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Die Familie Mounod.

I.

Am Nachmittage eines Spätherbsttages schritt ein hochgewachsener Mann am Ufer des Genfer Sees die breite Fahrstraße nach R. entlang, die sanft ansteigend in die Berge führte. Sein Gesichtsschnitt verrieth den Deutschen, seine Haltung den Offizier.

Gestalten wie diese waren um diese Zeit in der französischen Schweiz häufig.

Der große deutsch-französische Krieg war beendet, und in der sicheren Voraussicht eines früher oder später drohenden neuen Conflicts mit dem revanchelustigen Nachbar hatte die deutsche Heeresleitung eine größere Anzahl von Offizieren zur besseren Erlernung der französischen Sprache nach der neutralen Schweiz beurlaubt. Zu diesen gehörte auch Hauptmann Forbecker.

Er war, obwohl erst neunundzwanzig Jahre alt, schon Compagniechef in einem süddeutschen Regiment. Einfachen bürgerlichen Verhältnissen entsprossen, sah er schlicht, derb, schwerfällig, aber gescheit in die Welt.

»Ein grüner, steil über den Weg abfallender Hügel,« murmelte er, wie im Geist repetirend, »darüber ein Chalet. Ich muß am Ziel sein.«

Er stieg am Rande einer Wiese auf steilem Fußpfad zum Hause hinauf. Ein Bauer in Hemdärmeln, grauer Leinwandhose und abgegriffenem Hut breitete Dünger auf der Wiese aus; er arbeitete eifrig, ohne aufzusehen. Der junge Offizier gab nach einigem Besinnen die Absicht, ihn zu befragen, auf, ging am Hühnerverschlag und dem Stalle vorbei, aus dem Glöckchengeklingel und das Meckern einer Ziege ertönten, und zog an der Eingangsthür auf der Westseite des Hauses die Glocke.

Ja, es war das Chalet der Familie Mounod, Madame kam ihm selber entgegen. Sie machte keinen sehr vortheilhaften Eindruck. Ziemlich groß, aber von unförmlicher breiter Figur, trug sie ein abgeschabtes, schwarzes Kleid, an dem besonders der weite Ausschnitt um den starken Hals und die Abwesenheit jedes Kragens auffiel, und um das Gesicht ein grau und weiß gestreiftes Tuch, einen Kopfputz, den sie mit neuralgischen Schmerzen entschuldigte. Sie bat den Besuch, ihr eine dunkle, stark gewundene eiserne Treppe hinunter in den Salon zu folgen.

Hauptmann Forbecker war nicht wenig überrascht, dort Strümpfe, Taschentücher, Unterhosen zum Trocknen ausgebreitet zu finden. Ein eisernes Oefchen gab zu diesem Zweck eine ungeheure Hitze und den, überheizten Eisenöfen eigenthümlichen Geruch von sich.

Madame war beim Anblick der Wäschestücke etwas roth geworden, nöthigte aber nichtsdestoweniger den Besuch mit dem Anstand einer Königin in's Zimmer. Auf ihr gebieterisches, sehr scharfes »Nancy!« polterte ein dienstbarer Geist die Treppe herab, der trotz ein paar nachdrücklichen Worten seiner Herrin gemächlich und mit unzerstörbarem Gleichmuth die Wäsche zu entfernen begann.

Der Offizier sah sich indessen um.

Die Dimensionen des Gemaches entsprachen denen des Oefchens. An Möbeln war außer den von Nancy freigelegten Stühlen nur noch im Hintergrund ein kleiner runder Tisch mit bunter Plüschdecke vorhanden, auf dem Albums, Bücher, Photographien, letztere theilweise in sehr elegantem Rahmen, in malerischer Unordnung umherlagen und standen. Der kleine bunte Teppich war auf der Seite der Thür sorgfältig zurückgeschlagen worden. Ein oder zwei Stahlstiche an den Wänden vollendeten die Ausstattung des Raumes, der durch ein winziges Fenster und eine schmale Glasthür nur sehr mäßig erhellt wurde.

Hm! hm! kam es unwillkürlich über des Hauptmanns Lippen. Wenn die ganze Ausstattung des Hauses diesem Gemache entsprach, so begriff er die Kameraden nicht, die ihm die Pension empfohlen hatten! Daß Wehren hierher kommen würde, schien ganz ausgeschlossen. Wehren war viel zu vornehm dazu. Aber sollte er denn selber? Accent war ja viel, war aber doch nicht Alles. Deshalb auf ein Dorf hinauszuziehen und sich mit Allem zufrieden zu geben, hatte man schließlich nicht nöthig. – Freilich, die Kameraden rühmten noch etwas Anderes an der Familie: die Töchter. »Nun denn,« so schloß er sein Selbstgespräch, »um dieser vielversprechenden Töchter willen betrachten wir die Mutter näher. Vermuthlich haben sie ihre Reize von ihr.«

Das Antlitz der Dame zeigte Spuren ehemaliger großer Schönheit. Regelmäßige Züge, gute Farben, große blaue Augen, die ihn unverwandt ansahen.

Es lag in dem glatten Lächeln dieses glatten fleischigen Gesichts Etwas, was dem Fremden unwillkürliches Mißtrauen einflößte, obwohl er nach näherer Prüfung mit Ausnahme der etwas vorstehenden Unterlippe Nichts in den Zügen fand, was ein solches Mißtrauen gerechtfertigt hätte. Auch in dem Wesen Nichts; Madame sprach wie eine gebildete Dame, sie bewegte sich mit Sicherheit, fast mit Aplomb.

»Natürlich werden Sie Stunden nehmen wollen, die andern Herren nahmen alle Stunden, aber meine Jüngste ist für den Winter in Deutschland, bei Verwandten in Hamburg, und Claire ist kaum im Stande, den vielen Anforderungen zu genügen.«

Der Hauptmann lächelte vor sich hin. Claire war, wenn er sich recht erinnerte, die Brünette, die Blonde war also verreist. So konnte er sich in der Streitfrage, die die Kameraden lebhaft beschäftigte, welche von den beiden Schwestern die hübschere sei, weder auf die eine, noch auf die andere Seite schlagen.

Madame führte ihn im Hause herum. Sie pries ihm die Lage des Chalet, die schöne Aussicht aus den Fenstern des ersten Stockes: »Man sieht den See und die majestätische Kette der Savoyer Alpen, und von dem Giebel und der Terrasse die Walliser Alpen und die Dent du Midi.«

Der junge Mann mußte, um dieser Genüsse theilhaftig zu werden, wieder die enge dunkle Wendeltreppe emporklettern. Oben angelangt, erblickte er durch eine offene Thür eine dunkle Schönheit, die mit einer Weinflasche in der Hand an einem runden unbedeckten Tisch lehnte und aus dreisten Augen zu ihm hinübersah. Ihre sehr modische, für den Winter sehr helle Toilette, – rosa und weiß gestreifte Flanelltaille mit kokettem Herrenchemisett und Schlips, – contrastirte seltsam mit der Aermlichkeit der Umgebung. Ehe er sich ihr nähern konnte, war sie aus dem Zimmer heraus und in eine – o weh! – sehr unsaubere Küche geschlüpft. Wendt wohnte bereits bei der Familie. Machte der denn gar so geringe Ansprüche an das Milieu?

Wendt war ein Exkamerad, ein Mann von liebenswürdigem Charakter, feiner Bildung und noch ganz militärischem Aeußern, obwohl er bereits als junger Hauptmann seinen Abschied genommen hatte, – Familienverhältnisse halber, wie man sagte. Er beschäftigte sich jetzt mit statistischen Arbeiten. Trotz seines kahlen Kopfes machte er durch den kräftigen blonden Schnurrbart, das feine Oval seines Gesichtes und jugendliche Bewegungen den Eindruck eines weit jüngeren Mannes. Er kam Forbecker, der ihn auf seiner Wanderung durch's Haus traf, entgegen und erbot sich, ihn den deutschen Mitpensionärinnen vorzustellen.

»Die Herren werden in einem Hause unten an der Fahrstraße einquartiert,« sagte er. »Das wissen Sie doch?«

»Ja,« antwortete Forbecker, »und ist dort noch mehr Platz? Ich möchte gern Wehren hierherlootsen, Wehren von den Achtundvierzigern! Den kennen Sie auch? nicht? Der ist jetzt in Genf.«

»O, Platz ist genug. – Aber kommen Sie, wir gehen erst zu Frau von Neumann.«

Frau von Neumann, die Wittwe eines Offiziers, hatte die große, zweifenstrige Mansarde mit dem Blick auf die Walliser Alpen inne, Fräulein Gärtner die weit kleinere über der Eingangsthür. Beide Damen machten dem Hauptmann einen feingebildeten Eindruck. Wenn sie sich hier gefielen, mußte das Haus Vorzüge besitzen, die dem Auge vorläufig entgingen. Er erklärte also, es mit der Pension versuchen zu wollen.

Das Resultat, zu dem Madame Mounod über den Fremden gekommen war, und das sie nebst Instructionen an ihre Tochter weitergab, lautete folgendermaßen: »Nicht distinguirt, viel Geld ist auch nicht da, macht aber wenig Ansprüche und ist sehr naiv. Könnte also eine Partie sein – also!« –

Also begrüßte sie ihn am Tage des Einzuges mit demselben glattfreundlichen Lächeln, demselben Aplomb und demselben Kopftuch. Dann eilte Madame in die Küche zurück, um noch Einiges zum Essen vorzubereiten.

Der Ankömmling fand bereits Alle im Speisezimmer versammelt. Herr Wendt machte die Honneurs des Hauses und unterhielt die Gesellschaft. Hauptmann Forbecker hatte soeben ein Gespräch mit einer der deutschen Damen angeknüpft, als die braune Claire hereintrat und ihn, ohne Rücksicht auf Fräulein Gärtner, mit der er sich unterhielt, sofort mit äußerster Lebendigkeit in Beschlag nahm. Ihre dunklen Augen, die ihn ungenirter betrachteten, als die seinen Sie, gestatteten ihm nicht länger, sich mit Andern zu beschäftigen. Bei Tisch erhielt er seinen Platz neben ihr und Madame Mounod, so daß er kein Gegenüber hatte, als ein sehr altes Pianino, hinter welchem blau und weiß gestreifte Perkalvorhänge, die eine Thür zum Nebenzimmer verdeckten, sich im Zugwinde leise bewegten. Gern hätte er als stillschweigender Zuhörer mit sämmtlichen Mitgliedern der Tafelrunde genauere Bekanntschaft gemacht, aber seine Nachbarin ließ ihm keine Zeit zur Beobachtung. Sie wußte so geschickt ihre Aufmerksamkeit zwischen ihm und Wendt zu vertheilen, daß Jeder von ihnen das Gefühl hatte, sie widme sich ihm speciell und erwarte das Gleiche. Wandten sie sich im Laufe des Gespräches mit einer Frage, einer Antwort an eine der deutschen Damen, so führte sie ein Blick der braunen Claire sofort auf ihre Pflicht zurück. Sie empfanden bei der Schönheit des Mädchens diese Tyrannei nicht als drückend, sie schmeichelte ihnen sogar; doch konnte Forbecker nicht umhin, Claires Entgegenkommen trotzdem für ein zu angelegentliches, ihre Bewegungen für zu frei und männlich, ihre Art und Weise für zu kokett zu halten.

Sie sprach sehr viel, vor Allem viel von sich selber oder von Personen und Dingen, die mit ihr in Berührung standen, von den Stunden, die sie den Herren ertheilte, von ihrer Schwester, ihrem Bruder, ihrem Vater. Von letzteren Beiden redete sie besonders gern; und es berührte eigenthümlich, Tag für Tag von den männlichen Mitgliedern des Hauses sprechen zu hören, ohne sie jemals zu Gesicht zu bekommen.

»Mr. Mounod kommt selten zum Vorschein!« sagte Frau von Neumann.

» Anatole est un sauvage!« sagte die braune Claire. »Da ist Gaston ganz anders. Ja, wenn der hier wäre, oder Loulou!«

»So viele Brüder haben Sie und nur eine Schwester?«

»O, ich habe noch eine ganze Reihe Schwestern, aber die sind alle verheirathet, zumeist in Frankreich, nur eine in der Schweiz. Wir sind eigentlich elf Geschwister; zwei sind todt. Berthe und ich sind die beiden Jüngsten, aber wir – heirathen nicht, wir« – hier sah sie mit dem denkbar kokettesten Lächeln zu dem Hauptmann hinüber – »bleiben à la maison

II.

Frau von Neumann war schon seit sieben Monaten im Hause; sie hatte sich ganz mit der Familie eingelebt. Wenn das Forbecker erst Wunder nahm, so erkannte er doch bald, daß sie zu den Menschen gehörte, die sich anschließen müssen. Seit anderthalb Jahren Wittwe und kinderlos, fühlte sie sich vereinsamt, ohne Lebenszweck und Ziel. Sie war nach der Schweiz gekommen, um ihre geschwächte Gesundheit zu kräftigen. Pläne für die Zukunft hatte sie nicht, noch wußte sie, wohin nachher ihre Schritte lenken. Und sie vermißte den fehlenden Wirkungskreis um so mehr, als es ihr Bedürfniß war, für Andere zu sorgen; erst die Erfüllung von Pflichten gab ihr das Gefühl, daß sie lebte und nicht blos vegetirte. So hatte sie auch hier, um heimisch zu werden, mancherlei kleine Aemter übernommen, die sie mit der ganzen Liebenswürdigkeit und Gewissenhaftigkeit ihrer Natur ausfüllte; mit um so größerer Gewissenhaftigkeit, als sie um dieser kleinen Hilfeleistungen willen etwas weniger Pension bezahlte.

Aber es schien doch, als ob sie durch zu große Bereitwilligkeit die Leute mehr als billig verwöhnte. Nicht nur, daß sie bei den Mahlzeiten tranchirte und mehrere Stunden am Vormittag die – sehr schadhafte – Familien- und Hauswäsche ausbesserte, sie weckte auch früh Morgens das Mädchen und war spätestens um sieben Uhr in der Küche, um den Kaffee zu bereiten, während die Damen des Hauses sich erst zwischen neun und elf Uhr an den gedeckten Frühstückstisch setzten.

Das schienen späte Stunden für Leute, die ein Hauswesen zu dirigiren haben. Unordnung, Unsauberkeit, Unregelmäßigkeit mußten die Folge davon sein, und sie waren es auch. Das Mittagessen wurde nicht pünktlich aufgetragen, das Fleisch war nicht weich; Madame schalt dann auf Nancy, die es zu spät vom Fleischer geholt hätte. Den Fehler da zu suchen, wo er lag, fiel ihr nicht ein.

Frau von Neumann erkannte diese und andere Schwächen wohl und – entschuldigte sie.

»Die Mounods können immer erst Abends unter sich sein, sehen Sie; sie musiciren dann oft bis ein Uhr, Mr. Mounod spielt die Zither und Mr. Anatole die Geige. Sie sollten nur das reizende Verhältniß zwischen den Ehegatten kennen, zwischen Eltern und Kindern und den Geschwistern untereinander. Ach! und die beiden bildhübschen Mädchen! Freilich, Sie kennen nur eine, Sie kennen Berthe nicht; Berthe ist mein Liebling; die und der Vater –«

»Wo steckt denn nur dieses Ideal eines Vaters?«

»Wir haben heute Sonnabend, nicht wahr? Vielleicht speist er morgen mit uns. Er thut es am Sonntag manchmal. Wenn Sie den erst kennen werden –«

Der Hauptmann sah begreiflicherweise dem Sonntag mit Spannung entgegen. Er stellte sich etwas früher als gewöhnlich ein und stieß im Eßzimmer, in dem noch gedeckt wurde, auf einen alten Herrn in pflaumenblauem Anzug, den sein weißer, stark gesteifter Kragen sehr zu geniren und zu beengen schien. Schneeweißes Haar, zu dem starke, fast noch schwarze Augenbrauen und ein grauer Henriquatre einen eigenthümlichen Contrast bildeten, weitgeöffnete, seelenvolle blaue Augen machten seine Erscheinung zu einer auffallenden. Während er den Zeigefinger seiner rechten Hand von Zeit zu Zeit zwischen den Kragen und seinen rothgebräunten Hals brachte, um letzterem Erleichterung zu verschaffen, hieß er den jungen Deutschen auf's Freundlichste in seinem Hause willkommen.

In seinem Hause? – Er war also der Vater.

Frau von Neumann hatte recht, ein anziehender Mann. Sein Organ war ungemein wohllautend, seine Manieren die eines vollendeten Weltmannes mit der chevaleresken Nüancirung der guten alten Zeit. Ein Kindergemüth sprach aus den klaren Augen. Es überraschte den Hauptmann nicht, zu hören, daß Mr. Mounod ein großer Naturfreund sei. Eine solche Thaufrische der Seele erhält sich nur, wer die Natur liebt und mit ihr lebt.

Aber es gehört auch ein Poetengemüth dazu, um so mit der Natur leben zu können, wie Mr. Mounod es that. Wie ein Gedicht klang, was er von seiner Wiese, seinen Bäumen, von der Erdscholle, von seinen Thieren sprach.

»Seine Thiere! Da haben Sie père bei seinem Steckenpferd,« rief Claire bei Tisch. »Wissen Sie auch, daß seine Ziege eine ganz besondere Ziege ist?«

»Ist sie auch!« sagte der alte Mann. »Sie versteht, was ich zu ihr spreche; sie folgt mir, wenn ich spazieren gehe, freut sich wie ein Kind, wenn ich sie freilasse, und springt wie toll um mich herum. Sie kennt meine Stimme und leckt meine Hand. Nur von mir nimmt sie ihr Futter an!«

»Und seine Hühner,« neckte Claire, »sind ganz besondere Hühner. Jedes hat seinen Charakter –«

Er nickte bestätigend: »Gewiß!«

»Und seine besonderen Neigungen. Und Fehler haben sie auch und Untugenden und müssen erzogen werden wie Kinder.«

»Gewiß!«

»Und sind sie krank, so pflegt père sie und giebt ihnen Medicin ein. Neulich hatte eines einen Anfall von Diphtheritis, da hat er es gepinselt; ein anderes hatte sich verletzt, da hat er ihm ein Bettchen bereitet, in einer Kiste und kühlende Umschläge gemacht und es gepflegt und behütet wie ein krankes Kind.«

»Ja, und eines war fast erblindet und quälte sich so und starb dann, – armes Ding!« – Der Mann hatte thatsächlich Thränen im Auge, als er davon erzählte.

»Denken Sie sich, einmal hat père ihnen Branntwein gegeben, um sie zu strafen. Sie torkelten wie Betrunkene!«

Alle sahen den alten Herrn ungläubig an. Das schien eine seltsame Art der Erziehung.

»Es ist schon wahr,« sagte er mit dem kindlichsten Aufschlag seiner klaren blauen Augen. »Zwei eifersüchtige Hennen wollten das Raufen nicht lassen; da hab' ich ihnen Branntwein in's Wasser gethan. Sie torkelten wirklich eine Weile wie Betrunkene – und dann schliefen sie ein. Gezankt haben sie sich danach nicht mehr. Der Zustand wird ihnen nicht behagt haben.«

Das Gespräch wendete sich anderen Dingen zu. Hauptmann Forbecker erwähnte die projectirte Durchbohrung des Simplon.

»Ah,« sagte Mr. Mounod lächelnd, »dieses Project, das die ganze Schweiz in Aufregung versetzt!«

»Was halten Sie davon, Mr. Mounod? Sie, als Franzose, stehen der Sache unparteiisch gegenüber.«

»Ich bin naturalisirter Schweizer, mein Herr, schon seit lange, und meine Interessen sind die meines adoptirten Vaterlandes. Aber eben deshalb, ich bin durchaus dafür. Die Anlage eines Tunnels ist eine gewaltige Ausgabe, aber doch im Interesse des vergrößerten Fremdenverkehrs durchaus zu wünschen. Unsere Schweiz ist ja auf die Fremden angewiesen, mein Herr. Der Verkehr soll immer größer werden.«

»Mir scheint, da spielen vielerlei kleinliche Interessen mit. Eifersüchteleien zwischen den Cantonen, was? speciell zwischen den französischen und deutschen?«

»Die deutschen Cantone zögen den unmittelbarsten Vortheil davon, das ist wahr, aber indirect profitiren doch alle. Vielleicht, daß ich, als ehemaliger Bürger eines größeren, eines großen Vaterlandes, einen weiteren Blick habe – – Es ist sehr zu bedauern, daß die Bewohner des Cantons Waadt sich so schwer dazu verstehen wollen, dem Plane zuzustimmen.«

Hier rief Claire ihren Vater zum Schiedsrichter in einer Frage über die Etymologie eines Wortes auf. Er gab rasche, entschiedene Auskunft. Immer sprach er fließend, gewählt, mit der Sicherheit, wie sie nur eine völlige Beherrschung des Gegenstandes giebt. Auch verstand er es meisterhaft, Gesprächsthemata anzuregen und Jedem gerade von dem zu reden, was ihn interessirte, als ob es ihm wunderbar schnell gelungen sei, jedes Einzelnen geistiges Maß zu nehmen. Es fiel Niemand auf, daß er so ziemlich allein die Kosten der Unterhaltung trug. Er sprach und erzählte so fesselnd, daß man ihm gern und willig zuhörte.

»Wir werden Schnee bekommen,« sagte der alte Herr, als man sich von der Tafel erhob.

»Schnee!« rief Alles überrascht zweifelnd.

»Ja, die Wolken sehen ganz danach aus, – und Frost, anhaltenden!«

»Aber woraus schließen Sie das?«

»Aus mancherlei Anzeichen: aus den Erdschollen, die ich heut Morgen bearbeitet habe, aus dem Wind, den Wolken. Es läßt sich das schwer erklären; man muß damit vertraut sein. – Claire, die Apfelsinenschalen werft Ihr nicht weg; die frißt meine Ziege gern.«

» Oh, petit père!« lachte Claire. Sie wandte sich zu den Herren. »Haben Sie schon eine Ziege gesehen, die Apfelsinenschalen ißt?«

»Sei ohne Sorge, Papa! Sie werden alle für Dich aufgehoben,« beruhigte Madame Mounod. –

Der nächste Morgen vereinte die Deutschen zu ziemlich später Stunde am Kaffeetisch. So hatten sie noch das Vergnügen von Claires Gesellschaft.

»Es thut wohl,« sagte der Hauptmann in seiner herzlichen Weise, »Jemand zu treffen, der sich wie Mr. Mounod den Glauben an die Menschheit und an das Gute bis in sein spätes Alter bewahrt hat.«

»Zu sehr bewahrt hat!« sprach traurig Claire. »Ohne seinen blinden Glauben wären wir nicht, wo wir jetzt sind. Ah! die guten Freunde!«

Ein blinder Glaube an die Menschen war der Fehler der braunen Claire jedenfalls nicht. Das klang aus ihrer Stimme, las sich aus ihrem Wesen heraus. War es nun Anlage oder die Folgen von Erfahrungen, sie besaß eine Dosis Mißtrauen, die bei einem so jungen Mädchen auffallen mußte.

»Ist Mr. Mounods Sprechweise nicht etwas verschieden von der andrer Menschen?« fragte der Hauptmann. »Ich drücke mich vielleicht etwas ungeschickt aus; ich verstehe noch wenig Französisch, aber es will mich bedünken, als hörte ich einen Unterschied heraus. Es ist etwas sehr Anziehendes, Eigenartiges darin, ein, – wie soll ich's nennen? – Rhythmus –«

» Cadence,« verbesserte Claire.

» Claire! Claire!« tönte es von draußen.

» Je viens, mère!« und sie verschwand eiligst.

»Was ist der Mann nur gewesen?« fragte der junge Offizier eifrig, nachdem sie sich entfernt hatte. »Er spricht wie Jemand, der gewöhnt ist, öffentlich zu reden.«

»Ist er auch! Er war Advocat, – Notar, glaube ich.«

»Die Familie ist eine feine?«

»Haben Sie den Eindruck nicht?« gab ihm Fräulein Gärtner die Frage zurück.

»Doch! doch!«

»Und sie waren früher sehr reich!« fügte Frau von Neumann hinzu.

»Nach den Andeutungen der Tochter scheint es, daß falsche Freunde –«

»Er soll durch sein blindes Vertrauen in dieselben um sein ganzes Vermögen gebracht worden sein.«

»Blindes Vertrauen?« meinte kopfschüttelnd Fräulein Gärtner. Er scheint so sehr klug, klüger als alle die Anderen.

»Nun, vielleicht hat er speculirt. So was kommt vor; ich habe erst kürzlich von einem französischen Notar gehört, der wegen unsauberer Speculationen aller Art seine ganze Familie an den Bettelstab gebracht hat.«

»Sie wollen doch nicht etwa Mr. Mounod mit solchen Menschen in eine Reihe stellen?« rief Frau von Neumann entrüstet.

