiffe ein paar elende Stöße versetzten – die Stöße allerdings waren nicht angenehm ... »Zum Henker!« rief der Vergnügungscommissarius – »wollen doch sehen, ob mich diese Stöße noch lange aus dem Gleichgewicht bringen sollen! Wollen doch sehen, wer stärker ist ... wollen doch sehen ...« »Wenn's mit dem Stehen nicht geht, wollen wir's mit dem Sitzen probiren – Jungens, auf den Boden!« riefen ein paar Andere, und die Einen setzten sich, die Meisten aber fielen. »Wollen doch sehen«, rief der tapfre Führer – »Kellner, einen Buddel Sect und Gläser ... wollen doch sehen ...« und dabei lag er platt auf der Erde. Denn das Schiff machte jetzt heftige Schwankungen; und je weiter wir in See kamen, desto voller und rascher ging das Wasser. Der Sect kam, aber der Eine sagte, er könne das Glas nicht halten, und der Andere sagte, ihm sei übel, wenn er nur an Sect denke ... und der Führer, welcher mit seinem kaum noch verständlichen »Wollen doch sehen« das erste, sprudelnde Glas an die Lippen gesetzt hatte, ließ es fallen, daß es klirrend am Boden in tausend Scherben zersprang, denn –

In diesen Gedankenstrich lege die nachhelfende Phantasie des Lesers so viel Weh und Leidwesen, als ihm irgend möglich. Er lege Grabesschweigen, Todtenblässe und kalten Angstschweiß hinein; Verzweiflung, Lust, sich über Bord zu rollen, Ekel am Leben, Magenkrampf und Herzbeklemmung. Alles, was ihm an fliegender Hitze und Fieberfrost zu Gebote steht, lege er hinein. Das Letzte freilich und das Bitterste von Allem – das Ende, welches leider nur immer den Anfang neuen Jammers bezeichnet: das hineinzulegen, kann selbst der grausame Verfasser des Gedankenstrichs nicht von ihm verlangen. Dieser saß, wie gemeldet, auf seinem Tabouret an Leeseite und freute sich über das große Meer und lobte es in seinem Herzen über die Rache, die es an seinen Verächtern, diesen kleinen Sonntagsmenschen, genommen hatte. Leider war auch die Gruppe am großen Schornstein sehr still geworden. Der Herr mit den Vatermördern hatte das Gesicht gesenkt, und sein hoher Filzhut saß windschief auf dem ehrwürdigen Grau seines Hauptes. Das Mädchen mit dem braunen Haar hatte sich lang auf den Boden gestreckt und die zierlichen Füße mit ihrem Mantel zugedeckt; der helle Lockenkopf lag neben ihr und die Dame in grauer Seide rief mit convulsivischem Zittern der Stimme: »Eine S... eine Sa... eine Sa-Sale!« Der junge Mann an Windseite, welcher schon seit mehreren Stunden über eine Gelegenheit nachgesonnen haben mochte, mit der Familie am Schornstein anzuknüpfen, griff hastig, man könnte sagen mit leidenschaftlicher Gier nach einer von den Messingschaalen, wie sie hier »zum Gebrauch der Delphine« herumgestellt werden; aber kaum fing er an, dem Ziele seiner Sehnsucht entgegenzuschreiten, als ihn auf halbem Wege ein Zittern ergriff, – ein Schritt weiter, da versagten ihm die Füße den Dienst und ... da lag er, mitsammt seiner Schaale, zu den Füßen der seekranken Mutter seines geliebten Gegenstandes – Kopf an Kopf zwar mit ihr – – – –

Vier Stunden später waren wir in Sicht von Helgoland. Wie eine dichte Wolkenmasse erschien die Insel zuerst auf dem Hintergrunde des flüchtigeren Gewölkes. Dann war es, als nehme die Masse an bestimmter Form und Festigkeit der Umrisse zu; man sah den grünlichen Schimmer auf ihrer Oberfläche, den rothen Schein an ihren Wänden. Zuletzt tauchte auch rechts davon der weiße Strich der Düne von Helgoland auf, – ein Kanonenschuß vom Deck ... ein Kanonenschuß vom Lande ... zweimal, dreimal ... Die rothe Fahne von England hier am Topmast, dort auf einer Stange über den Felsen ... Der Anker fiel, Böte schwammen heran. Die seekranke Gesellschaft wurde in dieselben verladen, sie schwankten dem Lande zu, wo ein Musikcorps die Ankömmlinge begrüßte, und eine doppelte Reihe neugieriger Menschen, die sich auf beiden Seiten spalierförmig aufgestellt hatte, sie mit allerlei guten und schlechten Witzen empfing. Dies ist die berühmte Lästerallee von Helgoland. Jeder Ankömmling muß sich's gefallen lassen, hier verlästert zu werden; dafür hat er aber auch das Recht, sich an allen Seekranken, die nach ihm kommen, zu rächen.

Als unsere Sonntagsgesellschaft festen Grund unter sich fühlte, hatte sie auch unverzüglich wieder das große Wort. Wo ihr Sect wäre? schrieen sie rückwärts über das Meer. Sie wollten ihren Sect haben! Und der Kellner sollte ja nicht ihn vergessen mitzubringen, wenn er an Land käme! – Aber kein Mensch glaubte an ihre Renommage, denn sie sahen so geisterbleich und verstört aus, als seien sie eben aus dem Grabe gestiegen; Einer von ihnen hatte auch den Hut verloren, und die Lästerallee hatte vollauf zu thun. Als aber Kläre, blaß und edel, wie eine Marmorgestalt, auf den Arm ihres Vaters gestützt, vorüberschritt: da wagte Niemand zu lachen und zu lästern; im Gegentheil entblößten zum Gruße viele der umherstehenden Herren ihre Häupter ... »Das ist ja der reiche Schiffsmakler S.« flüsterte Einer dem Anderen zu; »und das da ist seine Frau, eine biedre Frau!« hieß es. Die biedre Frau führte Angelika, deren liebliches Kindergesichtchen ganz verweint aussah, an der Hand; »sei ruhig, mein Säfchen,« sagte sie, »jetzt ist Alles vorbei – jetzt bist du wieder gesund ... so, so, mein Sätzchen!«

»Das bist du ja! Bei Gott! Arthur, du!« – rief ein wohlbeleibter, jovialer älterer Herr, indem er dem Luftseitenschwärmer, der in der Liebe so unglücklich debütirt hatte, entgegentrat und ihn in die Arme schloß. »Ach,« seufzte dieser, »mein lieber Onkel! Es ist mir schlecht gegangen.« – »Kann mir schon denken,« lachte dieser gutmüthig; »das Meer verlangt sein Opfer. Aber man bekommt Appetit danach. Werde dich schon wieder kuriren, Arthur! Komm!« –

Das war der Tag, an welchem ich das Meer zuerst gesehen; und also kam ich nach Helgoland.

 

Zweites Kapitel.
Venus und Adonis.

Helgoland ist heutzutage nichts als ein Felsstück mitten in der weiten, breiten Nordsee, auf welchem an zweitausend Einwohner unter der Flagge von England leben. Ehedem ist Helgoland größer gewesen; der alte Glauben ist, daß es mit den friesischen Außenlanden an der Küste von Schleswig einen Continent gebildet habe, und daß die rothe Kant von Helgoland und das rothe Kliff von Sylt den Anfang und das Ende einer nun ins Meer versunkenen Felskette bezeichnen. Auch von untergegangenen Dörfern und Kirchen, von Wäldern, die der Durchbruch der sogenannten »englischen Flut« begrub, als sie den Zusammenhang zwischen Britannien und Gallien, die alte Celtenbrücke zerriß; von diesen und anderen uralten Dingen wird gesprochen, wenn man auf Helgoland ist. Allein als sicher und gewiß gilt nur, daß die Insel vor etwas mehr als hundert Jahren noch mit der Düne zusammengehängt, und diese selbst sich bis zu dem Weißkliff erstreckt habe – einem nun gleichfalls, zu Nordwesten des Sandes in das Wasser gegangenen Felsgürtel, auf dem seither ein manches Schiff gescheitert und zerbrochen ist. Die Losreißung der Düne von der Insel geschah im Anfange des vorigen Jahrhunderts; um die Mitte desselben sollen, bei niedriger Ebbe, die Frauen noch hinübergegangen sein, um nach dem Vieh zu sehen, das drüben auf den Weideplätzen lag. Heut ist Alles vorbei. Keine Ebbe mehr bringt den Landweg ans Tageslicht; keine Weideplätze mehr auf der Düne; kein Vieh mehr, außer ein paar armseligen Schaafen, die oben auf der Insel um einen eisernen Pflock laufen, und die von der scharfen Meeresluft so ausgedörrt sind, daß man glauben möchte, sie würden mit dem ersten, besten Winde davon fliegen, wenn sie nicht angebunden wären.

