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(Rede, gehalten auf der ersten Jahresversammlung der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft am 5. Oktober 1894 in Berlin)
An dem heutigen Tage, wo die Deutsche Elektrochemische Gesellschaft zum ersten Male sich als Ganzes vereinigt hat, und der daher in vielen Beziehungen vorbildlich und maßgebend für ihre Zukunft sein wird, glaube ich, daß es angemessen und richtig ist, wenn wir nicht nur der Arbeiten des Tages gedenken, sondern auch einen Blick rückwärts in die Ferne der Zeiten werfen und uns der Anfänge bewußt zu werden suchen, aus denen das entstanden ist, was sich heute so hoffnungsfreudig und frisch entwickelt. Zwar weiß ich, daß trotz einer erheblichen Zahl von Männern, die sich der Wissenschaft als solcher gewidmet haben, diese Versammlung, zu der ich zu sprechen die Ehre habe, zum größeren Teile aus Vertretern der Praxis besteht. Ich glaube aber nicht, daß von diesen der Gegenstand meiner Mitteilung, obwohl er der Praxis völlig fern steht und sich auf Personen und Arbeiten bezieht, über welche sich bald ein Jahrhundert geschlossen haben wird, als nicht hierher gehörig empfunden und daher abgelehnt werden wird. Ich glaube aus den Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, die Überzeugung entnehmen zu dürfen, daß dem heutigen Praktiker nicht mehr jenes Mißtrauen gegen die Theorie innewohnt, welches früher so verbreitet war und so sehr den Fortschritt der Praxis selbst aufgehalten hat. Aber – könnte man mir einwenden – Theorie wollen wir gerne hören und lernen und daraus zu entnehmen suchen, was für die Praxis geeignet erscheint; was soll uns aber eine geschichtliche Darstellung längst abgetaner Dinge, die wir alle auswendig wissen und die uns nichts Neues lehren können?
Ist das nun aber wirklich der Fall, kann uns die Geschichte nichts lehren, wenn sie sich auf Dinge bezieht, die in unseren geistigen Besitz mehr oder weniger vollständig übergegangen sind? Ich stelle diese Frage ohne alle Beziehung zu den idealen Zwecken der Geschichtsforschung, ganz von dem Standpunkt des eifrigen und intelligenten Praktikers, der hierhergekommen ist, um etwas zu sehen und zu lernen, was er früher oder später verwerten könnte. Als Antwort darauf möchte ich Ihnen eine Erfahrung erzählen, die ich vor einiger Zeit an mir selbst gemacht habe.
Sie haben alle eine Vorstellung von der ungemeinen Bedeutung, welche die mechanische Wärmetheorie für die gesamte Industrie gehabt hat, und Ihnen ist auch bekannt, daß die Anwendungen derselben sich um zwei Hauptsätze gruppieren, von denen alle einzelnen Ergebnisse durch unmittelbare Schlüsse ableitbar sind. Der erste dieser Hauptsätze ist einfach und wohlbekannt: es ist der Satz von der Erhaltung der Energie, dessen Entdeckung wir J. R. Mayer, und dessen Durchführung durch das ganze Gebiet der exakten Wissenschaft wir Helmholtz verdanken. Heute ist dieser Satz, um dessen Anerkennung sein Entdecker seinerzeit einen langen und heißen Kampf kämpfen mußte, eine so allgemein bekannte Wahrheit geworden, daß jeder vorgeschrittene Schüler ihn kennt und sein Ausspruch uns wie eine Selbstverständlichkeit, eine Trivialität vorkommt. Dagegen schwebt über dem zweiten Hauptsatze, der schon viel früher durch das Sadi Carnot ausgesprochen war, ein gewisses geheimnisvolles Dunkel, das um so geheimnisvoller erschien, je mehr man sich von den außerordentlich weitgehenden Konsequenzen überzeugte, welche die wenigen, die ihn verstanden und anzuwenden wußten, wie Clausius, Thomson und Kirchhoff, aus ihm zogen. Mir persönlich wenigstens ging es so; ich habe, wie Jakob um Rahel, sieben Jahre um ihn geworben, ohne näher in sein Verständnis eindringen zu können. Zwar die Rechnungen, die mit ihm verknüpft waren, ließen sich verstehen; – aber der tiefere, anschauliche Sinn, der in diesen Rechnungen versteckt lag und den jene Männer offenbar erfaßt hatten, da sie ja vermocht hatten, jene Formel zum Sprechen zu bringen und ihre bewunderungswürdigen Entdeckungen ihr zu entlocken, dieser Sinn wollte sich mir nicht offenbaren. Ich glaube gern, daß die Schuld wesentlich an mir lag; aber ich weiß auch, daß damals, vor etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren, viele mit mir an dem gleichen Übel litten.
Heute glaube ich nicht mehr daran zu leiden; ich glaube den wesentlichen Inhalt des zweiten Hauptsatzes begriffen und die so sehr ersehnte Freiheit in dem Gebrauche desselben in dem Umfange der mir beschiedenen Kräfte erworben zu haben. Und wie bin ich dazu gekommen? Durch das einfachste und nächstliegende Mittel der Welt; dadurch, daß ich jene Arbeit von Carnot, in welcher der Satz der Welt zum ersten Male mitgeteilt worden war, im Originale las. Hier ging mir mit einem Male die ganze einfache Größe dieses Gedankens auf; hier sah ich endlich, wie die analytischen Formeln, die mir immer stumm geblieben waren, nur einseitige Ausdrücke einer viel allgemeineren Beziehung waren: hier begann der Gedanke desselben, der mich bisher immer wie eine tote Form angestarrt hatte, Leben zu bekommen, und eine Fülle von neuen Einsichten tat sich mir auf. Und dies war nicht das einzige Mal, wo ich diese Erfahrung machte, wenn mir auch später keine so auffällige entgegentrat; sooft ich mich mit den grundlegenden Arbeiten unserer großen Meister unmittelbar vertraut machte, hatte ich einen Gewinn an Einsicht und Verständnis zu verzeichnen, der weit über das hinaus ging, was aus den sekundären Quellen, den Lehrbüchern und dergleichen zu entnehmen war.
