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Jeanne »Guignon«.

I.

Montreux sollte es durchaus sein; Montreux war mir für den Winter empfohlen worden. So hatte ich mich von Genf aus, das ich ungern verließ, pflichtschuldigst an einen Arzt in Montreux gewendet, an den ich von Deutschland aus Empfehlungen besaß, und ihm gesagt, was ich suchte. Mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit erklärte derselbe, für mich nach dem Gewünschten ausschauen zu wollen; und nach einiger Zeit erhielt ich mehrere Adressen, unter denen als die für meine Zwecke am meisten zu empfehlende eine Pension in einer Familie angegeben war.

Trotz des Preises, der innerhalb meiner Verhältnisse lag, trotz alles Lobes, das er dieser Familie spendete, entschloß ich mich nur schwer, hinzuschreiben. – Wer allein reist und keine Aussicht hat, Bekannte am Ort zu finden, thut besser, ein Hotel, oder doch eine größere Pension aufzusuchen. Man hat dort wenigstens Gelegenheit, Bekanntschaften zu machen; und vor Allem, man kann sich seine Gesellschaft nach Geschmack auswählen. In einer Familie, sagte ich mir, bist Du zu sehr von der Außenwelt abgeschlossen; Du bist an die Mitglieder gebunden, ob Du sie magst oder nicht. – In Folge dieser immer wiederkehrenden Ueberlegungen ließ ich den Brief, den ich von den Leuten erhalten hatte, unbeantwortet.

Aber auch die übrigen Pensionen sagten mir nicht sonderlich zu. Ich wählte eine davon als vorläufige Unterkunft, um mich an Ort und Stelle selber umthun zu können, – was ich schon am Tage meiner Ankunft als nöthig erkannte, denn meiner Gesundheit halber war ein ruhigeres Zimmer, eine bessere Lage wünschenswerth.

Der Arzt, den ich inzwischen aufgesucht hatte, kam wieder auf die »Familie« zurück. »Das Zimmer ist unbesetzt. Sie könnten sich's doch immerhin ansehen, die Gegend dürfte Ihnen zusagen.«

Ich dagegen erkundigte mich mit Lebhaftigkeit nach mehreren Hotels, deren Lage mir gefallen hatte, da ich innerlich überzeugt war, daß ich die »Familie« nicht wählen würde.

Mein Weg führte mich noch an demselben Tage an dem Häuschen vorbei, Avenue Belmont. Der Doctor hatte Recht, die Lage war gut, sehr gut eigentlich. Ich sollte möglichst hoch wohnen, – die Nähe des Sees war mir für den Winter geradezu untersagt, und dies kleine » chalet« lag hoch, weit höher noch als die Hotels, die ich im Auge hatte. Ich sollte ferner nicht viel bergsteigen, – und siehe da! das Häuschen lag an einer fast ebenen breiten Fahrstraße mit herrlicher Aussicht auf den See. Es war auch ein kleiner Garten am Hause, in dem man sitzen konnte, und eine allerliebste Terrasse, von der aus man den Rochers-de-Naye und den kleinen Kegel des Merdasson sah. Das » chalet« selbst heimelte an mit seinem dunkel gebeizten Holzfachwerk, dem überspringenden Schweizerdach und den großen, klaren, mit grünen Jalousien zu schließenden Fenstern.

Die kleine Küche lag an der Straße; Alles blitzte darin; durch die offene Hausthür bemerkte man einen hohen eisernen Ofen, der den Hausflur heizte. Eine mit Teppichen belegte Treppe führte zum oberen Stockwerk hinauf. »Erwärmter Hausflur, warme Zimmer!« sagte ich mir. »Wenn es nur nicht eben eine ›Familie‹ wäre!«

Nichtsdestoweniger klingelte ich. Man konnte sich die Sache ansehen; – ansehen hieß noch nicht miethen. Ein etwas ärmlich, aber reinlich gekleidetes Individuum öffnete. »Mädchen für Alles« stand ihm an der Stirn geschrieben. Nachdem wir uns Beide mehrere Minuten hindurch französisch nicht verstanden, fand ich heraus, daß es eine Deutschschweizerin war. Hierauf ging die Unterredung flott von Statten. – Ich fragte nach der Dame des Hauses. Sie sei leider unpäßlich und nicht zu sprechen, aber wenn ich in die » Salle à manger« eintreten wollte, Mademoiselle Jeanne sei zu Hause, die würde gleich kommen!

Der »Speisesaal« amüsirte mich. Ein winziges Gemach, dessen eines Fenster auf den See, das andere auf den Rochers-de-Naye hinausging; Möbel in Menge: ein Clavier aus schwarzem Polisanderholz, ein Schrank, ein kleiner Anrichtetisch, ein Fauteuil, ein Puff, ein Nähtisch, ein großer Eßtisch in der Mitte mit sechs Stühlen darum, ein Blumentisch am Fenster. Die Möbel sahen sämmtlich aus, als hätten sie bessere Tage gekannt. – An der Wand hingen einige Stahlstiche in einfachem schwarzen Holzrahmen, und ein in farbiger Seide gesticktes Bild, das unendlich alt schien. Unter dem Regulator ein » Art Calendar«, zwölf durch ein Seidenband lose zusammengehaltene Blätter für die Monate, mit niedlichen Kindergestalten in Buntdruck; – eine dieser reizenden, jetzt so sehr beliebten Arbeiten, die von England aus, d. h. von englischen Geschäften aus nach dem Continent kommen, in Wahrheit aber zum größten Theil von deutschen Künstlern entworfen und in deutschen Fabriken ausgeführt werden. Unter demselben befand sich ein einfacher Abreißkalender. Auf dem niedrigen Schrank standen Bücher in großer Anzahl, – daneben ein Blumenstrauß in einer geschmackvollen Vase.

Ich hatte gerade Zeit zu diesem flüchtigen Umblick gehabt, als Mademoiselle Jeanne in der Thür erschien. Sie trug einen Kattunmorgenrock, der nicht mehr ganz sauber war, rosa Gezweig auf hellem Grunde. Mit einem anmuthigen Lächeln, das ihre Züge sonnig erhellte, bat sie mich, Platz zu nehmen, und entschuldigte ihren Anzug: es wäre Sonnabend, d. h. Reinemachetag.

Ich muß gestehen, ich hörte nicht viel auf die Bedingungen, die das junge Mädchen vorbrachte; – war ich doch entschlossen, es mit der Familie nicht zu versuchen. Ich betrachtete vielmehr das entzückende Gesichtchen, das sich mir so unerwartet gezeigt hatte. Tiefe, strahlende Augen, kurzgeschnittenes, dunkelbraunes Haar, das ihr lockig in die Stirn fiel; lange, seidene Wimpern, ein voller rother Mund und zwei allerliebste Grübchen, eins im Kinn, eins in der rechten Wange.

Die kleine Schönheit sprach sehr lebhaft und im reinsten Französisch, – es war also wirklich eine Pariser Familie, was ich dem Doctor nicht hatte glauben wollen, – und erbot sich angelegentlich, mir das Zimmer zu zeigen. Ich fand keinen Grund, das Anerbieten abzulehnen: wir gingen hinauf. – Gott sei Dank: Das Zimmer war ein Dachzimmer und auffallend klein. Hier war doch eine Veranlassung, schicklich abzubrechen. Mit höflicher Entschiedenheit machte ich der Sache ein Ende. »Es thäte mir sehr leid, – aber ich hätte ein größeres Zimmer vorausgesetzt, – dieses würde nicht angehen –«

»Ja, ja, es ist sehr klein,« erwiderte meine Schöne seufzend – »und darum auch so schwer zu vermiethen« – setzte sie mit ebensoviel Offenheit wie Traurigkeit hinzu.

»Wirklich, ich bedaure sehr, aber –«

»Ich verstehe es vollkommen,« sagte die Kleine resignirt. »Adieu, Madame!«

Fast triumphirend verließ ich das Haus. Natürlich war das Nichts für mich; ich hatte es ja vorher gewußt. Aber wirklich! ich begriff den Doctor nicht. Hatte er denn das Zimmer gesehen? – Gut, daß ich von vorn herein nicht auf die Sache eingegangen war, von Genf aus, daß ich auch jetzt meinen Namen erst gar nicht genannt hatte. Sofort machte ich mich weiter auf die Suche. Ich fragte in allen Hotels nach, die hoch und frei gelegen waren, in allen Pensionen, die Bädeker angab; überall, wo ich über einem Hause Hôtel Pension oder Pension famille las, – und Montreux ist thatsächlich mit Pensionen gepflastert, – trat ich ein. – Merkwürdig! ich fand überall Etwas auszusetzen! – Hier war der Preis zu hoch, – dort das Zimmer nicht heizbar oder lag im vierten Stockwerk; – ein anderes hatte absolut keine Aussicht, oder die Pension befand sich wieder dem See zu nahe und der geräuschvollen Hauptstraße. Und – was mir am ärgerlichsten war – nirgends wurde französisch gesprochen. »Deutsch oder englisch, hauptsächlich englisch,« hieß es überall. Recht unzufrieden kam ich von meiner Wanderung zurück. Warum mußte gerade nur in der »Familie« französisch gesprochen werden und noch dazu ein so gutes? und warum gefielen mir nirgends die Leute? Der Lockenkopf –

Ja, ja! Das war es! – ich leichtsinnige Alte hatte mich wieder einmal verliebt! Der Lockenkopf hatte es mir angethan, mit den verführerischen Grübchen, mit den tiefen braunen Augen –

Ehe ich mich dessen versah, befand ich mich bereits auf dem Wege nach der Avenue Belmont, derselben, an der ein gewisses Häuschen lag. Die Gegend entzückte mich auf's Neue. Indem ich mich noch der herrlichen Aussicht erfreute, las ich halb in Gedanken auf dem Schild den Namen des Häuschens: » Chalet Beauregard« und dann weiter darunter auf einem zweiten Schildchen: » Mademoiselle Carabin, Leçons de dessin«.