Ein wunderliches Felsdreieck – dies Helgoland, mit seinen phantastischen Höhlen und Vorsprüngen gegen West, seinem Dörflein, seiner Kirchspitze, seinem Leuchtthurm, seinen Lootsen »im Theerhut«, seinen Frauen »im rothen Rock mit gelbem Bande«, seinen mageren Schaafen und seinem Ausblick auf die zu allen Seiten endlose See und die Schiffe, die den fernen Horizont durchwandeln. Wie der Altan eines Seepalastes erhebt sich die Insel aus dem Wasser, – eine kühne Masse rothen Gesteins, obenhin dünn mit einem Schimmer grünlichen Grases bedeckt. Diese Felsoberfläche ist das eigentliche Helgoland, und seine rothen Steinsäulen werden dem Anprall der westlichen Wogen noch lange trotzen, ehe auch sie nachgeben und zusammenbrechend den letzten Rest des Seepalastes in die Tiefe begraben, wie das Uebrige. Dies ist das Oberland, auf welchem Dorf und Kirche und Leuchtthurm bei einander liegen; am Südostrand desselben klebt noch ein Stück hängengebliebener Düne – ein schmaler, ins Wasser gestreckter Sandstreif, dessen spitzige Zunge mit dem Schaumwirbel davor noch in die Richtung weist, wo Insel und Düne verbunden waren. Dies ist das Unterland, der Tummelplatz des modernen Badelebens, welches sich hier ansiedelte, seitdem das Vieh von Helgoland so mager wurde, und das Salzwasser über die fetten Weiden der Düne ging. Hier, unter dem Schutze des Oberlandes steht das Conversationshaus, in welchem man jeden Mittag Fleisch ißt, wenn das Hamburger Schiff rechtzeitig eingetroffen; hier sind die beiden Pavillons, wo man jeden Nachmittag Milch zum Kaffee bekommt, wenn die mageren Schaafe des Oberlandes gerade bei Laune gewesen; hier kann man Briefbogen kaufen mit der Ansicht von Helgoland, und hier, an der berühmten Treppe, die das Unterland mit dem Oberland verbindet, wohnt auch der Friseur, der den ganzen Morgen vor seiner Bude sitzt und Cigarren raucht.

Der kleine Sandfleck, aus dem das Unterland besteht, bietet zu jeder Tageszeit während der Saison einen bunten und lebhaften Anblick; aber lustiger ist das Treiben doch nie, als am frühen Morgen, wenn die Ueberfahrt Statt findet. Denn gebadet wird dort an den Abhängen der einsamen, abgerissenen Sandhügel, mitten im offenen Meere, und von früh sechs Uhr liegen am Unterland die Böte bereit, welche die Badegesellschaft hinüber- und herüberführen. Die Entfernung ist mäßig; man legt sie in zehn bis fünfzehn Minuten bei gutem Wetter zurück. Das Wasser ist ruhig, und von Seekrankheit ist nicht die Rede, wenn man über den untergegangenen Theil der Insel Helgoland dahin fährt.

So war es am zweiten Morgen nach meiner Ankunft. Frisch und kühl genug war es, und an Sonnenschein und duftiger Bläue ringsum, im Wasser unten und am Himmel oben, fehlte es nicht; wie jubelte mein Herz hellauf, indem die Wellen heranliefen und sich leise plätschernd auf dem Kiese brachen. Das erste Seebad! – wahrlich, das ist doch auch eine Phase im Leben eines jungen Menschen. Die Helgoländer Leute – mit ihrem Südwester auf dem Kopfe, mit ihren weiten Hosen und blauen Friesjacken, mit ihren Gesichtern, die alle etwas Felsenhaftes hatten, – so auf die Ruderstange gestemmt zu sehen, so hart, so selbstvertrauend, so lustig dabei: das war auch ein neuer und fesselnder Anblick. Namentlich war ein Helgolander Junge da, der mir gleich sehr gefiel, und der – wie ich demnächst schon erfuhr – auch gar keine kleine Rolle unter den Argonauten der Düne spielt. Er hatte ein rosenrothes Gesicht, dieser Junge; Nase, Lippen, Stirn und Wangen waren all' von derselben zarten Farbe. Die Augen waren wasserblau und zwei strohgelbe Löcklein, wolgeflochten und trefflich gesalbt, hingen ihm senkrecht an seinen rosenrothen Wangen nieder. Dieser schöne Jüngling hieß dazumal – vielleicht heißt er noch heute so – »der Adonis von Helgoland«; und da zu Rosenroth und Wasserblau auch ein sanft Gemüth und fühlend Herz gehört, so war der Liebschaften dieses seefahrenden Jünglings kein Ende, kein Maaß und kein Ziel. Zwar weiß ich nicht, wie der andere und schönere Theil, welcher nothwendigerweise zu einer Liebschaft gehört, über ihn dachte; aber unser Adonis, – der beiläufig mit seinem mehr christlichen Namen Hender Geicken hieß – liebte frisch drauf los, und wenn es nicht jeden Tag, so war es doch mindestens alle zwei Tage, daß er sein Ideal wechselte. Da bei solcher Weitherzigkeit ihm das Terrain der Heimathinsel bald zu eng geworden sein würde, so hatte er es besonders auf hübsche Ausländerinnen abgesehen, deren ihm die Badezeit eine beträchtliche Quantität von Woche zu Woche in frischer Ladung lieferte, so daß denn Hender Geicken, der Adonis von Helgoland, vom 1. Juni bis zum 1. Oktober ein Leben voller Wonne führte.

Dabei bediente er sich eigener Listen und Verschlagenheiten, dieser Adonis der Nordsee, um sich seine hübschen Herzallerliebsten zu fangen; als zum Beispiel, er stand in dem Boote, das unter seinem Wort und Commando fuhr, rückwärts auf die Stange gelehnt, als ob ihn die ganze Geschichte nichts angehe. Umsonst, daß ehrwürdige Hausmütter mit ihrem Ehesegen am Ufer standen, händeringend, daß sie nun schon so lange hätten warten müssen; umsonst, daß weißlockige Matronen ihn um Einlaß baten. Adonis, alias Hender Geicken, hatte am Hinterkopf keine Augen, und seine Ohren waren dem Anschein nach mit höchst wichtigen Dingen beschäftigt, die sich allenfalls in der Nähe der englischen Küste zutragen mochten. Aber kaum ließ sich ein zierliches Füßchen, über die Kiesel des Unterlandes heranhüpfend, sehen; kaum war eine hübsche Wade, vom flatternden Winde leicht enthüllt, kaum ein jugendlicher Mädchenkopf mit braunem Strohhut in Sicht: so war auch mein Hender Geicken wieder da, und da hätte man ihn wirthschaften und hantieren sehen sollen, wie er sein Boot auf den Sand trieb, wie er hinaussetzte, wie er seine schöne Beute ergriff, und ins Boot trug, welches – mit den Ehrwürdigen und Weißlockigen als Ballast gefüllt, – demnächst unter breitem Segel lustig ins Meer strich. –

Auch an dem Morgen, an welchem ich meine erste Fahrt nach der Düne zu machen gedachte, stand Hender Geicken in seinem Boote, ohne Augen, wie gewöhnlich, und mit Ohren, die ganz in etwaige Zurufe von der englischen Küste versunken waren. »Verfluchter Junge! willst du wol hören?« rief ein alter Herr Stadtgerichtsrath aus Berlin. »Abscheulicher Mensch, kannst du denn nicht sehen, daß wir hier schon eine Viertelstunde warten?« schrie eine brave Wittfrau aus der freien Reichsstadt Bremen. Aber der verfluchte Junge wollte nicht hören; und der abscheuliche Mensch konnte nicht sehen; er blieb vielmehr stehen, wie er stand, auf seine Stange gelehnt, und horchte nach England hinüber. –

Da kam von dem großen Pavillon, links, ein ältlicher Herr mit steifen Vatermördern und hohem Filzhut, welchem eine behäbige Frau in grüner Seide, mit einem hellgelockten Kinde an der Hand und eine reizende Brünette von achtzehn Jahren folgte. »Hol up!« rief da auf Einmal der erwachende Adonis – »ho – ho – hol up!« – und dabei setzte er über den Rand des Fahrzeugs fort, daß die brave Wittfrau aus Bremen vor Schreck ihren Schirm fallen ließ, welchen ihr der galante Herr Stadtgerichtsrath aus Berlin mit dem staunenden Ausruf: »Nanu?« wieder aufhob. Der entzückte Adonis aber stürzte auf die holde Achtzehnjährige los, schlang seine beiden Arme rund um ihren Leib, und trug sie – die vor Angst schrie und mit den Füßchen zappelte – in sein Boot, als wollte er sie rauben und entführen. Der übrige Theil ihrer Gesellschaft – in welchem ich sogleich meine Hamburger Reisegefährten wieder erkannte, – hatte Mühe, das Boot zu erreichen; und kaum war ich, während der galante Diener der Gerechtigkeit der braven Hanseatin zu einem Sitz verhalf, am Steuer untergebracht, als unser Fahrzeug auch schon mit allen Segeln das Weite suchte. Die braune Kläre hatte wieder eine Eroberung gemacht, und der rosenrothe Adonis war um ein neues Ideal bereichert.

Sprechen that er nicht viel; sprechen war nicht seine Sache. Aber die Blicke! das Erröthen! das Grinsen! Wenn er so hintüber lugte, indem das Boot leicht über die goldenen Wellen hintanzte, – als wollte er sagen: »wir verstehen uns!« Die arme Kläre nun zwar hatte keine Ahnung von den neuen Freuden, die ihrer harrten; aber sie konnte nicht umhin, wenn ihr Adonis sie so zärtlich angrinste, endlich auch zu lächeln, was denn seinem Liebesglück die Krone aufsetzte. Dann schlug er mit seinem Ruder tiefer in die sonnige Fluth, und funkelnd, wie die blauen Wasserperlen abtropften, war auch sein wasserblauer Blick. Im Gegensatz zu diesem sanften Erröthen, diesem bedeutsamen Schweigen, ging es zwischen dem ehrenfesten Bürger aus Berlin und seiner Nachbarin, der freien Reichsstädterin desto lebhafter zu. Wie sich das traf! Er seit zwei und einem halben Monat Wittwer, mit so und so viel versorgten Kindern, und sie – erröthend theilte sie es dem lauschenden, im Dienste Justinians ergrauten Streiter mit – den Wittwenschleier nun schon acht Jahre lang in Ehren tragend, vordem das Weib eines tüchtigen Capitains, welcher auf See verunglückte, und ihr leider keine Kinder, aber die Versicherungssumme für sein, auf eigene Rechnung geführtes Schiff, hinterließ. – Der Hamburger Handelsherr mit den steifen Vatermördern sprach Nichts; und seine eheliche Hälfte in grüner Seide vermahnte das blondlockige Engelchen sich fester in ihren »Saal« zu wickeln, denn es ziehe auf der See doch ganz merkwürdig.