»Aber ich will gar Nichts, meine gnädigste Frau. Ich kenne den Mann ja nicht, habe ihn gestern zum ersten Mal gesehen.«

»Sie sehen ihn sehr oft,« lächelte Frau von Neumann.

»Ich? – ich habe bisher nur ein einziges männliches Individuum auf dem Grundstück angetroffen, – und das ist ein alter Bauer, der nie grüßt. – Aber, mein Gott! – die Aehnlichkeit! – kann das?«

»Es war Mr. Mounod.«

III.

Herrn Mounods Prophezeiung traf ein. Es fiel Schnee, und der Frost ließ auch nicht auf sich warten. – Alt und Jung im ganzen Dorf, Mr. Mounod und Mr. Anatole mitinbegriffen, sing an zu – schlittern.

Wer auf diese Weise Mr. Anatole zu sehen erwartete, wurde enttäuscht. Nur des Abends und an entlegener Stelle schlitterte der Sauvage. Doch sorgte die mütterliche und schwesterliche Eitelkeit dafür, daß die Deutschen über die Bewegungen des »Aeltesten« im Laufenden blieben. Sein fortgesetztes Nichterscheinen wurde übrigens jetzt auch mit einer »Arbeit« entschuldigt.

Forbecker freute sich über Frost und Schnee. Die » bise« mußte jetzt im Westen des Sees fürchterlich hausen. Vielleicht veranlaßte sie Wehren, Genf den Rücken zu kehren. Genf war Nichts für Wehren, er war dort zu vielfach Versuchungen ausgesetzt. Welche Art von Versuchungen seinem Freunde gefährlich werden konnten, das wußte Hauptmann Forbecker nur zu gut. Kannte er doch besser als jeder Andre die traurigen Umstände, die Jenen aus der Heimat fortgetrieben; hatte er sich's doch zur Aufgabe gemacht, über dem Freund zu wachen – nicht in dessen eigenem Interesse allein, sondern auch in dem eines anderen Wesens, das ihm theuer und dessen Zukunft bedroht war, wenn Jener seiner alten Leidenschaft zum Opfer fiel.

Noch heute wollte er an Wehren schreiben. Hatten doch die Mounods, die den neuen Hausgenossen mit jeder erdenklichen Fürsorge umgaben, ihn auf's Lebhafteste aufgefordert, den Freund einzuladen. –

Aber diese angelegentliche, fast übertriebene Sorgfalt ließ urplötzlich nach; die Familie bekümmerte sich nicht mehr um ihre Pensionaire. Nachrichten aus Hamburg versetzten das Haus in die größte Unruhe. Berthe hatte nach Geld geschrieben. Sie wollte heim; das Klima bekäme ihr nicht, sie müsse fort, um jeden Preis – gleich. Was konnte nur passirt sein? Es mußte Etwas passirt sein. Sie mußte krank sein. Der Hals? – Sie hatte schon ein paar Mal von rauhen Winden gesprochen, von häufigen Erkältungen und Heiserkeit. Gewiß, sie war krank, und schwer. Es war ihre Art nicht, zu klagen. Sie schrieb eher weniger als mehr, um die Ihrigen nicht zu ängstigen.

Claire lief außer sich umher, Madame schlief nicht, und selbst Herrn Mounods Miene war sorgenvoll und bleich. Alle sahen Berthe womöglich bereits todtkrank auf dem Sterbebette.

Es wurde Familienrath gehalten. Briefe gingen ab an die Söhne in Genf, an die Töchter in Frankreich, um sie von der Gefahr, in der die Schwester schwebte, in Kenntniß zu setzen. Damit nicht genug, begab sich Anatole zu der in der Nähe verheiratheten Schwester, um mit ihr und dem Schwager die Angelegenheit mündlich zu besprechen. Er wäre bis nach Frankreich gefahren, wenn nur das nöthige Geld dazu vorhanden gewesen wäre.

» Anatole aime bien ses Petits soeurs,« sagte Claire mit begreiflichem Stolze.

Zu seiner Freude waren Schwester und Schwager ebenso davon überzeugt, daß schnelle Hilfe Noth that; sie waren nicht minder besorgt als er selbst. Der Schwager sandte augenblicklich die zur Heimreise erforderliche Summe an Berthe ab, und mit dieser trostreichen Nachricht kehrte Anatole heim. Er fand, daß der Vater in der Zwischenzeit auch nicht müßig gewesen war. Unruhig über den Ausgang der Mission seines Sohnes hatte er sich die Summe, – Gott weiß wo? – zusammengeborgt und auch bereits abgesendet. Zur Rechtfertigung seines Handelns zeigte er Anatole eine Depesche aus Paris: »Schickt das Nöthige, werden es Euch ersetzen.«

Am Tage darauf langte zum Ueberfluß noch ein Brief der Söhne aus Genf an mit der Mittheilung, daß sie, in Aufregung über das Schicksal der »kleinen Schwester«, ihr sofort Geld nach Hamburg geschickt hätten.

Mademoiselle Berthe konnte also mit den Mitteln, die ihr nun zur Verfügung standen, dreimal die Rückkehr in das geliebte Vaterland antreten.

Was thut Berthe jetzt? Wie geht es ihr? Wird sie reisen können? Daß sie allein reisen muß! – So hieß es vom Morgen bis zum Abend.

Herr Wendt und Frau von Neumann nahmen aufrichtigen Antheil. Es wurde aber auch von Fräulein Gärtner und dem Hauptmann, die Berthe nicht kannten, eine ausschließliche Antheilnahme verlangt; auch für sie sollte es keinen anderen Gedanken, keine Sorge und kein Gesprächsthema mehr geben, als die Krankheit und Reise der blonden Berthe, und Alle sollten es selbstverständlich finden, daß die Mounods weder Zeit noch Gedanken hatten, sich mit ihnen und ihrem Wohlbefinden zu beschäftigen. – Die rührende Liebe, welche die Mitglieder der Familie Mounod mit einander verband, machte dem Hauptmann den Grad der Aufregung erklärlich. Lag aber nicht in der souveränen Verachtung aller anderen Interessen, in dem fast brutalen Abthun aller Pflichten eine Anmaßung, die sagen zu wollen schien: Was uns angeht, sind wir! Ihr seid nur das Geschäft, von dem wir leben, die melkende Kuh! Der Bauer versorgt Kuh und Kalb auch gut und sieht zu, daß es ihnen an Nichts fehle. Aber wenn es im Hause brennt, wen wundert es, daß er des Viehes vergißt, um erst seine Angehörigen in Sicherheit zu bringen!

Der Hauptmann sprach seine Gedanken nicht aus. Herr Wendt und Frau von Neumann waren Familienenthusiasten. Fräulein Gärtner ließ wohl ab und zu eine Bemerkung fallen, die eine der seinen verwandte Auffassung zu verrathen schien. Aber im Allgemeinen war die Dame so zurückhaltend, daß es nicht leicht wurde, sie zu befragen. Sie unterhielt sich über Dinge, nicht über Personen. Dieser völlig unweibliche Zug ihres Charakters war ihm von vornherein aufgefallen.

IV.

Loulou, der jüngste Sohn, war angekommen, die Angst um die Schwester hatte ihn hergetrieben. Er war ein junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren, braun, mit einer breiten Narbe auf der linken Wange, von guten Manieren und mäßiger Intelligenz und bekleidete trotz seiner Jugend bereits eine leitende Stelle in einer Confitürenfabrik.

Hocherfreut, festgefrorenen Schnee vorzufinden, holte er sofort seinen Schlitten vom Boden herunter; aber durchaus kein Sauvage, wie sein Bruder Anatole, sondern zugänglich und verbindlich, lud er den Hauptmann zu dem Sport mit ein, und Beide verbrachten ein paar fröhliche Stunden zusammen. Als aber der unermüdliche Schweizer nach aufgehobener Tafel erklärte, bis zur Ankunft der Schwester weiter schlittern zu wollen, und Forbecker aufforderte, ein Gleiches zu thun, lehnte dieser doch lachend ab. Er hatte für den Anfang genug und erwartete überdies am Nachmittag den Besuch seines Freundes Wehren, der ihn zu spät von seiner Absicht unterrichtet hatte, als daß es ihm möglich gewesen wäre, einen für die Familie gelegenen Tag zu verabreden.

Loulou wollte um drei Uhr mit père und Claire am Bahnhof zusammentreffen; dort sollte ein Wagen genommen werden, um die Kranke zu expediren. Den Wagen vorher zu bestellen, ging nicht an, denn Berthe hatte zwar ihre Abfahrt von Hamburg angezeigt, aber, wie Mädchen sind, mit keinem Worte des Zuges Erwähnung gethan, mit dem sie einzutreffen gedachte. Da man ihr indeß gerathen hatte, die Reise zwei Mal, vielleicht in Frankfurt und Basel, zu unterbrechen, so ließ sich mit einiger Sicherheit annehmen, daß sie mit dem vorerwähnten Drei-Uhr-Zug, der ein Schnellzug war, ankommen würde. Madame bereitete das Bett und sorgte für heißen Thee und Wärmflaschen.

»Ist das nicht wirklich unangenehm,« wiederholte der Hauptmann zum wer weiß wievielten Mal, »daß Wehren gerade heut kommt? Nach Petit Mont nehmen kann ich ihn nicht, und wo wird man im Dorf etwas Vernünftiges zu essen bekommen? Und was soll man mit dem Menschen anfangen? Er langweilt sich zu Tode. Und ich kenne ihn, fällt der erste Besuch in's Wasser, so kommt er sicher nicht mehr.«

»Thun wir unser Möglichstes!« schlug Wendt vor. »Die Gegend ist schön genug. Gehen wir spazieren! Vielleicht schließen sich uns auch die Damen an. Denn das Beste ist, man läßt heut die Mounods allein.«

»Das ist eine Idee, Wendt! Frau von Neumann ist ausgezeichnet zu Fuß, Fräulein Gärtner weniger, aber man kann sich mit ihr unterhalten. Ich hasse ein Frauenzimmer, das nicht bis drei zählen kann.«

»Claire kann's!« neckte Herr Wendt.

Der Hauptmann lachte: »Die – auch drei Mal drei! – Aber sehen Sie, da ist Wehren. Lassen Sie uns ihm entgegengehen!«

Die Sache machte sich wie von selbst. Premierlieutenant Wehren hatte, wie sich herausstellte, von Damen seines Regimentes Grüße an Frau von Neumann auszurichten. So mußte man ihn nach Petit Mont hinaufführen. Eine Aufforderung zum Spaziergang ergab sich danach leicht und ungezwungen und wurde bereitwilligst angenommen.

Frau von Neumann klopfte an Fräulein Gärtners Thüre. »Es geht auf's Signal!« rief sie in ihrer liebenswürdig fröhlichen Weise. »Kommen Sie mit? – Ja? – Das ist schön. Wie sagen Sie? – es kann noch ein paar Minuten dauern, bis Sie fertig sind? – Schadet Nichts. Wir warten unten auf Sie; übereilen Sie sich nicht. – Nun bekommt aber Ihr Freund Nichts von den Mounods zu sehen,« meinte sie bedauernd zu Forbecker gewandt.

»Ja, was ist da zu machen?« erwiderte dieser. »Sie rathen doch auch nicht, ihn heute einzuführen, oder soll ich ihn vielleicht gerade vorstellen –?«

»Es ist doch besser, nicht; Madame ist mit den Vorbereitungen beschäftigt, und später, wer weiß, wie krank die Berthe ankommt.«

»Ja, ja! – aber es ist schade! – ich hätte gern gewußt, ob Wehren Lust hätte, herzuziehen. Na, und den Mounods schien auch daran zu liegen, daß ich ihn einlud –«

»Zweifellos!« sagte Herr Wendt und sah Frau von Neumann verständnißvoll blinzelnd an. Sie lachte; mit gutmüthigem Spott sagte sie halblaut, nur ihm und dem Hauptmann verständlich: »Ja, ich glaub', es ist wieder 'mal eine Schuhmacherrechnung fällig. Aber es geht doch nun nicht, lieber Hauptmann,« fügte sie lauter hinzu. »Ihr Freund« – hier wendete sie sich zu Wehren – »muß eben bald einmal wiederkommen.«

Lieutenant Wehren verbeugte sich höflich mit demselben verschleierten Blick, mit dem er die Landschaft betrachtet hatte. Er hatte sehr schwere Lider und lange Wimpern, die seine Augen fast immer zur Hälfte verdeckten, was dem Antlitz einen etwas müden Ausdruck verlieh. Seine Erscheinung war eine vornehme; er war tadellos gekleidet. Sein Benehmen zeigte vollendete Beherrschung der Form. Alles in Allem war er der gerade Gegensatz seines Freundes.

»Sie haben es schön hier!« sagte er und sah sich bewundernd um.

Die Bergkette, die in den heißeren Tagesstunden ein leichter Dunstschleier verhüllte, fing schon an, klarer zu werden; ihre gewaltigen Umrisse traten hervor und begannen sich vom Himmel abzuheben. Ungehemmt schweifte das Auge über die weite, graublaue Fläche des Sees, auf dem die malerisch wirkenden Segelboote mit den spitzen lateinischen Segeln gleich Vögeln mit ausgebreiteten Schwingen dahinschwebten. Aus der Ferne links schimmerte lichtumflossen das Rhonethal.

»Nicht wahr, es ist schön?« rief entzückt Frau von Neumann. »Und der Eindruck schwächt sich nicht ab. Wir, die wir das Alles täglich sehen, empfinden –«

Sie sprach nicht zu Ende. Ein tolles Lachen klang vom Wege herauf. Laute Stimmen, jugendlich laute Stimmen wurden vernehmbar, dann wieder das helle, tolle Lachen.

Die scharf abfallende Wand des Hügels verwehrte den Blick auf die Straße.

»Wenn es nicht so ganz unmöglich wäre,« sagte Frau von Neumann und sah nach der Uhr.

»Es sind Schlitterer,« meinte Herr Wendt.

»Aber die Stimme klingt wie Loulou's Stimme, und sie kommen näher; und das Lachen, das Lachen ist wie –«

Sie schwieg lauschend, die Andern gleichfalls. Eine dunkle Stimme, eine helle, und dazwischen das tolle, seltsame Lachen.

Ein männliches Wesen kam pustend und keuchend den Abhang herauf. Es war Loulou, er zog etwas Schweres nach sich, sein Antlitz glühte vor Ausgelassenheit und Anstrengung. Er lachte etwas verlegen, als er der Deutschen ansichtig ward, wandte den Kopf und rief dem auf seinem Schlitten befindlichen Etwas ein paar Worte zu, worauf das seltsame Gelächter decrescendo ertönte. Jetzt ließ sich seine Last erkennen. Auf dem Handschlitten saß eine kleine vermummte Gestalt, die bis über die Ohren in Pelzwerk steckte und nun auch den Muff fest an's Gesicht gedrückt hielt, um ihr Lachen zu ersticken.

Das sonderliche Gefährt hielt vor dem Hause still. Loulou grüßte befangen, die kleine Gestalt erhob sich kichernd; ein feines Näschen reckte sich aus der Boa hervor, ein winziges Mündchen folgte, eine kleine, weiße Hand hob den Schleier, und unter dem braunen Pelzbarett mit dem weißen Vogel guckten zwei blaue Augen groß, kokett und lachend hervor.

»Die Berthe!« riefen zwei Stimmen zugleich.

Das kleine Wesen lachte und schüttelte sich, als ob es ein Hauptspaß wäre; dann warf sie die blauen Augen herum und blickte die Herren der Reihe nach langsam, mit göttlichster Unbefangenheit, an.

»Die soll hübsch sein!« sagte der Hauptmann empört zu sich. »Ein ganz ausdrucksloses Gesicht; sommersprossiger Teint, farblose, dünne Lippen!«

Er schien mehr ihren Beifall zu haben; sie sah ihn noch immer ungenirt an. Plötzlich lachte sie ihm in's Gesicht. »Ich bin die Jüngste!« sagte sie kichernd. »Meine Schwestern kennen Sie doch!«

»Gewiß, mein Fräulein, da ich bereits seit vierzehn Tagen die Ehre –«

»Oh,« lachte sie, »wie komisch! Nun, dann habe ich mich geirrt. Ich dachte. Sie wären erst heute zum Besuch gekommen. Loulou erzählte doch, – entschuldigen Sie –«

Sie wandte ihren musternden Blick auf Wehren.

»Ich bin es, mein Fräulein, der heute zum Besuch gekommen ist.«

Lieutenant Wehren verbeugte sich steif und förmlich, indem er sie ebenso groß ansah, wie sie ihn. Seine Haltung war kalt und verweisend, mißfälliger Ernst blitzte aus seinen Augen. Der tadelnde Ausdruck dieser großen, jetzt durchaus nicht verschleierten Augen verwirrte die lächerliche kleine Person doch etwas; freilich nicht auf lange.

»Schade!« Sie kehrte sich zu dem Hauptmann um und kicherte wie ein Kobold.

»Was ist schade?« fragte dieser. »Daß ich nicht erst heut zum Besuch gekommen bin?«

Da wollte sie sich todtlachen. »Nein! nein! Im Gegentheil! Das heißt, – ich meine, – Sie könnten doch alle drei zur Familie gehören.«

»Berthe!«

Madame stand erstarrt in der Thür. Sie glaubte einen Geist zu sehen. »Du? – wie kommst Du hierher? Wo ist der Wagen? wo ist Papa? – Du bist nicht krank?«

Berthe lachte. Loulou antwortete statt ihrer: »Ich fand sie, als ich auf den Bahnhof wollte, – frisch und gesund, – das Gepäck ist noch dort!«

»Gesund! Frisch und gesund!« wiederholte Madame. Sie schien nicht begreifen zu können. »Nicht krank?«

»Natürlich war ich krank; mal mal du pays, – das ist auch eine Krankheit.«

»Du ungerathenes Kind,« brach jetzt ihre Mutter los. »Da machst Du uns Angst? Da schreibst Du so einen Brief, da läßt Du Dir Geld schicken? Der Vater schickt Geld und die Brüder und der Schwager. Dreimal Geld! Was hast Du mit all dem Gelde gemacht?«

»In die Tasche gesteckt! Erster Klasse gefahren, – weil Ihr's doch wollet. Höchst angenehm! – Aber Nichtraucher? – Damencoupé? – Nein! – Brrr!«

Sie schüttelte sich lachend.

»Und Du hast nicht in Frankfurt übernachtet? Wenn Du Dich nur nicht zu sehr angestrengt hast. Wir schrieben Dir doch. Du solltest – Aber was rede ich denn? Das Mädchen ist ja nicht krank.«

»Ich glaube fast,« lachte Berthe, »Ihr bedauert es, daß ich nicht krank bin. Herr Wendt sieht ganz danach aus.« Sie warf ihm einen koketten Blick zu. »Und Du – Rabenmutter!«

»Schwatze nicht Unsinn, Berthe!« rief Claire, die jubelnd aus dem Hause gestürzt kam und sie umarmte. »Aber Du hättest wirklich nicht nöthig gehabt, mère so zu erschrecken! Und père gar, der Dich unten erwartet!«

»Und Du, kleine Schwester, predige nicht Moral!« lachte der Kobold und küßte sie. »Da, da! Das ist doch noch eine Schwester!« rief sie, indem sie abwechselnd küßte und lachte. »Aber was für eine Mutter! Freut sich nicht 'mal, ihre Jüngste wiederzusehen!«

Damit versuchte sie, Madame zu umhalsen, wurde jedoch energisch abgewiesen. »Erst will ich wissen, warum Du Dich krank gestellt hast.«

»Ich wollte nach Hause, einfach! – Komm, komm, mère,« lachte sie. »Sonst hättet Ihr mir doch kein Geld geschickt. – Siehst Du, ich bangte mich so; ich war krank vor Sehnsucht nach Hause. Erst hier bin ich wieder gesund geworden.«

»O Du!« brummte Madame ingrimmig zwischen den Zähnen. »Das ist ganz Deine Art. Ich hoffe nur, père wird's Dir ordentlich sagen. Deiner Schelte entgehst Du nicht.«

Berthe lachte nur stärker, mit dem gezwungenen Ton Jemands, der vor Fremden thun möchte, als ob er die Drohung nicht fürchte. »Adieu, meine Herren!« Sie warf ihnen Kußhändchen zu. »Jetzt muß ich mich waschen. Auf Wiedersehen, heut Abend! Man sieht Sie doch Abends, nicht wahr? Adieu, adieu!«

Nach einem letzten koketten, Alle umfassenden Blicke hüpfte sie lachend zur Thür hinein.

Claire folgte ihr langsamer. »Loulou, geh dem Vater entgegen! Willst Du? Er wird in Sorge sein.«

»Ja, Loulou!« Berthe steckte noch einmal den Kopf zur Thür hinaus. »Bereite ihn vor, hörst Du?«

»Ah, mir scheint. Kleine, Du hast doch etwas Angst.«

»Natürlich hab' ich Angst! Aber das brauchst Du ihm nicht zu sagen!«

*

Die Herren gingen selbstverständlich am Abend nicht hin. Sie hatten sich mit Lieutenant Wehrens zu kurzer Anwesenheit entschuldigen lassen.

Infolgedessen empfing sie Mademoiselle Berthe am nächsten Morgen mit einer kleinen schmollenden Miene, die ihr allerliebst stand. Gut stand ihr auch die leichte Schlummerröthe, die noch auf ihren Wangen lag; sie war eben erst aufgestanden. »Nach den Strapazen der Reise,« entschuldigte sie sich lachend. Sie trug eine einfache, graublaue Blouse und einen ebenso einfachen Rock.

»Wo ist denn Mr. Wehren?« fragte sie gleich. »Abgereist? So, so –« Sie lachte.

»Ja, aber er hat versprochen, bald wieder zu kommen.«

Der Hauptmann log, sein Freund hatte Nichts dergleichen gethan. Er hatte im Gegentheil sein Mißfallen an Berthe, ein Mißfallen, das Forbecker übrigens theilte, so offen ausgesprochen, daß das allein wohl genügte, ihn fern zu halten. Aber Forbecker brachte es nicht über das Herz, heute, wo Berthe ihm besser gefiel, ihr Unangenehmes zu sagen.

Er beobachtete sie unausgesetzt und machte dabei drei Bemerkungen, die ihn sehr überraschten. Erstens war sie nicht dumm, wofür er sie gehalten, trotzdem sie schwatzte, was, wann und wie es ihr durch den Kopf fuhr, und bei jedem Satz lachte, wie schon gestern. Zweitens war ihr Lachen, obwohl es an und für sich nicht melodisch klang, sehr anziehend, weil sehr ausdrucksvoll, indem es jedesmal ganz genau ihre Stimmung wiedergab. Drittens war sie trotz aller anscheinenden Sorglosigkeit recht aufgeregt.

Ihre Augen streiften oft ängstlich das Gesicht der Mutter, und bei jedem Klingeln fuhr sie zusammen. Gespannt blickte sie auf die Briefe, die Claire endlich in's Zimmer brachte. Einer trug eine deutsche Marke.

Sie sprang hastig auf. »Claire,« rief sie, »komm schnell, ich habe Dir Etwas zu sagen,« und verschwand mit der Schwester.

Madame öffnete langsam ihre Korrespondenz. Sie las gemächlich und mit Behagen, bis die Reihe an den Brief aus Deutschland kam. Da verfinsterte sich ihr Gesicht. Ihr Unmuth wurde stärker, je weiter sie las. Ihre Hände ballten sich, die Nachrichten mußten sehr böse sein.

Sie erhob sich geräuschvoll. »Berthe!« rief sie mit zornbebender Stimme.

»Berthe!« schrie sie im Flur, im Nebenzimmer, das ihr und ihrer Töchter Schlafgemach war.

Keine Antwort! Alles still!

Der Verbrecher hatte sich dem Arm der Gerechtigkeit entzogen.

V.

Hauptmann Forbeckers Zimmer wurde von Grund aus gereinigt. Diese Procedur fand nicht oft statt, war aber sehr nöthig, da für gewöhnlich Dubais mère und Dubois fille sich nur schwer dazu verstanden, Etwas für die Säuberung der Zimmer zu thun. Aber selbst wenn ein männlicher Kopf die Nothwendigkeit des »Reinmachens« begreift, so empfindet ein männliches Gemüth die Thatsache des Ausquartiertseins darum nicht minder schmerzlich.

Wo sollte er nur bleiben? Er hatte Nachmittag Stunden bei Claire. Claire war eine gestrenge Lehrerin, und er konnte weder seine Grammatik, noch die Gallicismen. – Er lief verzweifelt auf die Straße.