Das ist also der sehr reelle Nutzen, welchen das Studium der Geschichte, und insbesondere ihrer Quellen, mit sich bringt. Vielleicht darf ich Ihnen noch eine andere persönliche Erfahrung mitteilen. Ich habe ein ziemlich großes Unterrichtslaboratorium zu verwalten, und infolge der besonderen Verhältnisse desselben wird es vorwiegend von vorgeschritteneren Chemikern und Physikern besucht, welche sogenannte selbständige Arbeiten machen, d. h. wissenschaftliche Untersuchungen, zu denen ich ihnen das Thema und die Grundzüge der anzuwendenden Methoden zu geben habe. Dadurch entsteht ein großer Verbrauch von wissenschaftlichen Problemen und Gedanken, und ich würde um solche oft in Verlegenheit geraten, wenn ich nicht ein unfehlbares Mittel hätte, mir davon zu verschaffen, wieviel ich brauche. Das Mittel ist wieder das gleiche, von dem ich vorher sprach: das Studium hervorragender Originalabhandlungen. Hier bin ich sicher, immer wieder neue Gedanken zu finden. Denn jeder Pfadfinder in einem neuen Gebiete ist gezwungen, indem er seinen Weg verfolgt, zahllose Dinge, die wohl des Verfolgens wert wären, beiseite zu lassen, um von seinem Hauptziel nicht abgelenkt zu werden. Die Zeitgenossen folgen ihm aber so schnell als möglich zu diesem Hauptziel und richten dort ihre eigene Arbeit ein; die auf den Nebenwegen verbliebenen Sachen werden kaum bemerkt, und erst viel später, wenn die wesentliche Orientierung in dem neuen Lande bewerkstelligt ist, denkt man daran, jene vergessenen Schätze zu heben. Zu diesen hat aber wieder nur der Zugang, welcher jene Arbeiten unmittelbar kennenzulernen weiß; in die Lehrbücher geht meist nur das über, was auf der Heerstraße liegt und allgemein bekannt und anerkannt ist.
Soviel über den unmittelbaren Nutzen geschichtlicher Studien. Über den unvergleichlichen intellektuellen Genuß, welchen sie vermitteln, über die Erweiterung des Gesichtskreises, die Befreiung des Urteiles, die man auf diesem Wege reichlicher als auf jedem anderen findet, will ich nichts hinzufügen; diese Dinge sind zu leicht der Gefahr ausgesetzt, daß man darüber Phrasen macht, und davon möchte ich mich heute mehr als je freihalten.
Und nun, meine Herren, bitte ich Sie, sich mit mir um ein Jahrhundert zurückzuversetzen in die Zeit, wo eben Galvani seine merkwürdigen Beobachtungen veröffentlicht hatte, welche seinen Namen durch die Jahrhunderte tragen. Es mag wenig andere Entdeckungen geben, welche in gleichem Maße wie diese das Interesse weitester Kreise wachgerufen und erhalten haben. Schien es doch, als wäre das Rätsel des Lebens gelöst, als wäre für die ›Lebensgeister‹ der damaligen Physiologie ein reales Wesen in der Elektrizität gefunden, deren Vorhandensein und Tätigkeit Galvani bei den anfangs so rätselhaften Zuckungen seines Froschpräparates nachgewiesen hatte. Unter dem Einflüsse dieser Bewegung brachte der Mann, von dem wir hier reden wollen, seine Jünglingsjahre, die Zeit der lebhaftesten Empfänglichkeit zu. Denn Johann Wilhelm Ritter ist im Jahre 1776 geboren, er war also zur Zeit, wo Galvanis Entdeckung in Deutschland bekannt wurde, 1792, sechzehn Jahre alt. Über seine Jugend habe ich wenig in Erfahrung bringen können. Er ist in einem kleinen Städtchen, Samitz bei Hainau in Schlesien, geboren und ist dann Pharmazeut geworden. Seine Verhältnisse scheinen ziemlich dürftige gewesen zu sein, wenigstens waren sie auch später, wo wir ihn in Jena studierend und bald darauf lehrend wiederfinden, nichts weniger als glänzend. Wir werden uns daher wohl eine zutreffende Vorstellung von seinen Schicksalen machen, wenn wir annehmen, daß er als Pharmazeut mit jenen alle Welt erfüllenden Entdeckungen bekannt geworden ist, und von dem unwiderstehlichen Drang des echten Forschers getrieben, mit den geringen Mitteln, die er sich in seinem Berufe hat erwerben können, nach Jena gegangen ist, um dort an der Quelle seinen Wissensdurst zu stillen und sich der Forschung hinzugeben. In einer aus Wahrheit und Dichtung gemischten Skizze seines Lebens- und Entwicklungsganges, seinen ›Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers‹, wo er in den Tagen der Bedrückung – 1809 – seine glühende Vaterlandsliebe zum Ausdruck bringt, schreibt er, indem er sich zu seinen hilfreichen Freunden wendet: ›Aber er nahm seine Pflichten gegen Euch noch höher; – er erklärte, die Nation sei seiner Tage Schöpfer gewesen. – Und in Wahrheit! Ihr werdet es verstehen, Ihr! die Ihr gewußt, daß seine frommen rechtschaffenen Eltern – echt deutschen Geblütes aus alter Zeit – ihn einst bei seinem Eintritt in die Welt mit nichts als ihrem Segen begleiten konnten; daß er schon früh den liebsten Wünschen seiner Jugend durch die Fügung in eine völlig technische Laufbahn entsagen mußte, die ihn fünf beste Jahre seines Lebens kostete und der er nur mit äußerster Verwegenheit sich wieder entwand; – und daß er hierauf untergegangen wäre, ohne Euch zu finden; – aber er hatte auf Euch gerechnet und sich nicht getäuscht.‹
In Jena fand Ritter, was er suchte, und entwickelte sich sehr schnell zu einem selbständigen und überaus originalen Forscher. Über seine inneren Erlebnisse gibt die lange Vorrede jener Fragmente reichen Aufschluß, über seine äußeren dagegen nur mehr oder weniger rätselhafte Andeutungen. Er fand Verständnis und Förderung, geriet aber bald in Widerspruch zu einem besonders tätigen älteren Freunde, vermutlich dem Hofrat Voigt, und ergriff daher mit Freuden die Gelegenheit, Jena zeitweilig zu verlassen und nach Gotha überzusiedeln. Seine einigermaßen rätselhaften Andeutungen darüber sind folgende: ›Bei mehr Ruhe ergaben sich die mannigfaltigsten Entdeckungen – lange genug gefürchtet, aber eben darum vermieden. ›Lehrer und Schüler‹ bekannten, sich geirrt zu haben, und mehr als hier bezeichnet werden kann, forderte auf, das ganze lehrreiche und so vielseitig kostspielig gewesene Verhältnis zu lösen ... Eine eigene Verbindung der Dinge, die oftmals alle unsere Scharfsicht übersteigt, brachte selbst noch mehr zustande: der Gefesselte wurde gänzlich frei. Die verschiedensten und verschiedenartigsten Personen (z. B. vier Herzöge, ein Famulus, ein Buchhändler, ein Geheimer Rat, ein Numismatikus, ein Schornsteinfeger, ein Historikus, ein Knabe, Voltas Säule, eine chemisierende Französin und noch vieles andere) waren in diese Erlösungsgeschichte aufs wunderbarste und meist selbst unwissendste darum verflochten, binnen wenigen Monaten aber war sie glücklich beendet.‹
In Gotha ist er, wenigstens was seine wissenschaftlichen Hilfsmittel anlangt, in bessere Verhältnisse gekommen. Schon vor Entdeckung der Voltaschen Säule hatte er die Gesetze der Kette klar erkannt und war daher nach dieser Entdeckung mehr als andere befähigt, sie zu verstehen und zu erweitern. Der Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg stellte ihm die Mittel zur Errichtung einer Säule von 600 Paaren zur Verfügung, und in eine kurze Reihe von Jahren, –1798 bis 1804 – die er abwechselnd in Jena, Weimar und Gotha verbrachte, drängt sich eine solche Fülle von Arbeiten zusammen, daß es fast unbegreiflich erscheint, wie ein einziger Mann, und dazu noch von schlechter Gesundheit, dies alles hat leisten können. Dazu waren noch persönliche Unerfreulichkeiten zu überwinden. Mir liegt ein Brief des Herzogs Karl August von Weimar vor, in welchem dieser einen Jenaer Professor ermahnt, den Widerstand der philosophischen Fakultät daselbst gegen Ritter zu beseitigen. Ritter war von einer Anzahl Studierender gebeten worden, Vorlesungen über den Galvanismus zu halten, und die Fakultät hatte ihm das Recht dazu verweigert, weil er nicht promoviert hatte. ›Ich bemühe Sie daher mit dem Auftrage, der philosophischen Fakultät bemerklich zu machen, daß sie doch nicht gerade jetzt ihre Formen entgegensetze, besonders da es dem Ritter für den Moment schwerzufallen scheint, das Geld daran zu wenden.«
Im Jahre 1804 besserten sich die äußeren Verhältnisse Ritters, indem er als Mitglied der bayrischen Akademie der Wissenschaften nach München berufen wurde. Doch konnte er diese bessere Lage nicht lange genießen, denn schon im Januar des Jahres 1810 erlag er einem langwierigen Lungenleiden.