Unter solchem Zeitvertreib trugen uns die Wellen rasch genug an den Ankerplatz der Dünen. Der grinsende Adonis hob seine neue Aphrodite aus dem Kahn und versprach ihr – das war das erste Wort, was er mit ihr wechselte – er wolle mit seinem Schiffe für sie bereit liegen, sobald sie mit Bad und Promenade fertig sei. Kläre dankte dem rosigen Fährmann mit einem holdseligen Lächeln, welches die zarten Farben seines Gesichts in das dickste Ziegelroth vertiefte. Bald war der Wegweiser erreicht, wo der bisher für beide Geschlechter gemeinsame Pfad sich theilt und nach dem, einem jeden von ihnen besonders angewiesenen Badeplatz an den entgegengesetzten Seiten des Strandes führt. Hier mußte sich auch der Berliner Rath und die Bremer Capitainswittwe trennen; denn leider ist es nur Herren unter fünf Jahren gestattet am Damenstrand zu erscheinen, und Damen über funfzig Jahr nicht erlaubt, sich am Strande der Herren sehen zu lassen.

Das ist anders in Ostende und den Bädern von Frankreich und England. Hier tummelt sich die Menschheit, ohne Unterschied der Jahre, des Ranges und Geschlechts in dem für alle gemeinsamen Bassin des offnen Meeres – Kinder, Jungfrauen, Wittwen, Stadtgerichtsräthe, Prinzen, Pferde und Badeknechte ... Alles bunt durcheinander. Allerdings ist ein Bademantel für das schöne Geschlecht angeordnet, und eine Art von Gladiatorenhabit – so wie es die Kunstreiter und Gaukler tragen – für das andere vorgeschrieben. Allein solch ein Bademantel wird naß unter allen Umständen, und schmiegt sich alsdann den Körperformen auf's Wundervollste an; zuweilen hebt ihn auch der Wind empor, von den weißen vollen Armen schiebt sich das Gewand zurück und lange, üppige Haare flattern umher, mit den Diamanten des aufjauchzenden Meeres besprengt. Und dann springen die Gladiatoren dazwischen, und die Nymphen entfliehen und die Baigneusen schreien; bis zuletzt eine gütige Welle Alles durcheinander wirft, und wenn sie nun zurückkehrend in's Meer verläuft, so pflegen die Nymphen im Bademantel auf dem Sande zu liegen, und in den Ohren und Nasen der Gladiatoren hat sich so viel Salzwasser gesammelt, daß sie schwören, sie wollten in all' ihrem Leben nicht Jagd mehr auf Nymphen machen.

In Helgoland badet ein jeglich Wesen fein still und sittsam für sich; und der einzige Genoß, mit dem der Mensch sich tummelt, ist die Woge, welche breit und gewaltig gegen die Düne rollt. Ja, das Meer hat hier eine andere Majestät, als dort an den bleichen und doch mit allem französischen Firlefanz aufgetakelten Küsten von Ostende. Das Meer hat hier seine Keuschheit behalten und die erhabene Einsamkeit desselben wird durch Nichts gestört.

Also kam ich zu den Innendünen zurück, und wandelte durch ihre Thalschluchten von weißem, glänzenden Sand, und erstieg ihre mäßigen Hügel, die unter jedem Schritte sich zu verschieben und zu verschütten schienen. Zuweilen überkam mich die Täuschung der vollen Abgeschiedenheit, wenn ich durch den schweigenden Sand gewandelt war, und minutenlang nichts vernommen hatte, als den entfernten Schrei der Möve und das Rollen und Murmeln der See unter den Hügeln. Zuweilen vernahm ich das Lachen eines Mannes und das fröhliche Wort einer Frau, vom Wind aus einer benachbarten Sandschlucht heraufgetragen; oder über die Fläche gingen ein paar Lustwandelnde dahin, mit flatternden Haaren, mit lustig wehenden Tüchern. Zuletzt trat ich wieder beim offenen Meere heraus. Hier an einer sonnig-ruhigen Stelle des Strandes saßen Kläre und Angelika. Die braunen Haare des älteren Mädchens hingen geglättet auf ein schimmernd weißes Battisttuch über der Schulter nieder, während das blonde Gelock des jüngeren, feucht noch vom Wasser, um den Kopf hin- und herflog, wie der Wind es wollte. Sie saßen mit dem Rücken mir zugekehrt und sahen mich nicht. Sie sangen mit süßen gedämpften Stimmen das schöne Lied vom Meere, das weithinaus erglänzte. – Dann schwiegen sie ein Weilchen und Angelika sagte:

»Kläre, möchtest du wol nach England?«

»Ach ja, Engelchen,« erwiderte Kläre, »das möchte ich wol. Ich habe eine Sehnsucht nach England, als wenn da meine rechte und wahre Heimath wäre – da, in dem stillen Landhaus mit dem goldgrünen Rasenplatz davor, in Clapham, wo der Vater geboren ist und gelebt hat, ehe er nach Deutschland ging.«

»Sag doch Kläre,« plapperte das Engelchen weiter, »warum gehen wir nicht alle nach England zurück, wenn ja dort unsere rechte Heimath ist?«

»Das wäre wol hübsch,« entgegnete Kläre; »aber was sollte dann aus unserem Garten mit den großen, dunklen Bäumen an der Alster, und aus unserem Haus mit den Epheuwänden werden? Und was würde unsere Großmama sagen, wenn wir mit der Mama sie nicht mehr am 15. Mai besuchten, um in ihrem großen Garten bei Rendsburg ihren Geburtstag zu feiern?«

»Ja, daran habe ich gar nicht gleich gedacht, Kläre,« sprach das blondlockige Kind; »aber sag doch Kläre, wenn nun ein schönes Schiff hierher käme, – weißt du, so ein recht schönes Schiff, wie sie in Papa's Arbeitszimmer an den Wänden gemalt hängen – und ein recht schöner Capitain stände an Bord und sagte: Fräulein Kläre, kommen Sie doch, reisen Sie doch mit uns! Wir wollen nach England fahren – sag' mal, Kläre, was würdest du dann thun?«

Da sprang Kläre hastig auf – ihr Gesicht war über und über mit dem süßesten Purpur bedeckt – und sie ergriff die Hand des Kindes und sagte: »Engelchen, da ist der Herr wieder ... laß uns laufen und die Eltern suchen!«

Die beiden Mädchen enteilten – nur Angelika sah sich einmal um, Kläre aber zog sie rascher mit sich fort, und bald waren sie unter dem blauen, tiefen Schatten der Sandhügel verschwunden. In dem Herrn, welcher die holden Kinder aus ihren Träumereien am Meere aufgestört hatte, erkannte ich Arthur und dicht hinter ihm sah ich seinen Onkel.

»Dies ist das Mädchen gewesen,« hörte ich Arthur sagen, indem er an mir vorüberging, rascher, als wolle er den Entfliehenden nacheilen. »Dorten, Onkel, das Mädchen mit dem schlichtbraunen Haar über dem weißen Tuche.«

»Ein capitaler Geschmack, mein Junge!« erwiderte der Onkel, indem er den Hut abnahm, um sich die feuchte Stirn zu trocknen und mächtiglich dabei schnaufte. »Aber du meinst doch nicht, daß meine fünfzigjährigen Beine so flink und flüchtig seien, als die Füßchen dieser beiden Kinder? Ruhig, mein Junge, ruhig, sag' ich! Keine Gemüthsaufregung im Seebade! Der Raum, auf dem wir uns hier bewegen, ist so klein ... Du wirst sie noch hundertmal wiedersehen. Komm, wir gehen jetzt zum Frühstückspavillon; und ich wette, du findest sie bei einem Stück Schinken und einem Glase Madeira wieder ...

»Onkel!« rief Arthur in vorwurfsvollem Tone, und vergeblich bemüht, seinen schnaufenden Anverwandten weiter zu bringen.

»Essen und trinken müssen wir Alle, mein Junge. Auch ein schönes Mädchen mit braunen Haaren, sag ich, muß essen und trinken. Aber einzig ist und bleibt es doch, sich so auf den ersten Blick in ein Mädchen zu verlieben ...«

»Verlieben?« unterbrach Arthur mit dem Tone des allergrößten Staunens seinen Onkel.

»Verlieben, mein Junge, – verlieben, sag' ich! Junge Leute müssen sich verlieben. Wenn sich junge Leute nicht mehr verliebten, dann wäre die Welt bald voll von so alten, lahmen Junggesellen, wie dein Onkel einer ist, und mit der Menschheit nähm's ein betrübtes Ende. Verlieb' dich nur, mein Junge und ...«

Der Schluß dieser ermunternden Rede verlor sich im Winde. Die beiden Männer, die auf dem Platze gestanden hatten, auf welchem vorhin Kläre und Angelika gesessen, gingen weiter und auf meinem Sandhügel, mit dem Blick auf die einsame See, lag ich wieder allein in der steigenden Gluth der Sonne.