Zum Glück stieß er vor der Thür auf die gestrenge Lehrerin; sie wurde zu seiner Erretterin aus der Bedrängniß. »Arbeiten Sie drüben bei uns, das Eßzimmer ist frei. Berthe ist ausgegangen, und die Mutter hat in der Küche zu thun.«

Der Verjagte nahm also von dem Eßzimmer Besitz und studirte auf Tod und Leben Grammatik und Gallicismen. Das heißt, er wollte studiren, aber der Zug im Zimmer störte ihn. Das Fenster stand offen und die Thür des Nebenzimmers auch; dort mußte ebenfalls ein Fenster geöffnet sein, denn die weiß und blauen Perkalvorhänge hinter dem Clavier flogen hin und her. Aergerlich stand er auf und schloß das Fenster.

Dann gingen nacheinander in der Küche die verschiedensten Hantirungen vor sich. Jetzt wurde Fleisch gehackt, daß es eine Lust war. Der junge Offizier hob mißmuthig den Kopf.

Er erblickte in dem Augenblicke draußen im Garten Berthe, die vorsichtig das Haus umschlich, um unbemerkt durch die Seitenthür Eintritt zu gewinnen. Sie klinkte leise, leise die Thür auf und zu, huschte mit Katzentritten an der Küche vorbei, die Treppe hinauf – o weh! – da knarrte eine Stufe.

»Das ist Berthe!« schrie Madame aus der Küche und stürzte sich auf ihr Opfer.

Ihr Zorn entlud sich in Ausdrücken einer Stärke, von der sich Forbecker keine Vorstellung hätte machen können.

Er saß entsetzt. Den Ausgang gewinnen, ohne gesehen zu werden, war nicht möglich, weil die Thür des Schlafzimmers demselben gegenüber lag; und sie stand offen. Sich sehen lassen, hieß eine zu große Unzartheit begehen. Er war zum unfreiwilligen Lauscher verdammt.

Es tröstete ihn einigermaßen, daß so schnell gesprochen wurde. Er sagte sich, daß er nicht viel verstehen würde.

Aber! er verstand noch genug! – Die Laute kamen von allen Seiten zu ihm. Wenn doch die Frau nur Thüren und Fenster schließen wollte! Sie mußte sich mitten im Zug befinden. Ganz gewiß, die nächsten Tage wurden wieder im Zeichen des grau und weiß gestreiften Kopftuches stehen.

Jetzt war Madame dicht an der Thür hinter den Perkalvorhängen, er hörte deutlich, was sie sagte: »Hab' ich mir gleich gedacht, daß dahinter was steckte. Du bist nicht umsonst so über Hals und Kopf weggefahren. Mein Fräulein Tochter hat einen Korb gegeben.«

»Ich habe keinen Korb gegeben, Mutter. Ich bin abgereist, um das zu vermeiden.«

»Das bedeutet das Gleiche! Sich so eine Aussicht entgehen zu lassen! Tante ist schön böse – und Recht hat sie. Thut Alles, was sie kann, um den Menschen zu ködern; und nun er angebissen, da läßt Du ihn laufen. Was denkst Du Dir denn? Worauf wartest Du denn? Glaubst Du, man findet alle Tage eine halbe Million auf der Straße?«

»Er war so alt, Mutter.«

»Was macht das aus? Ein armes Mädchen kann nicht wählen; sie muß nehmen, was sich ihr bietet. – Und an uns denkst Du gar nicht? Du weißt wohl nicht, wie nöthig uns eine reiche Heirath ist.«

»Schicke doch Claire, daß sie eine reiche Heirath macht. Wozu muß ich es gerade sein?«

»Weil Du zu Nichts nutz bist im Hause!«

Berthe lachte gekränkt.

»Claire, die brauch' ich, die thut was. – Da denkt man, das Mädchen ist versorgt, und nun hat man sie wieder auf dem Hals.«

»Also Zimmer rein machen ist Nichts und Stunden geben ist auch Nichts? – Mutter, Du weißt ja, ich brauche so wenig für Putz, ich gebe Dir Alles,« versprach sie schmeichelnd.

»Putz Dich lieber und heirathe!«

»Das kann ich hier auch,« rief Berthe übermüthig, »mit all den Herren!«

»Bah, Offiziere! Du weißt doch, die dürfen kein Mädchen ohne Mitgift heirathen. Der Butterhändler war toll verliebt in Dich, schreibt die Tante. Alles hätt' er für Dich und die Deinen gethan. – Aber Du kehrst wieder zurück, verstehst Du?«

Berthe lachte trotzig. »Da gieb Du Dich keiner Hoffnung hin, Mutter. Hier bin ich und bleib' ich. Aber beruhige Dich, ich mach' schon noch jemand Anders toll verliebt in mich. Wendt zum Beispiel! der ist auch alt und auch Kaufmann, oder so was Aehnliches; da ist das ja gerade, was paßt.«

»Wendt, der wär' mir der Rechte! Hat keinen Pfennig, und irgendwo eine geschiedene Frau und erwachsene Kinder.«

»Na, wenn sie geschieden ist.«

»Ich sag' Dir, sie ist nicht geschieden!«

»Nun sag' ich mit Dir: was macht denn das aus?« lachte das übermüthige Mädchen.

Die Stimmen entfernten sich, und der Hauptmann wollte schon aufathmen. Da klang Berthe's Organ wieder sehr energisch dicht hinter der Thür: »Jetzt laß mich in Ruh', Mutter! Verstehst Du? Wenn Du nicht aufhörst, – ich lauf' aus dem Hause, oder« – hier lachte das Mädchen schon wieder – »ich schrei' es in alle Welt, weshalb ich aus Hamburg weggelaufen bin und weshalb mich der Hauptmann Nichts angeht, und daß Mr. Wendt irgendwo eine geschiedene Frau hat, die nicht geschieden ist.«

Das half. Madame wurde ganz still. Sie kannte vermuthlich ihre Tochter, dies enfant terrible brachte Alles fertig. Zunächst war es besser, zu schweigen.

Forbecker hörte, wie sie sich brummend entfernte, hörte ein leises, triumphirendes Lachen von Berthe und nach einer kurzen Pause:

»Was? nur Einen? Nein, Alle, das ganze Haus mach' ich verliebt in mich!«

Sie kicherte, dann schlüpfte sie leisen Fußes die Treppe hinauf.

»Uff!« sagte der Hauptmann. »Endlich!« Er raffte seine Bücher und Hefte bunt durcheinander vom Tische auf und verließ eiligst das Haus.

*

Es gelang ihm beim nächsten Zusammentreffen nur schwer, völlige Unbefangenheit zu heucheln. Aber wo kein Argwohn ist, ist keine Aufmerksamkeit. Niemand von den Betheiligten ahnte, daß das geräuschvolle Gespräch einen Zeugen gehabt hatte, und der Horcher wider Willen kam mit seinem bösen Gewissen davon. Er dagegen war völlig in der Lage, das fieberhaft Aufgeregte in der verwegenen Lustigkeit der blonden Berthe herauszufühlen; und aus gewissen Schatten, die von Zeit zu Zeit über das glatte Antlitz der Mutter zogen, aus der grob vorgeschobenen Unterlippe, die dem Gesicht etwas brutal Verbissenes verlieh, und den unterdrückten Malicen, welche zu der Tochter hinüberflogen, um jedoch jedesmal eine ebenso geschickte wie schnippische Abwehr zu finden, schloß er, daß die »Jüngste« noch immer bei ihr in Ungnade war.

Der Vater beherrschte seinen Zorn meisterlich, falls er solchen verspürte. Er fand sich jetzt des Oefteren ein, sei es am Abend oder im Laufe des Tages, wenn er von irgend einer Tour, die er in Geschäften in die Berge unternommen hatte, zurückkehrte; das heißt also, wenn er so wie so Toilette gemacht hatte. Es ließ sich nicht behaupten, daß er mit seinem Kragen auf besserem Fuße stand, aber er war derselbe angeregt, geistreich und heiter plaudernde Gesellschafter, derselbe zärtliche Gatte und Vater. Von seiner Seite war für das Tableau ungetrübter Familienharmonie, das die Frauen darzustellen sich bemühten, Nichts zu befürchten.

So war es auch nur dem noch zu starken Unwillen der Mutter zuzuschreiben, daß Andeutungen fielen, die den Deutschen das Geheimniß verriethen. Bald wußte es das ganze Haus, daß Berthe in Hamburg einen steinreichen Freier verschmäht hatte, blos weil sie ihn nicht liebte; und es wob sich dadurch um das Haupt des jungen Mädchens allmählich ein Glorienschein, an dessen Herstellung schließlich Niemand eifriger arbeitete, als die erzürnte Mutter selbst. Sie war viel zu klug, um nicht einzusehen, welches Capital sich aus dem Ereigniß schlagen ließ, denn man erwartete immer noch Lieutenant Wehren, von dem der offenherzige Hauptmann nicht aufhörte zu sprechen, dessen Gaben und Eigenschaften er in seiner bewundernden Freundschaft nicht aufhörte zu rühmen. Dann aber lag es auch in dem innersten Bedürfniß der Familie, sich nicht nur Fremden gegenüber im vortheilhaftesten Lichte zu zeigen, sondern sich auch thatsächlich gegenseitig zu idealisiren.

Die Eintracht, welche anfangs nur eine scheinbare gewesen war, wurde dadurch zu einer wirklichen, und Nichts trübte den wolkenlosen Himmel eines glücklichen Familienlebens, das seinen verklärenden Schimmer auch auf die Pensionäre warf, als gelegentliche Lieferantenrechnungen, neuralgische Zahnschmerzen und Briefe der Tante aus Hamburg, die den Millionär noch immer nicht verloren geben wollte.

VI.

Diese Atmosphäre des Friedens, des allgemeinen guten Willens und der gegenseitigen Vergötterung benutzte die blonde Berthe allen Ernstes dazu, das auszuführen, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich das ganze Haus verliebt in sich zu machen. Nur über Einen warf sie ihre Netze nicht aus, das war der Hauptmann; den betrachtete sie als ausschließliches Eigenthum ihrer Schwester.

Bei der unverkennbaren Eroberungslust der jungen Schönen war diese geschwisterliche Rücksicht nicht hoch genug anzuschlagen, und zu Claires Ehre sei es gesagt, daß sie im gleichen Falle ebenso gehandelt haben würde. Sich gegenseitig in's Gehege zu kommen, wäre beiden als Treubruch erschienen.

Ob nun die Großmuth der »Jüngsten«, die sie im Augenblick nicht zu erwidern im Stande war, die um ein Jahr ältere Schwester bedrückte, ob sie aus Interesse für den Hauptmann ihr Wohlwollen auch auf dessen Freund ausdehnte oder ob vielleicht neue Ebbe in der Familienkasse die treibende Ursache war, – Thatsache ist, daß die braune Claire nicht aufhörte, das Gespräch auf Mr. Wehren zu lenken, dessen Bekanntschaft zu machen, sie leider damals die Umstände verhindert hätten.

Fragte man den Hauptmann, warum sein Freund noch immer nicht kam, so war er um eine Antwort verlegen, da er den wahren Grund, nämlich den, daß Wehren absolut Nichts daran lag, die Bekanntschaft der Familie zu machen, doch nicht wohl angeben konnte. Wehren hatte sich nur einmal spöttisch erkundigt, ob diese »alberne Person« denn immer noch so dumm lache, und damit war sein Interesse erschöpft. Der Versicherung, daß gerade diese alberne Person sehr reizend sei, schenkte er keinen Glauben.

Er kam dann schließlich doch einmal an einem Tage, an dem er absolut nichts Besseres anzufangen wußte. Dafür, daß er gezwungen und widerwillig auf die Einladung eingegangen war, zog er sich noch mit ziemlichem Anstand aus der Affaire. Er sprach zwar nicht viel, aber die anderen Herren auch nicht, denn die jungen Damen führten das Wort; so deckte die Schweigsamkeit Jener die seine. Er blieb zum Abendessen, und das war Alles, was Madame – heute wenigstens – im Interesse der eingetroffenen Schneiderrechnung verlangte. Er blieb sogar noch nachher da, was mehr war, als die jungen Damen von ihm erwartet hatten. Das Urtheil über ihn war denn auch ein den übertroffenen Erwartungen entsprechendes. Claire nannte ihn höchst gentlemanlike, feingebildet. Es war klar, daß er aus bester Familie stammte; er hatte so vollkommene Manieren.

Sie betonte die »vollkommenen Manieren« mit einem Blick auf den Hauptmann. Der Mann machte ihr zu schaffen. So sehr sein gutes Herz, seine Gescheitheit, die Ehrenhaftigkeit und Zuverlässigkeit seines Charakters, – mit der er ein gegebenes Eheversprechen auch sicherlich einlösen würde, – bei ihr für ihn sprachen, seine Manieren waren gegen ihn. Ihm fehlte der äußere Schliff. Die feinfühlige Französin empfand seine unbewußten Verstöße gegen den feinen und feinsten Ton, seine vollkommene Gleichgiltigkeit gegen Formen, doppelt schwer. Heirathen wollte sie ihn jedenfalls, – aber zuerst sollte er umgemodelt werden. So erzog sie denn unablässig an ihm herum, und weil er ihre Anspielungen oft nicht verstand, vielleicht auch nicht verstehen wollte, in immer deutlicherer Weise.

»Du siehst doch, er ärgert sich,« sagte Berthe. »Was wiederholst Du immer dieselben Dinge? Schweig doch still davon.«

Aber Claire konnte nicht stillschweigen, um so weniger, als er sich ihre Angriffe gefallen ließ. Solange dieselben gutmüthiger Natur blieben, hörte er mit einem belustigten Lächeln zu. Machte sie Ernst, dann sah er verletzt aus, ohne Etwas zu erwidern, und das reizte sie besonders. Daß es oft geschah, weil er in der fremden Sprache der Erwiderung nicht fähig war, daran dachte sie nicht. Nur wenn es ihm zu bunt wurde, raffte er sich zur scharfen Gegenwehr auf; seine Schläge trafen dann immer, wuchtig, stark, aber graziös, gefällig war er nie. Das behagte der graziösen Französin wiederum wenig. Claire dachte eben zu viel an das, was ihr zusagte; sie zog die Gefühle der Andern zu wenig in Rechnung. Der Hauptmann vergaß ihre Ausfälle nicht.

»Du bist unklug, Claire, Du beleidigst ihn, Du verletzest ihn. Gestern hatte er Thränen im Auge,« sagte Berthe.

»Ich weiß es, aber ich kann nicht anders.«

»Du schadest Dir,« warnte die jüngere Schwester in ihrer kühl besonnenen Weise.

Der blonden Berthe konnte es freilich nicht passiren, daß sie sich schadete. Halb aus angeborenem Tact, halb aus wirklicher Zartheit des Herzens kannte sie bei allem verwegensten Sichgehenlassen doch ganz genau die Grenze, über die sie hinaus nicht durfte. Sie sagte die »schrecklichsten« Dinge unbekümmert heraus, aber ihre verblüffende Offenheit richtete sich meist gegen sie selbst, und die Unbesorgtheit, mit der sie sich äußerte, nahm den Dingen ihre Spitze. Andern gegenüber fand sie fast immer an rechter Stelle das rechte Wort, oder – sie schwieg. Nicht etwa aus Schwäche oder Unfähigkeit; bei einer Reibung mit ihr zog jeder Andere unweigerlich den Kürzeren, aber sie verstand sich so mit den Menschen zu stellen, daß keinerlei Reibung möglich war. Was immer von Personen und Ereignissen in ihren Lebensweg trat, versuchte sie zwar auch in erster Linie sehr geschickt zu bearbeiten, aber sie erkannte viel schneller als Claire was Form annehmen konnte und was nicht. Sie verschwendete keine unnütze Mühe; Hindernisse, die nicht zu bewältigen waren, ließ sie einfach liegen, umging sie; unangenehmen wich sie aus. Was aber erreichbar war, erreichte sie, ohne daß die Betreffenden es merkten.

» O, elle est fine, ma soeur, elle est fine! Vous n'avez pas d'idée, comme elle est fine,« versicherte Claire, und die Mutter sagte: »Sie werden es kaum glauben, aber Claire muß thun, was Berthe will. Sie hält sie am Schnürchen, und uns auch. Ehe wir uns dessen versehen, hat sie uns, wo sie uns will. Elle est fine!«

VII.

Findest Du nicht, Berthe, daß Mr. Wehren sehr distinguirt aussieht?« fragte Claire; sie hatte die Gewohnheit, an das Urtheil der jüngeren Schwester zu appelliren.

»Er sieht aus wie eine unausgebackene, verschlafene Semmel.«

Der Hauptmann lachte laut auf. Er sah den Freund vor sich, hoch schlank, semmelblond das Haar, der lange, weiche, wohlgepflegte Schnurrbart desgleichen, semmelblond die Gesichtsfarbe, die langen Wimpern, der Ueberzieher, der Hut.

Claire durchforschte noch ängstlich die Gesichter der Uebrigen nach dem Eindruck, den Berthes Bemerkung gemacht hatte.

»Nicht ausgebackene Semmel ist gut,« meinte Wendt, »Aber wieso verschlafen?«

»O, darin hat Berthe nicht ganz Unrecht,« rief Claire; da Niemand beleidigt schien, war sie muthiger geworden. »Er macht ja niemals die Augen auf.«

»O doch, Claire, manchmal macht er sie auf. Aber das ärgert mich immer, es geschieht mit Ostentation.«

»Warum lachst Du auch so unaufhörlich, so sinnlos, Berthe?« sagte die Mutter. »Man merkt es ihm an, daß er es nicht leiden kann.«

»Mag er sich doch mit seinen eigenen Schwächen beschäftigen! Er hat sicher genug; umsonst sieht man nicht so verlebt aus.«

»Berthe, jetzt werde ich aber ernstlich böse.«

»Nun! sieht er etwa nicht blasirt aus, nicht schlaff, nicht apathisch? Und sein gelangweiltes Schweigen? Da soll er doch lieber nicht herkommen, wenn's ihm bei uns nicht gefällt; mich ärgert diese ewige Richtermiene.«

Der Hauptmann fühlte sich zur Vertheidigung seines abwesenden Freundes veranlaßt. »Sie thun Wehren Unrecht, er ist immer ein stiller Gesellschafter, überall. Es ist wahr, sein Gesicht hat etwas Mattes, Ausdrucksloses, wenn er so still dasitzt – aber ich versichere Sie, Wenige sind so frisch, so unberührt, so wenig blasirt wie er.«

»Das sieht man sofort,« bestätigte Madame, die für dergleichen Dinge einen sehr scharfen Blick besaß.

Berthe schwieg unüberzeugt still. Ihrer Unerfahrenheit fehlte die feine Fähigkeit der Unterscheidung; sie fühlte instinctiv etwas Erschöpftes an dem jungen Menschen heraus, das im Widerspruch zu seinen Jahren stand, aber es war nicht die Blasirtheit der Jugend, die Alles genossen hat. Er hatte noch Etwas vom » bon enfant« an sich, das in seinem frischen, kindlichen Lächeln deutlich hervortrat. Seine ganze Denkweise, die Zartheit seines Ausdrucks, seine Manieren kennzeichneten den Menschen, der, unter dem Einfluß edler Frauen aufgewachsen, einfach und rein geblieben war. Auch machte er trotz der überschlanken Figur und der matten Gesichtsfarbe den Eindruck einer gesunden, ausdauernden Natur. Nur wenn er so plötzlich die Augen aufschlug, in denen intensives Leben glühte, wenn man diese flammenden blauen Augen mit dem in der Ruhe schlaffen Gesicht verglich, hatte man die Empfindung, als stände dieser Mann im Banne einer Leidenschaft, die ihn für alles Andere im Leben erschöpft und ermattet zurückließ.

VIII.

Wie aus Berthes inpertinenten Bemerkungen hervorging, kam Lieutenant Wehren jetzt häufiger nach R. Der Ort gefiel ihm nach längeren Ausflügen in die liebliche Umgebung so gut, daß er allen Ernstes die Frage der Uebersiedelung erwog für den Fall, daß ihm seine Genfer Pension unerträglich würde. Er fand jetzt allerlei an dieser Pension auszusetzen, die ihn bisher völlig befriedigt hatte.

»Seitdem diese Griechen, Rumänen, Bulgaren und anderes Gesindel da sind, wird's wirklich unleidlich, Forbecker. Daß dieser Anapoli, oder wie er sonst heißt, ein Schwindler ist, davon sind wir jetzt Alle fest überzeugt.«

»Warum entlarven ihn denn die Kameraden nicht einfach?«

»Lange dauert es nicht mehr. Wir warten nur auf Beweise, er soll auf der That ertappt werden. Es scheint ein Trick mit einer Karte, die er unter dem Tisch mit Wachs beklebt. – Er wird jetzt scharf beim Spielen beobachtet; von uns, die wir nicht mitspielen, besonders.«

»Von uns? Bist Du –? – Wozu bist Du dabei?«

Fliegende Röthe schoß dem jungen Mann in's Gesicht. Er sah einen Augenblick unsicher fort.

»Befürchtet Nichts!« sagte er dann.

»Ich bin dennoch in Sorge. Es giebt ein sehr abgedroschenes Sprichwort, das aber sehr Recht hat: ›Wer sich in Gefahr begiebt –‹ die Fortsetzung kennst Du.«

Wieder überflog eine peinliche Röthe Wehrens Antlitz. Er faßte sich aber, richtete sich stolz und hoch auf, und Forbecker voll und offen ansehend, sprach er: »Du vergißt, daß ich mein Wort verpfändet habe!«

Der Hauptmann legte zärtlich den Arm um die Schultern des Freundes. »Ich vergesse Nichts, alter Junge; aber Niemand soll die Gefahr aufsuchen. Mir wäre viel lieber, Du hättest mit der ganzen Angelegenheit Nichts zu schaffen. Ueberlaß doch den fatalen Gesellen Andern! Warum schickt ihn nur die Wirthin nicht fort?«

»Weil sie eine Thörin ist. Sie will ihr Geld nicht verlieren, sagt sie, hofft immer noch, daß er bezahlen wird, und sieht nicht ein, daß sie je länger, je mehr verliert. Zweihundert Franken schuldet er ihr schon. Nun ich denke, er wird sich bald einmal fangen.«

Forbecker schüttelte unzufrieden den Kopf. Es beunruhigte ihn lebhaft, daß Wehren bei der Entlarvung des Schurken betheiligt sein sollte; wärmer als je befürwortete er die Idee der Uebersiedelung.

Wehren wurde aber trotz seiner wiederholten Besuche nicht etwa gesprächiger; er begnügte sich meist damit, schweigsam dazusitzen und nur von Zeit zu Zeit bei Berthes tollem, unausgesetztem Lachen und Scherzen seine Augen in stummem Vorwurf zu erheben.

Madame Mounod war sehr unzufrieden mit ihrer Tochter. Sie und Claire bemühten sich, die »Jüngste« zur Vernunft zu bringen. »Nun hat man ihn endlich so weit, daß er kommt, da wird das Mädchen mit ihrem sinnlosen Gebahren wieder Alles verderben.«

»Sie müssen wirklich nicht denken, Mr. Wehren, daß Berthe so unvernünftig ist, wie sie erscheint. Sie ist im Grunde viel ernster,« sagte die Mutter, und Claire setzte hinzu:

»Es ist nur ihre Art, sie lacht so natürlich, wie ein Anderer athmet.«

»Ja,« fuhr Madame fort, »sie ist ein seltsames Mädchen, schon als Kind war sie so. Wenn sie Schelte bekam, wenn sie Etwas zerbrach, lachte sie; nicht aus Unart. Ich hab' es zu Anfang dafür gehalten und hab' sie gestraft, aber bald sah ich ein, daß sie nicht anders kann; es liegt in den Nerven. Immer, wenn sie etwas Trauriges sieht oder hört, muß sie lachen. Ich kann sie zum Beispiel auf Condolenzvisiten nie mitnehmen, – sie lacht den Leuten geradezu in's Gesicht. Stellen Sie sich vor, einmal, – Sie kennen doch Loulou? – Loulou ist Berthes Lieblingsbruder, wie Anatole der Claires ist. – Haben Sie die Narbe auf seiner Wange gesehen? – Nun, die beiden Knaben spielten einmal vor dem Hause. Vater hatte ihnen ein Gewehr geschenkt; Gott weiß, wo sie sich Pulver und Blei verschafft hatten, kurzum, – ich bin in der Küche und höre einen Schuß. Ich weiß nicht, wie schnell ich zur Thür hinaus bin, aber Berthe ist noch schneller und sieht es zuerst: Anatole steht da, todtenbleich, ein Bild starren Entsetzens, und auf dem Boden liegt Louis mit blutüberströmtem Gesicht. Da hat das Mädchen laut aufgelacht, sag' ich Ihnen; es klang schrecklich. Vater kam dann hinzu und hat den Knaben in's Zimmer getragen und auf's Sopha gelegt. Da hat sich Berthe zu ihm gesetzt, hat Loulous Hand gehalten und ihm in's Gesicht gesehen und hat immer wieder von Neuem gelacht. Ich versichere Sie, es war nicht mehr zum Anhören!«

Lieutenant Wehren schwieg dazu, wie zu allen Entschuldigungen. Vielleicht wollte es ihm nicht in den Sinn, daß Jemand so natürlich lachen könne, wie Andere athmen. Er wurde auch nicht duldsamer gegen das Mädchen; er saß mürrisch da, wie der verkörperte Protest. Persönliche Empfindlichkeit war dabei nicht im Spiel, sein Gesicht erhellte sich sogar jedes Mal, wenn Berthe ihre tollen Neckereien gegen ihn selber ausspielte. Das kam aber selten vor, denn sie hatte Angst vor ihm, seine Gegenwart bedrückte sie. Auch wenn sie ihn nicht ansah, fühlte sie seinen Blick in stetem Vorwurf auf sich ruhen, sie athmete jedes Mal auf, wenn er das Haus verlassen hatte. So fand auch sie es allein lächerlich, mit Dubois mère wegen des Zimmers zu sprechen. »Ach, geht doch! Dem ist sein Genf mit allen Zerstreuungen und Vergnügungen viel zu lieb. Ist auch ganz gut so, er gießt doch nur kaltes Wasser auf all' unsere Fröhlichkeit. Wenn er nicht da ist, ist es noch einmal so hübsch.«

Die Mutter tadelte solche Reden scharf. Claire suchte die Abneigung zu bekämpfen, die sie nicht begriff.