Ich klingelte. »Dieser Unsinn!« schalt ich mich im selben Augenblick und hätte vielleicht noch Fersengeld gegeben, – aber die Thür öffnete sich. Nun blieb doch nichts Anderes übrig, als nach Madame Carabin zu fragen.

Diesmal sah ich sie selbst, eine würdige Matrone mit bleichen, etwas leidenden Zügen. Sie empfing mich mit liebenswürdiger Vornehmheit und führte mich in das Eßzimmer. Vergebens sah ich mich nach dem Lockenkopf um. Er gebe Stunden, erklärte die Mutter, und da Jeanne nicht da sei, um das Zimmer zu zeigen, so –

Ich bemerkte, daß ich es am Morgen gesehen hätte – »Ach, es ist Madame, die heute Morgen hier war!« – – und daß es leider entsetzlich klein sei, – hier hielt ich inne und machte mir wieder Vorwürfe; dann aber, wie um mich selber zu übertäuben, fuhr ich rasch fort: aber ich hätte mich geradezu in das anmuthige Wesen ihrer Tochter verliebt; um ihretwillen sei ich wieder gekommen, – wieder stockte ich.

Madame Carabin lächelte glücklich. »Sie ist ein gutes Kind!« sagte sie mit mütterlichem Stolz.

Mir hatte das Mädchen gefallen, mir gefiel jetzt die ruhige Feinheit der Mutter. Beide Frauen zeigten deutlich, daß die Familie der guten Gesellschaft angehört hatte. Von herzlicher Sympathie erfaßt, schloß ich auf der Stelle, ohne weiter zu überlegen, trotz des unbequemen kleinen, ganz primitiven Zimmers, die Angelegenheit ab, und noch in derselben Woche zog ich hin.

Man hatte mir einen kleinen eisernen Ofen gesetzt. Die Waschtoilette war mit weißen Gardinen umkleidet, und auf dem Tisch stand eine zierliche Vase mit Chrysanthemen. »Der letzte Gruß aus dem Gärtchen von Beauregard!« rief Mademoiselle Jeanne, die zum Willkomm auf mein Zimmer geeilt war. Sie sah so reizend aus, daß ich große Lust hatte, das Mädchen an mich zu ziehen und zu küssen.

»Alte Enthusiastin!« wehrte ich mir. »Sei Du nicht vorschnell! Wer weiß? Französische Nüchternheit findet am Ende Deine deutsche Gefühlsschwelgerei einfach lächerlich.«

II.

Es bildete sich aber sehr schnell ein vertrauliches Verhältniß heraus. Zwischen alleinstehenden, schwergeprüften Frauen besteht immer schon eine Art geheimer Gemeinsamkeit. Die Seele wirft unzählige feine Fühlfäden aus und spürt das gleiche Schicksal, das die Herzen der Menschen verbindet. Meine Zuneigung zu Jeanne wurde von dieser bald erwidert, und die warme Theilnahme, die ich für Madame Carabin empfand, vermehrte sich durch das, was der Doctor mir von den Erlebnissen der Familie zu erzählen gewußt hatte.

Madame Carabin war seit zehn Jahren Wittwe. Sie hatte ihren Gatten mit vollster Aufopferung durch eine vieljährige Krankheit hindurch gepflegt und aus dieser aufreibenden Zeit ein schweres, hauptsächlich nervöses Leiden zurückbehalten. Auch ihre Mittel waren erschöpft, wovon der Sterbende Nichts gewußt hatte. Ein hochangesehener Gelehrter, der es nie verstanden hatte, zu erwerben, ja, der es seiner unwerth gehalten hätte, seine geliebte Wissenschaft zu einer »melkenden Kuh« zu machen, hatte er im Vertrauen auf das Vermögen seiner Frau dem Studium gelebt, und im Vertrauen auf dieses Vermögen war er auch in Montreux, wohin die Familie seiner geschwächten Gesundheit wegen gezogen war, gestorben. In Wahrheit blieb die hochherzige Frau, die ihres Mannes Wahn nicht hatte zerstören wollen und zu stolz war, um den Beistand ihrer reichen Verwandten anzusprechen, – sie stammte aus einer eben so wohlhabenden, wie vornehmen Familie, – mit ihren drei Kindern in den trübseligsten Verhältnissen zurück. Nur durch den Verkauf ihrer sämmtlichen Kostbarkeiten hatte sie es vermocht, in äußerster Sparsamkeit ihren Söhnen bis zu einiger Selbstständigkeit durchzuhelfen. Diese dann halfen ihr die Erziehung des jüngsten Kindes, unserer kleinen Jeanne, tragen.

Madame Carabin erwähnte ihrer Schwierigkeiten nie, wie sie denn mit dem echten Stolz der Armuth sehr zurückhaltend über ihre Verhältnisse war; aber sie besaß andererseits auch nicht die falsche Scham der Verarmten, eine Wohlhabenheit zur Schau tragen zu wollen, die nicht länger vorhanden war, und ein in der schweren Schule des Lebens geschärftes Auge erkannte leicht, daß Mangel und Sorge auch jetzt das Hauswesen regierten. Angelegentlich eines Gespräches, das wir einige Zeit nach meiner Ankunft hatten, trat das noch klarer zu Tage. Aus Lausanne, von den dortigen Verwandten der Familie, war ein Brief eingetroffen, den Madame Carabin, nachdem sie ihn überflogen hatte, ihrer Tochter in meiner Gegenwart vorlas. Dieser Beweis des Vertrauens erfreute mich um so mehr, als man mich dann auch zur Berathung hinzuzog.

Es handelte sich um einen Sohn gemeinschaftlicher Freunde in Schweden, der in Gefahr gewesen war, sein Augenlicht durch den grünen Staar ganz zu verlieren. In Folge langjähriger Behandlung sei es gelungen, ihm ein Auge zu erhalten, aber seine Gesundheit, die niemals eine sehr starke gewesen, hatte sichtlich unter der letzten Operation gelitten, und er sollte jetzt zu seiner Erholung den Winter in Montreux zubringen. Würde Madame Carabin um der alten Freundschaft willen den Sohn bei sich aufnehmen und für ihn, der lange schon nicht mehr wisse, was Mutterliebe sei, mütterlich sorgen? –

»Ich weiß nicht,« sagte Madame Carabin mit einem zögernden Blick auf ihr Kind, »das Zimmer ist ja auch nicht mehr frei. Und es ist wohl besser so. – Aber leid wird es mir, eine verneinende Antwort geben zu sollen, – unsere Familien waren sehr liirt –«

»Mutter!« schlug Jeanne vor, »im Eckhause ist noch ein Zimmer leer, das mit dem Balkon. Wenn man nachhörte, ob es zu bekommen wäre. Es liegt nach Süden. Biete doch das an! – er könnte ja bei uns essen.« Der Gedanke an einen neuen Hausgenossen schien ihrem lebhaften Geist sehr zu behagen.

»Er wird es nicht wollen, Kind! Du hörst doch, er ist von schwacher Gesundheit. Wirklich« – sie wandte sich wieder zu mir – »ich bin in Verlegenheit! es sind so viele Beziehungen, – ich fühle mich diesen Leuten ein wenig verpflichtet –«

»Es wäre doch auch ganz schön, wenn wir die Pension –«

Sie vollendete nicht unter dem Blicke der Mutter, aber ich wußte eben so gut wie die Mutter, was sie hatte sagen wollen.

»Versuchen sie es doch mit Jeanne's Idee!« rieth ich. »Vielleicht paßt ihm das Anerbieten, so wie Sie es machen können. Das Zimmer liegt ja ganz nahe; – im schlimmsten Falle ist der Brief umsonst geschrieben!«

»So schreibe denn, Jeanne!« –

Der Auftrag hätte mich überrascht, wenn ich nicht bereits gewußt hätte, daß der Kleinen der ganze Briefwechsel des Hauses oblag, ja, mehr noch, die ganze Regierung des Hauses. Sie war in der That, wie sie sich bei unserem ersten Zusammentreffen mir gegenüber sehr niedlich ausgedrückt hatte, während der häufigen Unpäßlichkeiten der Mutter » un peu le petit chef de la maison«. Sie ordnete Alles an, gab alle Befehle, besorgte die Einkäufe und wurde für Alles verantwortlich gemacht, von den Pensionären und dem Dienstmädchen, die sich nur an sie zu wenden hatten, von den Brüdern in Lausanne und nicht zum Wenigsten von der Mutter selbst. Es war merkwürdig, daß sie all' dies zu leisten vermochte, noch neben den Stunden, die sie gab. Nur eine äußerst sorgfältige Erziehung hatte solche Resultate erzielen können.

Welcher Art diese Erziehung gewesen war, – darüber sprach sich Madame Carabin offen aus, als ich ihr einmal meine Bewunderung äußerte. Da sie von vornherein gewußt hatte, daß auch ihre kleine Tochter dereinst darauf angewiesen sein würde, ihre Kenntnisse, ihre etwaigen Talente verwerthen zu müssen, so hatte sie es sich nach dem Tode ihres Mannes angelegen sein lassen, alle in dem Kinde schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken. Das Mädchen hatte spielend leicht gelernt und bald viel Begabung für Sprachen und Musik gezeigt, mehr aber noch für Zeichnen. Madame Carabin, die einen » horreur« gegen das zersplitternde »Allestreiben« besaß, hatte in Folge dessen nach einiger Zeit die Clavierstunden einstellen lassen, um Jeanne's ganze Kraft auf ihr Zeichentalent zu richten, was ihr auch vom praktischen Standpunkte aus als das Räthlichste erschien. Denn da das Kind in Montreux aufwuchs, und sie Beide voraussichtlich auch dort ihre Tage beschließen würden, so lag es nahe, den Beruf des Mädchens mit Rücksicht auf ihren Wohnort zu wählen.