Der Frühstückspavillon, ein Bretterschuppen mit einem Dach von Segeltuch, liegt – der Insel gegenüber – an einer flachen, aber geschützten Stelle unter den Dünen, nicht weit vom Landungsplatze. An Bequemlichkeiten enthält dieser Pavillon Nichts, außer ein paar hölzernen Bänken und Tischen, einem Herde, um allenfalls Kaffee zu kochen und Eier zu sieden, und bei windigem oder regnerischem Wetter ist es unbehaglich genug darin zu sitzen. Aber für den Magen ist trefflich gesorgt, und bei Sonnenschein, wie an jenem Morgen, giebt es kein besser Vergnügen, als hier, beim Anhauch der frischen Brise vom Meer herüber, sein Frühstück zu verzehren. Kläre und Angelika jedoch saßen nicht bei Schinken und Madeira, wie Arthur's gutmüthiger Onkel sich eingebildet; vielmehr waren sie, als ich den Pavillon erreicht hatte, schon wieder am Strande, wo Hender Geicken mit den beiden Locken richtig auf sie gewartet hatte. Er schien daselbst in einer Art von Versteck und Hinterhalt auf der Lauer gelegen zu haben; denn kaum war Fraulein Kläre am Ende des Bohlenweges, der vom Pavillon an's Wasser hinabführt, in Sicht gekommen, so stürzte er hervor, umschlang und trug sie, wie vorher, in sein Boot, den Eltern und Angeliken nicht viel Zeit lassend, sich gleichfalls einzuschiffen. Dann ging das Boot mit vollen Segeln wieder in See, und umsonst riefen und demonstrirten zwei Herren vom Strande aus, daß sie auch mitfahren wollten. Adonis war fort, und ich sah, wie der eine von den Herren, der jüngere derselben, noch lange stand und dem entschwebenden Weiß der Segel nachschaute, während der andere rasch und mit entschiedener Wendung Kehrt machend, auf den Frühstückspavillon deutete, als wolle er sagen: »Essen und trinken müssen wir alle, mein Junge; schöne Mädchen mit braunen Haaren und verliebte Advokaten ohne Praxis nicht ausgenommen!«

Denn, so wenig ich auch im Allgemeinen mit der übrigen Badegesellschaft verkehrte: das hatte ich bald genug in Erfahrung gebracht, daß Arthur – seit zwei Jahren als Doctor beider Rechte unter die Hamburger Advokaten aufgenommen – bis jetzt weder Mann noch Frau gefunden habe, die ihm einen Prozeß anvertraut hätten; daß sein Onkel aber ein reicher, vom Geschäft zurückgezogener Herr sei, von welchem Arthur einst viel zu erwarten habe. Die Tage gingen in schöner Einförmigkeit dahin; dem Bade auf der Düne folgte die Heimkehr und das müßige Schlendern am Falm, der gegen das Meer und den Abgrund durch ein starkes Eisengitter geschützten äußersten Kante des Oberlandes. Dem Mittagessen folgte Musik und Kaffee in einem von den beiden Pavillons des Unterlandes, dicht am heranspülenden Wasser, und dann wechselten Bootfahrten und Promenade bis zum Sonnenuntergang. Die Promenade allerdings war sehr beschränkt; im Unterlande bot sich die Bindfadenallee – ein schmaler, von überhängenden Klippen geschützter Sandweg zwischen den ausgespannten Stricken eines dort unverdrossen arbeitenden Seilermeisters; und der Longchamps des Oberlandes bewegte sich zwischen den mageren Haferfeldern und den dünnen, um ihre Eisenpflöcke laufenden Schaafen der Kartoffelallee, welche sich der Länge nach durch die ganze Insel, an ihrer Westseite, hinzieht.

Der Sonnenuntergang ist das große Ereigniß im Badeleben von Helgoland. Er versammelt die Gäste an der Nordwestspitze, wo man – wie auf einem ungeheuren Felsbalkon – der rollenden See, der rollenden Sonne und der ganzen Herrlichkeit des aufgethanen Himmels frei gegenübersteht. Mir war dieser Platz um die Stunde des Abendroths der allerliebste; ich saß da oft genug bis es finster war und kein Mensch mehr zu sehen noch zu hören – nur das Rauschen der Brandung, voll und tief in den Felshöhlen unter mir, füllte mir die Seele, und vor meinen Ohren klang eine Musik, die ich mein Lebtag nicht vergessen will. Oft in fremden Ländern und an entlegenen Küsten habe ich sie wieder vernommen – immer so eintönig, so düster, so groß, wie eine Musik der jenseitigen Welten.

So saß ich eines Abends, zur Zeit der Dämmerung, auf der Holzbank an der Nordwestspitze. Roth und glühend lag die Wölbung des Himmels über mir, und das ganze Meer schäumte purpurn bis zum fernen Horizont, wo es sich in düster flammendes Nebelgewölk – getränkt vom Licht der Untergangssonne, die unter diesem Gewande zu verbluten schien – verlief. Die Großartigkeit dieses Anblicks hatte zugleich etwas Unheimliches und Fürchterliches; ein greller Widerschein färbte die rothen Felskanten umher, so daß sie magisch funkelten, und Möven, gleichfalls in die Gluth der Atmosphäre getaucht, flogen kreischend rundum oder verloren sich in die Dämmerung der Klippenschluchten. Die Natur brütete Unheil, und wenn es auch die Schiffer und Lootsen nicht schon den ganzen Tag verkündigt hätten, so würde es nun doch das Herz vorausgesagt haben, daß ein Wetter im Anzuge sei. Jede Creatur schien eine große Beklemmung und einen ängstlichen Druck zu empfinden. Mit dumpferem Schalle rollte das Wasser in den unterirdischen Höhlen ein und aus, und der Wind, indem er leise durch das schauernde Riedgras lief, hatte den Ton eines bangen Seufzers.

Da vernahm ich zuletzt Schritte durch die Dämmerung; es waren zwei Herren, welche den Pfad herabwandelten, und vor der anderen Bank, rechts von mir, stehen blieben. Schon war die Röthe des Gewölks in Gelb und Grüngrau geschwunden; und das Zwielicht und die Entfernung verhinderte sie, mich zu sehen, und mich, ihre Gesichtszüge zu unterscheiden. Ich sollte aber darüber nicht lange in Zweifel bleiben.

»Laß uns einen Augenblick Platz nehmen auf dieser Bank, Arthur, mein Junge,« sagte der eine von den Herren. »Es wird Dir gut thun, ein bischen im kühlen Abendwind zu sitzen. Dein Kopf ist Dir so heiß, Arthur, und Dein Herz ... ha, ha, wie wird Dir Dein Herz erst glühen!«

»Ich bitte Dich, Onkel,« erwiederte Arthur, »sprich nicht davon. Du hast nun diese zwei Tage lang Nichts gethan, als Deine Scherze über mich zu machen. Aber zum Scherzen ist mir diese Sache doch wahrlich zu ernst, Onkel.«

»Wollte Gott, Du machtest endlich einmal Ernst,« sagte der Onkel. »Was soll dies ewige Kopfhängen? Warum gehst Du nicht grad' auf sie zu – sprichst mit ihr, wie es die andern jungen Herren machen, tanzest mit ihr, führst sie zu Tische, eroberst ihr Herz und ... und das Andere wird sich finden. Verlaß Dich darauf, mein Junge.«

»Onkel, das kann ich nicht!« versetzte Arthur mit einem schüchternen und befangenen Tone. »Siehst Du, wenn sie so dasteht, einsam am Strande, und in die Ferne schaut, wo die Schiffe segeln, und wenn ihr braunes Haar so im Winde flattert – dann kann ich sie stundenlang von einer Dünenschlucht aus ansehen, aber ich möchte um Gotteswillen nicht, daß sie es wüßte. Denn ich fürchte immer, sie würde dann nicht wieder am Wasser stehen und so schön und träumerisch in die Ferne sehen. Oder wenn sie im Saale sitzt, wo die Andern tanzen, und ihre Hand in der der kleinen Schwester liegt – meinst Du dann, ich könnte zu ihr gehen, und sie auffordern? Wahrlich, das Wort würde mir in der Kehle stecken bleiben, und ich würde vor ihr stehen, roth und stotternd und gottverlassen, nicht besser wie ein Schulknabe. Ja, wenn sie dort säße, auf jener andern Bank –« und dabei deutete er nach der Seite hin, wo ich zum Glück in tiefe Dämmerung gehüllt saß – »und kein Mensch wäre hier außer mir und ihr – o, was sollte ich ihr wol sagen? Ich weiß es nicht; ich würde mich verstecken und sie ansehen, und immer noch hinsehen, wenn sie längst schon in der Dunkelheit unkenntlich geworden wäre. Nein, Onkel, mit ihr reden oder tanzen oder zu Tische gehen – das kann ich nicht! Aber siehst Du Onkel, wenn sie hier am letzten Klippenrande stände – wenn sie sich vorbeugte – wenn sie schwankte, wenn sie sänke und stürzte: dann würde ich ihr nachstürzen, ob ich sie nun retten könnte oder nicht. Ja, das würde ich thun!« sprach er, indem er an den jähen Rand der Klippe vortrat, als sähe er Klärens weißes Kleid eben in der Dunkelheit des Abgrundes verschwinden.

»Um Gotteswillen,« rief sein Onkel; »geh fort da von dem Felsen und sprich mir nicht von solchen Dingen, Arthur, Du weißt, das macht mich schwindlig. Sprich mir nicht von Stürzen und Retten und dergleichen, sag' ich. Wer wird im Seebade solch aufregende Gespräche führen? Komm, sag ich, mir ist angst und bange geworden, wie ich Dich habe dahin gehen sehen – komm fort von diesen Klippen, wo es so unheimlich weht und wettert; und daß Du mir nie wieder so entsetzliche Anspielungen machst!«

Die beiden Männer standen auf und gingen. Langsam verlor sich der Schall ihrer Fußtritte in der dunklen Wolkennacht; aber das Rauschen des Meeres wuchs und das Sausen des Windes wurde stärker.