»Seit wann hast Du eine Vorliebe für unausgebackene Semmeln?« fragte das tolle Mädchen. » Deiner ist doch braun!«

Sie that auch ihrer Zärtlichkeit für die Schwester keinen Zwang an, trotzdem sie sah, daß der Fremde sich ärgerte.

»Warum müssen die Mädchen denn ewig zusammenkleben? Sie sind doch keine Siamesen. Albern! in Deutschland thun das nur Backfische!« grollte Wehren.

Die Herren lachten, wenn er sich ereiferte. Sie sahen es gern, wenn die Liebe der Schwestern sich in zärtlichen Attitüden äußerte; sie erfreuten sich dann an dem Contrast, den die Braune mit der Blonden bildete. Keine verlor neben der Andern; die individuellen Reize Jeder traten nur schärfer hervor.

IX.

»Du kannst froh sein, Wehren, daß Du gestern herüber gekommen bist; in Deinem Genf soll es heute stürmen,« sagte der Hauptmann an einem der nächsten Abende. – »Tüchtig frisch, Wendt, was? Da können wir wieder herrlich frieren, wenn Dubois fille den Ofen versieht.«

»Herr Gott doch, ja!« Herr Wendt faßte sich entsetzt an den Kopf.

»Heizt sie nicht gut? Sind Sie unzufrieden mit ihr?« fragte besorgt Madame Mounod.

»Sie verschläft beständig das Nachlegen.«

»Noch wenigstens kann sie nicht schlafen, – es ist gerade acht Uhr, – vor der Hand sind Sie also sicher –«

»Was Sie nicht denken, Mademoiselle Claire! Dubois fille schläft immer. Sie sieht auch am Tage so aus, als wäre sie direct aus dem Bett aufgestanden.«

»Besonders was die Haare anbetrifft,« sagte Wendt.

»Das ist ja entsetzlich!« rief Berthe. »Hält sie Ihnen denn die Zimmer rein?«

»Dazu hat sie nicht Zeit; sie muß tagsüber den Kopf zum Fenster hinaus strecken.«

»Warum sprechen Sie nicht ernstlich mit der Mutter?«

»Dubois mère hat eine zu ausgeprägte Meinung von den Verdiensten und Talenten ihrer Tochter.«

»Talente? – Das Mädchen!«

»Bitte sehr, sie soll es sein, die die Trauerkränze macht.«

»Die Kränze von künstlichen Blumen, die im Fenster hängen?« fragte Wehren.

»Ja.«

»Dazu ist sie viel zu ungeschickt,« entschied der Hauptmann mit dem Brustton der Ueberzeugung.

»Bewundern Sie denn die Kränze so sehr?«

»Scheußlich häßlich sind sie, – aber ein gewisses Geschick ist doch nöthig dazu.«

»Sie sehen, verborgenes Talent!« sagte Claire, die gern die Gelegenheit wahrnahm, eine kleine Sentenz zum besten zu geben.

Madame hatte keineswegs Lust, die Chancen ihrer Töchter solcher verborgenen Talente wegen gefährdet zu sehen.

»Es muß Etwas geschehen! Wenden Sie sich an den Vater.«

»Madame, Sie scherzen.«

»Er ist ein gewissenhafter Mann. Ich bin überzeugt, es liegt ihm daran, Sie zufrieden zu stellen.«

»Er ist eine Seele von einem Menschen,« sagte Wendt.

»Blos kein Bein von einem Nachtwächter!« lachte der Hauptmann. Der Wächter der Sicherheit! – viel Angst muß ein Strolch vor ihm haben! Er kann ja keiner Fliege was anthun.«

»Er hat bei einem nächtlichen Rencontre einen Säbelhieb auf den Kopf bekommen. Seit der Zeit ist er so sanftmüthiger Natur,« erzählte Claire.

»Er sieht aus, als ob er täglich Etwas auf den Kopf bekäme,« sagte Wehren.

»Wäre kein Wunder bei der Frau!«

»Ist sie eine Xanthippe?«

»Huh! ich sage Ihnen, Fräulein Gärtner, das ist eine Frau. Stellen Sie sich gut mit der, sie ist sonst im Stande, Ihnen auf der Stelle einen Sarg anzumessen.«

»Angenehme Wirthsleute!« Frau von Neumann schüttelte sich. »Behüte mich Gott!«

»Lassen Sie sich Nichts einreden, meine Damen,« beruhigte Wendt, »sie ist eine ganz umgängliche Frau.«

»O, Herr Wendt kommt brillant mit ihr aus,« neckte der Hauptmann. »Das sollen Sie nur 'mal anhören! Neulich, wie ich dazu kam, machte er ihr gerade Elogen über ihr gutes Aussehen.«

Herr Wendt ließ sich die Spötteleien gutmüthig gefallen. »Ja, ja,« lächelte er, »das hat sie gern.«

»Lange Unterhaltungen auch! Wenn sie nur klatschen kann,« ergänzte Forbecker. – »Um aber auf unsere Oefen zurückzukommen, meine Herren, wäre es nicht das Beste, es ginge Einer nachsehen?«

»Dann will ich der Eine sein!« Herr Wendt, der in seiner Liebenswürdigkeit wieder vergaß, daß er bald sechzig Jahr alt war, stand bereits in der Thür. Der Hauptmann verhinderte ihn höflich und wollte selbst gehen.

» Mais, monsieur le capitaine, wir wollten doch heut Abend das neue Croquetspiel versuchen, das uns Loulou in Genf besorgt hat, – es ist gestern schon angekommen!«

»Ich komme wieder, Mademoiselle Claire!«

»Nein, nein, bleiben Sie nur,« sagte Herr Wendt, »Sie auch, Wehren, Sie sind Gast, – ich will so wie so ein paar Briefe zur Post besorgen.«

»Nun, brennt's?« fragte Wehren den Zurückkehrenden aus der Zimmerecke heraus, wo er mit Frau von Neumann zusammen den Spielenden zusah. Er hatte darauf gedrungen, daß Fräulein Gärtner an seiner Statt spiele; er wolle erst lernen, er hätte noch nie ein Tischcroquet gehandhabt.

Aber Wendts Antwort verhallte ungehört. Es ging gerade sehr lebhaft um den Croquettisch zu. Alles sprach auf den Hauptmann ein, der mit stoischem Lächeln die Beschuldigung hinnahm, daß er »schummele«.

»Ich sah es ganz deutlich,« eiferte Berthe, »er rückte den Bogen für Claire zurecht. Der stand vorher so, – sehen Sie!«

»Spielen Sie weiter, Mademoiselle Claire,« sagte der Hauptmann zu seiner Partnerin, als wäre Nichts vorgefallen. »Sie haben noch einen Stoß. Bitte, hierher, wo ich den Hammer halte!«

»Sie dürfen das nicht! – Das dürfen Sie aber nicht!« rief die Gegenpartei. »Sie ziehen ja das Band.«

Er lachte nur. »Famos! Famos!« sprach er, als Berthe in ihrer Aufregung Claires Kugel, die sie hatte weit forttreiben wollen, ihm gerade in bequeme Nähe gebracht hatte: » Merci, Mademoiselle!«

Fräulein Gärtner aber war ärgerlich: »Sie passen auch nicht ein bißchen auf, Mademoiselle Berthe.«

Berthe erröthete, es war die Wahrheit. Sie hatte zwar vorhin erleichtert aufgeathmet, als der Lieutenant erklärte, nicht mitspielen zu wollen; jetzt aber ertappte sie sich darüber, daß sie mehr als einmal in die Zimmerecke hinüberhorchte, wo er im Gespräch mit Frau von Neumann saß.

»Um so besser für uns,« frohlockte der Hauptmann.

»Nein, nein, das geht nicht! Sehen Sie nur, Mademoiselle Berthe, wie er den Hammer hält!«

»So müssen Sie ihn halten!« rief Berthe.

Hauptmann Forbecker faßte nach dem kleinen Händchen, das ihm indignirt den Griff zeigte, und schob es einfach beiseite. »Wie haben Sie unsere Zimmer gefunden, Wendt?« fragte er mit lächelnder Seelenruhe.

»Ein Glück, daß ich hinüberging. Zimmer eiskalt, Kohlen natürlich keine im Kasten. Auf mein Klingeln erschien Dubois fille, rieb sich die Augen und gähnte. Ich warf ihr sanft den Stand der Dinge vor; – und was antwortet sie: ›Ich hätte schon Kohlen nachgelegt, aber es waren keine oben!‹«

Alles lachte.

»Ich hoffe, Sie haben ihr Beine gemacht,« sagte der Hauptmann.

»Gewiß, und ich hab' ihr beim Fortgehen dringend die Oefen an's Herz gelegt.

»Sie wird Ihnen was husten!«

»Die Ermahnung geschah auch nur pro forma; ich habe so tüchtig nachgelegt, meine Herren, daß das Feuer halten wird, bis wir hinübergehen.«

Beruhigt setzte Forbecker seinen Hammer an und spielte weiter, das heißt, er schummelte mit der größten Kaltblütigkeit weiter unter dem stetig anwachsenden Unmuth der übrigen Spieler.

Die Gemüther begannen sich zu erhitzen. Man stritt, man zankte; es bewährte sich auch hier wieder glänzend der Erfahrungssatz, daß das Croquetspiel den Charakter verdirbt.

»Du bist hier nicht durch, Claire!«

»Doch, ich bin durch!«

»Nein! nein! nein!«

»Aber ja!«

»Du betrügst, Claire.«

»Berthe! Das ist eine Unverschämtheit!«

Claire rief den Hauptmann zu Hilfe! »Ist diese Kugel durch oder nicht?«

»Das kommt ganz darauf an, wem sie gehört. Ist es die Ihre, Mademoiselle Berthe?«

» Meine Kugel ist es!« rief Claire.

» Unsre Seite! Dann natürlich ist sie durch. Spielen Sie weiter, Mademoiselle Claire!«

Triumphirendes Lachen von Claire, Widerspruch von Berthe. Fräulein Gärtner erklärte, das wäre schon gar kein Spiel mehr. »Nehmen Sie sich doch wenigstens ein bischen zusammen, Fräulein Berthe!«

»Ja, Mademoiselle! Gewiß, Mademoiselle! Wo müssen Sie durch, Mademoiselle? Ich will Sie mit durchbringen.«

Fräulein Gärtner erklärte, aber Berthe hatte wieder nur halb hingehört. Ihre Ohren waren ganz anderswo.

»Aber Mademoiselle Berthe!« rief Fräulein Gärtner entrüstet.

» Mais j'ai chassé la balle!«

»Das ist ja die meine!«

» O, je vous demande mille fois pardon, mademoiselle!«

»Es macht Ihnen kein Vergnügen, mit mir zu spielen. Ich will meinen Hammer dem Herrn Lieutenant abtreten.«

Berthe protestirte auf's Lebhafteste. – Wehren wies die Sache sehr kalt ab.

»Wir verlieren aber die Partie!«

»Wenn Mr. Forbecker immer schummelt!«

»Das machen die Herren Offiziere so, scheint es!« sagte Fräulein Gärtner gereizt.

Der Hauptmann spielte ruhig weiter.

»Er ist nicht zu rühren!« murmelte Claire durch die Zähne und warf ihm einen Blick zorniger Verachtung zu. Sie führte einen so heftigen Stoß gegen ihre und Fräulein Gärtners Kugel, daß beide zur Erde fielen. Der Hauptmann hatte den ganzen Abend über Kugeln aufheben müssen, weil das Band, das den Spielraum begrenzte, sich als eine sehr unvollkommene Vorrichtung erwies; er that es auch jetzt wieder mit der größten Zuvorkommenheit. Fräulein Gärtner bat ihn, sich doch nicht unaufhörlich zu bemühen.

»Das machen die Herren Offiziere so!« gab er ihr scherzend zurück.

Fräulein Gärtner wurde roth. » Revanche pour Pavie,« flüsterte ihr Frau von Neumann im Vorübergehen zu.

»Es fuhr mir so heraus, ich hoffte, er hätte es nicht gehört!«

»Der!« sagte Wehren, »der hört Alles, und Sie können sicher sein, Sie bekommen es bei Gelegenheit wieder!«

»Fräulein Gärtner! Fräulein Gärtner!« riefen die beiden Mädchen. » C'est à vous! c'est votre tour maintenant.«

»Ach! es ist ja gleichgiltig, ob ich noch spiele. Wir haben ja doch verloren. Sehen Sie, da!« – – –

*

Es kam zu keiner zweiten Partie mehr. Das Interesse hatte auf allen Seiten nachgelassen, und auf allen Seiten herrschte Verstimmung. Selbst ein Gespräch wollte nicht mehr in Gang kommen; die Herren empfahlen sich bald.

»Weißt Du, ich glaube, das Croquetspiel langweilt sie,« sagte Berthe zu ihrer Schwester.

»Ach, Unsinn, Mr. Forbecker wollte nur schummeln und war ärgerlich, daß wir es bemerkten. Morgen muß Mr. Wehren es lernen, und dann spielen wir wieder.«

Diese Hoffnung sollte sich nicht verwirklichen. Als Claire nach dem Souper das Spiel hervorholte und mit Eifer auszupacken begann, erklärten die Herren, daß sie aufbrechen wollten, und sagten ohne Weiteres adieu.

Die Mädchen blieben erstarrt zurück. Sie hatten den Herren einen Vorschlag gemacht, und die Herren waren nicht sofort mit größter Bereitwilligkeit darauf eingegangen? Sie hatten ausdrücklich ihren Wunsch, zu spielen, zu erkennen gegeben, und diese deutschen Bären hatten die Unverschämtheit gehabt, zu erwidern, sie machten sich Nichts aus Croquet!

Weder aus dem Croquet noch aus ihrer Gesellschaft, so schien es. Welcher Franzose hätte je einer Dame einen solchen Affront geboten! Unerhört!

Berthe war die Erste, die sich ein wenig beruhigte. »Siehst Du, Claire, ich hatte Recht, es langweilt sie. – Mais c'est pourtant un peu impoli, n'est-ce-pas, madame?« wandte sie sich an Frau von Neumann.

»Lassen Sie die Herren nur gehen! Herren müssen 'mal einen Abend für sich haben, wir amüsiren uns auch ohne sie. Kommen Sie, wir spielen!«

»Oh, wir werden uns sogar noch viel mehr amüsiren,« meinte Claire. Sie war den ganzen Abend äußerst lebhaft, in einer lauten Art, die ihre Gereiztheit verrieth; Berthe dagegen hatte sich völlig in der Gewalt.

Die Mädchen sollten auf eine noch härtere Probe gestellt werden. Die Herren kamen auch am nächsten Tage nicht zum Vorschein, sie waren nach Montreux gefahren und ließen sich für Sonnabend und Sonntag entschuldigen.

Madame war unangenehm überrascht, zumal sie schon umfangreiche Kücheneinkäufe gemacht hatte, sie ließ aber ihre Enttäuschung nicht merken. Die Töchter folgten ihrem Beispiel, doch war es diesmal Claire, der es besser gelang, eine ungestörte Heiterkeit zur Schau zu tragen. Selbstverständlich besaßen alle drei Damen Tact genug, die Ausreißer so zu empfangen, als hätte ihre Desertion nicht den mindesten Eindruck gemacht; und die Nachricht, daß Lieutenant Wehren auch wieder mit zurückgekommen sei und in kurzer Zeit den Damen seine Aufwartung machen würde, versetzte wirklich Alles sogleich in die beste Laune.

Mr. Wehren wieder mitgekommen? – zeigte das nicht? –

Madame sprach den Gedankengang, der sie so sichtlich befriedigte, nicht aus, wurde aber ganz Huld, ganz Liebenswürdigkeit.

Bei den jungen Leuten hatte die kurze Trennung allseitig eine wärmere Stimmung erzeugt, sie kamen sich mit größerer Bereitwilligkeit und Duldung entgegen. Claire hatte nicht so viel an dem Hauptmann auszusetzen, Forbecker war sehr mittheilsam, sehr aufgelegt, die Damen zu unterhalten, die mit Gier aufsogen, was ihnen von der modischen Welt, von welcher sie abseits lebten, und dem Fremdenzufluß erzählt wurde. Selbst Lieutenant Wehren wurde nachsichtiger, er schien fast mit Vergnügen Berthe zuzuhören, die in sehr lieblicher Weise lachte und schwatzte; sein Gesichtsausdruck war versöhnlicher, seine Haltung weniger abweisend.

Berthe mußte wohl diese größere Duldsamkeit herausfühlen, obwohl sie durchaus vermied, in seine Richtung zu blicken; sie gab sich immer unbefangener und zeigte sprudelnden Uebermuth. Das Mädchen besaß in hohem Grade das, was die Franzosen »esprit« nennen. Ihre schnellen Antworten, ihre neckischen, witzigen Ausfälle, immer fein, immer anmuthig, entzückten Herrn Wendt, er unterbrach ungeduldig Madame Mounods Ermahnungen: »Lassen Sie sie! Lassen Sie sie! Sie ist heut vollkommen bezaubernd.«

»Ja, ja, nehmen Sie sie nur noch in Schutz! Das ist genug, um sie ganz zu verderben. Da treibt sie's immer ärger.«

»Ach!« seufzte Berthe und schlug kokett die Augen auf, »wie schön es die Tage ohne die Herren war! Da konnte man ungestraft lustig sein, nun geht das Schelten schon wieder los.« Sie wandte sich halb herum, so daß sie Lieutenant Wehren, ohne ihn anzusehen, doch in ihre Anrede mit einschloß: » Mère tadelt mich immer nur, wenn Sie hier sind, wissen Sie. Sie fürchtet, ich gefalle Ihnen nicht. Sonst kann ich lachen und tollen, so viel ich will.«

Madame warf ihrer Tochter einen zornigen Blick zu. Das enfant terrible blickte unschuldig in's Weite.

Lieutenant Wehren konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die Offenheit dieses Kobolds war unbezahlbar; ihr wenigstens lag jede Intrigue fern. Wie hübsch das Mädchen heute aussah! Wie sich ihr feines Gesichtchen belebte! – Das Augenwerfen? – Das gehörte zu ihr. Ihre Koketterie war die Natürlichkeit selber.

»Sie haben uns immer noch nicht gebeichtet, wie Sie die Abende zugebracht haben.« Claire hatte die Frage schon mehrmals gethan, sie brannte darauf, einen Einblick in die Verhältnisse zu gewinnen, und Hartnäckigkeit bildete eine Haupteigenschaft ihres Charakters.

»Waren Sie in der Tonhalle?« Sie sprach das Wort: »Tohnàll« aus.

Die Tonhalle war das Local, in dem die deutschen Offiziere in Montreux verkehrten und allwöchentlich ihren »Abend« hatten.

»Oder waren Sie im Theater?«

»Eines schließt doch das Andere nicht aus, Claire; erst das Theater, dann die Tonhalle!«

»Welch ein Scharfblick, Mademoiselle Berthe! Aber Ihrem unschuldigen Gemüth entzieht sich die dritte Combination doch!«

»Hörst Du, Berthe, noch mehr! Was können die Herren noch gemacht haben?«

»Getanzt! Es gab sicher irgend einen bal masqué oder poudré.«

»Fehlgeschossen! viel schlimmer!«

» Joué aux cartes?«

»Viel schlimmer!«

» Au hazard?«

»Nicht ganz, – das heißt, wenn Sie wollen –«

»Ich hab's!« rief Berthe, » vous avez joué aux petits chevaux.«

»Richtig gerathen! Bravo!«

»Haben Sie auch gewonnen?«

»Unanständig!«

»Ah! – nicht möglich! – Erzählen Sie! – Sagen Sie, wieviel?«

»Ich schäme mich!«

»Wieviel? wieviel?«

»Nun, wenn es denn sein muß, – wir Beide zusammen«, – der Hauptmann lachte entschuldigend, – »hundertsechzig Franken.«

» Mère, entends-tu? Hundertsechzig Franken. – Aber das ist ja nicht möglich. Sie müssen die ganze Nacht gespielt haben, und selbst dann, – wie haben Sie das nur angestellt?«

»Ganz einfach! Wir haben uns einen Plan gemacht.«

»Einen Plan?« – Sämmtliche weibliche Augen starrten ungläubig auf den Sprecher. »Aber es ist doch der reine Zufall?«

»Man muß dem Zufall zu Hilfe kommen!«

Berthe sah den Hauptmann erstaunt an, Claire warf ihm von unten herauf einen ihrer lauernden Blicke zu.

»Sie müssen berechnen.«

»Wie läßt sich da Etwas berechnen? – Wo die Pferdchen stehen bleiben, da bleiben sie eben stehen.«

»Mit absoluter Sicherheit läßt es sich freilich nicht sagen; man macht eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie geben Acht, welche Nummer an dem Abend während längerer Zeit nicht herausgekommen ist; auf diese Nummer setzen Sie dann das Achtfache. Verliert sie, – gut. Sie haben dann acht Franken verloren. Die Nummer verliert wieder und wieder, – gut! Sie verlieren dann bis zu vierundzwanzig, zweiunddreißig, vierzig Franken.«

»Welch ein Risico!«

»Ja, aber dann gewinnen Sie zuletzt; einmal muß doch die Nummer herauskommen, das ist ziemlich sicher. Sie haben dann den achtfachen Gesammteinsatz gewonnen; das macht, sagen wir, vielleicht zweihundert Franken. Davon ab vierzig, Ihr Verlust. – Bleiben Ihnen noch immer hundertsechzig Franken reiner Gewinn!«

So ungefähr erklärte Hauptmann Forbecker seinen Zuhörerinnen lächelnd den Vorgang oder versuchte wenigstens ihn zu erklären; denn Frauen, obwohl sie drei- oder viermal fragen, haben danach gerade so viel von solchen Dingen verstanden, wie vorher.

Wendt verfolgte innerlich belustigt die Anstrengungen der Damen, in dieses schwierige Rechenexempel einzudringen. Eine merkwürdige Veränderung aber war mit Wehren vor sich gegangen. So regungslos er auch noch auf dem Stuhl saß, auf dem er rittlings Platz genommen hatte, in seiner Haltung offenbarte sich ein concentrirtes Leben. Seine Hände hatten sich um die Stuhllehne gekrampft, jegliche Apathie war aus seinem Wesen verschwunden, jeder Muskel seines Gesichtes gespannt. Die Lider, die sonst schlaff und schwer über die Augäpfel fielen, waren unheimlich weit geöffnet, und in den Augen brannte ein Feuer, das den Körper von innen heraus verzehren zu wollen schien.

Hätte Berthe jetzt aufgesehen, vielleicht wäre ihr trotz ihrer Jugend aufgegangen, was diesem Antlitz den Stempel aufdrückte, welches die unglückselige Leidenschaft war, die diesen Mann beherrschte.

Aber Berthe sah nicht auf; sie war noch wie die anderen Damen bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit der man hundertsechzig Franken gewinnen konnte.

»Wie systematisch Sie vorgehen!« sagte Fräulein Gärtner. »Sie müssen sich außerordentlich auf so Etwas verstehen. – Ist Ihr Freund auch so ein leidenschaftlicher Spieler wie Sie?«

»Der! –« sagte Forbecker, indem er sich halb lachend, halb verurtheilend zu dem Lieutenant umdrehte. Er verharrte erschreckt in seiner Stellung.

