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Die Mutter sitzt am Fenster und stickt. Gestern und heute und morgen auch – alle Tage. Und der Läufer ist noch kaum zur Hälfte fertig und schon ganz welk. Es drängt eben nichts zur Vollendung; kein Fest steht bevor, nirgends. Oft träumen ihre Hände, und sie sieht ihnen zu und denkt: was werden sie tun? Da ist sie lauter Erwartung, die blonde Frau. Aber die Hände sind einfach müd und bleiben liegen mitten im Weg. So ereignet sich nie etwas. Höchstens, daß sie sich wieder weiterschleppen den gelben Kanevas entlang. Wie Pferde sind sie, welche an einem Quai Schiffe stromaufwärts zerren. Und Schiffe sollten doch in Freiheit fahren über die vielen Flüsse, ins Meer, in alle Meere.
Heimlich aber ist Frau Beate ganz froh, daß ihre Blicke so gebunden sind. Sie schickt sie nicht gern im Zimmer umher, obwohl es reich und behaglich ist und warm von Septembersonne.
Sie sieht auch nicht auf, als ihr Sohn eintritt. Er ist achtzehn, blond und blaß. Sein harter Mund widerspricht seinen Augen, die ewig flehende sind. Und er scheint darin verloren, diesem Streit zuzuhören – ohne Spannung, fast gewohnheitsmäßig. Einmal gibt er dem Zorn recht, einmal der Zagheit. Und dabei wird er immer unsicherer. Wer kann helfen?
Der Vater hat nicht Zeit, und die Mutter ist so, als müßte ihr selbst jemand helfen kommen. Man kann nicht zu ihr flüchten, man läuft an ihr vorbei; sie ist zu wenig breit und wird wie ein Mädchen alt.
Es gibt also keine Aussprache mit ihr.
Und der junge Mensch geht quer durch das Zimmer der Tür zu.
»Adieu«, sagt er und will gleichgültig aussehen.
Da erschrickt die Mutter und breitet schnell ihre Seele aus, die wie ein Brautkleid ist: duftende Vergangenheit. Doch was weiß der Achtzehnjährige davon? Er geht drüber hin mit seinen großen Sonntagnachmittagschritten, und die gutgeglätteten Parketten knarren: Ich bin frei, ich bin frei . . . So geht er. Dann hört man ihn auf der Treppe. Es ist, als ob seine Tritte sich nicht entfernten, sondern zurückkehrten, nur leiser, ohne Trotz und mit lauter Fragen. Und Frau Beate ist gerührt und tut, als ob Miroslav wirklich wieder im Zimmer wäre und ihr gegenüber säße wie vor lange.
»Miro«, träumt sie und streut die anderen Worte langsam über den Kanevas hin, als sollte sie daraus Arabesken bilden.
Ich habe gezählt, Miro. Es ist der fünfte Sonntag heute. Und hast du ihr schon in die Seele geschaut, oder sie in deine? – Es wird sein heute, wie viermal vorher: Erst geht ihr wieder die Gassen entlang und seid Kinder an Frohsinn und Übermut. Bis eure Augen sich fragen: wann? Da wisset ihr beide: nicht hier – unter den vielen Menschen. Es gibt ein stilles Plätzchen in einem Gasthausgarten – vielleicht. Und in Laune und Leichtsinn beginnt ihr zu suchen. Und weil man sich leicht verliert zwischen den vielen vollen Tischen, habt ihr euch aneinandergedrängt beim Suchen. Bis sie irgendwo einen Witz hinter euch herwerfen. Da laßt ihr euch los und geht lange nebeneinander hin; und wenn ihr euch wiederfindet, steht ihr mitten in einer leeren Kirche, in der der Weihrauchduft welk wird, und fragt euch: wann?
Und ihr fühlt beide: nicht hier, wo es kalt und traurig ist. Jetzt kommen die Landstraßen. Da ist der Wind bald vor euch, bald hinter euch und nimmt euren Worten den Glanz. Ihr müßt euch in einem fort fragen: »Was?« und: »Hast du etwas gesagt?« Und kein Ende hat die Allee. Ihr zögert mittendrin, beide dem Weinen nah: Wann?