 

Drittes Kapitel.
Arthur, der sich eine Braut aus den Wellen holt.

Zu Mittag des anderen Tages wehte es einen heftigen Sturm. Früh am Morgen war das Wetter noch erträglich gewesen; dann und wann war der Wind wol schärfer durchs Meer gestrichen, aber im Ganzen war die Fläche noch nicht aufgewühlt, und die Schiffer prophezeiten, daß man sich bis gegen Abend auf das Wasser verlassen könne. Die Schiffer von Helgoland aber, in ihrer lebenslangen Vertrautheit mit dem Element, das sie unablässig umgiebt, und in ihrer Vorsicht, welches dasselbe sie gelehrt, sind das Orakel für die Badegäste, und man fühlt sich zuletzt so sicher in Dem, was sie aussprechen, als ob sie Macht über Wind und Welle besäßen. Darum hatte man an diesem Morgen auch die Ueberfahrt zur Düne gemacht, und um so eifriger des schäumenden Bades genossen, als man im Voraus wußte, daß der nahende Sturm die Verbindung mit der Düne für mehrere Tage aufheben würde. So gingen von der sechsten Morgenstunde an die Böte hinüber und herüber, wie gewöhnlich. Der Himmel hing voll riesengroßen Gewölkes, welches zuweilen ganz niedrig über das Wasser hinwegflatterte. Dann blies es der Wind für eine Weile nach beiden Seiten auseinander und die grelle Sonne warf einen kurzen Schimmer umher, den die stahlgraue, springende Wogenfläche blendend zurückspiegelte. Hierauf schloß sich das Gewölke wieder, und rasch, ohne jeden Uebergang, war Luft und Wasser unheimlich finster, wie zuvor. Zuletzt blieb die Sonne ganz aus, und gegen eilf Uhr fiel ein so schwerer Regen, daß Alles ringsum in eine trübe Wassermasse zu verschwinden schien. Das Rauschen der Wogen klang hohler, etwa so, als ob es aus unergründlichen Tiefen mühsam heraufbreche; und die Stöße des Windes folgten sich rascher. Diese Windstöße sind die Vorboten des stürmischen Meeres; sie eilen ihm voran, wie der Blitz dem Donner. Der Aufruhr des Küstenmeeres wird in entfernten Seen geboren; und der zerschmetternden Mutterwoge, welche mit der ganzen Breite des Ozeans herandonnert, ehe sie sich an den Inseln und Ufergürteln gebrochen hat, reitet der Sturm voraus mit der Lärmtrompete, um den Seemann zu warnen. Dann pflegt ein fürchterliches Regenwetter zu folgen, als wolle der Wassersturz von oben das Meer noch einmal schwellen, und unter diesem doppelten Andrang macht es selber nur seine ersten, wildesten Sprünge.

Das Boot, in welchem ich die Heimfahrt nach der Insel machte, befand sich auf halbem Wege, als der Wolkenbruch uns überfiel und unser armes Fahrzeug unter Wasser zu setzen drohte. Mit seinem Lederhute tief im Nacken, das braune Gesicht fest und unverwandt aufs Wasser zu seiner Seite gerichtet, saß der Steuermann da, bald hoch, bald niedrig, wie das Boot jetzt schräg an einer steigenden Woge hing, jetzt hinuntergewälzt wurde, wenn sie sich, ihren Schaum über uns fortschleudernd, brausend verlief. Das Boot saß voll von Passagieren, voller als sonst, da beim nahenden Ausbruch des Wetters Alles, was sich auf der Düne befand, an den Abfahrtsort stürzte und auf Einmal mitgenommen sein wollte. Nun schrieen sie Alle und jammerten, es sei zu voll und schwer, es werde umschlagen, wenn noch eine solche Welle käme, und es werde das Ufer nimmermehr erreichen. Der alte Jenssen aber, welcher bisher unbekümmert am großen Segel gesessen, sagte zuletzt, sie sollten sich doch nicht so ängstlich betragen; sie sollten Gott danken, sagte er, daß sie noch gerade vor dem Sturme herliefen, und am Land sein würden, ehe der richtige Tanz angegangen. Nach einer Viertelstunde waren wir am Land. Der Regen strömte fort, wie bisher, und die Wellen schlugen über den Damm und liefen am Strande des Unterlandes hin und zurück. Boot an Boot kehrte aus dem Wasser heim und jämmerliche Gruppen von verweinten Kindern an der Hand bleicher Mütter bewegten sich nach dem bewohnten Theile der Insel. Das letzte Boot lief an.

»Wo sind meine Kinder?« schrie eine Dame, deren Kleider von Regen und Meerwasser trieften. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, denn es war in einem Kautschukmantel verhüllt; aber ich erkannte den Ton ihrer Stimme, obgleich er anders klang als damals, wo ich ihn zuerst vernommen. Die ganze gewaltige Verzweiflung eines Mutterherzens bebte und zitterte in den vier Worten.

»Sie sind nicht da,« sagte, kaum hörbar, so hatte Angst und Beklommenheit seine Brust gepreßt, ein Mann, der von der andern Seite des Strandes herantrat. »Die Böte sind alle zurück und unsere Kinder sind nicht da.«

»Gerechter Gott im Himmel – meine Kinder, meine Kinder!« schluchzte die Frau, indem sie zu dem Steuermann stürzte, welcher mit mehreren Andern beschäftigt war, das letzte Boot ans Land zu schieben und fest zu machen. »Bist Du es nicht gewesen,« rief sie, »der mich in dieses Boot getragen hat, und mir sagte, daß meine Kinde in einem anderen Boot abgefahren seien?«

Ja,« sagte dieser ganz gleichmüthig, »ich habe gesehen, wie Hender Geicken das älteste Mädchen rund um den Leib faßte und in sein Boot schleppte. Weiter habe ich auch Nichts gesagt.«

Da kam Hender Geicken mit einem sehr betrübten Gesichte und sagte, ja – er habe das »Frölen« auf sein Boot tragen wollen, aber sie habe sich mit Händen und Füßen gewehrt und habe geschrieen, ihre kleine Schwester sei nicht da; und die kleine Schwester habe auf den Bohlen gestanden und laut geweint, sie könne Papa und Mama nicht finden, und indessen sei das Boot von Menschen überfüllt worden, und die Leute hätten gerufen, wenn er nicht gleich käme, so wollten sie ohne ihn abfahren. »Und da ... da« schloß er stotternd, »da ...«

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Mit dem linken Arm auf den Rand des Bootes gestützt, stand die unglückliche Mutter. Ihr Auge, mit einem wilden Funkeln, sah in die Ferne, welche von schweren Regenschichten verhüllt war, so daß man die Düne nicht mehr unterscheiden konnte, und die Wellen zischten bis an ihren Fuß und der Wind riß ihre Haare auseinander.

»Ich muß meine Kinder wieder haben, Bootsmann!« rief sie, »und sollte ich allein hinüber fahren. »Binde Deinen Kahn los, Bootsmann, ich muß meine Kinder wieder haben!« Aber der Bootsmann rührte sich nicht. Er sah sie mit einem ungläubigen Lächeln an und sagte zuletzt: »In diesem Sturm, Madame?« Sie stand noch immer mit dem Arme auf dem Bootsrande.

»Beruhige Dich, Mutter,« sagte ihr Gemahl. »Unsere Kinder sind gewiß mit einem anderen Boote zurückgekommen und nach Haus gegangen. Wir werden sie daheim finden, verlaß Dich darauf!«

»Nein!« rief die Verzweifelnde, »nein! Wenn meine Kinder am Lande wären, so stünden sie hier, um mich zu erwarten. Meine Kinder gehen nicht ohne mich nach Haus, und ich – das gelobe ich beim allmächtigen Vater im Himmel – gehe nicht ohne meine Kinder nach Haus!« Furchtbar war es, wie sie die Hand in die dunkle Sturmluft emporhob und zu dem Rauschen der Brandung und dem Rollen der Wellen den Schwur that.

»Mutter! Mutter!« sagte ihr Gemahl. »Du weißt nicht, was Du thust!«

»Ich weiß es!« sagte sie. »Ehe ich meine Kinder nicht wieder habe, betrete ich die Schwelle meines Hauses nicht!« –

Und nun brach der Sturm los. Es war zwölf Uhr Mittags, aber finster, wie nach Sonnenuntergang, war die Atmosphäre. Der Regen schoß eisig, wie Gebirgswasser nieder, und wie ferner Donner umbrüllte es den ganzen Strand. Trübgelbe Wogen wälzten sich durcheinander und wo sie wüthend aneinanderprallten, da spritzte der Schaum häuserhoch und flog im Sturme dahin, so daß die ganze Luft mit Wasser erfüllt war. Kreischend kehrten die Möven aus dem ungastlichen Element heim und suchten ihre Schlupfwinkel in den Felslöchern. Woge stieg aus Woge, und vom pfeifenden Sturme gepeitscht sprang die Brandung Über ihre Grenzen, und der Vorsand des Unterlandes stand knietief unter Wasser. Mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft hatte der Hamburger Handelsherr seine Gemahlin von dem Boot, an welches sie sich geklammert hatte, entfernt; aber sie weigerte sich, unter das schlitzende Dach eines Hauses zu treten, nicht einmal ihre durch und durch von Salz- und Regenwasser getränkten Kleider wollte sie wechseln. Sie sprach kein Wort mehr, sie weinte, sie schluchzte nicht mehr; aber sie hielt ihren Schwur. – Sie stieg mit ihrem Manne die Treppe zum Oberland empor, und folgte ihm zum Falm. Hier, um ein Fernrohr, welches ein Lootse aufgestellt hatte, standen Hunderte von Menschen, Insulaner und Badegäste. Ganz Helgoland war in Aufregung. Man vermißte Klären und Angelika nicht allein; wie sich allmälig herausstellte, waren es in Allem dreizehn Personen, welche bei dem ungestümen Andrang nicht mehr mitgenommen werden konnten und auf der Düne zurückgelassen worden waren.