Ritters gesamte wissenschaftliche Tätigkeit zu schildern, fehlt heute die Zeit und der Anlaß. Denn wenn diese sich auch so gut wie ausschließlich auf die galvanischen Erscheinungen bezieht, so ist doch ein großer, und vielleicht der merkwürdigste Teil derselben der physiologischen Elektrik gewidmet, die uns heute nicht beschäftigen kann. Doch ist gerade dieser Seite von Ritters wissenschaftlicher Tätigkeit durch Emil du Bois-Reymond in dessen Hauptwerk eine so eingehende und feinsinnige Würdigung widerfahren, daß ich mich mit um so größerem Rechte auf die uns naheliegende Seite, seine elektrochemischen Arbeiten beschränken darf.
Ein Bild von Ritters wissenschaftlicher Persönlichkeit gewinnt man am ehesten aus der erwähnten Schrift, die in seinem Todesjahre anonym erschien, den Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Unter der durchsichtigen Verkleidung, als sei er, Ritter, nur der Herausgeber der nachgelassenen Aufzeichnungen eines jüngst verstorbenen Freundes, schildert er zunächst in einer eingehenden Vorrede seinen Entwicklungsgang, aus dem oben einiges mitgeteilt worden war, und gibt dann unter fünfzehn Abschnitten nicht weniger als siebenhundert Aphorismen, Ideen, Bemerkungen, Vorschläge zu Versuchen und dergleichen, welche sich über Physik nicht allein, sondern über die mannigfaltigsten anderen Gebiete der Wissenschaft und des Lebens erstrecken. Um Ihnen eine Vorstellung von der Art dieser Bemerkungen zu geben, will ich gleich den ersten Satz anführen: ›Möchten wohl alle Körper ohne Wärme, möchte alle Materie ohne Wärme, vielleicht gar keine Verwandtschaft mehr untereinander haben? – Aber ohne Wärme möchte auch wohl gar keine verschiedene Materie, und keine überhaupt mehr stattfinden.‹ –
Und der letzte lautet: ›Unsere irdische Hülle ist nur eine Anmerkung, die der Schöpfer zum geistigen Text gemacht hat. Man liest sie zuletzt, überschlägt sie auch wohl.‹
Sie haben, meine Herren, in diesen Worten unseren Mann, wie er leibt und lebt. Kühnheit des Denkens, die ihn zu Schlüssen führt, welche die Wissenschaft erst viel später in ihren Bestand aufzunehmen gewagt hat, ist eine ausgezeichnete Seite seines Wesens, und die aus dem letzten Spruch hervorleuchtende Mißachtung des eigenen Körpers steht nicht nur auf dem Papiere, sondern er hat sie in einer Weise betätigt, die sich in der Wissenschaft nicht bald wiederfindet. Wenn ich Ihnen nur das eine Beispiel anführe, daß er, um die Wirkung eines andauernden intensiven Lichtes auf die Gesichtsempfindung kennenzulernen, eines seiner Augen, das er durch eine künstliche Vorrichtung offen hielt, dem direkten Sonnenlicht durch zwanzig Minuten ausgesetzt hat, und um sich zu überzeugen, ob die dabei beobachteten Erscheinungen zufällig oder nicht gewesen sind, alsbald auch das andere daran gewagt hat, und daß er diese gefährlichen Versuche mehrmals wiederholt hat, so sehen Sie, in welchem Maße er es mit der Wissenschaft ernst nahm. Und diese Geschichte ist nicht die einzige. Er hat unter anderem geprüft, wie stark die galvanischen Schläge sind, die man noch eben ertragen kann, und welche Empfindungen sie in den verschiedenen Körperteilen erwecken. Hierbei hat er sich nicht auf Hände, Augen, Nase und Mund beschränkt, sondern auch Körperteile galvanisch mißhandelt, die man sonst nicht zu Experimenten in Anspruch nimmt.
Neben diesen großen Vorzügen stehen freilich auch große Fehler. Als den Mann, der den größten Einfluß auf ihn gehabt hat, nennt Ritter Novalis, den Dichter, und nach ihm Herder. Von wissenschaftlichen Vorbildern meldet er nichts. Genoß er dadurch den Vorzug des durch eigene Kraft Emporgearbeiteten, daß seine Anschauungen nicht durch den Einfluß anderer beschränkt waren, so läßt er auch den Nachteil erkennen, den eine solche Entwicklung nur zu leicht mit sich bringt. Es fehlte ihm die Schulung des kritischen Denkens, welche mitten in der Freude des Schaffens sich immer wieder die Frage stellt: kann das Geschaffene auch die strenge Prüfung bestehen, ohne welche in der Wissenschaft nichts Bestand hat? Er verfügt über einen solchen Überschuß von Ideen, daß ihm nicht die Zeit bleibt, trotz fast übermenschlicher Anstrengung sie alle zur Ausführung zu bringen, und so gewöhnt er sich leider mehr und mehr daran, die Ideen für die Hauptsache und ihre Prüfung an der Erfahrung für entbehrlichen Ballast zu halten. Gegen das Ende seines Lebens ist dieser Zug bereits pathologisch geworden; Ritter erklärt, daß er im Besitze eines höheren Kalküls sei, der ihn der Arbeit im einzelnen enthebe und ihm höhere Einsichten der Natur verschaffe, als sie dem gewöhnlichen Physiker eigen seien.