Wehrens Gesichtsausdruck entsetzte ihn förmlich. Er kannte dieses gespannte Gesicht, er wußte, welcher Dämon sich wieder seines Freundes zu bemächtigen suchte. Wehren war bei Fräulein Gärtners Frage zusammengezuckt wie ein Verbrecher.

Der Hauptmann wurde furchtbar ernst; seine Einsilbigkeit, die plötzliche Abnahme seiner guten Laune war so sichtlich, daß die Damen nicht umhin konnten, sie zu bemerken.

»Sie haben ihn vielleicht verletzt, Fräulein Gärtner,« sagte mit sanftem Vorwurf Frau von Neumann, nachdem die Herren sich entfernt hatten. »Weil man nach einem Plan spielt, darum ist man doch noch kein leidenschaftlicher Spieler. Er ist ein so ehrenwerther, braver Mensch.«

»Ja, glauben Sie denn, daß er das übelgenommen haben kann?« fragte bestürzt Fräulein Gärtner. »Ich habe ja gar Nichts damit gemeint.«

Frau von Neumann that es schon wieder leid, etwas gesagt zu haben: »Vielleicht auch nicht, vielleicht irre ich mich. Denken Sie nicht mehr daran!«

X.

Hauptmann Forbecker hatte Nichts übelgenommen.

Was ihn so plötzlich hatte verstummen lassen, war die Sorge um Wehren gewesen. Er machte sich die bittersten Vorwürfe, durch den Abend in Montreux in seinem Freund die Lust am Hazardspiel wieder erweckt zu haben. Als er vorschlug, den Abend im Kursaal bei den » petits chevaux« zuzubringen, hatte er nicht im Entferntesten daran gedacht, daß selbst die Anregung dieses scheinbar so unschuldigen Spieles auf eine Natur wie die Wehrens verhängnißvoll wirken müsse. Der Sohn eines Mannes, der sich und seine Familie durch die Leidenschaft für den grünen Tisch an den Rand des Verderbens gebracht hatte, der seine Ehre, seinen Namen und seine Stelle im Offizierscorps nur noch knapp mit dem Vermögen seiner Frau hatte retten können, hatte Wehren mit den glänzenden Gaben des Vaters als traurigste Hinterlassenschaft auch dessen unglückselige Neigung geerbt. Freilich war er nicht nur seines Vaters, er war auch der Mutter Sohn. Von ihr hatte er das muthige Herz, den lauteren Sinn, den edlen Charakter, Alles, was ihm die Achtung der Kameraden, die Bewunderung und die opferwillige Liebe der Seinen einbrachte. Denn wie die Mutter gedarbt hatte, um ihm die Laufbahn des Vaters zu eröffnen, so darbten jetzt die Schwestern, damit der begabte Bruder nicht in seiner glänzenden Carriere behindert würde. Seine Erziehung, seine guten Anlagen mußten den Sieg über eine traurige Charakterschwäche davontragen können.

Auf diese Ueberzeugung hin hatte auch der Onkel mehrfach leichtsinnige Spielschulden des Neffen bezahlt, hatte er seine Schwester zu beruhigen gesucht, die um dieser jugendlichen Fehltritte willen sich schon mit den schlimmsten Befürchtungen trug.

Ach! Die Mutter kannte von dem Gatten her die Gewalt der Gelegenheit, die Spieler macht, wie Diebe, und in der Angst der Todesstunde hatte ihr Eduard in die erkaltende Hand geloben müssen, nie wieder Karten und Würfel zu berühren. Wenn sie nur in dieser Hinsicht sicher war, so konnte sie ruhig sterben; durch die Erbschaft ihres Bruders, des reichen Junggesellen, war für ihre Kinder gesorgt. –

Hauptmann Forbecker faßte sich an den Kopf. Wenn er jetzt schuld war, daß der Freund sein heilig gegebenes Versprechen brach! – Er hatte Wehren an dem Abend fast nicht mehr aus dem Saale zu entfernen vermocht, – und jetzt – und jetzt –

Wehren wollte nach Montreux zurück. Er war kaum zu halten.

Wie ein wildes Thier, das Blut geleckt hat, dachte der Hauptmann bei sich, aber er darf nicht hin. Ich laß ihn jetzt nicht mehr allein, er muß her zu mir. Mit Ueberredung oder Gewalt, ich bring' ihn dazu, daß er herkommt.

Der Hauptmann hatte sich keine leichte Aufgabe gestellt. Wehren wollte Nichts mehr davon wissen; es beherrschte ihn nur eine Idee, er wollte nach Montreux zurück.

»Ich begreife nicht, was Du in dem langweiligen Nest willst, – Du kennst doch dort Niemand.«

Wehren beharrte auf seiner Absicht. Jetzt hielt es der Hauptmann für an der Zeit, ein deutliches Wort zu sprechen.

»So will ich Dir sagen, was Dich nach Montreux zieht, – Du willst spielen!«

Der Andere fuhr auf.

»Laß mich ausreden, Wehren. – Es nennt sich › aux petit chevaux‹, aber Spiel ist Spiel, ich bin ein Esel, daß ich daran nicht gedacht habe. Du gehst mir nicht mehr nach Montreux zurück –«

»Willst Du es etwa verhindern?«

»Ja,« antwortete Forbecker stark.

Der junge Mann erhob sich beleidigt, aber sein Freund drückte ihn auf den Stuhl nieder.

»Hör mich an,« sagte er, ihm beschwörend die Hände auf die Schultern legend. »Du siehst nicht, was Du thust, noch wohin Du treibst. Du willst Dir nicht Rechenschaft ablegen über Deinen Zustand; so sollst Du von mir hören, wovor Du stehst, – vor der Gefahr, Dein Versprechen zu vergessen! –«

»Forbecker!« schrie Wehren.

»Ja – ja! Da bist Du angelangt, – verhehle Dir's nicht! Du denkst nicht an Deine Schwestern, an Elsbeth, an – – an« –, er stockte einen Augenblick, – »an Marie! Noch denkst Du an Deine Mutter, – nein, nein, Du thust es nicht! – Mensch, Dein Eid! willst Du ein Wortbrüchiger werden, ein Ehrloser, wie –«

Wehren schüttelte die Arme seines Freundes ab und sprang auf wie rasend.

»– wie Dein Vater!« vollendete der Hauptmann langsam, mit wuchtiger Betonung, indem er ihm furchtlos in die Augen sah.

Der Unglückliche zuckte zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht und stürzte fort gleich Einem, der vor sich selber flieht.

Der Hauptmann sah ihm nach: »Für diesmal, denk' ich, ist er gerettet!« Er athmete erleichtert auf. »Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen! – Ich ihn verleiten, ich ihn zu Grunde richten, – ich – der ich mein Leben hingeben möchte für die Seinigen, für Marie!« Er sagte den Namen sehr leise, sehr schüchtern, sehr innig, seine Stimme war unsicher geworden, er hatte Thränen in den Augen.

Beschämt wischte er sie weg. »Zum Teufel auch, ich will doch nicht, daß ein Mensch in die Brüche geht, den ich liebe wie meinen Bruder.«

Berthe wurde immer mehr, immer häufiger gescholten. Nichts aber ertrug sie weniger als Tadel; wenn man sie nicht gewähren ließ, trieb sie es nur noch ärger. Sie that das schon, um zu beweisen, daß sie unabhängig sei und sich aus dem Mißfallen Wehrens Nichts machte, auf den sie, als den Urheber des strengeren Regimentes, einen förmlichen Haß geworfen hatte.

Eines Abends tadelte Madame sie ganz besonders scharf in Gegenwart aller. Berthe stieg das Blut zu Gesicht; sie hatte schon an Wehrens finsterer Miene genug gehabt, es war nicht nöthig, daß noch diese Zurechtweisung kam. Sie wurde wilder als je.

Madame, halb im Scherz, halb schon im ernsten Unwillen, suchte sie zu haschen, um ihr den Text zu lesen. Aber Berthe entfloh und verschanzte sich hinter den deutschen Damen.

»Wart' nur! hab' ich Dich erst heut Abend im Bett, da sollst Du mir nicht mehr entwischen, da sollst Du's zu hören bekommen!«

»Finden Sie das nicht schrecklich, daß Mama einem im Bett Strafpredigten hält? – Aber ich höre nicht hin, ich ziehe mir die Decke über die Ohren.«

»Und wenn Du Dir die Decke über die Ohren ziehst, und Dich schlafend stellst, hören mußt Du es doch!« Madame sprach durch die Zähne, ihre Stimme klang unheilvoll drohend.

»Bah!« lachte Berthe. Sie wurde nur toller. Ja, noch mehr, auf alle Verweise gab sie ihrer Mutter Wort für Wort in unendlich schnippischer, ungehöriger Weise zurück.

Claire hatte im Anfang ihre Schwester vertheidigt; Berthes Ungezogenheiten aber entsetzten sie so, daß sie für die Mutter Partei nahm.

»Zwei gegen Einen!« sagte Berthe erbittert, da sie auf allen Gesichtern ihre Verurtheilung las. Ihre Wildheit kannte nun keine Grenzen mehr. Zuletzt rauschte Madame völlig aufgebracht zum Zimmer hinaus.

Berthe sah ihr erschreckt nach. – Sie hatte gar nicht die Sache so auf die Spitze treiben wollen. Das Vergnügen am Antworten, der Tadel, der stummberedte Vorwurf Aller hatten sie fortgerissen. Jetzt saß sie ganz kleinlaut da und ganz still.

Um der Unbehaglichkeit der Situation ein Ende zu machen, schlug Herr Wendt ein Mittel vor, das von ihm in den schwierigsten Lebenslagen erprobt worden war, nämlich einen »kleinen Grog«.

»Was? schon wieder!« rief Fräulein Gärtner.

»Aber, mein Fräulein, wir haben diese Woche erst dreimal ›gegrogt‹. Das ist doch nicht viel. Gestehen Sie, gestehen Sie nur, Sie sind ganz gern dabei. Wie denken Sie über die Sache, Frau von Neumann?«

»Daß Sie doch nicht eher glücklich werden, als bis wir alle miteinander fröhlich um die dampfenden Gläser versammelt sind.«

»Also Sie sind von der Partie. – Nancy! heiß Wasser! – Die Gläser, Mademoiselle Claire – ich hole den Rum!«

»Ich hab' ja noch welchen oben!«

Ein Vorrath von Rum und Zucker war für solche Fälle bei Frau von Neumann deponirt worden.

»Das Bischen? – Wie weit reicht denn das?«

»Das reicht vollkommen, Sie Schlemmer! Wir dürfen im Interesse der jungen Damen die Sache nicht ausarten lassen.«

Die jungen Damen hatten sich nämlich völlig daran gewöhnt, Abend für Abend ihr Glas Grog zu sich zu nehmen, was Fräulein Gärtner, die allem »Geistigen« abhold war, vielleicht strenger verurtheilte, als nöthig war. Sie begriff nicht, wie die Mutter diesen Mißbrauch gestatten konnte. Die Mutter liebte aber selber ein Gläschen, – nur kalt.

Sobald alles Nöthige zur Stelle war, ging Herr Wendt an das Mischen. Er reihte die Gläser vor sich auf, das größte für Madame, das nächstgroße für Frau von Neumann, dann die kleinen. Erst kam, – nach Geschmack der Einzelnen, – Zucker hinein, dann ein wenig Wasser, um den Zucker zu lösen; dann wurde mittelst eines Liqueurgläschens der Cognac abgemessen, ganz genau, ganz genau. Dieses wichtige Geschäft erforderte vollste Aufmerksamkeit; ein Gläschen für Madame und die jungen Mädchen, anderthalb für Frau von Neumann.

»Anderthalb?« sagte der Hauptmann mit gutgespielter Entrüstung. »So viel wie für die Herren?«

Frau von Neumann entschuldigte sich lachend mit ihrem größeren Glase.

Wendt mischte mit heiligem Ernst; er antwortete nicht. Wohlgefällig beschaute er endlich seiner Hände Werk: acht Gläser gefüllt mit der klaren, goldgelben herrlich duftenden Flüssigkeit.

»Wohl, nun kann der ›Suff‹ beginnen!« declamirte der Hauptmann unter dem Lachen aller anwesenden Deutschen.

»Aber wo bleibt denn Madame?« fragte Wendt. – »Madame muß auch kommen, Fräulein Claire.«

»Ich bin nicht sicher, daß mère heut überhaupt Grog trinken will, sie klagte über Kopfschmerzen.«

»Probates Mittel gegen Kopfschmerzen, Fräulein Claire!«

»Der Mann heilt Beinbruch damit, wenn's darauf ankommt,« meinte Forbecker lachend.

»Wer hat heut die Citrone vergessen?« neckte Wehren.

»O, ich hab' eine oben!« rief Fräulein Gärtner.

Berthe sprang bereitwillig auf, sie zu holen.

»Frag auch gleich Mutter, ob sie Grog haben will,« rief ihr Claire nach.

Da drehte sich Berthe plötzlich wieder um, kam mit niedergeschlagenen Augen zu ihrem Stuhl zurück, beugte zerknirscht den Kopf und murmelte fast unhörbar: » Je – je n'ose pas.«

Der Hauptmann lachte laut auf: »Aha!« Alle Andern lächelten. Lieutenant Wehren war aufgesprungen und machte eine Bewegung, als wollte er das Mädchen an sich reißen. Er stand und hielt die Stuhllehne gefaßt, während seine Augen sie verschlangen.

Berthe hatte wohl die Bewegung gehört. Sie lauschte mit verhaltenem Athem in die Richtung; aufzublicken wagte sie nicht. Erst als der Lieutenant sich wieder setzte, wandte sie sich langsam ihrer Schwester zu: »Geh Du!« – und halb schon wieder in ihrer alten Art fügte sie hinzu: »Da kannst Du auch gleich die Citrone mitbringen!«

Claire blieb lange fort. Aus dem Nebenzimmer klang ihre bittende Stimme, tönten die erregten Antworten der Mutter. Berthe senkte wieder mit schuldbewußter Miene den Kopf.

Als die Mutter endlich eintrat, suchte das Mädchen durch allerhand zarte Rücksichten eine Versöhnung anzubahnen, hielt sich jedoch ängstlich in respektvoller Entfernung.

»Aha! Du wagst nicht näher zu kommen. Das macht das böse Gewissen.«

Da flog sie auf die Mutter zu, umschlang sie und leistete unter tausend Küssen und Schmeicheleien Abbitte. – –

»Gute Nacht, Mademoiselle Berthe!«

Berthe hob überrascht den Kopf. Das war das erste Mal, daß Lieutenant Wehren anders als mit einer steifen, stummen Verbeugung von ihr Abschied nahm. Heute streckte er ihr sogar seine Hand entgegen.

Wie weich, wie warm seine Stimme klang! Wie freundlich seine Augen sie ansahen! Nie hatte er so zu ihr gesprochen, nie sie so angeschaut.

Berthe blickte in seine Augen und wußte, daß ihr verziehen war; wußte aber auch, ohne daß ein weiteres Wort fiel, daß der Mann da, bisher ihr Widersacher, ihr Mentor, sie in dieser Minute an sein Herz genommen hatte.

Sie erhob ein strahlend dankbares Kinderantlitz zu ihm, aus dem er wohl noch etwas Anderes herauslesen mochte als bloße Dankbarkeit, ein Dämmerndes, unendlich Scheues, Süßes. Denn seine blauen Augen flammten plötzlich auf, und er umschloß mit festem Druck das Händchen, das schüchtern, mit leisester Berührung kaum seine Rechte gestreift hatte.

Lieutenant Wehren schritt in Gedanken versunken an der Seite seines Freundes dahin; vor seiner Seele stand das süße Gesicht des Mädchens. Und plötzlich, durch seltsamste Ideenverbindung, sah er sich als Knaben mit den Geschwistern im heimatlichen Garten. Auf der Veranda des epheuumrankten Landhauses stand ein Tisch, mit schneeweißem Linnen bedeckt, und auf demselben eine mächtige Schüssel blauer Pflaumen, Pflaumen von seinem Lieblingsbaum, wie sie der Gärtner für ihn in den Ferien gepflückt hatte, ganz frisch, ganz unberührt, mit dem bläulichen Flaum.

Das war der Unterschied zwischen den Schwestern.

Berthe war die blaue Pflaume, ganz Hauch, ganz Frische, ganz Unberührtheit. Claire, wie ein Ballkleid, das schon einmal getanzt hat, oder wie eine, sei es selbst tadellose Frucht, von der rauhe Hände, – vielleicht die der Mutter, deren Vertraute sie war, – mit grober Berührung den Duft gestreift hatten.

Sprung in der Kapitelnummerierung von X nach XII. Re

XII.

»Ich kann Euch heut wirklich nicht nach Lausanne begleiten, Forbecker!« sagte Lieutenant Wehren. »Du weißt, ich habe Marie noch nicht geschrieben. Die Kleine wartet auf Antwort.«

»Du wirst doch das nie und nimmermehr zugeben?« rief Forbecker heftig.

»Bleibt mir etwas Anderes übrig? Ich sehe nicht, wie ich die Erlaubniß verweigern kann; ich bin den Mädchen doch keine Stütze, nur Ausgabe, Sorge, – weiter Nichts. Zum Heirathen ist Marie zu arm und Du auch, armer Freund! – Still, still, sage mir Nichts, ich kenne Dein heimliches Sehnen. Und warum hätte sie wohl jeden Anderen abgewiesen? – Wie Du roth wirst! – Armer Kerl! Du weißt ja, wie die Verhältnisse liegen. Solange der Onkel lebt, ist eine Aenderung nicht zu erwarten. Das Kind hat einen selbstständigen Geist, ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie sich unabhängig machen will.«

»Unabhängig? Als Gesellschafterin unabhängig? Abhängig ist sie von jeder Laune, von jeder Brutalität.«

»Glaubst Du, mir greift es weniger an's Herz, unsere Jüngste hinauszulassen? – Aber sie leiden Noth zu Hause.«

Forbecker fuhr verzweifelt in die Höhe.

»Ja, ja, Noth! – Gott, daß sie mich noch fragen, ob es mir auch recht ist, ob es auch unsern Namen nicht schädigt. – Unsern Namen!« Wehren lachte grell auf. »Geht Ihr allein! Mir liegt der Brief auf der Seele. Ich will nach Genf zurück.«

»Glaubst Du, mir ist nach einem Ausflug zu Muth? Ich schlage vor, wir verschieben's.«

»Nicht doch, keineswegs! Kroneck erwartet Euch. Ihr könnt ihn nicht im Stich lassen. Entschuldigt mich bei ihm.«

Aber Lieutenant Wehren ging nicht sogleich auf die Bahn, nachdem die Herren, die bei dem schönen Wetter die Fahrt per Dampfer machten, sich von ihm verabschiedet hatten. Es war keine angenehme Aufgabe, den Brief zu schreiben; er schob sie gern hinaus.

»Armer Kerl!« sagte er, noch in Gedanken bei seinem Freunde weilend. »Ich weiß wohl, sie liebt ihn auch. Aber das Geld, das leidige Geld!«

Langsam schlenderte er einen Feldweg entlang, der ihn allmählich bergan und unerwarteter Weise wieder an das Haus auf dem grünen Hügel zurückführte, freilich von oben her. Der Pfad mündete vor der Küche aus, Wehren kletterte also rechts herunter, auf die Hundehütte zu. Blase war fort, ein sicheres Zeichen, daß Blase's Herr auch nicht zu Hause, sondern auf einer Tour in die Berge war.

Berthe? sollte Berthe nirgends zu sehen sein? Sie machte am Morgen immer die Zimmer rein, während Claire auf dem Balcon unter dem Dach ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Klopfen aller irgendwie ausklopfbaren Kleidungs- und Wirthschaftsstücke, oblag. Die Kameraden hatten von einer Vision gesprochen, die sie manchmal gehabt: Berthe mit Lockenwickeln auf der Stirn, Besen in der Hand, in weißer Flanelljacke, kurzem Röckchen und langer Schürze, das Zahnschmerzentuch der Mutter um den Kopf. Wenn sie vielleicht –?

Er guckte durch ein offenes Fenster. – Das Zimmer war leer und bereits gesäubert. – Vorsichtig lugte er um die Ecke. Auf der Terrasse war Niemand. – Aber halt! Unten vor dem Hause schimmerte Etwas, – das war ein beigefarbener Rock, das war Berthe!

Sie stand halb abgewendet, das Auge von Sehnsucht erfüllt, und sah hinaus über den See. Das feine Profil war ihm zugekehrt, – er sah die Lippen sich leise öffnen; wie ein Hauch drang es zu ihm, in der eigenthümlichen Betonung der Französin, die letzte Silbe lang gezogen:

»Edouard!«

Himmel! – Sein eigener Name!

Er stürzte vorwärts.

Aus dem Hauch wurde ein Aufschrei, als sich das Mädchen von zwei starken Armen umfangen und an ein heiß klopfendes Herz gepreßt fühlte. Sie wollte sich losreißen, aber eine Stimme, die sie hörte, wo sie ging und stand, flüsterte dicht an ihrem Ohr: »Berthe! liebe Berthe!«

Da änderte sich ihre Bewegung. Ein scheues Lächeln huschte über ihre Lippen, sie schloß die Augen, und mit einem seligen Seufzer, wie ein Kind, legte sie den Kopf zurück an die Brust des Mannes, der so lange ihr Widersacher gewesen war.

*

Er hielt sie fest umschlungen, und sie lag in seinem Arm mit geschlossenen Augen, als sei dieses Glück ein Traum, der zerrinnen müsse, wenn sie die Augen öffne.

Da schlug vom Hause her ein Geräusch an ihr Ohr. »Geh!« sagte sie schreckhaft und drängte ihn hastig mit beiden Armen von sich.

»Was hast Du, Liebste?«

Sie war scheu von ihm weggetreten:

» Va-t-en! je t'en prie!«

Er zögerte. Sie blickte ihn beschwörend an, richtete aber gleich ihre Augen wieder auf den See. Er sah, wie sie die Hände, die sie unauffällig vor sich hinhielt, flehend zusammenlegte. » Par pitié!«

Er ging.

*

Was war das für eine sonderbare Idee? Warum hatte sie ihn fortgeschickt? Liebte sie ihn denn nicht?

Doch! doch! sie liebte ihn. – Ein heißer Strom der Seligkeit durchfluthete sein Herz. Wie in einem Taumel des Glücks wiederholte er: »Mein! mein! – süße, kleine Berthe!«

Er blickte sich um.

Der See blitzte blau, die Sonne leuchtete die Schneeberge auf; Glanz, Glanz in der Natur, wie in seinem Herzen! Die Boote flogen wie selige, weiße Vögel über die schimmernde Fläche, und unten am Landungsplatz tanzten weiße Punkte in der klaren Luft; das waren die zierlichen Möwen, die die Brotkrumen im Fluge haschen, wenn man sie füttert. – Sein Glück! sein Glück!

XIII.

Wehren legte die ganze Reise wie in einem Rausche zurück, er schrieb den Brief an seine Schwester so ermuthigend, so voller Hoffnung, daß er sich selber wunderte. Die sorgenvolle Stimmung, die vorhin Forbeckers Worte in ihm erzeugt hatten, war verflogen. Nur noch eine kleine Weile ausharren, dann war ihrer Aller Prüfungszeit beendet. Der Tod des Onkels würde sein Glück, würde auch Mariens und des Freundes Glück begründen. Es lag Alles so einfach, so klar! –

Aber warum war Berthe zuletzt so seltsam gewesen? Der Sache mußte er doch auf den Grund zu kommen suchen!

Mr. Anatole war zwar noch immer nicht zu sehen, aber er war manchmal zu hören. Wenn er Niemand im Hause anwesend glaubte, erging er sich im Speisezimmer in freien Phantasien auf dem Clavier. Claires größtes Vergnügen war dann, neben ihm zu stehen und zuzuhören, in sein sich belebendes Gesicht zu blicken.

»Aber man muß sich in Acht nehmen, ihn nicht zu viel anzusehen, ihm nicht zu tief in die Augen zu blicken, sich nicht in ihn zu verlieben. Er ist gefährlich schön,« meinte sie.

Der »gefährlich schöne« Sohn wurde fortan bei den Deutschen das geflügelte Wort, wenn die Rede auf Anatole kam, was jetzt wieder häufiger der Fall war.