Die Fremden in Montreux waren zum größten Theil Engländer und besaßen als solche mit ihrer eingeborenen Liebe zur Natur auch ein theils eingeborenes, theils anerzogenes Talent zum Zeichnen. Und wo sie es nicht besaßen, bildeten sie sich doch ein, es zu besitzen, was auf dasselbe herauskam, so weit es sich um ein Bedürfniß nach Stunden handelte. Hier also bot sich Jeanne Aussicht, hinreichend Schüler zu finden, weit mehr als für Sprachen; wenngleich sie auch letztere, schon um sich den Verkehr mit den ausländischen Zöglingen zu erleichtern, nicht vernachlässigen durfte. Sie lernte also Zeichnen und in Aquarell malen. Sie malte auch ein wenig in Oel, aber nur wenig. Madame Carabin hielt es wieder für weise, sich zu beschränken. Ein Genie war das Kind nicht; sie sollte sich daher auch auf keine hochstrebenden Ziele einlassen, und sie brauchte außerdem Zeit für eine gründliche wirthschaftliche Ausbildung, die Madame Carabin's Ansicht nach jedes Mädchen besitzen müsse; um wie viel mehr ihre Tochter, die sich in äußerlich so beengten Verhältnissen zu bewegen hatte.

Madame Carabins immer mehr zunehmende Kränklichkeit bewog Jeanne, der geliebten Mutter allmählich den schwersten Theil der häuslichen Pflichten und vor Allem die häuslichen Sorgen aus der Hand zu nehmen, und so kam es, daß das Mädchen eine für ihr Alter bewunderungswürdige Umsicht und liebevolle Rücksicht für ihre Umgebung besaß. – Mutter und Tochter hatten außerdem viel mit einander gelesen, besprochen und durchdacht, und Jeanne war eine viel zu tief angelegte, nachdenkliche Natur, um nicht aus allem in Unterricht und Unterweisung Gebotenen, aus ihren eigenen, selbstständigen Studien und ihren Lebenserfahrungen, an denen in so kummervoller Lage kein Mangel war, reichsten Inhalt für Geist und Gemüth geschöpft zu haben.

An dem Kinde also war es jetzt, dem Schweden auseinanderzusetzen, wie die Dinge sich verhielten, natürlich im Namen der Mutter. – Würde und könnte er sich damit zufriedengeben, und wollte er, trotz des ein paar Schritte von ihnen entfernten, aber warmen nach Süden hinaus gehenden und gut möblirten Zimmers, sich sonst ganz und gar im Sinne der alten freundschaftlichen Beziehungen als zur Familie gehörig betrachten?

Eine Woche darauf traf die Antwort ein. Der Schwede dankte, bereits von Lausanne aus, in auffallend gutem, fast elegantem Französisch für den liebenswürdigen Brief und die freundlichen Bedingungen. Er theilte in aller Kürze mit, es sei ihm ein Vergnügen, zu sagen, daß er dieselben annehme und daß er am 6. November mit dem Dampfboot einzutreffen gedenke.

Die gedrängte Kürze des Schreibens, die charaktervollen großen Buchstaben, der höfliche, aber entschiedene Ton gaben Jeanne, die sich etwas darauf zu Gute that, aus der Handschrift des Schreibers den Schreiber selbst herauslesen zu können, Gelegenheit, einen unsererseits etwas skeptisch aufgenommenen Vortrag über Aussehen, Alter, Wesen und Manieren des zu erwartenden Hausgenossen zu halten. Der Schwede sei, seinem Stil nach, von feiner Bildung, 38-40 Jahr alt; sehr ernst, klein, blond; trüge einen langen Schnurrbart; die Schriftzüge deuteten auf Zurückhaltung, auf Bestimmtheit, ja auf Festigkeit des Charakters, die bis zur Brutalität gehen könne etc.« –

Zwei Tage später kam » Monsieur de Moerner«. an. Klein war er nicht gerade; man müßte denn einen jungen Riesen klein nennen! – Blond war er freilich aber – o Jeanne! vom Schnurrbart keine Spur. – Er trug vielmehr einen vollen Backenbart, der im Verein mit den matten Augen und den ein wenig lang gezogenen, leidenden Zügen dem Gesicht etwas Altes, Gesetztes verlieh; etwas weit über seine Jahre Gesetztes, denn – o Jeanne! Herr von Moerner war kaum 26 Jahre alt.

Arme kleine Jeanne! wie wir sie auslachten! – Der Neckereien war kein Ende, ebensowenig der geheimnißvollen Anspielungen, die das Kind mehr als einmal heiß erröthen machten. Die Kleine erröthete so leicht. Ein Blick! ein Wort! und die rothen Wellen überflutheten das ganze Gesichtchen bis unter die Haarwurzeln hinauf und ließen beim Herabsinken noch lange lebhaftere Färbung auf zwei immer leicht gerötheten, überaus charakteristischen Wölbungen der Stirn zurück. Diese leichte Röthe über den Augenbrauen bildeten eine sehr merkwürdige und auffallende Eigenthümlichkeit ihres Gesichtes. – Ob es das war, was » Mr. de Moerner« zu einer so aufmerksamen Betrachtung seines hübschen Gegenüber veranlaßte? – Er war augenscheinlich ganz in das Studium der kleinen Persönlichkeit vertieft; sein entzücktes Auge wich nicht von ihr.

Was Jeanne über den neuen Ankömmling dachte, war schon schwerer zu entnehmen. Er schien ihr nicht sonderlich zu behagen, – nach der Schweigsamkeit zu urtheilen, in die sie sich den Abend über hüllte. Aber vielleicht hatte sie es verdrossen, daß Madame Carabin, – wohl in der Absicht, gleich von vornherein eine gemüthliche Stimmung anzubahnen, – Herrn von Moerner mit einem muthwilligen Lächeln nach ihrer Tochter hin erzählt hatte, welch ein Bild uns diese nach seiner Handschrift von ihm entworfen. – Der junge Mann hatte unmäßig gelacht und ohne Weiteres begonnen, auch seinerseits Jeanne auf die ungenirteste Weise zu necken. Er rechnete sich augenscheinlich vom ersten Augenblick an als »ganz zur Familie gehörig!« – Schließlich aber, um die Kleine zu versöhnen, – und zu ihrer nicht geringen Genugthuung – bekannte er, daß der Secretär seines Vaters, der ihn bis nach Lausanne begleitet hatte, den Brief nach seinem Dictat geschrieben hätte. Ob er hernach noch den blonden Schnurrbart des Secretärs und seine bis zur Brutalität gehende Bestimmtheit des Charakters hinzulog, um ihr eine Freude zu machen, vermag ich nicht mit Gewißheit zu sagen. Es schien mir freilich, als hätte er dabei ein besonders lustiges Zucken um den Mund und ein paar »Krähenfüßchen« mehr an den Augen gehabt.

Er war überhaupt kein Griesgram, unser neuer Hausgenosse! – Er sah nur so alt aus, wenn er still saß und schweigsam. Wenn er aber sprach, – und er sprach viel und lebhaft, – oder wenn er Possen trieb, – und er trieb ungeheuer viel Possen, das ganze Haus erschallte bald wider von dem Lachen, Laufen und Sichjagen der »Kinder«, wie Madame Carabin sie nannte, – dann erhielt sein Gesicht, sein ganzes Wesen etwas ungemein Kindliches, Knabenhaftes. Erstaunlich war auch, wie bald er sich im Hause heimisch gemacht hatte! Schon nannte er Madame Carabin im Scherze seine »Mutter«, Jeanne seine »kleine Schwester« und wollte durchaus, daß man ihm seinen Vornamen gab: »Torsten«. Er berief sich dabei auf die Freundschaft, die die Familien vereint hätte, und auf das warme Interesse, das seine verstorbene Mutter alle Zeit ihres Lebens für Madame Carabin empfunden.

Sein Ton nahm einen unbeschreiblich weichen Klang an, als er von seiner Mutter sprach. Die Thränen traten ihm in die Augen, er brach hastig ab. –

Jeanne sah erstaunt auf. Eine solche Tiefe des Gefühls bei diesem stets so ausgelassenen Menschen überraschte sie sichtlich. Er mußte seine Mutter leidenschaftlich geliebt haben, wenn er noch ihren Verlust nicht verschmerzen konnte.

III.

Jeanne hatte, wie erwähnt, sehr früh den Unterricht in der Musik aufgegeben, um sich ihrer Malerei zu widmen. So kam es, daß sie von ihrer musikalischen Begabung und ihren Leistungen auf dem Clavier sehr wenig hielt. Sie war nie dazu zu bewegen, Etwas vorzuspielen. Nur wenn sie sich allein wußte, zumal des Abends im Dunkeln, spielte sie gern, – ganz leise, ganz sacht, wie für sich, meistentheils getragene Melodien ernst schwermüthigen Charakters. Ich liebte es unendlich, ihr von der Terrasse aus zuzuhören. Es klang wie Sphärengesang, diese leiseste Berührung der Tasten.