Im höchsten Maße wird dieser verderbliche Zug durch eine mächtige Strömung jener Zeit unterstützt, welche nicht nur dies eine Opfer gefordert hat und unter deren Folgen die deutsche Naturwissenschaft noch ein halbes Jahrhundert gelitten hat. Es ist dies die Naturphilosophie unseligen Andenkens, jene Anschauung, nach welcher die Natur sich a priori durch die Tätigkeit der ›Vernunft‹ erkennen lasse, so daß alle physische Erkenntnis als bloße ›viehische‹ in den Hintergrund zu treten habe, wo jene höhere Stimme spricht.
Ritter war dieser geistigen Pest nicht von vornherein verfallen. Seine ersten Arbeiten lassen zwar mancherlei erkennen, was uns Naturphilosophie in jenem schlechten Sinne zu sein scheint, doch zeigt ein Vergleich mit zeitgenössischen Arbeiten, daß wir es hier wesentlich mit stilistischen Unarten zu tun haben, welchen fast alle Zeitgenossen huldigten. Der experimentelle Teil dieser Arbeiten ist noch mit Geduld – zuweilen ganz außerordentlicher Geduld – ausgeführt, und die weitreichenden Schlüsse, die er aus ihren Ergebnissen zieht, haben fast alle mehr oder weniger später ihre Rechtfertigung durch die Erfahrung erhalten. Aber nach und nach macht sich, wohl gleichzeitig mit dem Fortschreiten der heimtückischen Krankheit, welcher er so früh zum Opfer fiel, eine Wendung zum Schlimmeren geltend. Immer schwülstiger wird der Stil, immer unvollständiger die Versuche und immer hastiger die Schlüsse, und zuletzt sehen wir den feinsinnigen Beobachter, der die verwickeltsten Erscheinungen der Nervenerregbarkeit bei dem zu seinen Versuchen dienenden Froschpräparat in einer Weise zu deuten wußte, die ein halbes Jahrhundert später den genauesten Kenner dieser Dinge, Emil du Bois-Reymond, zur Bewunderung hinriß, wir sehen diesen Mann Dinge behaupten, die der einfachste Versuch als irrtümlich erweist. Dieser Wandel fällt ungefähr mit der Zeit seiner Übersiedlung nach München zusammen, und die Verhältnisse, in welche er dort eintrat, waren nur zu geeignet, ihn in der Verirrung zu bestärken. Denn dort geriet er unter den unmittelbaren Einfluß des Schöpfers der Naturphilosophie, Schelling, und die Frucht dieses Einflusses erkennen wir in seinen dort betriebenen Bemühungen, der Lehre von der Wünschelrute, den Wasserfühlern und Erzsuchern eine wissenschaftliche Begründung zu geben.
Wir können somit für die eigentlich wissenschaftliche Tätigkeit Ritters nur die Zeit von 1797, wo er seine erste Arbeit über den Galvanismus der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena vorlegte, bis zum Jahre 1804, wo er nach München übersiedelte, also die kurze Spanne Zeit von sieben Jahren, rechnen. Von der Fülle der Arbeit, welche er in diese Zeit zusammenzudrängen gewußt hat, will ich versuchen, Ihnen, meine Herren, eine Vorstellung zu geben.
Jene erste Abhandlung enthält wesentlich eine auf eigene Versuche gestützte Kritik der Hypothesen über die Ursache der Galvanischen Erscheinungen, welche ihn zu dem Ergebnisse führte, daß von allen vorgeschlagenen Anschauungen allein die von Volta haltbar sei, daß es sich um Elektrizität oder ein dieser sehr ähnliches Agens handele, welches nicht durch die organische Beschaffenheit des Froschpräparates, sondern durch die Berührung verschiedenartiger Stoffe erregt wird. Insbesondere war aus den Erörterungen über diese Fragen hervorgegangen, daß auch sehr geringe Unterschiede in der Beschaffenheit der sich berührenden Stoffe genügen, um an einem empfindlichen Frosche Zuckungen hervorzurufen. Daraus zog Ritter alsbald den Schluß, daß überall, wo verschiedene Stoffe sich berühren, auch galvanische Ströme vorhanden sein müssen, daß also auch der Organismus, in dem überall verschiedene Stoffe aneinander grenzen, der Sitz zahlloser elektrischer Ströme sein müsse. Soweit ist alles einwandfrei, und Sie wissen, daß der Aufgabe, diese Mannigfaltigkeit zu entwirren, ein Mann, der eine der glänzendsten Zierden der hiesigen Universität ist, sein ganzes Leben gewidmet hat. Aber nun zeigt sich alsbald die andere Seite Ritters, seine Neigung zu den weitgehendsten Schlüssen: ›Gesundheit ist also zweckmäßige Harmonie der Aktionen dieser Ketten?‹
›Krankheit – Disharmonie?‹ –
›Die Kunst des Arztes, was ist sie anderes, als – Wiederherstellung der vorigen Harmonie, indem er die Aktion dieses oder jenes Kettensystems vermehrt oder vermindert?‹ –
In dieser Schrift befindet sich bereits die Andeutung einer fundamentalen Entdeckung, die allein Ritters Namen unsterblich machen würde. Genauer findet sie sich ausgesprochen in dem auf Grundlage des eben erwähnten Vortrages ausgearbeiteten Buche vom folgenden Jahre: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß im Tierreich begleite. Es ist Tatsache, daß die von Volta aufgestellte elektrische Spannungsreihe der Metalle mit der Reihe ihrer chemischen Verwandtschaft für Sauerstoff zusammenfällt. Diese Tatsache war genügend, um den galvanischen oder vielmehr Voltaschen Erscheinungen für immer ihre chemische Grundlage zu sichern, und mit dieser Entdeckung war der Anfang der wissenschaftlichen Elektrochemie gegeben.
Um die ganze Bedeutung zu würdigen, welche diese Tatsache für die Wissenschaft gehabt hat, muß man wissen, daß Volta jenen Zusammenhang mit den chemischen Eigenschaften der Metalle nicht nur nicht gesehen hat, sondern auch in der Folgezeit von einem solchen Zusammenhange nie etwas hat wissen wollen. Ja, er hat mit einer ihm sonst nicht eigenen Heftigkeit wiederholt allen und jeden derartigen Zusammenhang in Abrede gestellt, und wenn es nach ihm gegangen wäre, so gäbe es heute keine elektrochemische Gesellschaft, wie überhaupt keine Elektrochemie.