»Sie wissen doch,« wandte sich Madame Mounod an Herrn Wendt, der als ältester Pensionär eine Art erklärter Vertrauter und Hausfreund war, »Sie wissen doch, wie sehr seine Arbeit ihn in Anspruch nimmt und wieviel von der Entscheidung abhängt. Denken Sie aber, daß die Sache selber von der Stelle rückt? Nicht im Geringsten! Seit bald sechs Wochen arbeitet der arme Junge angestrengt über dem Entwurf.«

»Er macht ihn doch nicht umsonst?«

»Nein, nein! Aber noch hat er doch Nichts dafür. Stellen Sie sich nun vor, ein Mensch von achtundzwanzig Jahren, der gewöhnt ist, sich selbst zu erhalten, und der nun seit Monaten seiner Familie zur Last fällt. Und die Sicherheit kommt nicht. Da können Sie es begreifen, nicht wahr? daß er gar nicht mehr unter Menschen gehen mag!«

Der Hauptmann hatte diese und andere Andeutungen lange nicht verstanden, bis Wendt ihm einmal sagte, daß es sich um eine Redacteurstelle an einer neu zu begründenden Handelszeitung handle. Mr. Anatole, der mehrere Jahre hindurch bei der Redaction einer andern Zeitung beschäftigt gewesen, war als geeignete Persönlichkeit vorgeschlagen worden. Man hatte ihn beauftragt, ein Probeblatt herzustellen. Er sollte darthun, wie er die Zeitung zu leiten gedachte in Bezug auf Färbung, Charakter und Anzahl der Artikel und Nachrichten. Er sollte das Format, die Seitenzahl und Spaltenbreite, überhaupt die ganze Anordnung bestimmen, sowie sämmtliche Ausgaben berechnen und dem Comité zur Begutachtung vorlegen. Zwei Dinge waren bei dem Entwurf besonders in's Auge zu fassen. Es mußte erstens, was den Inhalt betraf, jede Collision mit den bereits bestehenden Zeitungen, von denen das »Journal« hauptsächlich Politik, die »Tribüne« hauptsächlich Localnachrichten brachte, vermieden werden; zweitens aber mußte derselbe anziehend genug sein, um eine gewisse Abonnentenklasse zu gewinnen, deren man bedurfte, wenn die Herstellungskosten herausgeschlagen und den Actionären genügende Sicherheit für ihre Capitalanlagen gewährt werden sollte.

Mr. Anatole hatte bereits mehrfach mit dem Comité und dem Director der Actiengesellschaft Rücksprache genommen, auf Wunsch den Entwurf geändert und wieder geändert. Aber die Angelegenheit zog sich in die Länge und wurde zur schweren Sorge für die Familie.

Daß sie die einzige Sorge nicht war, dafür zeugte das Gesicht der braunen Claire, dazu brauchte man sich ja auch nur im Hause umzusehen. Die beschränkten Räumlichkeiten, die armseligen Möbel, das unsaubere Dienstmädchen, das ganze, sehr primitive Chalet mit seinen verfallenden Mauern, die nie ausgebessert wurden, Alles sprach von peinlichster Armuth. Die hocharistokratischen Besucher, die zuweilen zu Frau von Neumann kamen, brachen zwar alle sammt und sonders über den malerischen Eindruck und die primitive Einfachheit des Chalets in Entzücken aus; aber diese hocharistokratischen Besucher wohnten in den besten, comfortabelsten Hotels von Vevey, Montreux, Lausanne und Genf. Da wurde ihnen das Entzücken leicht. Hätten sie, wie Mr. Mounod, in einem winzigen Raume schlafen, in Hemdärmeln und die Stiefel in der Hand durch das Speisezimmer gehen müssen, hätten sie sich, wie Frau von Neumann, über ihre nicht zu erheizende Mansarde ärgern, wie Fräulein Gärtner sich mit ihrem eisernen Oefchen herumschlagen, sich um den großen Tisch im Eßzimmer herumstoßen müssen, wer weiß, was sie dann gesagt hätten!

Der Hauptmann, dem die Macht der Gewohnheit noch nicht über alle Mißstände und Auffälligkeiten sanft hinweggeholfen hatte, stieß sich trotz seiner Anspruchslosigkeit noch an mancherlei, zumeist freilich an dem wenig einheitlichen Eindruck, den das Ganze machte. Er hatte wohl schon Armuth gesehen; aber die Art der Armuth kannte er noch nicht, wo silberne Obstmesser und Ueberreste kostbaren Sevresporzellans friedlich neben abgestoßenem und zerbrochenem Fayencegeschirr einhergehen, oder wo man, – dies Detail hatte er von Frau von Neumann, – den Rothkohl auf abgebrauchten, unsauberen Küchenbrettern mit einem Tranchirmesser schneidet, dessen Griff von Silber und kunstvoll eingelegt ist. Seine Sinne waren noch nicht abgestumpft, und er sah klar die Risse und Sprünge in Tassen, Tellern, Möbeln und Charakteren.

So konnte er Madame Mounod, diese vornehme Erscheinung, die er auf der Straße traf, mit Madame Mounod im Hauscostüm nicht vereinbaren, eben so wenig die vielen kokett-geschmackvollen Toiletten der braunen Claire mit der rings herrschenden Dürftigkeit. Diese Toiletten stammten zwar alle noch von »früher her«, wie das Mädchen zu versichern keine Gelegenheit verlor, um zugleich Verwünschungen auf das Haupt der »guten Freunde« zu häufen. Aber kostbare Toiletten kokettgeschmackvoll zu erhalten, dazu gehörte, das gestand selbst Frau von Neumann zu, eine Menge Geld, besonders wenn man, wie Claire, die Abwechslung liebte und noch obendrein unordentlich war.

Wo kamen also die Mittel her? Das, was man dem ärmlichen Dienstmädchen abborgte, genügte doch nicht.

Der Hauptmann hatte Nancy anfänglich keinen Glauben geschenkt, als das arme Ding ihn hoch und theuer beschwor, er möchte den Herrschaften Nichts von dem Extratrinkgeld sagen, weil ihr Madame sonst Alles gleich wieder abborge. »Für einen Tag!« sagte sie immer, aber sie, Nancy, sähe das Geld nicht wieder. Gehalt habe sie schon seit fünf Monaten keinen bekommen. – Er mußte es wohl glauben, seit er sah, daß die Kasse der Leute immer leer war, seitdem gemunkelt wurde, daß selbst Fleischer und Bäcker ungern Lieferungen sandten, seitdem er bemerkte, wie systematisch die Mounods das Borgen betrieben, zum Beispiel sobald ihnen zur Kenntniß kam, daß einer der Pensionäre eine Postanweisung erhalten hatte oder auf der Bank gewesen sei, um eine Note zu wechseln.

Monsieur schien ihm der einzig Unfragwürdige in der Familie; – und Berthe, – Berthe, die so einfach und eigen ging. Sie trug in der Woche immer dieselbe Bluse, denselben Rock, um sie am Sonntag bei kaltem Wetter mit einem Kleid aus dunkelblauem Wollenstoff, bei warmem mit einem seidenen von matt blaugrauer Farbe zu vertauschen, welch letzteres ihr zum Entzücken stand.

Was sollte man glauben, so fragte sich der Hauptmann wieder und wieder, von dem Reichthum, der vornehmen Abstammung dieser Familie? Wie stand es mit den drei Landgütern, die sie besessen, mit den vierundzwanzig Bediensteten? Wie mit den Connexionen, die sie in Deutschland zu haben vorgab, und mit denen Madame besonders immer so großthat? Wie verhielt es sich mit den sechzigtausend Franken, die sie durch die Schuld Anderer in einer Nacht verloren hatten, wie Claire sagte?

Es war der offenen Natur des Hauptmanns eine Erlösung, im Verkehr mit Monsieur wenigstens sich mit vollem Vertrauen hingeben zu können; und diese Gelegenheit bot sich jetzt oft. Der Bauer hatte angefangen, den jungen Mann unbefangen zu grüßen, seitdem er als Gentleman seine Bekanntschaft gemacht. Forbecker hatte anfangs den Gruß nur höflich stumm erwidert, da ihm gesagt worden war, Mr. Mounod liebe es nicht, angesprochen zu werden, wenn er im Garten arbeite. Einerseits bedürfe er völliger Ruhe, da er leidend sei, andererseits sei ihm der Aufzug peinlich. Zu Forbeckers Ueberraschung aber knüpfte Monsieur jetzt selber ein Gespräch mit ihm an, sobald er seiner im Hause oder im Freien ansichtig wurde, ohne Rücksicht auf Aussehen oder Beschäftigung. Der junge Mann hatte wohl nicht mit dem Wohlgefallen gerechnet, das seine offen zur Schau getragene Verehrung hervorrufen mußte. Wir Alle geben uns gern, geben uns am leichtesten da, wo wir fühlen, daß wir einen guten Eindruck machen.

So kam Monsieur auch immer häufiger am Abend zum Vorschein, und seine Gegenwart verbreitete stets ein angenehmes Gefühl der Harmonie. Es war merkwürdig, aber Jeder war wirklich mit sich selbst und den Andern zufriedener.

Man gruppirte sich um den alten Herrn, hörte ihm zu, und die Zeit verrann, ohne daß man wußte, wie. Von Seiten der Familie geschah das Zuhören mit förmlicher Andacht. Claire wandte kaum mehr ein Auge von ihres Vaters Gesicht, um mit ihrem Nachbar zur Linken, dem Hauptmann, zu kokettiren, was sicherlich ein fast heroischer Verzicht war. Freilich überzeugte sie sich dann und wann durch eine rasche Wendung des Kopfes, durch einen ihrer schnellen Blicke, daß er sowohl wie die andern Herren sie in die Bewunderung, die sie dem Vater zollten, mit einschlossen. Sie sprach nächst ihrem Vater am meisten, immer in ihrer aufgeregten Lebendigkeit, hörte aber jedesmal ehrerbietig mitten im Satz auf, sobald er zu reden anfing.

Auch Madame, wenn sie zum Beispiel durch eine Frage, einen Auftrag seinen Vortrag unterbrach, machte diese Störung sofort durch ein zärtlich achtungsvolles: »Pardon, Papa!« wieder gut.

Berthes etwas ängstliche Ehrerbietigkeit zeigte sich darin, daß sie sich veranlaßt sah, ihre verwegensten Scherze und Streiche in seiner Gegenwart zu unterdrücken. Sie wurde, so oft er in die Gesellschaft trat, still und zurückhaltend, und es war dem Hauptmann niemals ganz klar, ob ihre Scheu größer sei als ihre Liebe zu dem Vater oder umgekehrt.

Und noch Eins wurde dem Hauptmann nicht klar. Mr. Mounod, der Bauer, gab sich anders als Mr. Mounod, der Gentleman. Auch draußen bei der Arbeit kam der feingebildete Mann, das reiche, poetische Gemüth zur Geltung; dennoch sprach er einfach, natürlich, ganz wie jeder andre Mensch auch. Mit dem Anzug des Chevaliers nahm er die eigenthümliche Sprechweise an, die Forbecker gleich aufgefallen war. Nicht nur, daß er sehr häufig das stumme e am Ende der Worte hörbar werden ließ, was in der Sprache des alltäglichen Lebens fast nie geschieht, sondern er hob auch in seltsamer Weise am Ende der Sätze die Stimme, wodurch die einfachste Rede sich rhythmisch in's Ohr prägte und gleichsam den Stempel von etwas Ungewöhnlichem, Bedeutendem erhielt. Vermuthlich war es diese ganze Art und Weise des Sprechens, die dem Advocaten die Aufmerksamkeit seiner Hörer sicherte, die Wirkung des Gesagten erhöhte und seine Meinung den Herzen einschmeichelte, die schon durch sein wundervolles Organ gefangen waren. So viel war gewiß, daß er die Sprache beherrschte wie Jemand, der weiß, daß sie sein Werkzeug ist, daß seine Macht über die Gemüther auf der vollkommenen Beherrschung dieses Werkzeuges beruht. Er hatte die Kunst des Vortrages bis in's Kleinste studirt.

Eine Errungenschaft, die zu solcher Vervollkommnung ausgebildet wurde, bleibt für's Leben, das ist begreiflich. Eigenthümlich war nur, daß diese zur zweiten Natur gewordene Eigenschaft sich mit dem Rock wechseln ließ, daß er als Bauer Mensch sein konnte und als Gentleman immer und überall Advocat war.

Darum zog auch der Hauptmann die gelegentlichen Gespräche im Freien vor. Der alte Herr wußte den alltäglichsten Dingen eine Seite abzugewinnen, die sie interessant machte. Ob er im Hühnerstall beschäftigt war oder den Inhalt der Röhren und Senkgruben auf den Misthaufen leitete, ob er Schnee schaufelte oder, um zu sparen, den Handwerker machte, – immer verstand er es, die niedrige Beschäftigung zu adeln; und indem er von einer Handarbeit, einem Gebrauch sprach, verbreitete er sich über alles Wissenswerthe, was damit in Verbindung stand. Man verließ ihn nie, ohne einen tieferen Einblick in die Natur, in das menschliche Leben gethan zu haben.

Im Zimmer gewährte auch jedes Zusammensein mit ihm Belehrung, Gewinn; aber der Mann schien dann doch ein wenig, – der Hauptmann wehrte sich gegen dies Gefühl, – ein wenig poseur in dem, was er that und sagte, und wie er es that und sagte.

Für gewöhnlich verklärte eine milde Heiterkeit sein Gesicht. Wurde er aber beredt, so strahlten die blauen Augen begeistert auf oder glühten im edlen Feuer der Entrüstung oder ruhten träumerisch auf Dem und Jenem: immer aber waren sie groß und voll aufgeschlagen und hatten den offenen Blick eines vertrauenden Kindes.

»Ich glaube an Dich, der Du da vor mir sitzest,« sagte der Blick. »Du bist gut. Alle Menschen sind gut. Die Welt ist gut, rein und schön.«

Seltsame Menschen! Da war die Mutter mit dem ernsten, etwas starren Blick unter der ehernen Stirne, der immer ein gutes Gewissen betonen zu wollen schien, das sie nicht besaß. Da war Claire's ungenirter, aber scheuer Blick, der stets wie auf der Flucht war vor Etwas. Da war dieser Vater!

» Qui aime à poser, aime à imposer,« dachte der Hauptmann wieder und wieder und schämte sich doch seines unwürdigen Verdachtes.

XIV.

So ganz leicht wurde es Lieutenant Wehren nicht, Berthes seltsamem Wesen auf den Grund zu kommen. Die Kleine gab ihm eher neue Räthsel auf, als er einige Tage später wieder nach R. kam.

Sie wich ihm aus – darüber war kein Zweifel. Mit keinem Wort, mit keinem Zucken der Wimper verrieth sie, daß Etwas zwischen ihnen vorgegangen sei, was ihre Stellung zu einander verändert habe. Sie lachte und scherzte unbefangen, aber sie begegnete ihm völlig fremd.

Wohl oder übel mußte er sich bequemen, die »Komödie« mitzumachen. Aber es ärgerte ihn, und er fand nun ein gewisses Vergnügen daran, Berthe im Fremdthun zu übertreffen, fiel aber beinahe aus der Rolle, als sie ihm dafür, statt verletzt zu sein, in einem Moment des Unbemerktseins einen dankbaren Blick zuwarf. Angezogen von diesem Blick, wollte er sich ihr nähern, – gleich wurde sie wieder eisig und fremd.

Er versuchte vergebens, ein Alleinsein herbeizuführen; es glückte ihm weder bei diesem, noch bei seinen nächsten Besuchen. Zuletzt gerieth er außer sich. Ging es im Hause nicht, so würde er sie außer dem Hause abfassen, sprechen mußte er sie.

Berthe hatte, um den beständigen Vorwürfen der Mutter über ihre Nutzlosigkeit zu entgehen, angefangen, einige Kinder der besseren Familien im Dorfe zu unterrichten. Das wußte Wehren. Er wußte auch, wann dieser Unterricht stattfand, und suchte dem Mädchen auf dem Heimwege zu begegnen. Der Zufall war ihm gleich das erste Mal günstig. Er fand Berthe träumend auf einem ihrer Lieblingsplätze am See. Sie hörte seinen Schritt, sah sich um und warf sich ihm mit einem Freudenschrei in die Arme. Sie duldete, daß er sich neben sie setzte, daß er den Arm um sie schlang; sie schmiegte sich zutraulich an ihn.

Da, im Rausche des Augenblicks vergaß er das Fragen.

Und Berthe?

Weltentrückt, in seligem Liebestraum lauschte sie seinen Koseworten und legte nur dann und wann zärtlich ihre Wange an seine Hand. –

Von der Thurmuhr schlug es ein Uhr. Sie fuhr zusammen und sprang auf: »Es ist die höchste Zeit, – wir verspäten uns sonst. Geh Du dorthin, – ich nehme den Feldweg. Verrathe Dich nicht.«

Kaum hatte sie es gesagt, so war sie ihm auch schon entschwunden.

Er blieb kopfschüttelnd zurück; er schüttelte den Kopf über das räthselhafte Gebahren des Mädchens noch, als er am Hause angelangt war. – Berthe saß schon am Tisch und gab eine lustige Erzählung zum Besten, ohne sich durch seinen Eintritt stören zu lassen. Der Lieutenant wurde wegen seiner Verspätung geneckt, was er in seiner Laune sehr übel aufnahm.

Wenn das Mädchen sich etwa erlaubte, mit ihm zu spielen –

Er näherte sich ihr nach der Mahlzeit in sehr entschiedener Weise. Ohne ihre abwehrende Haltung, die offenstehende Thür zu beachten, legte er den Arm um ihre Taille.

»Laß mich! laß mich!« flüsterte sie ängstlich. »Wenn man uns sieht!«

»Dann sieht man uns!«

»Nein! nein!« Sie entriß sich ihm und eilte an's Fenster. Aengstlich blickte sie nach der Thür – »Wenn man es nun gesehen hat!«

Er unterdrückte eine heftige Antwort, da in diesem Augenblicke Claire hereintrat.

»Sieh nur den polisson von Sperling!« rief Berthe fröhlich. »Dem Finken hab' ich die Bröckchen zugeworfen – und er ist's, der sie holt.«

»Ich sage Dir ja, laß das Füttern! Damit ziehst Du nur alle Sperlinge her und vertreibst die Singvögel ganz!« rief Claire schon wieder halb draußen.

»Mademoiselle Berthe!« Wehren trat entschlossen auf sie zu. »Was soll diese Komödie?«

»Nicht hier! nicht hier! Um vier Uhr, bei der großen Pappel.«

Um vier Uhr bei der großen Pappel stand ein junger Mann mit sehr finsterer Miene. Er wies die Arme der Liebsten zurück, so daß sein Mädchen vor Beschämung erglühte.

» Mais oui! je t'aime!« sagte sie ganz verschüchtert. Sie sah mit bittendem Blick zu ihm auf.

»Warum verbirgst Du denn unsere Liebe?« fragte er, schon um ein gut Theil sanfter.

»Weil ich nicht will, daß –« Sie stockte. »Wenn sie Etwas bemerken, werden sie gleich –«

»Was werden sie gleich?«

Sie sah ihn unsicher an. Sein erstaunt prüfender Blick haftete auf ihr, sie las Zweifel an sich selber darin. Das konnte sie nicht ertragen.

»Du sollst nicht gezwungen werden!« brach sie aus. »Du sollst es ihnen mittheilen können, Du selber, wann Du willst, nicht früher. – O Eduard!«

Schmerz, Verlegenheit, Beschämung, Zorn klangen aus dem Ausruf, wechselten auf ihrem Gesicht. Verstehst Du denn nicht? schienen sie zu sagen, muß ich erst noch in dürren Worten aussprechen, was ich zu gestehen mich schäme, was ich am liebsten verbergen möchte – grabestief?

Wehren dachte an Madame, dachte an Claire.

»Ich verstehe,« sagte er tief aufathmend. »Mein Lieb! mein Lieb!« Er zog sie an sich und küßte sie heiß und innig.

»Du weißt, Liebste, ich habe Dir Nichts verschwiegen. So lange der Onkel lebt, ist an ein Heirathen nicht zu denken,« sagte er nach einer Weile.

»Ich weiß, ich weiß; und es ist auch Unrecht, auf den Tod eines Menschen zu lauern. Ich bin ja noch jung, wir können warten.«

Sie ließen sich los und gingen ruhiger nebeneinander her.

»Wenn ich von hier fortgehe, aus der Schweiz meine ich, will ich zu ihm und ihm Alles sagen, vielleicht, daß er hilft.«

»O, willst Du bald von hier fort?«

»Nicht jetzt, noch nicht. – Wie könnte ich?«

Es kam Jemand hinter ihnen her und schritt an ihnen vorbei, im Havelock, mit Gebirgsstock. Es war Mr. Mounod.

»Du kommst aus Deiner Stunde heim, mein Kind? Ist Deine Arbeit für heute gethan?« fragte er freundlich.

Berthe nickte. »Du bist schon zurück, père

»Ja, der Weg war viel besser, als ich vermuthete. Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit,« wandte er sich zu Lieutenant Wehren, »wenn ich Sie jetzt verlassen muß. Ich habe es eilig. Mein Sohn Anatole wartet mit Ungeduld auf mich.«

Er trennte sich mit zuvorkommendem Gruß, schritt weit aus und war bald aus dem Bereich ihrer Blicke.

»Glauben Sie, daß unsre Haltung auffällig war, daß er Etwas gemerkt hat?« Berthe sah ängstlich zu dem Geliebten auf.

Er schüttelte beruhigend den Kopf. »Ich denke nicht! – aber wenn auch –« Er lächelte stolz. – »Komm, Liebling! laß uns jetzt herzlichen Abschied nehmen. Im Hause geht es doch nicht. Ich bin Ende der Woche wieder hier!«

XV.

Wehren kam schon vor Ende der Woche, und das hatte seinen Grund. Am Tage nach der Begegnung mit Mr. Mounod erhielt er einen unerwarteten Besuch von diesem Herrn in Genf, über dessen Zweck er bald aufgeklärt werden sollte; denn nachdem einige Höflichkeiten gewechselt waren, begann Monsieur folgendermaßen:

»Verzeihen Sie mir die Freiheit dieser Visite, die Ihnen auffallen muß. Ich hatte heute Geschäfte in Genf und nahm gern die Gelegenheit wahr – um –« Er hielt inne, wie um den Anfang verlegen, und blickte auf seine Stiefelspitzen, an die er mit seinem Stocke schlug.

Dann hob er mit plötzlicher Entschlossenheit den Kopf: »Ich will es Ihnen gerade heraus sagen, was mich zu Ihnen führt. Das ist unter Männern von Ehre der einzige Weg. – Ich habe vermieden im Hause ein Gespräch herbeizuführen, weil ich für den Fall, daß meine Annahme eine irrthümliche ist, in keiner Weise Aufsehen erregen wollte. Also kurz und gut,« hier streckte er dem jungen Manne seine Hand entgegen: »Interessiren Sie sich für meine Tochter Berthe?«

»Ja, Mr. Mounod!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr, für diese Offenheit, die Ihrer würdig ist. Mein Herr! – Ich habe Sie Beide wenig zusammengesehen. Meine geschwächte Gesundheit verbietet mir leider, mich so meiner Familie zu widmen, wie ich es wünschte und – sollte. Um so dringender liegt es mir ob, über den Meinigen zu wachen, wo irgend ich eine Gefahr zu bemerken glaube. – Nun ja! ich glaubte eben, die Beobachtung gemacht zu haben, – das Auge eines besorgten Vaters sieht scharf, mein Herr! – die Sie mir soeben bestätigt haben. Darf ich Sie, – meine Bitte wird Ihnen seltsam erscheinen, wird Sie befremden und wir werden Sie sicher Alle vermissen, schmerzlich vermissen, – aber darf ich Sie bitten, Ihre Besuche bei uns – einzustellen?«

Der junge Mann fuhr erstaunt zurück.

»Mr. Mounod!«

»Lassen Sie mich ausreden, ich bitte Sie! Noch empfindet mein Kind Nichts für Sie –«

Wieder wollte Wehren ihn unterbrechen.