Eines Abends nun hatte auch Herr von Moerner sie am Pianino überrascht. Sein enthusiastisches Klatschen schreckte sie auf. Sie wollte fliehen; nicht die dringlichsten Bitten, noch Torstens Versicherung, daß er Musik über Alles liebe, konnten sie zum Fortfahren veranlassen. Da setzte sich der junge Mann selber an's Clavier und spielte, – meisterhaft. Wie gebannt blieb Jeanne stehen und lauschte versunken, die Hände gefaltet, mit großen andächtigen Augen. –

Und dann sang er! – Erst ein Lied, mit halber Stimme, mit unterdrückter Bewegung, – als ob er noch unserer Zustimmung gewiß werden wolle; oder wie Jemand, der sich fürchtet, an die eigenen Tiefen zu rühren und schlummernde Geister zu wecken, und dann ein anderes Lied und noch eins. Darüber hatte er sich selber vergessen und uns auch; er ward nicht gewahr, daß das Mädchen die Lampe angezündet hatte, daß Madame den Kreis seiner Zuhörer vermehrte, – er sang; – und nun brach es hervor aus ihm mit Leidenschaft, mit herzbewegender, Alles aufrüttelnder Gewalt. Er sang auf schwedisch, – und wir verstanden die Worte nicht; aber aus seiner Stimme klang eine so namenlose Sehnsucht, ein so tiefer Schmerz, daß wir bis in die innerste Seele erschüttert dasaßen. Wir begriffen, daß der lustige Torsten der ganze Torsten nicht war, – und wir fühlten, daß wir ihn noch so gut wie gar nicht kannten.

Er saß jetzt erschöpft auf dem Stuhl – die Hände über den Augen, in sich zusammengesunken. Als er aufstand, schien er ein Anderer geworden, die Brauen zusammengezogen wie im Schmerz, das Gesicht fahl, die Augen trüber als je, und ein finsterer Zug lagerte auf der Stirn.

»Sie haben sich zu sehr angestrengt, Herr von Moerner,« tadelte Madame Carabin leise. »In Ihrem angegriffenen Zustand sollten Sie nicht so lange hintereinander musiciren.«

Der junge Mann gab keine Antwort. Er blieb den ganzen Abend über in trübe Gedanken versenkt, theilnahmlos, und empfahl sich sehr früh.

Dergleichen Verstimmungen stellten sich häufiger ein, gewöhnlich ganz unvermittelt – zu Jeannes großem Verdruß. Der lustige Gesellschafter war ihr bereits zu sehr zur Gewohnheit geworden, als daß sie sich mit solchen Verwandlungen hätte zufrieden geben können. Sie fand es geradezu unbegreiflich, wie man, eben noch ausgelassen heiter, plötzlich in den dunkelsten Trübsinn verfallen konnte; daß Jemand, der in einem Augenblick noch lebhaft und angeregt zu erzählen wußte, im nächsten bereits in finsteres Schweigen versank. Sie nannten ihn launenhaft, sonderbar: »Er hat Grillen, gerade wie ein Engländer,« sagte sie.

Madame entschuldigte ihn mit seinem Zustand. Ihrer Ueberzeugung nach würde eine völlige Genesung, ja nur eine durchgreifende Erholung Vieles an seiner Seltsamkeit ändern. »Er ist sehr angegriffen.«

»Er ist verwöhnt!« sagte Jeanne.

»Ein Mensch, der von Kindheit auf kränkelt, ist das leicht, Jeanne! Bedenke das quälende Augenleiden. Ob das vielleicht nicht mehr ist, als grüner Staar? Ich habe nie gehört, daß derselbe von solch' qualvollen Kopf- und Augenschmerzen begleitet ist; und das andere Auge, sagt man, gerettet – ich zweifle doch sehr!«

»Ach! Mutter! er sieht doch ganz gut, – und wenn er sich nur ein wenig zusammennehmen wollte, – er läßt sich nur gehen!« rief Jeanne mit der ganzen Ungeduld und Intoleranz eines gesunden Menschen. – »Er kann lustig genug sein.«

Mit einem Wort, seine Sonderbarkeiten störten sie. Aber sie bewirkten auch mehr als seine Geistesgaben, seine Liebenswürdigkeit und seltene Herzensgüte, seine feine Bildung, – Eigenschaften, die erst bei näherer Bekanntschaft sich voll und ganz ausweisen konnten, – daß sie sich unaufhörlich mit ihm beschäftigte. Sie fand Widersprüche in seinem Wesen, die seine Krankheit allein nicht erklärte, ein inneres Unbefriedigtsein, einen Mangel an Harmonie.

»Vielleicht kommt all' das daher, daß er seine reichen Fähigkeiten nicht ausbilden kann und nicht gebrauchen,« meinte Madame.

»Er sagte einmal, er habe studiren wollen –«

»Nun, siehst Du, Jeanne! und dann seine musikalische Begabung –«

»Ja! musikalisch ist er, wie alle Blinden!«

»Jeanne!« sagte Madame Carabin vorwurfsvoll. »Wie Du unüberlegt sprichst! Wenn Monsieur de Moerner Dich nun gehört hätte! Merkst Du denn nicht, daß er selber immer die Angst hat, auch sein zweites Auge zu verlieren? Mein Kind! das könnte Jeden melancholisch machen. Ich bin überzeugt, seine verzweifelte Stimmung rührt davon her, wie auch der zeitweise zu trübe Ernst, der seine Jahre belügt. Krankheit reift vorfrüh!«

»Aber diese Reife seines Verstandes, seines Urtheils macht ihn andererseits auch zu dem, was er ist,« fiel ich ein, »zu dem interessanten Gesellschafter. Denken Sie doch, Jeanne, was für angeregte Abende wir jetzt durch ihn haben. Wie er zu erzählen weiß! – Und welch' reiche Ausbeute hat er von seinen doch eigentlich immer traurigen Reisen mitgebracht.«

Jeanne war für einmal zum Schweigen gebracht. Ich wußte es wohl, daß auch dem Kinde Nichts lieber war, als wenn wir uns nach beendetem Abendessen mit einer Handarbeit um die freundliche Hängelampe versammelten, und Herr von Moerner zu erzählen anfing. Er war schon viel gereist; allein seiner Augen wegen hatte er sich Jahre lang in Berlin und Paris aufgehalten, und als nach dem Tode der Mutter seine verdüsterte Stimmung auf den Zustand seiner Augen aufs Verhängnißvollste einzuwirken begann, andererseits aber auch der drohende Verlust seines Augenlichtes seine Stimmung verschlimmerte, hatten ihn die Aerzte zerstreuungshalber von Neuem auf die Reise geschickt. Er sollte und mußte aus dem verderblichen Cirkel heraus. So hatte er in vier aufeinanderfolgenden Jahren Italien, Griechenland und England kennen gelernt. Und wenn er auch in seiner Melancholie weniger geneigt gewesen war, alle Eindrücke aufzunehmen, für die ein so jugendlicher Geist empfänglich gewesen wäre, so hatte er doch immer noch genug gesehen, – und auch, wenn auch halb widerstrebend, genossen, – um jetzt nach erfolgreicher Cur in der Erinnerung nachgenießen zu können.

An diesen Erinnerungen, an den tausend bunten Bildern der Vergangenheit, die er sich selber zurückrief, ließ er nun uns theilnehmen, und so vergingen die Abende im Fluge. Wir waren nicht wenig erstaunt, zu finden, wie unbemerkt wir darüber in den Winter hineingerathen waren.

Aber wie lebhaft er sprach! wie lebhaft er überhaupt war. Ich konnte mich nicht genug darüber wundern. Meiner Vorstellung nach waren die Skandinavier ernste, stille, langsam denkende Menschen. Wie kam diese leidenschaftliche Natur, dieser raschbewegliche Geist, diese schillernde, blendende Lebhaftigkeit in den kalten Norden? – Ich nannte ihn einmal einen aus der Art geschlagenen Schweden.

»Das ist ein großer Irrthum Ihrerseits, Madame!« nahm Madame Carabin lächelnd für Herrn von Moerner Partei. »Alle Schweden sind lebhaft. Wissen Sie denn das nicht? Die Schweden sind ja die Franzosen des Nordens!«

Das war in einem Tone unnachahmlichen Stolzes gesprochen. Wirklich! Die » Grande Nation« steckt diesem Volk unausrottbar im Blut.

IV.

Sehr schnell hintereinander waren die Lausanner Söhne herübergekommen, um die Bekanntschaft des jungen Moerner zu machen. Natürlich befreundete er sich auch mit ihnen sofort, besuchte sie in Lausanne und stand sich gleich mit ihnen auf Du und Du. Man kann sich den Lärm nicht vorstellen, den das junge Volk trieb, wenn sie Alle zusammen waren. Kaum, daß ein Hinweis auf der Mutter leidenden Zustand, auf meine Ruhe Minuten lang ihrer Laune Zügel anlegte. Jeanne besonders, die am Abend sehr schweigsam zu werden pflegte, während Herr von Moerner erzählte, hielt sich am Tage in tausend Neckereien und Schelmereien schadlos, die von ihm mit Entzücken aufgenommen und reichlichst vergolten wurden.

Nur kam es plötzlich, daß der große Mensch inmitten aller Allotria auf Madame Carabin zuging und in einer Anwandlung demonstrativer Zärtlichkeit den Kopf still auf ihre Schulter lehnte.

Sie schalt dann. »Was thun Sie da? Wie schickt sich das, Monsieur de Moerner?«

»So heiße ich nicht.«

»Nun denn – Torsten!«

»Würden Sie Ihrem Sohne gestatten, den Kopf an Ihre Schulter zu legen? – Ja? – Nun, ich bin auch Ihr Sohn, und Sie sind meine Mutter. – Lassen Sie mich doch denken,« flehte er bei ähnlichen Gelegenheiten, wenn seine Zärtlichkeitsbeweise sie fast genirten, »lassen Sie mich doch denken, ich hätte noch eine Mutter. Ich bin ja so verwaist« – es traten dem weichen Menschen schon wieder die Thränen in die Augen – »ich habe nicht einmal eine Schwester – aber nun,« setzte er wohl mit einem plötzlichen Umschlag der Gefühle jubelnd hinzu – »nun habe ich eine – ich bin sehr glücklich.«

Daß Herr von Moerner, oder wie wir ihn eigentlich Alle schon nannten, Torsten, sich gar so leicht in die Herzen der weiblichen Hausbewohner hineinschmeichelte, läßt sich denken. Bis auf Rosa, – das Dienstmädchen, – hinab war Niemand im Hause, der ihm nicht mit Freuden zu Willen gewesen wäre. Es gefiel einem Jeden, daß es ihm bei uns so behagte. Selbst mit mir altem Wesen hatte er Freundschaft geschlossen, saß stundenlang auf meinem Zimmer, las mir vor oder begleitete mich auf meinen Spaziergängen, wenn Jeanne von Haus fern war. Freilich, kam sie von ihren Stunden zurück, dann war die alte Frau, waren Bücher, Spaziergänge über dem jungen Mädchen vergessen.