War Ritter hier in einen – übrigens erst viel später zutage tretenden – Gegensatz zu dem von ihm über alles verehrten Volta gelangt, so fand er sich mit ihm um so enger zusammen in seiner nächsten größeren Arbeit, seinem ›Beweis, daß der Galvanismus auch in der anorganischen Natur zugegen sei‹, welcher wieder erst als Vortrag vor der Jenaer Gesellschaft und sodann in sehr erweiterter Gestalt in seinem zweibändigen Werke: ›Beiträge zur näheren Kenntnis des Galvanismus‹ mitgeteilt wurde. Galvani und mit ihm die meisten seiner Zeitgenossen hatten die Erscheinungen am Froschpräparat als Äußerungen einer besonderen tierischen Elektrizität angesehen, und Volta war seinerzeit fast der einzige, welcher ihre allgemeine Beschaffenheit behauptete. In Deutschland hatte insbesondere Alexander von Humboldt eine Meinung mit großem Erfolge zur Geltung gebracht, die sich von der Galvanis nur dadurch unterschied, daß er die elektrische Natur des galvanischen Fluidums leugnete. Hiergegen war Volta mit physikalischen Versuchen aufgetreten, indem er das Vorhandensein elektrischer Spannungen bei der Berührung verschiedener Stoffe, insbesondere Metalle, mit Hilfe eines Kondensators erwies. Ritter ergänzte diesen Nachweis auf das glücklichste, indem er das Auftreten chemischer Vorgänge in Fällen, wo die Bedingungen der galvanischen Wirkungen vorhanden waren, und ihr Ausbleiben, wo letztere fehlten, auf das überzeugendste nachwies. Sein Hauptversuch ist folgender: Auf eine Glasplatte werden zwei Stück Zink und Silber oder Kupfer gebracht, so daß jedes Paar der ungleichen Metalle gleichzeitig in einen auf der Platte vorhandenen Wassertropfen tauchte. Eines der Metallpaare ist durch einen darübergelegten Leiter der Elektrizität verbunden, das andere nicht. Wenn der Versuch so etwa vier Stunden gestanden hat, so findet man das Zink, welches mit dem anderen Metalle verbunden war, stark oxydiert, das andere, das im übrigen unter ganz gleichen Bedingungen sich befunden hatte, ist dagegen kaum merklich angegriffen.
Die Bedeutung dieses Versuches, den Ritter noch mannigfaltig abänderte, liegt besonders darin, daß er im Jahre 1799, also noch vor Entdeckung der Säule, angestellt und richtig gedeutet worden ist. Denn ich will daran erinnern, daß zu jener Zeit nur die einfache Kette bekannt war, daß die Wissenschaft also über keine größere elektromotorische Kraft als etwa ein Volt verfügte. Unter solchen Umständen war es allerdings keine geringe Sache, die chemische Wirkung der Elektrizität zweifellos nachzuweisen, und die Sicherheit, mit der Ritter seinen Beweis führte, verdient unsere ganze Bewunderung.
Im folgenden Jahre teilte nun Volta seine grundlegende Entdeckung mit, daß die elektromotorische Kraft der Kette sich durch den Aufbau zur Säule bis in das Unbegrenzte steigern läßt. Niemand war besser vorbereitet als Ritter, die ganze Tragweite dieser Entdeckung zu erkennen, hatte er doch selbst in seinem eben genannten Buche das Prinzip der Addition, auf dem die Säule beruht, mit aller nur wünschenswerten Klarheit ausgesprochen und nur versäumt, die praktische Anwendung davon zu machen. In seiner ersten Mitteilung über die Säule schilt er sich selbst weidlich wegen dieses Mangels an Weitblick, aber, und das ist charakteristisch für seine selbstlose Art, nur darum, daß dadurch die Wissenschaft einige Jahre länger dieses außerordentliche Hilfsmittel der Forschung hat entbehren müssen. Kein Wort des Neides gegen Volta, keine Spur einer Prioritätsreklamation entstellt seine Äußerungen; immer ist es nur die Wissenschaft, die er im Auge hat.
Mit dem größten Eifer wurde nun ›batterisiert‹. Die Zersetzung des Wassers an den Poldrähten, das rätselhafte, erst in unseren Tagen ganz verstandene gleichzeitige Auftreten des Sauerstoffes und Wasserstoffes an zwei fast beliebig weit getrennten Orten, die Zerlegung der Metallsalze, – alle diese Entdeckungen, welche die Namen Nicholson und Carlisle, Cruikshank, Davy berühmt gemacht haben, sind fast gleichzeitig und völlig unabhängig von Ritter beobachtet worden; nur durch den Umstand, daß Volta seine Entdeckung zuerst dem damaligen Präsidenten der Royal Society, Banks, mitteilte, welcher seinerseits Voltas Brief monatelang bei seinen Bekannten und Freunden zirkulieren ließ, bevor er ihn veröffentlichte, hatten die Engländer den zeitlichen Vorsprung vor Ritter, welcher ihnen gestattet hat, ihren Namen mit jenen wichtigen Tatsachen zu verbinden.
Bei dieser Gelegenheit erscheint auch der erste Fall, wo Ritter sich, durch theoretische Vorstellungen geleitet, in einen Irrtum verwickelte, der auf ungenauer und zu hastiger Arbeit beruhte. Er glaubte, in der konzentrierten Schwefelsäure ein Mittel gefunden zu haben, welches den Übergang des elektrischen Stromes von einem Metall zu einem Leiter ohne gleichzeitige Zersetzung möglich macht. Indem er nun zwei Wassermassen durch konzentrierte Schwefelsäure und einen Golddraht trennte und dann der Elektrolyse unterwarf, erhielt er auf der einen Seite Wasserstoff, auf der anderen Sauerstoff, ohne daß die beiden Wassermassen miteinander in Austausch treten konnten. Die beiden Gase konnten somit nicht von demselben Wasser stammen, und die Annahme, daß bei diesem Versuch Wasser zersetzt wird, war unrichtig, vielmehr war das Wasser einerseits ganz in Sauerstoff, andererseits ganz in Wasserstoff verwandelt. Nun, meine Herren, wir wissen jetzt, daß Ritters Voraussetzung falsch war, daß auch die Schwefelsäure wie jeder andere Elektrolyt nur unter gleichzeitiger Zersetzung leitet, und Ritter versäumte nicht, seinen Versuch zurückzunehmen, als ihm dessen Unrichtigkeit nachgewiesen wurde. Seine Schlußfolgerung, daß Sauerstoff gleich Wasser plus positiver Elektrizität und Wasserstoff gleich Wasser plus negativer ist, hielt er freilich aufrecht und verwickelte sich hierdurch in eine ausgedehnte Polemik. Die Schwierigkeit, über die er nicht hinweg konnte, war das einzelne Auftreten der beiden Produkte an den Polen; weder er, noch seine Zeitgenossen, konnten sich ein Bild davon machen, auf welche Weise z. B. der Wasserstoff des Wassers, welches am positiven Pole seinen Sauerstoff abgegeben hatte, unsichtbar an den negativen Pol gelangen konnte, um erst dort als Gas zu erscheinen. Es ist dies allerdings keine geringe Schwierigkeit; auch die einige Jahre später von Grotthus aufgestellte Theorie der abwechselnden Verbindungen und Wiederzersetzungen im Elektrolyt ist, wie Clausius nachgewiesen hat, mit den Tatsachen in Widerspruch, und erst die von diesem Forscher angedeutete, von Arrhenius in aller Konsequenz entwickelte Theorie der freien Ionen war imstande, uns ein zutreffendes Bild von den Vorgängen zu geben.