Die Lootsen wichen nicht von dem Fernrohr; aber sie konnten Nichts erblicken vor Regen, Nebel und Sturm. »Es ist nicht wegen der Dreizehn auf der Düne, sagten sie; »wollte Gott, daß jeder arme Matros, der jetzt zwischen Himmel und Wasser schwebt, so sicher wäre, als die; es ist einzig wegen der Schiffe, die in Sicht kommen könnten und Hülfe nöthig hätten.« –

Kein Schiff kam. Der Sturm raste und das Meer donnerte und wühlte in den Felshöhlen. Ernst und stumm, wie das Schicksal selber, eine Niobengestalt, stand die Mutter am Eisengitter, den Blick unverwandt nach der Himmelsgegend gerichtet, wo in Sturmesdunkel und Wogengetöse begraben die Düne von Helgoland lag. Zwanzig Schritt von ihr, an der Grundmauer des nächsten Hauses, lehnte der bekümmerte Adonis, seinem Gesichte nach zu urtheilen eine Beute der nagendsten Gewissensbisse. Seine beiden Löcklein hingen schlaff und trostlos an der Wange nieder; sein wasserblaues Auge war auf den Grund gekehrt, und wenn er sie erhob, so sah er zuerst die Mutter und dann das Meer an, worauf er sie wieder senkte.

»Komm Arthur, mein Junge!« sagte der Onkel endlich, der bis dahin mannhaft dem Wetter getrotzt hatte – »es hilft nichts, sich hier auf den Tod zu erkälten. Wir retten dadurch die Dreizehn auf der Düne nicht. Schade nur, daß die Kläre dabei ist; aber wir ändern's nicht und Gott muß das Beste in dieser Sache thun. Komm, mein Junge!« –

Arthur ging mit dem Onkel; aber er war nicht zwanzig oder dreißig Minuten fort gewesen, so kam er wieder. Dießmal aber ohne den Onkel. Er stand eine Weile, wie er vorhin gestanden hatte, in Betrachtung des tobenden Elementes versunken. Da, wie aus einem tiefen Traum erwachend, trat er zu der Mutter, die noch immer unbeweglich in die Ferne schaute, und sagte mit einer schüchternen Anrede: »Madame haben Sie eine Botschaft an Ihre Töchter? Ich fahre hinüber nach der Düne!« Die Mutter, aus ihren düstern Phantasien langsam zurückkehrend, hatte den Sinn seiner Worte noch nicht recht begriffen. Aber »wer« rief Arthur, »wer begleitet mich hinüber zur Düne?« Staunend und ungläubig hatten die Menschen sein Wort vernommen und eine dichte Schaar umgab ihn bald. Eine Antwort jedoch erhielt er nicht. »Wer,« wiederholte er seine Frage mit einer Stimme, die den Sturm überdröhnte, »wer begleitet mich hinüber zur Düne?« Da kam Hender Geicken von seiner Mauer herbei und sagte: »Mein lieber Herr, wir fahren auf Leben oder Tod – aber ich will Sie begleiten und mein Boot liegt bereit!«

»Was willst Du thun?« riefen zwanzig Helgoländer Schiffer, viel älter und erfahrener als er, einstimmig. »Du kommst nicht lebendig hinüber. Und wenn's noch ein Schiff in Nöthen wär' – aber so für Nichts und wieder Nichts!«

»Ist das Nichts?« rief Hender, indem er auf die Mutter deutete. Aber die Schiffer schüttelten ihre Köpfe, und sagten noch einmal, er käme nicht lebendig hinüber.

»Nun,« erwiederte er, »dann ist's auch einerlei. Ich habe keine Mutter und keinen Vater mehr, und Weib und Kinder hab' ich gleichfalls nicht zu versorgen; und es soll mich nicht gereuen, wenn ich bei solch' einem Unternehmen verunglücke. Kommen Sie nur mit mir, mein Herr. Sie verstehen sich doch aufs Fahren?«

»Wie Einer!« sagte Arthur. »Steuern und Segeln – mir ist's nichts Neues – verlaß dich darauf, Hender, aber nun rasch an's Wasser!«

Die beiden Männer gingen. Aber nun erst erwachte die Mutter aus der Lethargie ihres Schmerzes; »Gott sei mit Euch!« rief sie ihnen nach, und als auf die Bitte ihres Gemahls Arthur noch einmal zurückkam, nahm sie seine Hand, preßte sie in der ihrigen und bedeckte sie mit heißen Küssen. »Wenn Ihr meine Kinder seht,« schluchzte sie, »so sagt ihnen, ich stünde hier am Falm und mein Auge wäre nicht abgewandt vom Wasser, bis daß sie glücklich wiedergekehrt seien.«

»Und hier sind Mäntel und Decken für sie,« sagte der Vater, welcher einen Diener nach Haus geschickt hatte, um solche zu holen; und zehn, zwölf andere Personen, die um das Schicksal der auf der Düne zurückgebliebenen Verwandten bekümmert waren, umdrängten den jungen Helden und gaben ihm gleichfalls Grüße, Bestellungen und Decken mit.

Auch der Berliner Stadtgerichtsrath war mittlerweile zum Vorschein gekommen und nahm sich den Hender Geicken beiseite. Denn er hatte in Erfahrung gebracht, daß die Bremer Capitainsfrau unter den Verunglückten von der Düne sei. »Hender,« redete er diesen an, »wenn Du die Capitainsfrau siehst, so sag ihr, ich lasse sie grüßen und ich würde selber mitgekommen sein, wenn das Boot nicht durch drei Personen zu schwer geworden wäre ... «

»O, mein Herr,« unterbrach ihn Hender, »was das anbelangt ... « Aber »still« fuhr ihn der Berliner Rechtsgelehrte an, »thu, was ich Dir sage; grüße sie von mir, und nimm ihr diesen Mantel und diese Flasche voll Rum mit,« und dabei legte er dem Adonis von Helgoland seinen Mantel über den Arm und steckte in die Seitentasche die besagte Flasche. Arthur indessen hatte sich von Klären's Mutter verabschiedet. »Madame,« dies waren seine letzten Worte, »ich werde ohne Ihre Kinder nicht wieder vor Ihnen erscheinen.«

Dann ging das Boot ab. Ein allgemeiner Schrei, halb der Furcht und halb der gespanntesten Erwartung, begleitete ihr Auslaufen. Der Falm war mit Menschen, Kopf an Kopf, bis zum Leuchtthurm bedeckt; und aus dem Dach dieses letzteren stand der Gouverneur von Helgoland und eine Lootsenschaar. Mehrere tausend Augen hingen unverwandt auf dem kleinen schwankenden Fahrzeug, welches sich nun dem Zorn der Elemente, und der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes, welcher darüber waltete, wie sie Alle glaubten, anvertraut hatte. Bald saß es oben auf einer breiten Welle, bald war es im Gischt verschwunden; dann kam es wieder zum Vorschein, der Quere nach, und nun ging es in eine Wolke, und war dem Auge verloren. Viele Augen waren ernst, und viele Hände hatten sich heimlich gefaltet; aber Keiner von Allen, die am Gitter standen, dachte daran, sich zu entfernen. Auf Einmal hieß es vom Fernrohr her: »Hier sind sie wieder!« und Alles stürzte hin, um auch einen Blick zu thun. Man rief auch die Mutter herbei; aber sie sagte: »Laßt mich hier stehen; ich habe es dem Herrn befohlen. Sein Wille geschehe!«

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und wie einen grauen Wolkenstreifen auf dem blassen Himmel konnte man nun die Düne wieder erkennen. »Sie kämpfen wacker!« rief der Mann am Rohre. »Ich sehe Gestalten am Strande und Taschentücher werden geschwenkt – jetzt ziehen sie die Flagge auf ... hool up! ... ho-ho-hool up! – sie legen die Stangen aus ... hool up! ... Das Boot sitzt auf dem Sande ... sie sind in Sicherheit, Gott sei Preis und Lob!«

Ein ungeheurer Freudenschrei erfüllte tausendstimmig die wetternde Luft, und zu gleicher Zeit donnerte ein Kanonenschuß in die Brandung und das stürmende Element hinein. »Wenn sie glücklich wieder an's Land gekommen,« sagte der Gouverneur, welcher vom Leuchtthurm herabgestiegen war, »so soll zu ihrem Empfang die zweite und dritte Salve abgefeuert werden.«

Aber athemlos stürzte jetzt Arthurs Onkel herbei. Er hatte, wie aus seiner Rede hervorging, geschlafen, und der Kanonenschuß hatte ihn geweckt. »Wo ist Arthur, wo ist mein Junge?« rief er, indem er sich vergeblich im Gedränge nach ihm umsah. »Kommen Sie an das Fernrohr,« antwortete ihm ein Lootse – »drüben auf der Düne können Sie ihn sehen. Eben steigt er aus dem Boot!«

Da hätte man den alten Herrn sehen sollen! Seine Knie schlotterten, seine Lippen zitterten. Er war sehr nahe daran, ohnmächtig zu werden. Da kam der Hamburger Handelsherr zu ihm und ergriff seine beiden Hände. »Sie haben einen heldenmüthigen Neffen, mein Herr,« sagte er, »Ihr Arthur ist unter Gottes Schutz glücklich hinübergekommen, und wird uns, wenn ihm der Himmel ferner beisteht, unsere Töchter glücklich zurückbringen!«

Aber der betrübte Onkel wollte keinen Zuspruch annehmen. »Er hat mich verführt zu schlafen,« wimmerte er, »und hat mich dann heimlich verlassen. Und wenn Ihre älteste Tochter nicht drüben wäre, so würde dieses Unglück nicht über mich gekommen sein. Ich armer, alter Mann! Ich wollte, daß mein Neffe Ihre Tochter mit keinem Auge gesehen hätte ... ich wollte ... ich wollte ... « und dabei schlug er sich fortwährend mit der Hand gegen die Stirn.