Der Wahrheit aber die Ehre! machten wir es denn anders, hatten wir alten Leute für Jemand Auge und Ohr, wenn das Kind da war? Was uns vorher auch beschäftigte, jedes Gespräch verstummte, sobald Jeanne in's Zimmer trat; sie wurde der selbstverständliche Mittelpunkt unseres Kreises. Hatten wir vorher auch ein wenig unser eigenes Leben gelebt, – sobald sie erschien, lebten wir nur das ihre.

Das Kind hatte aber auch ein so reiches Leben! – Wieviel von Interesse, wieviel von Wichtigkeit gab es allemal zu erzählen, wenn sie nach Hause kehrte! – Wir saßen, hörten zu und freuten uns ihrer Schönheit. Die Röthe kam und ging über Wangen und Stirn, die Augen glühten oder lachten, oder die langen Wimpern sanken halb darüber hin. Dann fiel es wie ein Schatten von Melancholie über ihr Gesicht, – ein Schatten, der fast schmerzte, so unberechtigt schien er in diesem jugendlichen, strahlend heiteren Geschöpf.

Torsten war die Erscheinung auch aufgefallen. »Es ist immer,« sagte er einmal, »wenn die Wimpern sich halb senken und das Feuer der Augen dämpfen. Man hat dann eine so sonderbare Empfindung, fast, als wäre sie zum Unglück geboren!«

Ich war empört! »Zum Unglück!« schalt ich heftig. »Zum Glück ist sie geboren, zum Glück! Was? diese übermüthigen Augen, diese schwellenden Lippen, diese frischen Farben –«

Sie kam uns gerade entgegen, wie ich sie beschrieben; – ich zeigte sie ihm.

»Sie haben Recht!« sagte er leise – »Sie sollte nur glücklich sein!« –

V.

»Aber warum nennt sie sich immer Jeanne ›Guignon‹?« fragte er mich ein andermal.

»Weil sie es ist, Torsten, – weil sie es ist! – Haben Sie schon Jemand gesehen, der sich heute das Kleid zerreißt, morgen die Treppe herunterfällt, übermorgen den Sahnetopf umwirft? – Haben Sie die Narbe am Handgelenk bemerkt? – Nun ja – es ist noch nicht lange her, daß sie sich schnitt! und es fehlte nicht viel, so hätte sie neulich den Fuß gebrochen. Alle Augenblicke stößt sie sich oder rennt gegen die Thür oder gegen Rosa, die das Theebrett trägt, und zerbricht hier was und da was –«

»Sie bewegt sich zu hastig –«

»Weil sie sich fortwährend übereilt! Aber warum übereilt sie sich so – doch nur, weil sie sich immer verspätet! –«

»Frau Ehlert!« –

»Nein! nein! sagen Sie Nichts! Das ist nun eben ihr Fehler! Ich hab' sie sehr lieb! aber was wahr ist, muß auch wahr bleiben! –«

»Ihre ungeschickten Bewegungen rühren aber auch davon her, daß sie sehr kurzsichtig ist, Frau Ehlert –«

»– und von ihrem nervösen Naturell!« – fiel ich ein, schon wieder bereit, sie zu entschuldigen.

»Ja!« sagte er, »und finden Sie nicht eigentlich, Frau Ehlert, finden Sie nicht, daß gerade ihre Ungeschicklichkeit noch einen Reiz mehr an ihr ausmacht!«

Ich lachte laut auf. Da waren wir wieder so weit. Es ging uns mit all' ihren Mängeln wie mit denen ihres Gesichtes. Die Nase war, wenn man sich's recht überlegte, zu groß, der Mund zu voll, die Farben waren zu glühend. Das Schnurrbärtchen zierte auch bei ihr – wie bei so mancher Französin – die Oberlippe. Aber die aus dem Rahmen strenger Schönheit fallenden Einzelheiten verliehen dem Antlitz unserer Ansicht nach gerade seinen pikanten Reiz, und wir fanden – einstimmig! –, daß selbst ihre Fehler zu Vorzügen an ihr wurden.

Und wie war sie drollig, wenn ihr ein Mißgeschick begegnete, neulich z. B., als sie, die Hände hinter dem Rücken, an der Wand stand und bei der nächsten raschen Wendung ihres Hauptes gegen den Regulator fuhr. Kopfschüttelnd rieb sie sich die schmerzende Stelle: » C'est Jeanne, voyez vous, Jeanne guignon!« – Oder sie hielt ein zerbrochenes corpus delicti in die Höhe: » C'est Jeanne, tout-à-fait Jeanne, pauvre Jeanne!«

Immer sprach sie in der dritten Person von sich, und die Art, mit der sie sich halb auslachte, halb bedauerte, war geradezu einzig.

»Sie ist so unendlich komisch in ihrer Hilflosigkeit,« sagte Torsten, »komisch und rührend zugleich. Man möchte nur immer sie an sich ziehen, um sie zu halten und zu schützen – für's Leben!« –

Er hatte Recht. Das war es, was man ihr gegenüber fühlte; ich auch, und ganz unmöglich wäre es gewesen, sich für ihre tausend und ein kleinen Leiden nicht zu interessiren, wie sehr man auch darüber lachte. Sie war eben eines der Menschenkinder, denen immer Etwas »passirte«.

Bald hatte ein Fremder sie in der elektrischen Bahn unverschämt lächelnd angestarrt, weil sie, um zu erkennen, wer mit ihr fuhr, zu stark in eine Richtung geblickt hatte. Bald guckte ihr ein Anderer an der Laterne, wo sie auf dieselbe Bahn wartete, keck unter den Hut. Ein Dritter bot ihr auf der Straße einen alten, zerrissenen Handschuh – »denken Sie, einen alten, zerrissenen Handschuh!« –, ob sie den vielleicht verloren hätte. Ein Vierter fragte sie um den Weg und benutzte die Gelegenheit, sie zu begleiten und zu sehen, in welches Haus sie hineinging. Kam sie dann nach der Stunde heraus, so stand er sicher davor. – Wieder ein ander Mal sprach sie selbst einen wildfremden Menschen vergnügt an, weil sie ihn für ihren Bruder hielt oder für Torsten, und erst in der Nähe, – » ganz in der Nähe« – sie sagte es entsetzt – war sie ihres Irrthums gewahr geworden, als man bereits von der Vertraulichkeit des hübschen Mädchens Vortheil ziehen wollte. Am schlimmsten aber war es des Abends. Wie oft kam sie athemlos nach Hause gestürzt: Jemand sei ihr nachgegangen, es habe sie Jemand angeredet. » Voyez vous cela n'arrive qu'à Jeanne! à Jeanne seulement, pauvre Jeanne.«

Torsten mochte es schon gar nicht mehr leiden, daß das Mädchen am Abend allein nach Hause kam; hätte die Mutter nicht ernsten Einspruch dagegen erhoben, – er würde sie sicherlich überall abgeholt haben.

Madame Carabin hatte überhaupt nur immer abzuwehren. Wir verwöhnten ihr das Kind zu sehr – sie hätte mit ihren Ermahnungen jetzt doppelt schweren Stand. Wir ließen uns von Jeanne bethören.

Im Grunde aber ging es ihr nicht anders. Kam der Wildfang hereingestürzt, daß Alles zusammenfuhr, so hatte sie sicher ein verweisendes Wort auf den Lippen; aber dann stand das Mädchen an der Thür, mit vom Gange gerötheten Wangen, das feine Batisttuch an die Lippen gedrückt, – und die Augen schauten darüber hinweg mit solch verführerischem Ausdruck, daß der strenge Blick der Mutter sich milderte und die Scheltworts auf ihren Lippen sich in ein Kosewort verwandelten.

Es kam eben immer wie eine Welle von Licht und Leben mit ihr herein, vor der Nichts Stand hielt, nicht Zorn, nicht Verstimmung. Besonders Herr von Moerner, auf den die seit einiger Zeit häufigeren Nebel einen verdüsternden Eindruck machten, gab sich dankbar und willig ihrem erheiternden Einfluß, dem vollen Zauber ihrer Persönlichkeit hin. Er machte auch kein Hehl aus seiner Bewunderung, welche Jeanne wie etwas Selbstverständliches höchst gnädig aufnahm, – in einer kindlich unbefangenen Art, die ihr sehr gut ließ. Wußte sie denn nicht, daß sie hübsch war?

Sie hätte vermuthlich auch mit äußerst erstauntem Blick dasjenige Mädchen gemessen, dem es eingefallen wäre, in ihrer Gegenwart eine Rolle spielen zu wollen. Waren sie doch daran gewöhnt, daß man sich einzig und allein mit ihr beschäftigte. Glücklicherweise war aber Niemand da, und unsere kleine Königin nahm mit entzückender Liebenswürdigkeit, aber auch mit entzückendem Gleichmuth die Huldigungen auf, die sich Alles ihr darzubringen beeiferte.

VI.

Wir hatten nun wirklich im Ernst Winter. Strenger Frost trat ein. Jeanne jubelte; jetzt konnte das Schlittschuhlaufen angehen.