»Ich bitte Sie, hören Sie mich an! – Wie ich soeben sagte, glaube ich, daß Berthe Ihr Gefühl bis jetzt noch in keiner Weise theilt, daß sich – das Weib in ihr überhaupt noch nicht regt. Meine kleine Berthe! Sie ist bis jetzt Nichts als ein Kind, ein glückliches, sorgloses Kind. Diese Dinge sind ihr bisher in ihrem stillen Leben fremd geblieben.«

Der junge Offizier blickte den alten Herrn überrascht und forschend an. Wußte der Vater Nichts von der Hamburger Affaire? Hatte man ihm verheimlicht, wie nahe »diese Dinge« seinem Kinde dort gebracht worden waren? –

»Aber sie könnte zu dem Bewußtsein erwachen, daß sie kein Kind mehr ist. Mein Herr, sie ist meine Jüngste! – Vergeben Sie einem Vater, der sein Kind liebt. Noch ist es Zeit! – gehen Sie!«

Lieutenant Wehren richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf: »Monsieur!«

»Muß ich Ihnen noch mehr sagen? – O, wie schwer machen Sie es mir! – Mein Herr! Sie sind Offizier. In Ihrem Lande dürfen die Herren Offiziere nur eine reiche Heirath eingehen. – Sie wissen, daß wir arm sind. Meine Berthe hat Nichts. Wozu also das Kind erst unglücklich machen? Begreifen Sie denn nicht, daß ich ihr unnöthigen Schmerz – Die Sache ist aussichtslos, ganz aussichtslos. Gehen Sie, junger Mann, gehen Sie! Wenn des Kindes Herz erst spricht, ist es zu spät.«

»Berthes Herz hat gesprochen, Mr. Mounod.«

»Hat gesprochen?« – Der alte Mann unterdrückte gewaltsam seine Bewegung. »O, mein Herr! war das gut? war das edel?« Der tiefe Kummer in seiner Stimme ging allmählich in schmerzliche Entrüstung über. »War Ihnen nicht einmal unsre Armuth heilig, unsre unverschuldete Armuth? – Und wir, die wir Ihnen so vertrauensvoll unser Haus geöffnet haben! Ein Mädchen bethören, das Sie doch nicht heirathen wollen.«

»Monsieur!«

»Können Sie denn heirathen, junger Mann? Können Sie es denn? – Was ist Ihre Stellung? was? Auf welche Aussichten hin haben Sie sich berechtigt gefühlt, sich meiner Tochter zu nähern, sich ein Herz zu eigen zu machen, das – Ah! ich vergreife mich im Ton, ich vergesse, daß ich mich von nun an Ihnen nur als ein Bittender nahen darf. – Mein Herr, Sie sehen einen für das Wohl seines Kindes zitternden Vater vor sich. An Ihren reinen Absichten zweifle ich nicht. Mein Gott, als alter Mann weiß ich ja, wie so Etwas zugeht. Es ist über Sie Beide gekommen. Ihnen selber unbewußt. – Ich will Sie, ich kann Sie nicht anklagen. Aber jetzt, da Sie sehen, wie die Sachen liegen, – geben Sie der Vernunft Gehör! Treten Sie zurück.«

»Berthe liebt mich, wie ich sie!«

»Ah, mein Herr! baut die Liebe Häuser? ernährt die Liebe Weib und Kind?«

»Hören Sie mich jetzt an, Mr. Mounod. Lassen Sie mich Ihnen vertrauensvoll eine Darlegung meiner Verhältnisse geben.«

»Ich höre Sie, mein Herr.«

Wehren verbeugte sich. »Daß ich auf meine Gage hin nicht zu heirathen vermag und darum vorläufig an's Heirathen überhaupt nicht denken kann, ist leider eine traurige Thatsache. Aber Monsieur, ich bin der Erbe meines Onkels. Nach dem Tode dieses Verwandten werde ich in der Lage sein, eine Frau standesgemäß ernähren zu können. Was das Vermögen anbetrifft, so theile ich dasselbe allerdings mit meinen Schwestern, die mit mir meinen Onkel beerben; aber das Familiengut fällt an mich zurück, es ist eine ausgedehnte, gut erhaltene Besitzung. Wenn ich so Ihrer Tochter auch keine glänzende Zukunft zu bieten habe, eine gesicherte wird es jedenfalls sein!«

»Gesichert! – ah, mein Herr! – Sie sind, scheint mir, ganz auf die Großmuth Ihres Verwandten angewiesen, von seinem guten Willen abhängig. Wenn er Ihnen sein Wohlwollen entzöge, Sie vielleicht enterbte –«

»Dazu hätte er, selbst wenn er wollte, das Recht nicht. Das Familiengut geht beim Aussterben der directen Linie dem Gesetze nach auf den nächsten männlichen Erben über. Der bin ich. – Sie sehen, Monsieur Mounod, daß meine Chancen günstigere sind, als Sie annehmen. Mein Onkel ist ein alter Mann. Ich komme vielleicht weit eher zum Heirathen, als –«

Herrn Mounods sorgenvolle Miene hatte sich etwas erhellt: »O, mein Herr, ich sagte Ihnen ja schon, daß ich an Ihre reinen Absichten glaube. Es ist mir ein Bedürfniß, daran zu glauben. Außerdem, man kennt sich aus in einem Charakter wie dem Ihren. Ich schmeichle mir, etwas Menschenkenntniß zu besitzen. Aber, mein Herr, – sehen Sie! – ich habe selbst ausgedehnte Landgüter besessen, ich weiß, wieviel Capital dazu gehört, sie zu bewirthschaften. Sie sagen mir aber selber, daß Sie das Vermögen Ihres Verwandten mit Ihren drei oder vier Schwestern –«

»Zwei, Monsieur Mounod!«

»Nun wohl, zwei, – vermöglichen, mein Herr? Lassen Sie uns offen reden.«

»Unvermögenden, Monsieur!«

»Nun, ja, sehen Sie wohl, – mit Ihren zwei unvermögenden Schwestern theilen. Dieselben werden also reichlich dotirt sein. – Ihr Beruf ferner stellt große Ansprüche an Sie. Ist da nicht sehr zu befürchten, daß Ihr geringes Baarvermögen nicht ausreicht, zumal da wir Ihnen mit Nichts –«

Wehren unterbrach ihn. »Es besteht die ebenfalls gesetzliche Bestimmung, daß der Allodialerbe bei Uebernahme des Fideicommisses um seinen Abschied aus der Armee einkommt und sich der Bestellung der Güter widmet.«

»Sie nehmen mir eine Last vom Herzen, Monsieur,« rief aufathmend der alte Herr. »So schlimm, wie ich befürchtete, stehen die Sachen nicht.«

Wehren riß die Augen auf, und ein erstaunt vornehmer Blick glitt an dem Manne vor ihm herunter. Er verbeugte sich etwas ironisch, als dieser fortfuhr: »Ich kann Ihnen nach Ihren Mittheilungen kaum mehr Etwas vorwerfen. Sie hätten vielleicht mit Ihrer Werbung Berthe gegenüber zögern können, bis Sie wirklich Herr Ihres Schicksals waren, hätten sich vielleicht nur mir eröffnen, – aber in Ihren Jahren sieht man keine Hindernisse, giebt es keine Bedenken. – Ich fürchte, es wird ein langes Warten geben!«

»Wir sind entschlossen, zu unserer Liebe zu stehen!«

»Ah! welcher Stolz! – habe ich Sie verletzt? – Das wollte ich nicht, mein Herr! – Sie wissen ja, daß nach französischen Begriffen ein langes Verlobtsein – Ja, wie sehen Sie mich denn an? Was wollen Sie denn, daß ich thun soll, was? – Muß ich denn schon meine Einwilligung geben?«

»Ich bitte darum!«

»Ah, wie die Jugend auf ihr Ziel losstürmt! – Aber ich bin vorher barsch, ungerecht gewesen; ich schulde Ihnen eine Genugthuung. – Sei es denn! – Und damit Sie sehen, daß, wenn ich Etwas bewillige, das auch ganz und ohne Rückhalt geschieht, so soll denn die Sache in's Reine gebracht werden. Ich bin gleich Ihnen ein Feind jeder Halbheit, wenn ich auch –« er sagte es mit wohlwollendem Scherze, »kein Stürmer mehr bin; ich liebe wie Sie die klaren Verhältnisse. Die Freude meiner kleinen Berthe, ihre dankbare Freude muß mir schon über die Besorgnisse hinweghelfen, die ich als alter, gereifter Mann, – verzeihen Sie mir! – immer noch fühle. Wollen Sie gleich morgen zu uns kommen? – Sie sehen, ich bin bemüht,« ein fast schmerzliches Lächeln flog über seine Züge, »alle Brücken hinter mir abzubrechen. – Lassen Sie uns sehen, – was haben wir morgen? Dienstag! – Wollen Sie Mittwoch zu uns kommen? Ja? – nun, sehr schön. Auf Wiedersehen also, mein Herr, es ist Zeit, daß ich meine allzulange Visite, – Auf Wiedersehen am Mittwoch!«

XVI.

Die Pensionäre von Petit Mont wurden an diesem denkwürdigen Mittwoch durch wunderbare Ereignisse überrascht.

Erstens also war Lieutenant Wehren schon wieder da, trotzdem er behauptet hatte, vor Ende der Woche unmöglich von Genf abkommen zu können.

Zweitens ward ihm, dem Hauptmann und Wendt die Ehre der Bekanntschaft von Monsieur Anatole zu Theil.

Drittens erschien »père« schon ganz früh am Abend im Wohnzimmer, ohne daß auch nur die allerunbedeutendste Bergtour vorlag.

Lieutenant Wehren war von dem Hauptmann ob seiner Inkonsequenz mit einem bedeutungsvollen, stark articulirten Pfiff empfangen worden. Die deutschen Damen hatten getuschelt, Herr Wendt gelächelt. Die einzigen Unberührten waren der Urheber all dieser Aufregungen und die Familie Mounod.

Der »gefährlich schöne« Sohn hatte sich nur auf kurze Zeit gezeigt und war bereits wieder in seiner Versenkung verschwunden. Aber mit Erstaunen vernahmen die Damen den Bericht des Hauptmanns, daß der junge Mann durchaus nicht den Eindruck eines » Sauvage« mache. Sie seien vor dem Hause auf ihn getroffen, erzählte er, hätten bis in's Dorf herunter einen gemeinschaftlichen Weg gehabt. Monsieur Mounod junior sei in aller Höflichkeit an ihrer Seite geblieben, so daß sie sich dadurch veranlaßt gesehen hätten, ihn zur Theilnahme an dem Spaziergang aufzufordern. Er habe sich ihnen in unbefangener Weise angeschlossen und auf dem Wege den liebenswürdigen Führer und gesprächigen Gesellschafter gemacht. Ja, nachdem das Eis einmal gebrochen war, habe er sich sogar entschlossen, ihnen zu einem »Sechsuhrschoppen« in die Tonhalle zu folgen. »Ein gescheiter Mensch ist er,« sagte Wehren, »und liebenswürdig. Er hat jedenfalls nicht immer so eingezogen gelebt.«

»Das sicher nicht,« lachte der Hauptmann. »Er kommt mir sogar sehr bewandert vor, sehr! Der ist überall gewesen, hat Alles kennen gelernt –«

Er sprach in so eigenthümlichem Tone, daß Frau von Neumann fragend aufsah.

»Hat er Etwas von einem Sonderling an sich?« erkundigte sich Fräulein Gärtner.

»Aber auch gar nichts, gnädiges Fräulein. So wenig wie Sie und ich! Er –«

Der unerwartete Eintritt des Hausherrn unterbrach diese interessanten Erörterungen. Sein Erscheinen wurde ohne jede Erklärung aufgenommen, einfach weil man keine dafür hatte, aber mit Jubel begrüßt. War man doch nun eines angeregten Abends sicher!

Die Erwartungen wurden in reichem Maße erfüllt. Monsieur bewies sich wieder einmal als Meister in der Unterhaltungskunst. Das Gespräch stockte keinen Augenblick. Er warf den Ball der Unterhaltung seiner Gattin und seinen Töchtern zu, die ihn mit ebensoviel Geschick auffingen und wieder zurücksandten. Bald aber sprach er, wie immer, allein; Alles war um ihn an dem großen Tische versammelt und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, nur die beiden Mädchen sonderten sich im Laufe des Abends ganz gegen ihre Gewohnheit etwas von der Gesellschaft ab. Berthe hatte auf dem Clavierstühlchen Platz genommen. Claire hatte sich einen Stuhl neben die Schwester gezogen und sprach eifrig auf sie ein. Etwas in Berthes Haltung und Gesichtsausdruck frappirte Fräulein Gärtner. Das Mädchen saß in dem Halbdunkel da, wie ein Vögelchen auf der Sprosse sitzt, wie ein scheues Vögelchen, das sich gefangen hat.

Mit der feinen Intuition des Weibes errieth Fräulein Gärtner sofort, was Lieutenant Wehrens unerwartete Rückkehr, was Monsieurs unerklärte Anwesenheit bedeutete.

Berthe saß noch da, den Kopf gesenkt, und ließ Claire sprechen. Wenn sie je aufblickte, so lag es in ihren Augen wie demüthiges Glück, wie süße Scheu, wie bange Erwartung. Der heutige Abend entschied über ihr Schicksal. Sie liebte Wehren, sie war fest entschlossen, die Seine zu werden; aber die Verantwortlichkeit ihres Schrittes, das Bewußtsein, daß sie sich fürderhin nicht mehr selbst angehöre, mischte ihrem Gefühl demüthigster Hingabe ein ängstliches Bangen, eine zitternde Befangenheit bei. Er gehörte einer anderen Nation an, sie mußte ihm in ungewohnte Verhältnisse folgen. Wie, wenn sie sich nicht hineinzufinden verstand, ihrem Gatten nicht zu genügen vermochte, seine Kreise enttäuschte; wenn sie sich, fern von der Heimat, wie ein Blatt fühlte, das der Sturm vom Baume losgerissen?

*

Der Augenblick der Entscheidung rückte immer näher, es war bald zehn Uhr; über kurz oder lang würden die Damen sich empfehlen, die Herren hinübergehen – dann wollte er bleiben und – Ah! Fräulein Gärtner stand schon auf –

Ja! Fräulein Gärtner hatte bemerkt, wie Lieutenant Wehrens Augen sich mit immer verzehrenderer Gluth in den Winkel richteten, in den sich die Mädchen zurückgezogen hatten. Sie fand, daß sie den Armen schon zu lange im Wege gesessen sei; es war spät genug, um sich unauffällig zu entfernen. Wenn nur Frau von Neumann auch käme!

Aber Frau von Neumann sprach mit Monsieur, dem es nicht anzumerken war, daß es sich um etwas Anderes handle, als um eine gewöhnliche, gemächliche Abendzusammenkunft. Er unterhielt sich mit größter Unbefangenheit, und es schien ihm daran gelegen zu sein, sein Gegenüber nicht eher entschlüpfen zu lassen, als bis das angeschlagene Thema nach allen Richtungen erschöpft war. Sie sprachen über Geistesgegenwart in Gefahr, über Lebensrettungen, über Opfermuth, und Claire war von ihrem Winkel aus so lange in ihren Vater gedrungen, bis er Diplome über drei von ihm ausgeführte Lebensrettungen herbeigeholt hatte.

Fräulein Gärtner empfahl sich nach Besichtigung dieser Documente etwas hastig: »Wenn doch Frau von Neumann nur endlich begreifen wollte!« – An der Thür ihres Zimmers angelangt, lauschte sie und hatte die Genugthuung, zu hören, daß diese Dame eben »Gute Nacht« wünschte. Bald darauf bewies ihr das Zuschlagen der Hausthür, das Geräusch verhallender Schritte und Stimmen, daß auch von den Herren einer nach dem andern das Haus verließ.

Der Hauptmann ging als Letzter und erst nachdem Wehren ihm einen Wink gegeben hatte, da er durchaus nicht begriff, warum er ohne seinen Freund aufbrechen solle. Ein langgezogener Pfiff war auch jetzt wieder die Folge dieses verständnißinnigen Winks; dann ein ärgerliches: »Das hättest Du mir vorher sagen können, dann wäre ich Dir eher vom Halse gegangen,« und die Thür schloß sich hinter dem Hauptmann, wie hinter den Anderen.

Eine Stunde später suchte Wehren den Freund auf, nicht sehr befriedigt. Er machte ihm gegenüber aus seinem Unmuth kein Hehl. Verlobt war er, aber wozu diese Bedingungen, dieses Heimlichthun vor der Welt, im Hause? Den Pensionären, ja selbst dem Dienstmädchen gegenüber sollte er thun, als wäre Nichts vorgefallen. Da es bis zur Heirath selber noch so lange hin sei, wäre es besser, Nichts öffentlich zu machen, keine bindenden Versprechungen einzugehen. Es widerstrebe ihnen, hatte Monsieur gesagt, zwei Menschen jahrelang aneinandergekettet zu wissen. Beide sollten sich frei fühlen, gänzlich frei. »Können Sie bald heirathen, gut! meine Tochter ist Ihnen sicher. Muß es noch jahrelang dauern, wer weiß, ob Sie nicht selber anderer Meinung werden?«

Entrüstet hatte Wehren diese Möglichkeit zurückgewiesen. »Gut,« hatte Monsieur wieder gesagt, »sind Sie Beide alsdann noch willens, die Ehe einzugehen, so heißen wir Sie als Schwiegersohn willkommen. Sie sind ein Mann von Ehre, meine Tochter liebt Sie – also, warten wir ab! Es ist nicht gut für ein Mädchen, so lange verlobt zu sein, für einen jungen Mann ebensowenig. Warten wir ab!«

»Warten wir ab! warten wir ab!« schrie Wehren aufgebracht. »Ist das nicht gerade, als wenn sie sehen wollten, ob sie inzwischen nicht Besseres erwischen können?«

Der Hauptmann suchte ihn zu beruhigen, aber er hörte nicht.

»Nicht einmal schreiben soll ich ihr können; an die Mutter hab' ich meine Briefe zu richten. Es ist unerhört! Die Airs, die sich diese Leute geben! Und vor Euch soll ich die Sache auch verheimlichen, die Ihr doch Alles wißt, und fremd thun mit dem Mädchen. Habe ich mich dazu jetzt ausgesprochen, nur ihre Hand angehalten?«

»Ich wundere mich, daß Du es schon gethan hast.«

»Ich wollte ja eigentlich noch warten, bis der Onkel, – aber Mr. Mounod hat –«

»Was hat Mr. Mounod?« forschte Forbecker neugierig.

»Nichts!« war die finstere Erwiderung. »Nichts! Aber es ist ein Unsinn! – Glaubst Du, daß ich die Kleine hab' küssen dürfen? Nichts als die Hand hab' ich ihr drücken können.«

»Na, Du wirst Dich wohl zu entschädigen wissen.«

»Ganz gleich! wozu heimlich? Wo ich danach lechze das Mädchen an meine Brust zu ziehen und zu aller Welt zu sagen: Die hier ist meine Braut!«

»Nimm einmal Vernunft an, Eduard! – So ganz Unrecht haben die Leute nicht. Du hast doch Nichts und bist Nichts. Es kann wirklich noch ewig dauern.«

Wehren knirschte mit den Zähnen.

»Nun, und wenn Dir in dieser Zeit wirklich eine Andere besser gefällt? – Na, na! bleib nur ruhig! – Oder wenn Berthe inzwischen ein Anderer besser gefällt?«

»Willst Du jetzt auch noch das Mädchen verleumden?« schrie Wehren außer sich.

»Na denn, ihren Eltern besser gefällt! Das kommt doch auf Eines heraus. Bei den Franzosen schließen die Eltern die Ehe, nicht die Töchter.«

»Berthe hat ihren eigenen Willen und weiß ihn durchzusetzen.«

»Hoffen wir es! Hoffen wir auch, daß Du früher ein glücklicher Ehemann bist, als Du denkst! – Ich sage Nichts gegen das Mädchen. Berthe ist ein liebes Geschöpf und verdient glücklich zu werden. Du sollst nur einsehen, daß der Wunsch der Eltern im Ganzen genommen sehr natürlich, sehr berechtigt ist. – Und nun geh' schlafen! – Mit dem ersten Zug fährst Du wohl morgen nicht fort, was?«

Des Hauptmanns gutmüthig breites Lachen begleitete seine Worte.

Aber Lieutenant Wehren war nicht zum Lachen aufgelegt; zum Schlafen auch nicht. Er urtheilte mit dem Egoismus des Liebenden, der keine Rechte anerkennt, als die eigenen.

Wie, die kurze Zeit, die sein Urlaub noch dauerte, sollte er nicht einmal frei seinem Mädchen widmen können? Und was konnte er denn der Mutter schreiben, in einer fremden Sprache, in der er sich nur schwer auszudrücken vermochte?

Er war nicht der Mann, der aus sich heraus konnte dem ersten Besten gegenüber. Berthe, das war ganz etwas Anderes! Ihr würde er schon sagen können, selbst französisch, wovon sein Herz voll war! Außerdem verstand sie Deutsch, besser als alle die Andern. Wie süß seine herrliche Muttersprache von ihren Lippen klang! Wenn sie selbst einen Fehler machte, so klang das entzückend.

Das liebe Kind! Sie hatte ihm wohl angemerkt, wie sehr all diese Beschränkungen ihn verletzten. »Verzeih meinen Eltern!« – – Auf der Treppe noch hatte sie ihn flehend angeschaut und ihm zugeflüstert: »Fürchte Nichts! ich bleibe Dir treu!«

Gutes, liebes Kind! Wenn er sie nur erst fortführen könnte, sie jedem häßlichen, seelenverderbenden Einfluß entreißen! – Der Onkel, – wenn doch nur der Onkel nicht so lange mehr machen wollte, wenn nur die Erbschaft – – –

Er schüttelte sich, wie von bösen Gedanken erfaßt.

XVII.

Nichts wird so gut, als man hofft. Nichts so schlimm, wie man fürchtet! – Es hatte doch seine Reize, verlobt zu sein, selbst unter so ungünstigen Bedingungen. Ja, für eine verschlossene Natur, wie die Wehrens, lag gerade in der Heimlichkeit, der Verlobung ein Reiz mehr. Wie war es schön, Momente des Alleinseins zu erhaschen, in solchen Momenten ganz und voll zu geben, ganz und voll zu empfangen!

Und da die Verlobung in die Kategorie der öffentlichen Geheimnisse gehörte, so fanden sich eine erstaunliche Menge solcher Augenblicke.

Jedermann nahm die zarte Rücksicht, nie Etwas zu sehen und die Liebenden so viel als möglich allein zu lassen. Das Einzige, was ihnen erspart blieb, waren die Gratulationen. Aber darüber beklagte sich Wehren gewiß nicht.

Selige Morgenstunden! Berthe stand ganz früh auf, Wehren auch. Die Andern kamen erst viel später zum Vorschein. – Frau von Neumann freilich war schon vor 8 Uhr Morgens im Wohnzimmer und besserte Wäsche aus, aber Frau von Neumann genirte nicht.

»Der müssen wir es sagen, Eduard! Sie liebt mich, sie freut sich für mich.«

Die Frühstücksstunde dehnte sich heute bis in's Unendliche. Der Hauptmann kam als letzter der Nachzügler. Er hatte bei seinem Eintritt einen festen Händedruck mit Berthe und dem Freunde gewechselt. Das war seine Art, die Sache stillschweigend anzuerkennen. Die Uebrigen bewiesen ihre Antheilnahme dadurch, daß sie wie an Festtagen in heiterem Geplauder zusammenblieben.

Erst eine Depesche für Lieutenant Wehren, die ihm von Genf aus nachgesandt worden war, machte der ungebührlich langen Sitzung ein Ende. Fräulein Gärtner lief eiligst nach oben, um nach ihrem und Frau von Neumanns Ofen zu schauen; Frau von Neumann räumte den Tisch ab, denn: »Nancy muß endlich das Kaffeegeschirr abwaschen.« – Der Hauptmann und Wendt rüsteten sich schon zum Fortgehen, da lenkte ein aufgeregter Ausruf Wehrens die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Berthe schaute ihn ängstlich an: er war erblaßt und zitterte. Auf Madames fragende Miene reichte er ihr das Telegramm und zog dann mit scheuem Ausdruck Berthe auf die Seite: »Der Onkel! – ein Schlaganfall!« flüsterte er.

Sie sahen sich in die Augen, um gleich darauf den Blick wieder schuldbewußt zur Erde zu senken. Waren es ihre bösen Gedanken, ihre begierigen Wünsche gewesen, die das Unheil herbeigeführt hatten?

»Ich muß gleich fort!« sagte Wehren heiseren Tones. Berthe sah ihn wieder ängstlich an, aber sie sprach nicht. Sie faßte nur seine Hand. Er war ganz verstört. In einer Anwandlung von Schwäche barg er sein Antlitz an ihrer Schulter.

Da hob sie seinen Kopf, küßte ihn zum ersten Mal freiwillig und sagte: »Du weißt, wir sind nicht wirklich schuld. Du mußt Dir keinerlei thörichte Gedanken machen.«

Er riß sie in seine Arme und preßte sie innig, leidenschaftlich an sich: »Nein! nein!« flüsterte er. »Aber ich muß eilends fort. Lebe wohl, lebe wohl! – Du bleibst mir treu?«

Er nahm ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände und blickte mit banger, dringender Frage in ihre Augen.

Sie erwiderte den Blick fest und klar: »Ich bleibe Dir treu!«

»Wundere Dich nicht, wenn ich nicht so bald schreibe, und ängstige Dich nicht. Du weißt, französisch – und an die Mutter, – und dann, ich werde viel zu thun haben. Jedenfalls gebe ich Forbecker Nachricht.«

Sie nickte nur.

XVIII.