Aus der Erkenntnis des Zusammenhanges der chemischen mit den galvanischen Erscheinungen versäumte Ritter nicht, alsbald die weitreichenden Schlüsse zu ziehen, die für ihn so charakteristisch sind, und er sprach es alsbald aus, daß künftig das System der Chemie und das des Galvanismus identisch sein würden. Auch diese Voraussage hat er in das ihm gewohnte Gewand naturphilosophischer Theoreme gekleidet; wenn auch deren Beweise von uns als Schein geachtet werden müssen, so bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß er die wissenschaftliche Entwicklung, welche die Chemie bald darauf für ein halbes Jahrhundert nahm und jetzt wieder genommen hat, als der erste richtig vorausgesehen hat.
So weite Ausblicke forderten zu eifrigster Arbeit auf, und Ritter war nicht der Mann, andere Sorgen als die um die Entwicklung der Wissenschaft zu hegen. Mit glühendem Eifer wurde weiter geforscht, und eine flüchtige Aufzählung der gewonnenen Ergebnisse wird Ihnen, meine Herren, zeigen, wieviel von dem, was jetzt unser geistiges Eigentum ist, zu jener Zeit von dem einen Manne geschaffen wurde. Zuerst wurden die elektroskopischen Verhältnisse der Säule klargelegt und das Verhältnis der Wirksamkeit zur Polspannung erforscht. Ritter kam hier zu gleichen Ergebnissen wie in einer gleichzeitigen Arbeit der Berliner Professor Erman. Dann wies er die polare Zersetzung der Elektrolyte durch den Strom der gewöhnlichen Elektrisiermaschine nach. Zwar hatten schon lange vorher die ›Amsterdamer Chemike‹ die Zerlegung des Wassers auf gleiche Weise nachgewiesen; sie hatten aber beide Gase gemengt an beiden Elektroden erhalten, und erst Ritter zeigte, daß sie sich getrennt erhalten lassen, wenn man den Versuch angemessen einrichtet. Noch überzeugender wird der Versuch, wenn man statt des Wassers Metallsalzlösungen zersetzt; insbesondere zeigte Ritter die Ausscheidung des Silbers an der Kathode und die Oxydation von Messingdrähten an der Anode. Gewöhnlich wird bei diesen Versuchen nur der Name Wollaston genannt, der gleichzeitig ähnliche angestellt hat; doch muß man Ritter das gleiche Recht an ihnen zusprechen, da beide unabhängig gearbeitet und gleichzeitig publiziert haben.
In diese Zeit fällt noch eine andere grundlegende Entdeckung Ritters: der Nachweis unsichtbarer Strahlen außerhalb des Violetts des Sonnenspektrums. Er entdeckte diese ultravioletten Strahlen mittelst Chlorsilber, nach einer allerdings noch sehr primitiven photographischen Methode. Sie alle wissen, daß auch noch heute kein besseres Mittel bekannt ist, in dies Gebiet des Unsichtbaren einzudringen, als die Anwendung lichtempfindlicher Schichten. Doch liegt diese Sache zu weit von unserem heutigen Zwecke ab, als daß ich dabei verweilen könnte.
Außer den genannten Arbeiten brachte das Jahr 1801 noch zwei lange Abhandlungen in der Form von Briefen an den Herausgeber der Annalen der Physik, Gilbert, in welchen zahlreiche einzelne Beobachtungen und noch mehr theoretische Auseinandersetzungen enthalten sind, aus denen sich indessen für unseren Zweck nichts Besonderes herausheben läßt. Wir können sie um so eher übergehen, als wir alsbald wieder Wichtigeres zu betrachten haben werden.
Ritter war durch seine Arbeiten schnell genug aus dem unbekannten Apotheker zu einem namhaften Forscher geworden, dessen Ruf vielleicht durch das, was uns an seinen Schriften heute abstößt, die naturphilosophische Einkleidung, zu jener Zeit besonders gewonnen hatte. Als der den Wissenschaften besonders geneigte Herzog Ernst II. zu Sachsen- Gotha daher den Wunsch hegte, sich durch eigene Anschauung mit den alle Welt erfüllenden Wundern der Voltaschen Säule bekannt zu machen und dabei das Seine für den Fortschritt dieses vielversprechenden Gebietes zu tun, fiel seine Wahl auf Ritter als den geeignetsten Mann dazu, und er berief ihn nach Gotha, um dort auf seine Kosten Säulen zu bauen und Versuche mit ihnen anzustellen. Ritter nahm mit Freuden an; es ist dies ein Ereignis, von dem wir vorher die Andeutungen aus den Fragmenten kennengelernt haben, und die Zeit, die nun folgte, ist ohne Zweifel die arbeitsreichste und glücklichste seines Lebens gewesen. Er bemerkt selbst später, daß die Veröffentlichung aller seiner Ergebnisse, die er in zwei Monaten fast ununterbrochener Arbeit Tag und Nacht gewonnen hatte, ihm etwa zwei Jahre Schreibarbeit kosten würde.
Leider dauerte dieser glückliche Zustand nicht allzu lange. Der Herzog starb bald, nachdem eben eine sechszöllige Säule von 600 Paaren hergerichtet war, und Ritter kehrte nach Jena zurück, mit der Bearbeitung seiner Ergebnisse beschäftigt, und wie es scheint, nicht ohne Sorgen um seinen Lebensunterhalt, die durch seine in diese Zeit fallende Verheiratung sich noch dringender gestalteten. Seine wissenschaftliche Tätigkeit litt darunter nicht.
Die erste Frucht seiner Arbeiten in Gotha war die Erfindung der trockenen Säule. Gewöhnlich wird diese Erfindung de Luc oder Zamboni zugeschrieben, doch sind deren Mitteilungen zehn Jahre später gemacht. Auch ist Ritter seinen Nachfolgern darin überlegen, daß er die Theorie dieser Säule vollkommen klargelegt hat; er wußte ganz genau, daß die trockene Säule nur wirkt, solange sie eben nicht trocken ist: sie ist nichts als eine gewöhnliche Voltasche Säule mit sehr großem Widerstände, in welcher die Spannungserscheinungen unvermindert vorhanden sind, dagegen die von der Leitung abhängigen nur in verschwindend geringem Grade. Besonders beachtenswert ist, daß es sich hier nicht um eine Zufallsentdeckung handelt, sondern Ritter hat seine trockene Säule mit der ausgesprochenen Absicht gebaut, die Abweichung ihrer Wirkungsweise von der der gewöhnlichen Säulen zur Aufklärung der Gesetze beider zu benutzen. Unter den weiteren Ergebnissen erwähne ich weiter eine Untersuchung über die Bewegungserscheinungen des Quecksilbers im Kreise der Batterie. Es sind dies dieselben Vorgänge, welche Lippmann zur Konstruktion seines so überaus empfindlichen und brauchbaren Kapillarelektrometers geführt haben; Ritter hat sie, nachdem Volta eine flüchtige Bemerkung darüber gemacht hatte, zum erstenmale wissenschaftlich untersucht und die Bedingungen der Erscheinung klar erkannt. Diese Arbeit ist von um so größerem Interesse, als später gerade an diese Erscheinungen sich die Lösung der fundamentalen Aufgabe der Elektrochemie, die Bestimmung der wahren Spannungen, die zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Voltaschen Kette bestehen, hat knüpfen lassen.