»Daran ist gar nicht zu denken!« sagte Madame.

»Nicht?« – Herr von Moerner fragte es erstaunt.

»Mutter meint, weil es zu weit ist!« –

Madame Carabin sah mit verweisendem Blick nach ihr hin, aber Jeanne fuhr unbeirrt fort: »man muß nämlich dazu entweder nach Vevey oder Aigle fahren« –

»Aber Jeanne!«

»Nun: so fahren wir dahin!« – sagte sehr ruhig Torsten.

»Allein könnt Ihr doch nicht! es ist keine Rede davon.« Der Ton klang ärgerlich und entschieden. Jeanne blickte verzagt. –

Jetzt legte ich mich in's Mittel; ich hätte selber Lust, mir Aigle anzusehen, das ich noch nicht kannte, und dem Schlittschuhlaufen zuschauen, machte mir große Freude.

»Hurrah!« rief Jeanne und umarmte mich.

»Sie thun es einzig und allein des unartigen Kindes wegen, Madame, wirklich! man braucht nicht Alles haben zu wollen. Ich denke, Jeanne könnte zufrieden sein mit dem, was sie schon durch Ihre Gegenwart genießt.« –

»Je mehr, je besser!« meinte lustig Torsten und nickte dem Kinde vergnügt zu. Die kleine Schwester soll ein bischen fröhlich sein; und Schlittschuhlaufen – das ist ein sehr gesundes Vergnügen. Gleich morgen fangen wir an! – Jeanne ist doch nur am Donnerstag frei, und wer weiß, wie lange das Eis hier anhält!«

Damit war die Sache abgemacht; nach Aigle wurde gefahren. Die ganze Jugend der Montreuxer Fremdenwelt war hier zum Eislauf versammelt. Jeanne amüsirte sich königlich; Torsten desgleichen, und auch ich fand meine Rechnung, so daß wir alle Drei höchlichst befriedigt kurz vor dem Abendbrot wieder zu Hause eintrafen. – Dieser Donnerstag war der Beginn eines sehr vergnügten Lebens. Ein Ausflug nach dem anderen auf die Eisbahnen von Vevey und Aigle. Kein Concert, keine Vorstellung lebender Bilder zum Besten eines Bazars, einer Kirche, zu der Torsten nicht Billette besorgte. Das waren gute Tage für unsere kleine Jeanne, die bisher so still, so eingezogen gelebt hatte. Madame Carabin schalt zwar manchmal über das späte Nachhausekommen und das in Folge dessen späte Aufstehen, war ärgerlich, wenn Jeanne über irgend welcher Toilettenangelegenheit andere Dinge vergaß oder versäumte, aber sie freute sich doch, daß ihrem Kinde Gelegenheit ward, ihr junges Leben ein wenig zu genießen. Dankbar ließ sie es zu, daß ich stets und immer zur Begleitung bereit war, und übte selbst dann Nachsicht, wenn beim Nachhausekommen Jeanne's Jubel keine Grenzen kannte. Sie saß mit zusammengefalteten Händen am Tisch und hörte den Erzählungen zu, und auf ihrem Gesicht lag der ganze Stolz, die ganze Seligkeit, die sie beim Anschauen ihres glücklichen Kindes empfand. Jeanne selber war wie der verkörperte Sonnenstrahl, seit sie nicht nur der Arbeit und dem Erwerb zu leben brauchte, sondern auch ab und zu Vergnügungen hatte, wie sie für ihre Jahre paßten. Ihre Dankbarkeit gab sich in noch zärtlicherer Fürsorge für ihre Mutter kund, um deren Wohl und Wehe sie immer schon mit liebevollster Kindessorgfalt beschäftigt war, und in tausend kleinen zarten Aufmerksamkeiten für Torsten und mich.

Man kann sich denken, daß Torsten befriedigt war. Der gute Mensch, nur zu glücklich, wenn er glücklich machen konnte, schien schier unerschöpflich in neuen Vorschlägen. Es gab keinen noch so leisen Wunsch, den er dem Mädchen nicht erfüllte. Selbst in den Cursaal, der, die Theaterabende ausgenommen, für die Eingeborenen des Ortes nicht existirt, kam sie jetzt häufiger; am Nachmittag zu den Concerten der wirklich sehr guten Capelle, am Abend, wo sie mehrere Male vergeblich ihr Glück » Aux petits chevaux« versuchte. » C'est Jeanne Guignon!« sagte sie jedes Mal niedergeschlagen. »Was sehen Sie mich so lächelnd an, Madame?«

»Nichts! o Nichts, Jeanne! Mir fiel nur ein deutsches Sprichwort ein.«

» Lequel! Dites-le! dites! –«

Ich strich ihr lächelnd über die Wange.

VII.

Es war Jeanne wieder Etwas »passirt!«

Im Hause nebenan wohnten arme Leute, deren etwas schwachsinniger Sohn – ein baumlanger Bursch von siebzehn Jahren – ab und zu zu kleinen »Commissionen« in der Stadt verwendet worden war. In der letzten Zeit hatte man ihm indessen Nichts mehr aufgetragen, weil er die Gänge wenig zur Zufriedenheit ausführte.

Nun behauptete Jeanne, er lauere ihr aus Tücke auf. Sie war ihm schon ein paar Mal hintereinander an der Biegung des Weges begegnet, wenn sie Abends nach Hause kam, und jedes Mal hatte er sie anzureden versucht. Heute nun, – sie konnte vor Aufregung und Empörung kaum sprechen, – war er ihr in betrunkenem Zustande direct in den Weg getreten und habe sie festzuhalten versucht. Dann, als sie sich losgerissen, – »Sehen Sie, nur Jeanne kann so was passiren! –« hatte er sich breitspurig vor sie hingestellt und auf die Straße gespuckt. War es nicht schrecklich für ein junges Mädchen, so spät allein von den Stunden zurückkommen zu müssen? Sie zittere schon jedesmal, wenn sie sich auf den Weg begab. Und nun erst mit diesem Burschen, stark wie er war und halb Idiot – »sehen Sie – und dazu noch betrunken – pauvre Jeanne!«

Wir Frauen suchten die Sache scherzhaft zu nehmen, um sie zu beruhigen. Aber Torsten gerieth außer sich. Jeanne's Aufregung, ihr verängstigtes Gesichtchen, ihre Thränen waren zu viel für ihn. Was? eine Dame könne nicht um sieben Uhr Abends allein gehen, ohne sich Unannehmlichkeiten auszusetzen? Er wäre am liebsten aufgesprungen, um den frechen Buben auf der Stelle zu züchtigen. Wie durfte der rohe Geselle überhaupt wagen, Mademoiselle Jeanne anzusehen, geschweige denn anzureden?

Madame Carabin wollte ihn beschwichtigen. »Der Mensch ist halb Idiot, – er weiß gar nicht, was er thut.«

»Dann gehört er in eine Anstalt,« schrie Torsten, »aber nicht auf die Straße, um Damen zu belästigen.«

»Es ist ein großer Kummer für die Eltern, – ein großer Kummer, – glauben Sie mir, es sind das ehrliche, ordentliche Leute!«

»Ganz gleich! entweder sie wissen ihn im Zaume zu halten, oder er muß eingesperrt werden, – ein Drittes giebt es da nicht. Mademoiselle Jeanne wird nicht mehr belästigt werden; ich werde Sorge dafür tragen, ich! Arme, kleine Jeanne!« –

Seine Stimme war sanfter geworden, fast zärtlich; fast zärtlich war auch der Ausdruck seiner Augen, mit denen er das junge Mädchen ansah.

Jeanne zitterte unter seinem Blick. Die Wimpern senkten sich langsam, – nun lagen sie dunkel auf den Wangen, die sich mit glühender Röthe bedeckten. Er nahm es für ein Zeichen der Erregung, die das Ereigniß hervorgerufen. »Arme, kleine Jeanne!« wiederholte er.

Gleich am nächsten Morgen schalt er mit den Nachbarsleuten, die sich unter Thränen und Klagen entschuldigten. Der Sohn sei betrunken gewesen, – er sei sonst ein guter, stiller Junge, – nur schwach im Kopf, – sie wären unglücklich genug –

»Wie kann man einem Idioten noch Branntwein zu trinken geben!« schnitt Herr von Moerner ihnen kurz das Wort ab. »Passen Sie besser auf den Burschen auf! Kommt noch das Geringste vor, so zeige ich ihn der Polizei an, – und er wird aufgehoben und eingesperrt, in's Loch, – oder, wo er hingehört, in's Irrenhaus.«

Das half. Jeanne hatte nicht wieder über Belästigungen zu klagen. Es läßt sich ermessen, wie dankbar sie ihrem Beschützer war.

VIII.

»Was ist mit Torsten, Mutter?« – Die Hausthür hatte sich gerade hinter dem jungen Manne geschlossen. – »Er sagte, er käme morgen nicht herüber.«

»Er hat sich entschuldigt, mein Kind, es ist morgen der Sterbetag seiner Mutter!«

»Dann kann er nicht zum Essen kommen!« rief Jeanne erstaunt. »Will er etwa fasten? Das sind Ideen! Dieser capriciöse Mensch!« –

»Er will den Tag still verbringen, meine Tochter. So hätte er das immer gehalten. Er drückte sich,« fuhr Madame Carabin zu mir gewandt fort, »sehr hübsch aus, – er müsse diesen Tag mit seiner theuren Mutter ganz allein sein.«

»Das ist Torsten!« sagte Jeanne halb bewundernd. »Aber wie langweilig das werden wird! und Jules, der extra aus Lausanne herüberkommt –« sie warf ärgerlich die Locken zurück. »Nun wird aus dem Spaziergang wieder Nichts. Was thut man nur den Tag über?«

»Mir scheint, Du kannst gar nicht mehr ohne Torsten existiren!« erwiderte scharf Madame Carabin. »Wie kann man sich nur so abhängig machen von Anderen! Da werde ich eine schöne Tochter an Dir haben, wenn Mr. de Moerner einmal ganz fortgeht.«

Jeanne war bei den ersten Worten sehr roth geworden. Jetzt zuckte sie ungeduldig die Achseln. » Quelle idée!« sagte sie.