Nicht hier.
Wie zwei, die sich hassen, trollt ihr nebeneinander – irgendwohin. Jedes von euch hat ein Zuhause und denkt leise daran, wie an etwas ganz Fernes.
Jetzt hat sie eine kleine Gittertür aufgedrängt und tritt vor dir in einen kleinen Garten. Du zögerst. Du willst ihr nicht sagen: Es ist ein Kirchhof. Endlich sagst du es doch, etwas in dir sagt es rücksichtslos: Es ist ein Kirchhof. Sie nickt nur. Sie weiß es längst.
Und plötzlich findet ihr es beide ganz natürlich, daß es ein Kirchhof ist. Denn ihr wollt nichts mehr, als irgendwo ruhig sitzen dürfen vor lauter Müdigkeit.
Aber es wird schnell Abend.
Etwas beginnt herumzugehen zwischen den Hügeln, immer wieder an euch vorbei. Man muß nicht fragen, was es ist, denn es ist sicher nur der Wind.
Keines von euch sieht auf. Ihr wartet, bis eine Uhr schlagen wird in der Stadt, denn dann dürft ihr heim. Und ihr werdet dann zu nichts mehr Zeit haben. Im dunkeln Haustor vielleicht noch einmal – atemlos: Wann?
Nicht hier. – Und Angst und Abschied.
Es ist doch so, Miro?
Nein, es ist viel schlimmer. Die Furcht kommt dazu, daß jemand euch bemerkt haben kann, und die Hast, sich nicht im Abend zu verspäten. Und dann die Gefahr: daß ihr selbst in Ermüdung und Mühsal nicht mehr unterscheidet, was ihr euch schenken wollt. Daß ihr einmal in Verzweiflung nacheinander greift mit rohen ungeduldigen Händen – nur weil eure Seelen sich nirgends fassen können . . . und das ist das Ende.
Ich weiß das Alles, Miro, wenn ich dich heimkommen seh. Und ich drehe vorsichtig die Lampe zurück.
»Sie hat gerußt«, sage ich dem Vater. Und der Vater schilt, denn er will seine Zeitung lesen. Erst wenn du zu Bette gehst, schraube ich die Lampe wieder hoch. Und da liest der Vater die Zeitung. –
Wenn der Vater nicht wäre, Miro. Einmal am Sonntag würde ich diese Zimmer alle voll weißer Blumen stellen und fortgehen. Einmal statt euch in die Schänkgärten gehen zu lassen und in die Kirchen und auf die Landstraßen durch lauter Wind. Was macht es mir? Ich kann auch ruhig auf dem Kirchhof bleiben, denn ich habe keine Angst – nicht davor. Verstehst du, Miro?
Dann beginnt Frau Beate zu trennen. Ein ganzes Stück Bordüre hat sie verdorben. Nach einer halben Stunde findet sie den Fehler und fängt von neuem an – ohne Ungeduld.
Nur eines träumt sie noch: »Und – daß sie mich lieb haben könnte – glaubst du?«
Dann bleibt sie über den Läufer geneigt – lange. Bis der Vater eintritt und sagt: »Du wirst dir die Augen verderben.«
Da denkt sie: Es ist also acht Uhr, denn der Vater ist pünktlich.
Und sie hat wirklich ganz wunde Augen und ist blaß und kann nichts essen von dem kalten Sonntagabendbrot.
Immer wieder fängt sie die ungeduldigen Blicke ihres Mannes auf, wenn sie von der Uhr zurückkommen, und besänftigt sie.
Ihre ganze Kraft verbraucht sie so, ihren ganzen Willen.
Endlich um halb zehn ist sie zu Ende. Da nimmt der Vater die Zeitung und schreit hinein: »Wo ist denn der Bub?«
Frau Beate erhebt sich leise. Sie wartet im Treppenhaus, eine Viertelstunde und noch eine.
Dann eilt sie plötzlich hinab ein paar schweren, schuldigen Schritten entgegen.
Langsam, langsam kommt sie mit Miro hinauf.
Er ist viel zu traurig und bang, um darüber zu staunen. Und so ist es ein Weile, als wären die beiden zusammen fortgewesen.