Nun war es Nachmittag geworden. Der Regen hatte sich ganz verzogen, der Himmel schien wieder höher, da das flachziehende Gewölk ihn nicht länger beengte. Man hatte wieder den offenen Blick über die See. Aber wie tobte diese See! Jetzt erst, da man sie in ihrer unermeßlichen Weite überschaute, bekam man zugleich einen Begriff von der feindseligen Gewalt des aufgewiegelten Elementes und von der Gefahr, in welcher das Schifflein geschwebt haben mußte, da es die Fahrt nach der Düne machte. Diese selber lag, von riesigen Schaumgürteln und breiten Brandungswirbeln umschlossen, wie eine unnahbare Festung mitten im grüngelben Gewässer; man sah durch das Fernrohr von Zeit zu Zeit Gestalten am flachen Rande, oder auf einem von den Außenhügeln. Man unterschied eine feine, blaue Rauchsäule, welche aus der Gegend, wo der Pavillon liegen mußte, in die Luft wirbelte, und von dem nächsten Windstoß gebrochen und wild auseinandergejagt wurde. Man war erfreut, sich die Verschlagenen um einen warmen Herd versammelt zu denken, wo kein Mangel an Trinkwasser und Lebensmitteln aller Art war; und die Mutter von Kläre und Angelika sagte, sie sei ganz beruhigt und sehe dem Ende mit festem Vertrauen entgegen, seit Arthur mit ihren Grüßen zu den Kindern hinübergegangen. Unverwandten Auges, wie zuvor, sah sie nach der Düne, den Gestalten am Ufer, dem Hüttenrauch; zuweilen in den Himmel, der mit seinem gelben Abendschimmer das immer noch brausende Meer und den kleinen Sandfleck darin beleuchtete. Es war ein recht wehmüthiges Bild, diesen bleichen Sand zu sehen, wie er nur wenig erhoben über dem ringsum aufgewühlten Meere, in dem kalten, gelben Zwielicht dalag; und dabei zu denken, daß nun die Nacht mit ihrem unheimlichen Dunkel kommen und die Schauer des Gewässers erhöhen werde. Man war darauf gefaßt, daß die Gesellschaft es nicht wagen werde, sich vor dem andern Morgen einzuschiffen; zumal es dann ein Leichtes war, ihnen vom Lande aus mit neuen Böten zu Hülfe zu kommen. Aber die Nacht mußte noch erduldet werden, und schon nahte sie.

Der metallene Schein des Himmels war grau und tonlos geworden; lange noch sah man in der Unsicherheit der trüben, feuchten Ferne die dunklen Umrisse der Düne, dann schwanden auch diese dahin, und nur das Tosen des Meeres, wie es nun murrend verlief, nun wieder an tausend Stellen zugleich aufbrausend sich hob, erfüllte die weite Finsterniß. Da auf Einmal schlug aus der Tiefe des Meeres und der Dunkelheit eine hohe, leuchtende Flamme in die Luft – mit freudigem Zuruf begrüßte man sie von der Insel. Denn sie brannte auf einem Sandhügel der Düne und aufs Neue erkannte man dunkle Gestalten, die sich in ihrem Scheine bewegten. Nicht lange, so waren auch an einer geschützten Stelle des Falm Theertonnen aufgehäuft und in Brand gesteckt, und wie zwei Freunde, die sich sehen, aber nicht erreichen können, begrüßten sich die beiden Flammen durch die Nacht, welche sie trennte.

Stiller aber ward es nach und nach am Falm. Denn die Erregtheit des Tages, die angestrengte Aufmerksamkeit, und die Theilnahme, die das Menschenherz wider seinen Willen oft, Gott sei Dank! empfindet, wo das Unglück ihm seine dämonische Seite zeigt: dies Alles hatte die stundenlang versammelte Menge zuletzt erschöpft und sie verlief. Einsam am sinkenden Feuer stand nur noch die Mutter, welche gelobt hatte, daß sie ihr Haus nicht ohne ihre Kinder betreten wollte. Eine hohe, einsame Erscheinung in dem matter werdenden Roth des Brandes stand sie am Eisengitter des Felsvorsprungs, über dem Wasser, welches sich unablässig in den Höhlen brach – mit dumpfem Rauschen ein- und auslaufend. Das Geheimnis der Nacht umgab sie; der finstere Zauber des entfesselten Elementes hatte aus der liebenden Mutter eine ehrfurchtgebietende Heldin, eine Priesterin gemacht, die an der Flamme steht. Schlaf kam nicht in ihr Auge, ihr Körper trotzte den ungewohnten Schauern; und über das tobende Meer hinüber sprach ihr Herz mit den beiden Kindern auf der Düne.

Gegen Mitternacht verließ auch ich den Falm und legte mich in der Koje meines kleinen Zimmers zur Ruhe. Meine Seele war unruhig, es läßt sich denken, und voll hastig wechselnder Bilder und Vorstellungen; aber die Müdigkeit besiegte die Aufregung meines Innern und ich schlief und träumte schwere Träume bis ein furchtbarer Donnerschlag mich weckte. Bestürzt fuhr ich aus meiner dunklen Koje, und neuen Unheils gewärtig an's Fenster. Aber ein blauer kühler Morgenhimmel, von dem das letzte Grauen der Nacht noch nicht völlig gewichen, mit einem verlöschende» Sternlein hier und dorten, schien herein. Rasch war ich in den Kleidern. »Sie sind in Sicht« rief mir die kleine Marie, meines Wirthes Tochter, entgegen, als ich aus meinem Zimmer trat. »Der Kanonenschuß zeigte ihre Abfahrt an!« Ich eilte ins Freie. Ueber mir wölbte sich das reine Blau des beruhigten Himmels wie die Kuppel eines Domes; und das gedämpftere Dröhnen der Wellen, das heimkehrende Brausen des Windes empfing mich wie Orgelton und Gesang der Gemeinde von Unten.

Als ich zum Falm kam, da war die Menge versammelt wie gestern. Wie eine Siegerin, aber mit feuchten Augen, stand die Mutter neben dem Fernrohr, das wieder aufs Meer gerichtet war, und viele Flaggen von buntem Zeug waren aufgezogen und flatterten lustig an den Stängen des Oberlandes und über den Dächern des Unterlandes. Nicht weit von der Düne, aber schon in hohem Wasser, erblickte man das Boot. Es hatte ein Segel aufgesetzt, und lavirte langsam gegen den Wind. Aber die Fluth war nah, und bald, unter Gottes Schutz, mußten sie eingelaufen und gerettet sein.

Indessen begann der östliche Himmel sich zu färben. Die Natur, zu ihrem festlichen Empfange, bereitete ihr schönes Morgenschauspiel vor. Gelb – aber nicht so unheimlich getrübt, als gestern, wo er Abschied nahm – hauchte der kommende Tag den Ostrand an, und das Wasser, welches darunter wogte, trug den leisen Abglanz weiter. Das Grün des Oberlandes, gestern so bleich und so traurig, fing an mit Einemmal seltsam zu schimmern; und die weiße Düne, vom röthlichen Silber der Brandung umzingelt, bekam eigenthümliche Farbentöne. Das Wasser auch schillerte bunt, so weit man es sehen konnte. Blaugrün, wo es mit dem Horizonte zusammenstieß; grüner immer grüner, von Violett überflogen, wo es in breiten Wogen dem Lande näher rollte. Die Möven verließen ihre unterirdischen Nester, und schwebten, ihre silbernen Schwingen vom Lichte des Morgens beschienen, in der blauen Luft; während das Segel weiß und einsam gegen das wechselnde Grün der Wellen geneigt, ganz plötzlich in einen Rosenschimmer getaucht schien. Näher und näher kam es, wie der Horizont im Osten seine lieblichen Farben spielen ließ – aus dem sanften Rosenschein nun in tiefen Purpur hinüberglühend. Schon erkannte man die Gestalten, und durch das Fernrohr die Gesichter.

»Sie sind es! Alle, Alle! Nicht Einer fehlt!« war der Ausruf, der vielfach wiederholt, hin- und herging in der Menge. Nun waren sie nur wenige Fadenlängen noch entfernt, und man begab sich an den Strand des Unterlandes hinunter, um ihnen zuzurufen. Aufrecht am Steuer sah man Hender Geicken stehen, seine Rosenwangen vom Rosenlicht des Himmels überflossen; seine gelben Locken, ach! und traurige Locken waren es im Sturm und Regen geworden, flogen um seine Schläfen. Traurig genug sah er selber aus; und kein Mensch konnte sich's erklären. Ich aber denke ihn verstanden zu haben den armen Jungen, zu dessen Füßen, auf der Bank, Kläre und Arthur saßen, mit selig hellen Augen einander anlächelnd, und nun, wo sie die Mutter am Strande erkannten, mit weißen Tüchern sie lustig begrüßend. Ein tausendstimmiger Freudenschrei scholl jetzt vom Ufer her; der dritte Kanonenschlag donnerte über das lichtzitternde Meer dahin, und umlodert von der Goldpracht der eben über den Meeresrand emporsteigenden Sonnenkugel, welche in einem Augenblick die rothen Küstenwände, den Sand und die See in eine einzige unabsehbare Masse von Gluth und Herrlichkeit verwandelte, betraten die von der Düne Heimgekehrten den Boden von Helgoland.