»Jeanne!« – Madame Carabin sprach sehr ernst. »Ich mag kein übelgelauntes Gesicht sehen. Nimm Dir Etwas zu arbeiten vor, dann wirst Du gleich wissen, was Du zu thun hast.« –

»Arbeiten! immer arbeiten! Wenn man die ganze Woche Stunde giebt. Tag für Tag, da möchte man auch einmal die Hände still halten und ausruhen. Ich bin doch noch jung, – ich möchte doch auch mein Leben genießen!« –

»Ich denke, Du hast Dich nicht zu beklagen, Du kannst nur danken. Nicht jedem jungen Mädchen wird soviel geboten, wie Dir, – Geh', Kind! geh'! Du liebst so sehr, einen Tag ganz für Dich zu haben. Benutze ihn jetzt. Es giebt sicherlich viele Sachen zu ordnen!«

Ordnen, das war Jeanne's große Leidenschaft. Jede Gelegenheit dazu betrachtete sie sonst als einen »gefundenen Tag!« Diesmal indessen schien ihr die Aussicht nicht besonders erfreulich. Sie wirtschaftete zwar den ganzen Donnerstag Morgen im Hause herum, aber sie brachte Nichts vor sich. Die Mutter hatte so oft über ihr planloses, gedankenloses Schaffen geklagt, ohne daß ich es hatte wahrhaben wollen. Heute, – ich saß mit dem Nähzeug am Fenster, – beobachtete ich sie schon eine lange Weile, wie sie ein Packet mit ein paar Wäschestücken, die sie als des Ausbesserns bedürftig beiseite gelegt hatte, immer wieder auf- und zusammenrollte, auseinandernahm, jedes Stück einzeln zusammenlegte in die verschiedensten Lagen, planlos, ziellos. Wo sie derweile mit ihren Gedanken war, das weiß Gott!

Am Nachmittag kam Jules, der älteste Bruder. Er hörte verwundert Jeanne's erregte Erzählung mit an, lachte über ihre Enttäuschung und amüsirte sich damit, sie zu necken. Indessen fand er die Sache selber etwas sonderbar. »Er ist ein seltsamer Kauz, Torsten, das läßt sich nicht leugnen, Mutter!«

Aus dem Spaziergang auf den Mont Caux sollte in der That Nichts werden. Jules hatte nicht Lust, Etwas ohne Torsten zu unternehmen; er zog es vor, den Nachmittag über bei der Mutter zu bleiben. Jeanne war im gegebenen Moment nirgends zu finden. Als sie endlich zum Vorschein kam, war sie »noch nicht angezogen«, hatte noch soviel in ihrem Zimmer, an ihren Schubladen zu ordnen! – Schließlich ging ich allein, meine gewohnte Tagestour.

Mit dem 9-Uhr-Zug Abends mußte Jules wieder fort. Kurz vor dem »souper« fragte er: »Soll ich denn wirklich weggehen, ohne Torsten gesprochen zu haben, – ich will mal zu ihm hinüber auf die Stube.«

»Du störst ihn nur, Jules!«

» Quelle idée, mère,« sagte auch er lachend.

Wir sahen seiner Rückkehr mit begreiflicher Spannung entgegen. Die Umständlichkeit, mit der er wie sonst Mütze und Mäntelchen im Corridor aufhängte, machte Jeanne ungeduldig.

»So komme doch schon, Jules, – sag', wie Du ihn fandest!« Jules kam langsam herein, und indem er auf die wohlbekannte Art mit der Linken den Stuhl erst aufhob und in der Luft wog, ehe er sich bedächtig darauf setzte, sagte er mit einer Stimme, in der Spott mit tiefer innerer Bewegung kämpfte:

»Ein wunderlicher Heiliger ist er – kein Zweifel darüber, – aber – aber – es hat mir eigentlich gefallen.« Er pausirte bedächtig.

»Jules, – Du bist unausstehlich, – so erzähle doch schon!« Er lächelte behaglich über Jeannes Ungestüm, – dann berichtete er. »Stellt Euch vor, Torsten im Gesellschaftsanzug, Frack mit weißer Binde –«

»Jules –«

»Ich erfinde Nichts, kleine Schwester. Gesellschaftsanzug, – weiße Binde, – das Zimmer ein Lichtmeer von Lampen und Kerzen. Auf dem Tisch Blumentöpfe und Sträuße in Vasen; in der Mitte die bekränzte Photographie der Mutter. Vor derselben Torsten, den Kopf in die Hände gestützt, in stiller Andacht. – Er erhob sich bei meinem Eintritt: ›Du kommst gerade recht, Jules! Sieh her, meine herrliche Mutter. Es ist heute ihr Sterbetag. Sieh! Das war sie! Aber das Bild sagt Dir Nichts von dem, was sie war.‹ – Dann hat er angefangen von seiner Mutter zu sprechen, mit einem Gefühl, – wiedergeben kann ich es nicht. Aber seine Begeisterung, sein tiefer, unüberwundener Schmerz hat mir das Wasser in die Augen getrieben. Er muß sie unendlich geliebt haben, diese Mutter –«

»Sie war auch der Liebe werth, meine Kinder –«

»Ich habe versucht, ihn dann schließlich zum Mitgehen zu bewegen. ›Heute nicht, Jules!‹ hat er ruhig und freundlich gesagt, ›heute gehöre ich meiner Mutter, – es ist nur ein Tag jetzt im Jahr, aber den bleiben wir Beide zusammen!‹«

Auf die zur Schwärmerei neigende Jeanne machte die Erzählung sichtlich tiefen Eindruck. Sie hatte stumm zugehört, aber ihre Augen waren immer größer und dunkler geworden. Jetzt stand sie am Fenster, – abgewendet, unbeweglich. Als sie sich endlich herumdrehte, lag auf ihrem Gesicht ein Ausdruck, wie ich ihn noch nie gesehen. Es schien mir, als ob das Gefühl der Sympathie für Torsten nicht fern davon war, in ein neues Stadium einzutreten. Hatte doch die spöttische Verwunderung über seine Seltsamkeiten immer mehr einer tiefen Bewunderung Platz gemacht; war doch ihre anfängliche Ungeduld mit seinen Launen und Grillen mehr und mehr einem warmen Mitleid mit seinem Gebrechen gewichen. Es wollte mich dünken, als sei sie der Entdeckung sehr nahe, als müsse sie nun bald zu dem Bewußtsein aufwachen, daß sie ihn liebe.

IX.

Die Entdeckung kam schneller, als ich gedacht. – Der December wurde für uns ein recht unfreundlicher Monat. Kalt war es nicht, – im Gegentheil! – Der Frost war längst verschwunden, – aber Regen gab es, viel Regen und – Nebel. Und das war das Schlimmste! – Tag für Tag aufzuwachen und immer den weißen Nebel wie eine Mauer um sich zu sehen, – das war entmuthigend. Hob er sich selbst etwas, so daß wenigstens die nächste Umgebung, daß die Straße frei ward, – über dem See lag es dick, grau, undurchdringlich, einen Tag um den andern! – Aussicht keine! von den gegenüberliegenden Bergen wußte man nur noch wie aus ferner Sage. Die Sonne schien vom Himmel verschwunden zu sein! Immer nur dieses graunasse Etwas um uns herum; – Himmel, See, Erde, Luft ein großer Prießnitz'scher Umschlag, nur ohne dessen sanitäre Vortheile! Wie dieser Nebel auf Kehle, Hals und Brust fiel, wie er den Athem versetzte, wie er mit Centnerschwere den Kopf belastete! Was auch immer den Ruf Montreux' begründet haben mag, ein Winteraufenthalt für kranke Nerven ist es nicht. Leider huldigen noch immer ausländische Aerzte dieser Ansicht, deren folgenschweren Irrthum so mancher Patient zu beklagen hat. Die Schweizer Aerzte wissen wohl, daß das weiche, erschlaffende Klima von Montreux, daß der häufige Nebel den niederdrückendsten Einfluß auf das Nervensystem ausübt. So stark sich dieser Einfluß bei mir fühlbar machte, Herr von Moerner litt unsäglich mehr.

Für ihn, dem die ewige Nacht so nahe gewesen, der schon ihr Flügelrauschen über seinem Haupte zu vernehmen geglaubt hatte, war Licht, war Sonne Alles. Seine Stimmungen wurden immer ungleicher, und selbst die ausgelassenste Lustigkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er an einer tiefgehenden Verstimmung zu leiden anfing. Der Appetit wurde mangelhaft, allgemeine Mattigkeit stellte sich ein, er war unruhig, klagte über Druck im Kopfe, über den Augen, – die Augen selber schienen schwächer; er konnte weder lesen noch schreiben. In dem Maße, wie er zur Unthätigkeit verdammt war, wurden seine Augenblicke der Heiterkeit seltener tiefe Verzagtheit, ja Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er, der sonst nicht genug Licht haben konnte, suchte jetzt von selber die Dunkelheit auf.