Lieutenant Wehren traf seinen Onkel bewußtlos an. Die Aerzte hielten vorläufig noch mit ihrem Urtheil zurück; aber im besten Falle, schien es, hatten die Angehörigen sich auf ein langes Krankenlager vorzubereiten. Selbstverständlich konnte Wehren nicht fort. In seiner Eigenschaft als zukünftiger Majoratsherr hatte er den Kranken in allen Obliegenheiten zu vertreten. So viel theilte er dem Hauptmann mit. – Es waren jetzt gerade vier Wochen seit seiner Abreise verflossen. Berthe hatte sich nicht gewundert, daß kein Schreiben an die Mutter kam, und sich nicht geängstigt. Sie empfand es einzig und allein als eine Prüfung, dem Geliebten in schweren Stunden fern zu sein. Aber ihre Familie urtheilte anders.

Madame betrachtete es als ungehörig, daß der Lieutenant sie nicht direct über die Lage der Dinge auf dem Laufenden erhielt. »Das ist er doch seinen Schwiegereltern schuldig,« sagte sie in ihrer Aufregung zu Frau von Neumann und verrieth so das ängstlich behütete Geheimniß. Die Deutschen suchten Wehrens Schweigen zu entschuldigen, zu erklären. Claire aber sagte, er sei herzlos, und bedauerte ihre Schwester.

Berthe stand tapfer auf Seiten ihres Freundes. Sie fand, daß sie in keiner Weise zu bedauern sei; er habe es ihr vorausgesagt, daß er nicht würde schreiben können.

»Ach was, zu einer Karte hat man immer Zeit!«

»Wehren haßt das Postkartenwesen, er hält es für eine schauderhaft indiscrete Einrichtung.«

»Er braucht ja keine Geheimnisse darauf zu schreiben –«

»Erlauben Sie, – was er zu schreiben hätte, wären doch mehr oder weniger discrete Angelegenheiten.«

»Ein Wort nur, ein einziges!« fuhr Claire hartnäckig fort.

»Wir können auch ohne das eine Wort noch ein wenig warten,« sagte Berthe; im Grunde ihres Herzens aber theilte sie ihrer Schwester Verlangen.

Wie zur Antwort auf ihre sehnsüchtige Bitte kam nach weiteren vier Tagen eine Depesche an Forbecker:

»Onkel heute sanft entschlafen, ohne zur Besinnung gekommen zu sein, jetzt Erbschaftsangelegenheiten. Grüße B.«

Die Mutter triumphirte. Mr. Mounod beklagte lebhaft, daß dem jungen Manne, den Alle so schätzten, Kummer in seiner Familie erwachsen sei. Claire erging sich in Sentenzen über Prüfungen und Menschenschicksale im Allgemeinen und über das Schicksal der Schwester im Besonderen. Berthe schwieg ganz still.

XIX.

Nicht wahr, Herr Hauptmann, Sie haben Mathematik studirt?« unterbrach Fräulein Gärtner eine längere Gesprächspause.«

»Ja, mein Fräulein!« antwortete Forbecker überrascht. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ah! neulich Ihre Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Beispiel, und Ihre Erklärungen über das Ausmessen der Erdoberfläche. Wissen Sie, wir sprachen über die trigonometrischen Zeichen und von den Dreiecken, die man erhält, wenn man von zwei Punkten aus eine Linie an einen Stern legt. – Lachen Sie nicht, – ich drücke mich thöricht aus, ich weiß. Ich verstehe Nichts davon. Aber sagen Sie mir, wie und wann haben Sie zu diesen Studien Zeit gefunden?«

»O, zuerst auf der Prima, und dann in Tübingen auf der Universität. Ich habe mich immer lebhaft für Mathematik interessirt. Wäre ich nicht Offizier geworden, ich hätte sicher Naturwissenschaften studirt. – Aber all meine Studien, all diese Kenntnisse nützen mir fast Nichts, sind eigentlich gänzlich todtes Capital,« schloß er traurig.

»Das fragt sich doch sehr! Da schlagen Sie sicher Ihre Leistungen zu gering an. Ihre Vorgesetzten merken vermuthlich sehr gut den Unterschied zwischen Ihnen und anderen Offizieren und wissen Sie wohl zu schätzen.«

Beide hatten sich in der Lebhaftigkeit ihrer Unterhaltung gleich zu Anfang aus dem Französischen in die vertrauteren Regionen der Muttersprache begeben. Der Hauptmann war bei seinem Steckenpferde angelangt, und freute sich, eine theilnehmende Seele gefunden zu haben.

» On ne parle pas l'allemand, je ne peux pas le permettre.« Claire sprach in scharfem, befehlerischem Ton.

Der Hauptmann sah sie erstaunt an: »Ich glaube nicht, daß es der Erlaubniß bedarf.«

»Das wäre noch schöner, wenn man nicht deutsch reden dürfte, wenn man wollte,« brach nun auch die sonst so friedfertige Frau von Neumann aus.

» Ce n'est pas la manière, d'apprendre une langue aussi difficile que le français,« versetzte Claire.

»Dann wird man einen Augenblick nicht lernen.«

»Das ist recht gut für Sie, Madame,« mischte sich jetzt auch Madame Mounod ein. »Aber Monsieur Forbecker ist hier, um die Sprache zu lernen. Und er ist nur noch kurze Zeit hier. Claire fühlt sich ein wenig verantwortlich für das, was ihre Schüler nachher wissen oder nicht wissen. Sie müssen ihr das schon zu gute halten. In gewisser Weise hängt das Brot davon ab.«

Fräulein Gärtner betheiligte sich mit keiner Silbe an dem Streit. Sie hatte Claire nur groß angesehen, als diese ihr so ungezogen das Wort abschnitt. Sie maß auch jetzt nur Mutter und Tochter mit ruhigem, halb spöttischem Blick, wußte sie doch recht gut, was diese Erregung veranlaßte. Das Deutschsprechen war das Verbrechen nicht; daß sich der Hauptmann mit ihr unterhalten hatte, das war es.

Ja, – Claire befand sich in großer innerer Erregung. Die Affaire mit Wehren ging ja nun glatt vor sich. Warum aber kam sie mit dem Hauptmann nicht vorwärts? – Hatte Fräulein Gärtner es vielleicht auf den Hauptmann abgesehen? – Sie sprach immer deutsch mit ihm; da konnte sie Alles sagen, es ließ sich nicht controliren. Solche alte Mädchen waren manchmal die schlimmsten. In einem gewissen Alter, sagte die Mutter, sind alle Mädchen so. Für Jede kommt ein solcher Moment, auch für die Häßlichste; in der Zeit sind sie doppelt gefährlich. Sie werfen dann ihr Netz über Jeden aus, er sei noch so jung; ja, gerade auf jüngere Männer üben sie dann einen Reiz aus. Wie viele von diesen sind nicht solch alternden Mädchen zum Opfer gefallen! Ehen giebt es, wo die Frau fünf bis zehn, ja, selbst fünfzehn Jahre älter ist als der Mann. – Man mußte auf der Hut sein. – Fräulein Gärtner war sicherlich Eine von den Argen! Hatte sie nicht neulich erklärt, daß sie Herrengesellschaft liebe, daß ein Gespräch mit einem gescheiten Mann ihr größter Genuß sei; daß sie finde, man könne von dem einfachsten Manne immer noch unendlich viel lernen? – Wer solche Dinge herauszusagen wagte, mit dem mußte es schön stehen! Der einfachste Mann! Es kam ihr also gar nicht darauf an, wer es war, wenn es nur ein Mann war.

Die deutschen Gespräche mußten ein Ende nehmen, und wenn man diese alte Jungfer lächerlich machen sollte! Man schuldete ihr freilich als Pensionärin einige Rücksicht, aber hier war die Grenze! Wenn sie Herrengesellschaft beanspruchte, Aufmerksamkeiten, – Dinge, die einzig und allein jungen, hübschen Mädchen zukamen, dann würde man ihr ihren Platz schon zeigen. Begriff sie nicht, oder wollte sie nicht begreifen, dann brauchte man schweres Geschütz. Aber aus dem Wege mußte sie, so oder so.

Fräulein Gärtner vermochte sicherlich nicht den Gedankengang zu verfolgen, der sich im Kopfe des jungen Mädchens abspielte. Sie hatte sich noch nie in einem Kreise bewegt, in dem die Heirathsbeziehungen zwischen Mann und Weib als die einzig denkbaren gelten, und wo daher jede Annäherung, jeder Verkehr zwischen den Geschlechtern nur von diesem einen Gesichtspunkt aufgefaßt und beurtheilt zu werden vermag. Die grobe Mißachtung ihrer Persönlichkeit, ein unsauberes Mißtrauen ihr gegenüber, das sie sich nicht zu erklären vermochte, wie sehr es sie auch verletzte, hätten ihr sonst die Augen öffnen müssen darüber, weß Geistes Kind diese Leute waren. Denn Nichts läßt so sicher einen Schluß auf das moralische und geistige Niveau eines Kreises zu, als die Behandlung, die ein alterndes Mädchen in demselben erfährt.

XX.

Erbschaftsangelegenheiten!« sagte der Hauptmann jedesmal, wenn die blauen Augen ihn fragten: »Erbschaftsangelegenheiten sind manchmal verwickelter, als man denkt.«

Die blauen Augen fragten so sehnsüchtig, daß selbst Claire jetzt tröstete.

»Wenn er doch nur schreiben wollte!« – um der Andern willen wünschte Berthe es so sehr.

Madame erging sich in den lebhaftesten Ausfällen und Verdächtigungen. Man müsse doch erfahren, woran man sei. Wollte Mr. Wehren vielleicht jetzt, da er der reiche Erbe sei, Nichts mehr von dem armen Mädchen wissen? – Dann hätte er aber auch keine Liebelei anfangen dürfen. Das wäre unehrenhaft.

Vielleicht war es Monsieur peinlich, vor den Fremden derlei Bemerkungen von den Lippen seiner aufgeregten Gattin fallen zu hören. Er kam gar nicht mehr zum Vorschein. »Wie immer, wenn Etwas nicht klappte!« dachte der Hauptmann, und es wollte ihn fast bedünken, als ob Monsieur hinter der Scene die Drähtchen weiter ziehe.

Berthe klagte nie und sprach selbst von ihren Angelegenheiten mit Claire nicht, die sich eine solche Verschlossenheit bei dem vertraulichen Verhältniß, das zwischen ihnen geherrscht hatte, nicht zu erklären vermochte. Sie hörte alle Vermuthungen, Tröstungen, Anklagen der Ihren an, wie sie die Entschuldigungen der Deutschen anhörte, ohne eine Erwiderung. Wie in Gedanken, so auch in Worten blieb sie ihrem Freunde treu.

Sie schien ferner, dem oberflächlichen Beobachter wenigstens, unverändert. Sie ging ihren gewohnten Beschäftigungen nach, wies keinerlei Arbeit oder Verpflichtung von sich, lachte und unterhielt die Gesellschaft. Aber es geschah Alles mechanisch; ihr Herz war nicht dabei.

Von Claire wußte man, daß Berthe schlecht schlief, daß sie matt und unlustig war. Ihre Wangen und Lippen wurden noch um einen Schatten farbloser, sie verlor sichtbar den Appetit. Aber sie sagte nur: »Es geht zum Frühling, ich muß Eisen nehmen.«

Und während Claire erst durch vieles Bitten dazu gebracht werden konnte, irgend welche ihr verordnete Medicin einzunehmen, trank Berthe entschlossen bei jeder Mahlzeit ihren »Eisenwein« und sagte mit einem Anflug von Humor, den der Ausdruck ihrer Augen Lügen strafte: »Das muß anders werden; wenn ich von meinen Stunden komme, dann bin ich wie ein altes Pferd, das nicht den Berg herauf kann.«

»Was alle Klagen der Andern nicht vermocht hatten, das bewirkten die scherzhaften Worte dieses tapfern kleinen Mädchens. Sie brachen dem Hauptmann fast das Herz. Aber er befand sich in einem seltsamen Zwiespalt der Gefühle. Hundertmal, wenn er der stummen Frage in Berthes Augen begegnet war, hatte er sich hinsetzen wollen und an Wehren schreiben. Ein störrisches Etwas, – er nannte es bei sich mit dem schönen Namen: Zartgefühl, Scheu, berechtigter Stolz, – hielt ihn davon zurück, die Familie Wehren jetzt an sich zu erinnern. Marie war nun eine reiche Erbin geworden; der erste Schritt mußte von ihr ausgehen, ihm, dem Freier aus einfachem Hause gegenüber, dessen Liebeswerben sie kannte. – So wartete er gleich den Andern von Tag zu Tag auf Nachricht, in der Hoffnung, daß der nächste Morgen sie bringen würde, bringen müßte.

Im Hause gestalteten sich die Verhältnisse immer ungünstiger. Fräulein Gärtners Abreise stand nahe bevor; das war ein fühlbarer Ausfall für Madame Mounods Kasse. Dazu kam, daß die Angelegenheit mit Anatole zu keinem Abschluß gelangte.

Die Zeitung, die immer noch nicht gegründet war, wie leicht konnte sie überhaupt nicht gegründet werden! Wie oft vorher war die Idee in Angriff genommen worden! Wie oft vorher hatte man den Plan wieder fallen lassen!

Der Mangel eines kommerziellen Blattes hatte sich zwar bei dem ausgedehnten Handel schon lange fühlbar gemacht; auch war das Capital bei dem Reichthum der Stadt leicht zu beschaffen, und doch wurde die constituirende Sitzung hinausgeschoben.

Madame Mounod machte sich in bitteren Klagen Luft: »Erst hieß es, das Geld sei nicht da. Nun die Summe aufgebracht ist, hält man Anatole jedesmal, wenn er auf Entscheidung dringt, ein anderes Hinderniß vor: Diese oder jene feindliche Strömung müsse erst beseitigt werden, dieser oder jener Einfluß sei noch zu gewinnen. Um etwas Anderes kann er sich nicht bewerben; er muß sich durchaus zur Disposition halten. Die fortgesetzten Reisen nach B. bringen auch nur vermehrte Ausgaben, fünf Monate dauert das jetzt. Achtlos, rücksichtslos, denken diese Herren vom Comité nicht daran, daß da ein junger Mann nahe daran ist, sich vor Verzweiflung eine Kugel vor den Kopf zu schießen.«

Etwas drollig wirkte zu dieser »Verzweiflung« und dem »angestrengten Arbeiten« die schwatzhafte Aussage von » Dubois mère«, daß der fleißige Arbeiter, der wie die anderen Herren bei ihr wohnte, meist bis Mittag im Bette liege.

Aber die Verzweiflung bringt manchmal die seltsamsten Dinge zu Stande. Wenn ein verzweifeltes Mädchen Nichts mehr auf Putz, auf Ordnung selbst hält, – warum soll ein verzweifelter junger Mann nicht den halben Tag im Bette zubringen? Als angestellter Redacteur steht er gewiß eine Stunde früher auf.

Der Hauptmann war froh, einen neuen Besuch ankündigen zu können, in der Hoffnung, daß die Aussicht auf eine kleine Erhöhung des wirthschaftlichen Budgets einige Befriedigung hervorrufen würde. Die Nachricht wurde aber mit sehr wenig Grazie aufgenommen. »Noch so ein Deutscher, noch so ein Offizier!« war die undankbare Bemerkung, die Madame und Claire mit einander austauschten, um so undankbarer, als Madame bisher gerade darauf ausgegangen war, deutsche Pensionäre um sich zu versammeln. Engländer waren ihr zu anspruchsvoll: die nahmen mit dem, was sie zu bieten hatte, nicht vorlieb. Sie waren auch zu bequem und zu selbstzufrieden, um fremde Sprachen erlernen zu wollen; damit wäre der Nebenverdienst für Claire weggefallen. Sie waren ferner nicht zuverlässig, dafür zeugten die vielen » breach of marriage promise«-Processe in ihrer Heimat. Mit anderen Ausländern war schon erst recht Nichts anzufangen. Deutsche dagegen waren immer lernbegierig. Sie waren zwar gewöhnlich unbemittelt, machten aber auch nicht viel Ansprüche; sie waren naiv, gläubig, leichter zu düpiren und vor Allem verläßlich. Wenigstens hatte Madame bisher diese gute Meinung von ihnen gehabt. Es war einzig und allein Lieutenant Wehrens unbegreiflichem Verhalten zuzuschreiben, wenn ihr Glaube an die Zuverlässigkeit der Deutschen jetzt in's Wanken gerieth.

Trotzdem nahm sie natürlich den Besuch an und stellte ihm mit großer, die Eingeweihten allerdings eisig anmuthender Höflichkeit ein Zimmer für die Nacht zur Verfügung. Aber sie überließ die Abendunterhaltung der Gäste ihren Töchtern und zog sich nach beendeter Mahlzeit zurück. Auch am Morgen fand keine lange Sitzung mehr statt. Madame erhob sich nach rasch eingenommenem Imbiß, winkte ihren Töchtern mit den Augen, ihr zu folgen, und die Damen empfahlen sich, Wirthschaftsbeschäftigungen vorschützend. Die Verbindungsthür hinter dem Piano ließen sie freilich der Vorsicht halber geöffnet. Es war immer gut, den Unterhaltungen folgen zu können. Man hörte auf diese Weise, was diese Deutschen dachten, was sie vorhatten! Besonders jetzt! Aus Andeutungen war vielleicht Etwas über den Lieutenant zu erfahren, von dem noch immer die Nachrichten fehlten.

Ihre Voraussetzungen sollten auch nicht getäuscht werden. Es fiel sehr bald der Name Wehren, den Hauptmann Hendrich, der neue Gast, der keine Ahnung von den Beziehungen der Familie hatte, nicht wie die Anderen im Flüsterton, sondern ganz unbefangen laut aussprach.

»Apropos, Wehren! Wissen Sie von der Geschichte schon? Hat seinen Onkel beerbt, der –«

»– gestorben ist, ja!« sagte Forbecker.

»Ach! Das ist drei Wochen und mehr her!«

»Nun ist er in Zintrop, um Erbschaftsangelegenheiten abzuwickeln!«

»Aber Mensch, wo haben Sie denn gelebt? Das kommt davon, daß Sie sich in so einem Neste vergraben. In Genf und Montreux redet man von nichts Anderem; die Zeitungen sind voll davon.«

»Voll wovon?«

»Mein Gott, erst gestern erzählte man sich's in der Tonhalle mit allen Details. Der Mann hatte eine Leidenschaft für das Spiel, – von seinem Vater geerbt, sagt man.«

Hauptmann Forbeckers Rechte umklammerte den Tischrand, während er den Kameraden zitternd und starr ansah. »Lügen! Was erzählt man?«

Frau von Neumann hätte am liebsten das Gespräch abgebrochen. Sie warf ängstliche Blicke auf die Perkalvorhänge. Wer weiß, ob die Thür nach dem Nebenzimmer geschlossen war!

»Was erzählt man? So reden Sie!« schrie der Hauptmann.

»Kennen Sie Wehren?« fragte Hendrich etwas verwundert über solche Heftigkeit.

Er erhielt keine Antwort.

»Der Kerl hat die Erbschaft verloren, nachdem er sie gemacht hat. Kameraden haben ihn gehöhnt, daß er seinen Mammon aufhäufe wie ein Geizhals, daß er sich nicht einmal getraue, mit Freunden ein Spielchen zu wagen, als ein Krösus, der er jetzt sei. Kurzum, er hat schließlich gespielt und hat nicht mehr aufhören können. Hat an einem Abend sein Vermögen verspielt und das seiner Schwestern dazu.«

Forbecker stöhnte dumpf auf. Es legte sich ihm wie Nebel vor die Augen, ihm schwindelte.

»Tags darauf hatte er sich eine Kugel durch den Kopf geschossen – man fand ihn in seinem Zimmer, die Pistole in der Hand, todt,« schloß der Andere seinen Bericht.

Wie ein Wahnsinniger fuhr Forbecker auf, um sich auf Hauptmann Hendrich zu stürzen, da ertönte im Nebenraum ein Lachen, so laut und grausig, daß er erstarrt mitten im Zimmer stehen blieb.

»Was ist das?« fragte der Fremde, als das Lachen zum zweiten Mal ertönte, noch lauter, länger, markdurchdringend. Er sah von Einem zum Andern, bemerkte den entsetzten Gesichtsausdruck Aller, – Niemand antwortete.

Ein erneutes Lachen erschütterte den Raum, – ein dumpfer Fall, dann war Alles still.

Frau von Neumann stürzte hinaus.

»Nichts! Nichts!« sagte der Hauptmann mit Anstrengung. »Die Tochter, glaube ich, hat Anfälle. – Kommen Sie, kommen Sie, Hendrich!« Er zog mit Gewalt den Kameraden aus dem Zimmer, die Andern folgten. Im Flur vernahm man ängstliches Laufen und Rufen, das Geräusch vieler Schritte. Man trug einen Körper auf das Sopha.

»Kommen Sie! kommen Sie!« rief Forbecker heftig, auf alle Fragen stumm.

In seinem Kopfe kreiste nur eine Idee. Wehrens Schwestern! – Marie war in Kummer, in Noth; und keine Aussicht mehr, sie zu heirathen! – Doch! doch! er würde seine Carriere quittiren, eine Stellung annehmen, sei es in einer Fabrik, einer Bank, als Lehrer an einem Polytechnikum; irgendwo, irgendwas, wobei er seine mathematischen Kenntnisse verwerthen konnte. Nur ihr zu Hilfe! – Wehren, ah! Wehren, das hast Du gethan! – und die Kleine, die Berthe –!

Seine Gedanken hielten sich nicht lange bei dem fremden Unglück auf. Sie kehrten zu Wehrens Schwestern, den armen, schutzlosen Mädchen, zurück, auf die erneute Schande, erneuter Jammer gefallen war.

»Hatte keine Ahnung, daß Sie Wehren kannten, ihm nahe standen, auf Ehre!« entschuldigte sich Hauptmann Hendrich einmal über das andere. Forbecker hörte kaum hin; wie im Traume reichte er dem sich Verabschiedenden die Hand. – Wenn er Mittags noch abreiste und in einer Tour durchfuhr, so war er in spätestens anderthalb Tagen in Zintrop, konnte Alles mit den Schwestern besprechen, Mariens und seine Zukunft sicherstellen.

Er eilte auf sein Zimmer, um seine Sachen zusammenzupacken. Dann ersuchte er Madame um eine Unterredung. Er theilte ihr mit, daß er wichtiger Geschäfte halber sofort nach Deutschland abreisen müsse, und regelte seine Rechnung, das heißt, er bezahlte die Pension noch für weitere vierzehn Tage, da er so über Hals und Kopf zu kündigen gezwungen sei.

Auf seine Frage nach dem Befinden von Mademoiselle Berthe erhielt er die eisige Antwort, daß es ihr »vollkommen gut« ginge. Madame bewahrte nur mit Mühe eine höfliche Haltung, fühlte sich aber verpflichtet, zu thun, als wäre die Großmuth, mit der er das Geschäftliche geregelt hatte, kaum nöthig gewesen. In dringenden Fällen sei eine plötzliche Kündigung natürlich, entschuldbar; sie hätte ihn auch so freigegeben. Während sie dies sagte, hielt sie jedoch das Geld mit der Hand fest umschlossen. – Sie bedauerte dann noch, daß ihre Töchter nicht das Vergnügen haben könnten, den Hauptmann zu sehen; sie machten in der Nachbarschaft einen Besuch und würden vor Abend kaum zurück sein. Seine Empfehlung würde sie ausrichten.

Der Abschied war, nach so vielen Wochen freundschaftlichen Verkehrs, ein überaus kühler, fremder. Aber der Hauptmann bemerkte es kaum, er sagte den Deutschen in ebenso hastiger Weise Lebewohl, den Kopf voll von seiner eigenen Angelegenheit.

So endigen die meisten Reisebekanntschaften; es bedarf selten erst der Entfernung, die sich trennend zwischen die Menschen legt. Der Entschluß der Abreise allein genügt, alle Beziehungen zu lösen; in der Stunde des Abschieds steht man sich bereits so fremd und theilnahmlos gegenüber, als ob man sich nie gekannt hätte, wie Menschen, die bestimmt sind, sich nie im Leben wiederzusehen.

Der Hauptmann wollte sich dann noch von Mr. Mounod verabschieden; der alte Herr ließ sich jedoch mit einem Unwohlsein entschuldigen.

Als Forbecker den Flur durchschritt, um sich in den bereits vor dem Chalet harrenden Wagen zu begeben, wurde er seiner im letzten Augenblick noch ansichtig. Mr. Mounod stand im Dunkel der Wendeltreppe und starrte ihn an, ohne zu grüßen. Der junge Offizier prallte förmlich zurück vor der finster gehässigen Fratze, die das ehrwürdige Gesicht mit den kindlich klaren Augen entstellte. Nie hätte er eine solche Wandlung für möglich gehalten.


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