Den Hauptbestandteil der Arbeiten Ritters aus dieser Zeit bilden seine Untersuchungen über den Einfluß des elektrischen Stromes auf die verschiedenen Sinnesorgane, die ich schon vorher als Zeugnisse für die Rücksichtslosigkeit angeführt habe, mit der Ritter auch seinen eigenen Körper zu experimentellen Zwecken in Anspruch nahm. Wir können auf diese Arbeiten, deren eigentlichen Wert vielleicht erst eine ferne Zukunft wird schätzen können, hier nicht eingehen; bei ihnen macht sich zudem die naturphilosophische Neigung Ritters in so hohem Maße geltend, daß eine gewisse Selbstüberwindung dazu gehört, ihm durch den Wust von Polaritäten und dynamischen Wirkungen zu folgen, unter denen er seine Versuchsergebnisse begraben hat.
In das folgende Jahr 1803 fällt die Entdeckung, welche am engsten mit Ritters Namen verknüpft ist, die der Ladungssäule, oder, um einen Ihnen geläufigeren Namen zu gebrauchen, des Akkumulators oder elektrischen Sammlers. Die Geschichte dieser Entdeckung ist merkwürdig genug. In den oben erwähnten Arbeiten war Ritter unter dem Einflüsse des Schlagwortes der Naturphilosophen, Polarität, auf den Gedanken geraten, daß sich alle physiologischen Wirkungen der Säule dahin formulieren lassen, daß bei der Öffnung des Stromes gerade das Entgegengesetzte von dem eintritt, was bei dem Schlüsse stattgefunden hatte. Es scheint unzweifelhaft, daß Ritter nicht selten den Tatsachen Zwang angetan hat, um sein Schema durchführen zu können; in dem Falle aber, der uns beschäftigt, ließ ihn sein Schema erwarten, daß, nachdem er einen Strom durch ein Leitersystem durchgeleitet hatte, nach dem öffnen desselben ein entgegengesetzter Strom wieder aus dem Leiter heraustreten müßte. Bei rein metallischer Verbindung geschah nichts davon, wohl aber, wenn in dem Kreise eine Abwechslung von Leitern erster und zweiter Klasse vorhanden war.
Ganz neu war Ritters Entdeckung nicht; die Tatsache der Polarisation war etwas früher schon von einem französischen Forscher namens Gautherot beobachtet worden, indem dieser fand, daß zwei Platindrähte, die zur Wasserzersetzung gedient hatten, hernach auch ohne die Anwendung verschiedener Metalle auf der Zunge die bekannten galvanischen Geschmacksempfindungen hervorriefen. Diese waren zu jener Zeit neben dem Froschpräparat das einzige empfindliche Galvanoskop. Gautherot schloß aber nicht, daß es sich hier um eine neue Klasse elektrischer Erscheinungen handelt, sondern daß die Erscheinungen von einem Agens herrührten, das von der Elektrizität verschieden sei, da es am Metall haften bleibt, auch wenn dieses ableitend berührt wird.
Ritter warf sich mit gewohntem Feuereifer auf das neue Gebiet und benutzte insbesondere die Lehre, welche ihm Voltas Entdeckung der Säule gegeben hatte; er baute alsbald auch eine Säule aus Kupfer und feuchten Pappscheiben und erhielt, wie erwartet, mit dieser viel deutlichere Ladungserscheinungen als mit einem einfachen Plattenpaar. Er stellte eine ganze Reihe von Eigenschaften seiner Ladungssäule fest, ermittelte, daß die Ladung zwar einige Zeit, aber nicht dauernd an den Metallen haften bleibt, wodurch gleichzeitig Voltas Auffassung widerlegt wurde, daß die Erscheinungen nur von der Bildung von Säure und Alkali an den Platten herrühren, fand, daß die Metalle um so besser sich laden lassen, je mehr sie sich dem negativen Ende der Spannungsreihe nähern, und verfehlte nicht, alsbald auch sehr weitreichende Erörterungen über die dadurch gewonnene Möglichkeit, die Wirkung der Säulen ins unbegrenzte zu steigern, anzustellen.
Ritters Entdeckung erregte verdientermaßen bedeutendes Aufsehen und hätte wohl den von Napoleon gestifteten galvanischen Preis verdient, um den er sich damals bewarb. Übrigens scheint auch Ritter zu jener Zeit einiges aus seinem Aufenthalt am Gothaer Hofe gelernt zu haben, denn er wußte seine Entdeckung durch einen überaus ›eleganten‹ Versuch, wie wir heute sagen würden, dem allgemeinen Interesse näherzubringen. Er ließ sich ein Goldstück geben, ›galvanisierte‹ dieses durch die Einschaltung in einen Stromkreis zwischen zwei nassen Pappen und gab es dann dem Besitzer zurück, der es zu den anderen, die in seinem Besitze waren, tun mußte. Nach einiger Zeit bat er sich den ganzen Vorrat an Goldstücken wieder aus und prüfte eines nach dem anderen mit Hilfe des präparierten Froschschenkels. Hierbei bewirkte nur das polarisierte einen Strom und dementsprechend eine Zuckung des Präparates, so daß er den galvanisierten Louisdor unter beliebig vielen anderen herauserkennen konnte. Die Sache machte in dieser Form einen großen Effekt und ging in die verschiedensten Zeitschriften über.
Das folgende Jahr bringt eine Entdeckung, von der die wenigsten wissen, daß sie von Ritter herrührt. Ihnen allen ist bekannt, daß eine ganz außerordentlich kleine Menge Zink genügt, um einer großen Menge Quecksilber die elektromotorische Stellung des Zinks zu geben. Dies ist zuerst von Ritter beobachtet und untersucht worden, und zwar bei Gelegenheit einer Arbeit über die elektromotorische Stellung der Legierungen im Verhältnis zu der der Bestandteile, die durch das Palladium veranlaßt war, welches damals gerade von einem englischen Chemiker Chenevix als eine Verbindung von Quecksilber mit Platin ausgesprochen wurde. Die interessanten Nebenumstände, welche mit dieser Sache verknüpft sind, kann ich hier nicht auseinandersetzen, zumal ich dies an einem anderen Orte bereits getan habe.