Die Gruppen theilten und zerstreuten sich. Den breiten Weg ins Oberland wandelte eine stattliche Frauengestalt, die ein schlankes Mädchen mit lang herabwallendem braunen Haar an der Linken führte, und auf ihrem rechten Arme ein Kind trug, welches seinen blonden Lockenkopf dicht an ihren Busen geschmiegt hatte. Die Glorie der Morgensonne umleuchtete sie, indem sie dahingingen, und ihre langen Schatten fielen über das mit tausend funkelnden Tropfen besprengte Grün zu ihrer Rechten. Dann stiegen sie einige Stufen hinan und verschwanden unter einer Thüre – die Mutter war ihrem Gelübde treu geblieben, und jetzt mit ihren Kindern kehrte sie nach dem fürchterlichsten Tage und der fürchterlichsten Nacht ihres Lebens in ihr Haus zurück. Drei Männer, Arm in Arm, folgten ihr; es war Arthur, dessen Onkel und der Hamburger Handelsherr, dem er seine Kinder wiedergebracht hatte.

Kurz darauf erschien auf der Steintreppe vom Unterlande ein ältlicher Herr, der mit großer Beschwerde wie es schien, und im Schweiße seines Angesichts, trotz der kühlen Morgenfrische, einen unförmlichen Klumpen, der in einen Mantel gewickelt war, die Stufen hinaufschleppte. Wie sich demnächst ergab, war es der Berliner Stadtgerichtsrath und die Bremer Capitainsfrau. Sie war, als sie, nach überstandenen Todesnöthen, den galanten Rechtsgelehrten wieder sah, vor Freude ohnmächtig geworden; und dieser hatte die Gelegenheit benutzt, die süße Bürde im Stadtgerichtsmantel zum ersten Mal an sein edles Herz zu drücken und liebend in ihre wittfräuliche Wohnung zurückzuführen.

Das Letzte, was ich an jenem Morgen sah, nachdem der Strand wieder still und menschenleer geworden, war Hender Geicken, welcher sein Boot angebunden hatte und nachdenklich dabei stehen geblieben war. Er war dem Meere zugekehrt und sah nach der Düne hinüber, die blendend weiß, mit ihrem von der Sonne vergoldeten Sande in der dunkelgrünen Meerfluth lag. Er sah auf die Wellen, welche sich zwischen ihr und der Insel funkelnd bewegten, und dann, indem sein Blick zu seinem Kahne zurückkehrte, stieß er mit dem Fuße gegen den Kiel desselben und schüttelte den Kopf. Offenbar war er während der Nacht zu der Ueberzeugung gekommen, daß es für seine Liebe zu Kläre besser und vortheilhafter gewesen wäre, wenn er die Fahrt allein gemacht hätte und daß es wol sein Schicksal gewesen sei, die Mühe des Wagestücks, nicht aber den Preis desselben mit Arthur zu theilen. Hierauf zog er sein Pfeifchen aus der Tasche, rauchte es an und blies im anscheinenden Aerger seines Herzens gewaltige Rauchwolken um sich her. Und so rauchend und kopfschüttelnd verschwand er endlich in einer Seitengasse des Unterlandes.

 

Viertes Kapitel.
Die Thürme von Hamburg.

Sieben Jahre sind vergangen. Es ist ein kühler, frischer Junimorgen, und wir befinden uns in einem Coupé des Couriers zwischen Berlin und Hamburg. Neben mir, in ein Zeitungsblatt vertieft, sitzt ein alter Herr, den ich für einen Engländer halte nach dem Schnitt seines Gesichtes, nach der Form seines Hutes und hauptsächlich wegen seiner Vatermörder. Gegenüber schläft eine Dame, welche zwei Sitze einnimmt, und nach der Corpulenz, mit welcher sie dieselben ausfüllt, zu urtheilen, ein so gemüthliches Frauenzimmer sein muß, wie eines unter der Sonne. Sie schlief schon, als ich auf dem Berliner Bahnhof in den Wagen stieg; und es scheint nicht, als ob sie diese für alle Betheiligten höchst interessante Beschäftigung sobald unterbrechen würde. Den andern Eckplatz nimmt ein feingeformtes hübsches Mädchen in der ersten und süßesten Frische der Jugend ein. Eine Fülle dunkelblonden Haares umgiebt die zarten Umrisse der weißen Stirn und das braune Auge, indem es sich in die Duftfülle der sonnigen Landschaft verliert, hat etwas lieblich Träumerisches.

Solch' einem träumenden Mädchenauge in der golden Frühe eines Sommermorgens zu begegnen, wenn das schöne Lächeln der Natur uns umgiebt, und das Säuseln des Windes unsre Seele löst und beflügelt: o, wie reizend ist das! Und doch war es dies nicht allein, was mich an den Blick des Mädchens fesselte. Unser Herz ist eine Memnonssäule; oft, wenn solch ein flüchtiger Schimmer es streift, beginnt es sein Lied aus alter Zeit zu singen. Wir haben Momente, wo eine Erinnerung, als läge sie tausend Jahre zurück, uns überkommt. Wir suchen ihre Spur, ohne sie zu finden; wir bilden uns ein, vor diesem Leben schon eine andere Wanderung gemacht zu haben, und nun zuweilen Klänge zu vernehmen, die aus der Ewigkeit herüberklingen.

Es fand sich Gelegenheit, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Das Mädchen erzählte mir, daß sie mit »Papa und Mama« den Winter in Venedig gelebt habe, und daß sie nun auf der Heimreise nach Hamburg seien. Ach! sie freue sich so auf dies liebe, liebe Hamburg und es wiederzusehen nach fünf Monaten der Trennung, sagte das Mädchen. Dann kam die Rede auf Italien und den Krieg, wobei sich der Papa mit in's Gespräch mischte. Meine Vermuthung, daß er ein Engländer sei, ward durch die Art, wie er deutsch sprach, bestätigt; und ich vernahm, daß er allerdings in der Nachbarschaft von London geboren sei, aber lange schon als Chef eines großen Handelshauses in Hamburg lebe. Dann kam die Rede auf England, auf das Wasser – auf den Seestrand, auf die See, mit den großen Schiffen die darauf fahren, und den Stürmen, die sie zuweilen aufwühlen und bewegen. Auch hier hatte die Dunkelblonde schon mehr Erfahrungen gemacht, als man bei so zarter Jugend voraussetzen durfte, so daß ich staunend ausrief: »Wie ist's denn möglich, daß Sie das Alles so genau wissen?« Worauf sie lächelte und das träumerische Auge mit der Hand bedeckte, als wolle sie den Blick desselben auf andere Bilder lenken.

Es folgte eine lange Pause. Endlich richtete sich der Vater auf, und sagte: »die Thürme von Hamburg!« Rasch auffahrend und das dunkelblonde Haar zurückwerfend sah das Mädchen aus dem Fenster – und »die Thürme von Hamburg!« jubelte sie, »Mama! die Thürme von Hamburg!«

Mama war nicht ganz so leicht zu ermuntern, als vorhin das Töchterchen. Aber die Thürme von Hamburg ließen ihr keine Ruhe; »Mama!« rief die Dunkelblonde. »Du willst doch wol nicht schlafen, wenn wir nach Hamburg kommen?«

Da aber erhob sich Mama, höchlichst entrüstet. »Slafen?« rief sie; » ich hätte geslafen? Meinst Du denn, Du kleiner Naseweis, man sliefe, wenn man die Augen geslossen hat?«

Nun war ich von der Pein des ungelösten Räthsels befreit! Nun gab die Memnonssäule, dieses Herz, welches aus sieben Jahren eine Ewigkeit gemacht hatte, den rechten Ton an.

»Sind wir denn nicht zusammen in Helgoland gewesen?« brachte ich endlich heraus, indem ich alle Drei, Einen nach dem Andern ansah.

Die Mutter, welche nicht geschlafen haben wollte, aber immer noch aussah, als ob sie träume, wußte freilich aus meiner Frage Nichts zu machen. Ihre Tochter aber, indem sie mich schärfer ins Auge faßte, sagte: ja, und jetzt sei auch ihr, als ob sie mich schon irgendwo einmal gesehen, und es könne wol auf Helgoland der Fall gewesen sein.

»Und da war eines Tages ein heftiger Sturm, und da mußten dreizehn Personen, zwei junge Mädchen aus Hamburg darunter, auf der Düne bleiben, und ... «

Jetzt war Alles, was wie Schlaf und Traum aussah, von dem Antlitz der ältern Dame gewichen; und ihr Auge bekam für einen Moment einen überirdischen Glanz, und ihren Arm um die dunkelblonde, erröthende Tochter schlingend, rief sie mit einer Thräne, welche jenen Schimmer und Glanz auslöschte: »Ja, das sind wir gewesen!«

»Und Arthur?« fragte ich.

»Arthur? Dort mein Herr, steht er,« sagte das Mädchen, indem sie auf den Perron des Hamburger Bahnhofes deutete, in welchen wir jetzt einliefen, »und die Dam» mit den beiden Kindern, die an seinem Arme steht, ist Kläre ... «

»Und die hellblonde Angelika?« fragte ich im letzten Moment, ehe die Wagenreihe hielt.

»Ist eine dunkelblonde Angelika geworden in den sieben Jahren,« sagte sie mit schelmischem Lächeln, indem sie den Wagen verließ, »und sie hat die Ehre, Ihnen eine glückliche Reise zu wünschen, mein Herr, und ...«

Dabei reichte sie mir die Hand zum Abschied und sprang, ohne den Satz zu vollenden, in die Arme ihrer Schwester.


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