Rainer Maria Rilke
Die Erzählungen
Rainer Maria Rilke

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Der Sterbetag

(1896/97)

Tante Babette tat noch einen tiefen Atemzug. Die Morgensonne lugte wie ein übermütiges Enkelkind durch die schimmerweißen Tüllvorhänge, nahm den längsten Strahl und fuhr damit wie mit goldener Feder erst über die weiße Nachthaube, dann über die feuchte Stirne der alten Frau und zitterte und zuckte dann ohne Rast um Augen, Mund und Nase, bis die Tante obigen tiefen Atemzug tat und mit scheuen roten Augen ins Fenster staunte. Ah! sie reckte sich zu einem wohligen Gähnen. Bei aller Trägheit war etwas Entschiedenes und Abschließendes in diesem Gähnlaut; er war, wie der Gedankenstrich, den einer unter eine fertige gelungene Arbeit setzt. Ah. –

Sie schloß nochmals die Augen und lag mit einer Miene da, als hätte sie just einen Löffel süßen Kaffees verschluckt oder eine Bosheit ausgesprochen, die fein saß. – Das Zimmer war ganz licht und ganz still. Immer mehr Strahlen warf die übermütige Sonne herein, und sie staken wie wurfzitternde Speere in den blanken Dielen und den glänzenden Empiretischchen, und irgend ein unsichtbarer Kobold warf hunderte zurück aus dem großen Wandspiegel, just der Sonne ins Gesicht.

Wie ferne Schlachtmusik summte an den Scheiben eine Fliegenkapelle zu dem hellen Hin und Wider des heiteren Speerstreites, und das sachte Surren sickerte in den leisen, halben Schlummer der guten Tante, und die kühlen Wellen des Frühlingsschimmers spülten immer mehr Fältchen fort von den lächelnden Zügen. Und sie sah ordentlich jung aus, wie sie dann ziemlich energisch in den Kissen aufsaß und im Zimmer herumblickte. Alle Dinge hatten etwas Glänzendes, Neues, und sie freute sich daran. Zarter Hyazinthenduft wellte von den Blüten auf dem Fensterbrett und mengte sich mit dem leisen Lavendel, das aus ihren Kissen stieg. Die alte Jungfer schaute flüchtig auf den Öldruck der Maria, dessen Schatten so furchtbar grün glänzten in dem Voll-Licht. Ihre mageren, harten Hände machten ein hastiges Kreuz, und gleich darauf schalt sie den schläfrigen Kanari, der über dem Fenster hing und trotz des frohen Morgens noch nicht singen mochte. Auf dem Rückweg vom Fenster blieb ihr Blick auf dem Kanapee hangen. Dort lagen fein pedantisch neben einander: ein geschlossener Hut mit breitem schwarzem Trauerschleier, der wie ein nächtiger Wildbach schwer von der Lehne floß, ein Paar schwarze Handschuhe, jeder einzeln, wie in unversöhnlicher Feindschaft, ein noch schwärzeres Urvätergebetbuch, und nur zwei sehr weiße Taschentücher glänzten wie das Schimmelgespann eines jungfräulichen Begräbnisses in dem vielen, tieftrauernden Schwarz. Die Tante starrte mit fremden Augen hin, und alle Falten kehrten wie dunkle Raupen in ihr altes Gesicht zurück. Eine Weile rechnete sie: Montag 12., Dienstag 13., Mittwoch 14., Donnerstag 15., Freitag 16. Und dann konstatierte ihr müdes, entsagendes Kopfnicken: heute ist der 16. April, Freitag, der siebente Sterbetag ihres, Gott hab ihn selig, Bruders, des Herrn Oberfinanzrates Johann August Erdmanner. Er war drei Jahre älter als sie und starb mit Hinterlassung einer trostlosen Witwe und zweier noch unmündiger Kinder in dem besten und kräftigsten Mannesalter von fünfzig Jahren, versehen mit den heiligen Sterbsakramenten, nachmittags um vier Uhr, gerade als alle hinausgegangen waren, einen Tropfen Kaffee zu trinken. Und die ganze helle Morgenstube verging der alten Dame. Der gute Johannes fiel ihr ein, wie mager und verschrumpft er war, und die junge Witwe, die kaum fünf Jahre an seiner Seite gelebt hatte, und der Doktor mit dem knallroten Gesicht. Und die Hermine, die Witwe, meint immer noch, daß der nicht getrunken hat – mna! – Und die Nonne, was die gut Karten legen konnte – übers Kreuz; der sagten die Karten aber auch alles. Und schön wars am nächsten Tage. Diese Spalten in der Zeitung, und die Besuche, die vielen ernsten und verweinten Gesichter, und der schäbige Kranz, den der Hausherr geschickt hat, und die vielen guten Kränze: er hat eine sehr schöne Leiche gehabt, der Herr Oberfinanzrat Johann August Erdmanner. Und würdig wurde in jedem Jahre der Sterbetag des Seligen gefeiert. Um zehn Uhr fand sich die ganze Familie in voller Trauer in der Kirche von Mariä-Himmelfahrt zusammen, und alle hatten schwarze Handschuhe, bleiche Wangen und rote Augen. Und alle sprachen den ganzen Tag leise und heiser, wie wenn sie beständiges Schlucken hätten, und nickten sich in einem fort mit feierlichen Gesichtern zu. Wenn sie in die dumpfige Kirche eintraten, dankten sie den alten Weibern, die die widerspenstigen Türflügel bekämpften, mit vor Rührung schwimmender Stimme und tauchten die schlechten, schwarzen Handschuhe so ausdauernd in den Weihkübel, daß jedes folgende Bekreuzigen schwarze Male in ihren scheuen, entsagenden Zügen zurückließ. Und die weißen Taschentücher bekamen in den gefalteten Fingern etwas Lauerndes, als wünschten sie zu den triefenden Augen hinüberzuwachsen. Ihr Wunsch fand reichlich Gewähr. Sogar der Priester mit dem frischen Gesicht zwang ein paar Jammerfalten in die Nähe seiner satten Lippen und sah drein, als holte er die Reste eines sauren Trunkes mit widerwilliger Zunge aus den Mundwinkeln. – Und wenn er über die Stufen des dunklen Altars tappte und unten wie ein übel geratener Pudding zusammenbrach und, begleitet von dem Lautieren des rothaarigen Ministranten, aus tiefer Brust anhub:

»Lasset uns beten . . .«,

so war von der ganzen Gesellschaft nichts mehr zu sehen als ein ganz unkenntlicher Knäuel von schwarzem Crêpe und Tuch. Die erschütternde Rührung war wie ein Eisenbahnzug über die Hinterbliebenen gefahren, und sie lagen und hockten zwischen den glänzenden Bänken, wie Verstümmelte zwischen den Schienen.

So war es sechsmal gewesen, und die alte Tante in den Lavendelkissen wußte, daß es zum siebentenmal heute ebenso, ganz ebenso sein würde.

Sie warf einen so verzweifelten Blick auf das Perlmutterblatt der steifen Empireuhr, als stünde diese eben im Begriffe, ihre eigene letzte Stunde zu schlagen. – Sie wollte aufstehen; aber nach einem jähen Ruck glitten die Hände ohnmächtig von dem weißen Dunenbett wie von einem zentnerschweren Eisberg. Sie empfand die heftigen Stiche in Kreuz und Nacken, die ein paar Wochen lang sich nicht gemeldet hatten, ein Frösteln rieselte über ihren Rücken, und der Kopf war schwer und schwül.

Sie stöhnte auf und war sehr blaß. So, gerade so war ihre Mutter gestorben; früh an einem hellen Tag nach schlimmer Nacht . . . und der alten Frau kam auf einmal zu Sinn, daß sie eigentlich die letzte Nacht auch kaum ein Auge geschlossen hatte. Gewiß nicht, jetzt wußte sie's. Eisiger Schweiß perlte aus ihren Poren. Und sie erinnerte sich, wie die Nonne, die so gut Karten legen konnte, ihrem armen seligen Bruder in seiner letzten Stunde auch immer wieder die Stirne trocknen mußte. Kam das wirklich schon? Sie faltete die Hände krampfstarr über der weißen Decke.

Der Kanari setzte immer wieder von neuem einen Lauf an. Die Hyazinthen waren, als ob sie müde wären, und der helle blasse Tag streckte und reckte sich breit und nüchtern auf den Dielen.

Tante Babette dämmerte vor sich hin. Dann fiel ihr ein: Wie war doch ihr Vater gestorben? Sie runzelte die Stirne; so sehr strengte sie sich an, um sich dessen zu entsinnen. Sie atmete auf: Richtig. Sie haben ihn gebracht. Auf der Gasse war er bewußtlos zusammengebrochen. Und sie wußte: Es ist doch noch eine Gnade – so im Bett . . . und – rührte sich nicht. –


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