Zu derselben Zeit beschäftigte sich Ritter mit einer anderen Erscheinung, die von dem Chemiker Buchholz zufällig entdeckt, von ersterem als galvanische erkannt worden ist und ihm zu einer ganzen Anzahl feinsinniger Bemerkungen Anlaß gibt. Auch in diesem Falle finden wir unseren Forscher mit einem Vorgange beschäftigt, an welchen sich später eine außerordentlich folgenreiche Entwicklung angeschlossen hat. Denn dieser selbe Versuch von Buchholz ist derjenige, an welchen Helmholtz seine theoretischen Untersuchungen angeschlossen hat, in deren Verfolg er lehrte, aus den Dampfspannungen der angewandten Lösungen die elektromotorische Kraft der entsprechenden Konzentrationskette zu berechnen, und so den Weg zeigte, auf welchem gegenwärtig das Problem der Voltaschen Kette im wesentlichen gelöst worden ist. Der Versuch besteht in folgendem: Man schichtet über eine konzentrierte Lösung von Zinnchlorür eine verdünnte Lösung desselben Salzes, oder auch verdünnte Salzsäure, und taucht einen Stab von Zinn in die Flüssigkeiten so, daß er die Grenzfläche der beiden Lösungen durchschneidet. Ist dies geschehen, so sieht man in kurzer Frist in der konzentrierten Lösung metallisches Zinn sich ausscheiden, während sich in der verdünnten Zinn auflöst. Dies dauert so lange, bis beide Lösungen von gleicher Stärke sind, und die Ursache des Vorganges ist, daß das ursprüngliche System für sich nicht beständig ist und erst zur Ruhe gelangen kann, wenn die Konzentration überall gleich ist. Da nun durch den galvanischen Vorgang dieser Endzustand schneller erreicht werden kann als durch die Diffusion, so tritt eben der erste ein. Ritter hat nun die elektrische Natur dieser ihrem Entdecker höchst rätselhaften Erscheinung richtig erkannt und dabei das höchst wichtige, noch heute nicht genügend beachtete Prinzip ausgesprochen, daß ein chemischer Vorgang, um elektrisch wirksam zu sein, in zwei voneinander räumlich geschiedene, aber zeitlich aneinander gebundene Prozesse zerlegt werden muß. So ist z. B. im Daniellschen Element der chemische Vorgang die Ausfällung von Kupfer aus seiner Salzlösung durch metallisches Zink; damit dieser Vorgang aber elektrisch wirksam wird, darf man nicht die Ausscheidung des Kupfers und die Lösung des Zinks an einer und derselben Stelle stattfinden lassen, wie das beim einfachen Eintauchen des Zinks in die Kupferlösung eintreten würde, sondern beide Prozesse finden an verschiedenen Orten statt, die Auflösung des Zinks an der einen und die Fällung des Kupfers an der anderen Elektrode.
Die Gesamtheit seiner aus unzähligen Versuchen gewonnenen Anschauungen faßte Ritter im Jahre 1805 in ein umfassendes Werk zusammen, welchem er den Titel ›Das elektrische System der Körper‹ gab. Bei der Durchsicht desselben nehmen wir wahr, daß er den Höhepunkt seines Schaffens bereits überschritten hat. Zwar enthält es wieder eine Fülle wertvoller Beobachtungen, und an Weite und Größe seiner Gesichtspunkte übertrifft es die vorhergegangenen; aber – und darin merkt man den Verfall – die Selbstkritik, welche die schweifende Phantasie immer wieder zügelt, daß sie die Bahn der Wirklichkeit nicht verläßt, ist ihm unter dem narkotischen Einflüsse der Naturphilosophie und unter dem Fortschreiten der Krankheit, die ihn verzehrte, mehr und mehr verlorengegangen. Und so sehen wir, daß der gesunde Grundgedanke seines Werkes, welcher der Leitgedanke seines ganzen wissenschaftlichen Arbeitens war, – daß nämlich die chemischen Eigenschaften der Stoffe in engstem Zusammenhange mit ihren elektrischen stehen – ein Gedanke, welcher bald hernach in dem elektrochemischen System von Davy und Berzelius seine teilweise Verwirklichung fand, – wir sehen, daß dieser Gedanke durch unrichtige Behauptungen, durch fehlerhafte Schlußreihen verdeckt und der Mißachtung preisgegeben wird, und daß auf diese Weise Ritter selbst für lange Zeit den Acker zerstört, für dessen Urbarmachung er früher und mehr als irgendeiner seiner Zeitgenossen gearbeitet hatte.
Über die letzten Lebensjahre Ritters lassen Sie mich kurz hinweggehen. Er kam nach München, wurde dort in der mystischen Richtung, der er ohnehin zuneigte, bestärkt und griff die ihm von seinem Freunde Weiß gesandte Nachricht, daß sich in Gargnano am Gardasee ein Mann befinde, welcher die Fähigkeit besäße, unter der Erde verborgene Wassermengen und Erzlager zu fühlen, mit Begierde auf. Er veranlaßte den Minister Montgelas, ihm die Mittel zur Prüfung der Sache zu bewilligen, und brachte bald hernach den Mann, Campetti mit Namen, nach München. Durch die geheimnisvolle Art, mit der die Sache behandelt wurde, ward bald die Neugier weitester Kreise rege gemacht, und ein Spuk, der auf das lebhafteste an das Treiben der Tischrücker und Spiritisten gemahnt, begann sein Wesen zu treiben und, wie man gestehen muß, unter tätiger Mitwirkung Ritters, der von der Realität der Erscheinungen völlig überzeugt war und mit seiner gewohnten rücksichtslosen Selbstaufopferung für das eintrat, was er für wahr hielt. Zerwürfnisse mit der Akademie blieben nicht aus und verbitterten die letzten Lebenstage Ritters. Am 23. Januar 1810 ging der Mann, der im Leben sich nie Ruhe hatte gönnen mögen, zur ewigen Ruhe ein. Er hatte nur ein Alter von 33 Jahren erreicht.
Meine Herren! Das Bild, welches wir eben an unserem Auge haben vorüberziehen sehen, ist nicht das eines jener Heroen der Wissenschaft, deren Arbeit und Persönlichkeit in geschlossener Ruhe, in klassischer Strenge vor uns steht und an deren Größe wir staunend emporblicken, ohne den Mut zu haben, es ihnen gleichtun zu wollen. Nein, wir sahen einen Mann, der zeitlebens an den Schwierigkeiten getragen hat, welche die Ungunst äußerer Verhältnisse, die Unausgeglichenheit einer in stetem Kampf um das bloße Leben erworbenen Bildung ihm in den Weg gelegt haben. Kein Buch hat er hinterlassen, das man dem Schüler in die Hand geben kann mit der Weisung: hier findest du das, was du brauchst; – kaum eine seiner zahlreichen Entdeckungen hat er in eine Form prägen dürfen, welche unverändert die Jahrhunderte zu überdauern fähig wäre. – Und dennoch nehmen wir von ihm mit dem Gefühle Abschied, daß wir einem großen Manne begegnet sind. Was unzulänglich an ihm war, ist der Schwierigkeit seiner Verhältnisse, seinem Kampf mit der verzehrenden Krankheit zuzuschreiben. Aber über alle Unzulänglichkeit erhebt sich die Gestalt des Helden, der seine ganze Person einsetzt für seine Ideale, dessen ganzes Leben nur den einen Zweck kennt: die Erforschung der Wahrheit.