Madame Carabin beunruhigte sich sehr. Sie suchte durch jede erdenkliche Pflege Torstens allgemeinen Gesundheitszustand zu heben. Sie war selbst gegen Jeanne auffallend nachsichtig; ja, man könnte fast sagen, daß sie das Mädchen zu Tollheiten ermuthigte, in der Hoffnung, Herrn von Moerner dadurch aufzuheitern. Das erste Mittel half so wenig wie das zweite. Es wurde auch mit jedem Tage schwerer, Jeanne zu Scherzen zu veranlassen; ihre Stimmung begann der nur schwächere Abglanz von Torstens Stimmung zu werden. Madame sah darin ebenso klar wie ich und suchte mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln, dem Einfluß, den der junge Mensch auf ihre Tochter auszuüben begann, entgegenzuwirken. Es kam zu Scheltworten und Scenen. – Schließlich aber brachte die Besorgniß um Torsten alle anderen Bedenken zum Schweigen. Er war ein paar Tage auf seinem Zimmer geblieben, weil seine Nervenschmerzen sich immer stärker einstellten. Madame, die am Vormittag nach ihm sah, war über sein Befinden erschreckt; da fiel jede Prüderie.

»Dies geht nicht, – man kann ihn nicht allein liegen lassen. Ich würde vor Unruhe vergehen, – ich muß ihn hier haben, – aber wo ihn unterbringen?«

Ich bot mein Zimmer an, – ich wollte hinüber ziehen in Torstens. »Nein, nein! wie könnte ich daran denken, Ihnen diese Unannehmlichkeit zu bereiten. Außer dem, – das Zimmer ist für einen Kranken zu klein. Wir werden das unsere geben, – Jeanne und ich, – da ist die Dachkammer, – es ist jetzt nicht sehr kalt.«

Der Umzug wurde noch am selben Tage bewerkstelligt. Jules, der glücklicherweise für den Nachmittag gekommen war, half den Freund in das Haus schaffen. – Ein heftiger Fieberzustand erklärte sich am nächsten Morgen, der über eine Woche dauerte und zu den ernsthaftesten Befürchtungen Anlaß gab, zumal in Betreff der Augen, – was man Torsten natürlich verschwieg. Der Arzt verordnte absolutes Stillliegen, ein verdunkeltes Zimmer, völlige Ruhe.

Madame Carabin wich nicht von dem Bette des Kranken, der ab und zu in Fieberphantasien lag, meist aber in den quälendsten Nervenschmerzen stöhnte. Eine innere Aufregung hielt die zarte Frau aufrecht. Auf alle Vorstellungen erwiderte sie: »Jeanne kann ihn doch nicht pflegen; – also bliebe nur Rosa; aber Sie werden doch nicht wollen, daß ich Monsieur de Moerner einem Dienstboten überlasse.«

»Sie vergessen mich, Madame! Lassen Sie mich wenigstens Sie ablösen.«

»Aber daran ist nicht zu denken. Sie sind sehr gut, Madame! Sie sind hier, um sich zu erholen; ich bin verantwortlich für das Wohl all' meiner Gäste; und dann, welche Verpflichtung hätten Sie Torsten gegenüber? An mir ist es, an mir allein, ihn zu pflegen.«

Wir drangen darauf in den Arzt, sie zur Annahme einer Diakonissin zu bewegen. Selbst Torsten beschwor sie in seinen lichten Momenten, sich während der Nacht wenigstens Ruhe zu gönnen. Aber auch davon wollte sie Nichts hören. Er war ihr anvertraut worden; er war ihr überdies lieb und werth wie ein eigenes Kind. Niemand sollte sich mit ihr in die Pflege des einzigen Sohnes ihrer verstorbenen Freundin theilen.

So blieb nichts Anderes übrig, als sie gewähren zu lassen. Aber ich glaube, viel mehr Ruhe fand Keiner von uns, Jeanne schon gewiß nicht. – Wie oft hörte ich nicht Nachts leise Schritte, die vor der Thür des Krankenzimmers plötzlich verstummten! Wie oft am Tage fand ich das Kind nicht vor dieser selben Thür, wenn ich Erkundigungen einholen wollte. Sie bat dann mit angstvollen Geberden: » Allez, allez voir – je vous prie – comment il va, lui, Torstèn!«

In's Krankenzimmer hinein wagte sie sich nicht; ihre Mutter hätte sie wahrscheinlich auch verwundert genug angesehen. Aber ihr Gesicht machte mir Sorge, wenn ich heraustrat. Sie sprach kaum, aus Furcht, ihre Aufregung zu verrathen, – nur ihre Augen fragten.

Arme Jeanne! als ob diese überwachten Augen, diese bleichen Wangen nicht deutlich genug gesprochen hätten! Was sollte nur daraus werden? Was konnte daraus werden? Wäre Torsten doch nie hierher gekommen! – An eine Heirath mit einem an Leib und Seele so kranken Menschen war doch niemals zu denken.

Ja, krank an Leib und Seele! Madame Carabin erzählte mit tief bekümmerter Miene, wie innerlich zerrissen er war. »Der arme Torsten! es ist schrecklich, dieses Geschick! Mit so viel Begabung, solchem Streben, so glühendem Thätigkeitsdrang eine so zerrüttete Gesundheit, ein so gebrechlicher Körper! Und wie er es fühlt, der arme Junge, wie er darunter leidet! es zerreißt mir das Herz, ihn sprechen zu hören, – und doch bin ich froh, um seinetwillen, daß er endlich sich ausspricht –«

Die Zuneigung zu der Freundin seiner geliebten Mutter, die wiederkehrende Furcht vor völliger Erblindung, die äußerste Schwäche seines Zustandes und seine Verzweiflung über diese Schwäche, – Alles vereinte sich, die Zurückhaltung zu durchbrechen, in die er sich seit dem Tode der Mutter gehüllt hatte. In ihr hatte er Alles besessen, – mit ihr glaubte er Alles verloren! – und seine übersensitive Natur war davor zurückgeschreckt, sich Anderen zu offenbaren, die Wunden, an denen er blutete, von rohen, theilnahmlosen Händen berühren zu lassen. Seinem thätigen, thatkräftigen Vater stand er mit schmerzlicher Bewunderung, aber ohne Vertrauen gegenüber. Dieser Mann, der noch auf der Höhe geistiger Kraft und unverwüstlicher Gesundheit wirkte, wie sollte er ihm seine Schmerzen nachfühlen können, den Jammer seiner Seele über die Kluft zwischen seinem Wollen und Können, über sein gebrochenes Streben, sein nutzloses Dasein, über das Siechthum all' seiner Kräfte.

Sein ganzes Leben rollte sich jetzt vor Madame Carabin auf, in einzelnen, abgerissenen Bildern, in wilden Worten, wie die Verzweiflung sie dem Kranken auf die Lippen trieb; – hier Situationen, Geschehnisse, innere Kämpfe, in immer leidenschaftlicheren Ausdrücken wiederholt, – dort, über Dinge und Jahre hinweg, Einzelheiten, – nur angedeutet, kaum errathbar.

Sie sah ihn in seiner ewig kränkelnden Kindheit, welche die Mutterliebe als einziger Sonnenstrahl erhellte, in seiner verkümmerten Jugend, da er zum ersten Mal zum Bewußtsein seiner Ohnmacht erwachte, aber doch noch die milde, verständnißvolle Trösterin an seiner Seite hatte, die seine Leiden zu den ihren und ihre Hoffnungen zu den seinen zu machen verstand. Dann kam ihr Tod, und mit ihm die ›Nacht‹, wie er es nannte, die unheilvoll für Geist und Körper über ihn hereinzubrechen drohte. Sie sah ihn allein in dieser Nacht, ohne Freund, ohne Stütze, Dienstlingen überlassen, da den Vater der Staatsdienst meist von dem Landsitz fernhielt. – Es folgten die Reisen mit dem Secretär, der halb noch ein Lehrer, halb schon ein Untergebener war; das fortgesetzte Fernsein von der Heimat, das ihm das Herz erkältete, die traurigen Jahre in den Kliniken, all' die Zeit, die er in dem verdunkelten Krankenzimmer zubrachte, im Bett angebunden, damit er durch keine Bewegung die Behandlung der Augen störe, endlich die Operation, die man eine glückliche nannte, und die ihm noch einmal Hoffnung und Lebensmuth wiedergab. Und diese Hoffnung, die Montreux und die Begegnung mit den lieben Freunden zu hellerer Flamme anzufachen begonnen, sie war nun im Keime erstickt worden durch die Krankheit.

Was Wunder, wenn die Verzweiflung ihn überwältigte, wenn er den finsteren Mächten anheimzufallen schien, die sich seit seiner Kindheit um seine Seele rissen.

Und unaufhörlich, unaufhaltsam floß noch der Strom seiner Enthüllungen. Der Doctor empfahl Ruhe, Ruhe und wieder Ruhe; aber Torsten fand keine Ruhe, – in fieberischer Hast drängten sich ihm die Worte über die Lippen.

Madame Carabin ließ ihn gewähren. Sie fühlte, daß er sich aussprechen mußte. »Es ist Aufregung für ihn, ohne Zweifel, aber ein so belasteter Geist findet nicht Ruhe, ehe er sich befreit. Die Aussprache thut mehr für Torsten, als alles Andere – glauben Sie mir!« –

X.

Torsten hatte sich ausgeklagt; er lag erschöpft, – und mit der Erschöpfung trat endlich auch die Ruhe ein, – körperliche und seelische Ruhe. Er war schwach und hilflos wie ein Kind, aber auch zugänglich, offen, vertrauend wie ein Kind.

Und jetzt begann Madames eigentliches Samariteramt. Mehr als des Doctors Verordnungen, besser als alle Medicin wirkte ihre Gegenwart, der Einfluß ihrer durchaus gesunden Natur. Torsten lag und lauschte mit geschloffenen Augen der milden, tröstenden Stimme. »Wie meine Mutter!« hauchten seine Lippen. »Sie spricht wie meine Mutter!« und mehr als einmal führte er die feine Frauenhand an seine Lippen in überströmendem Gefühl des Dankes. Mit jedem Tage erkannte er klarer die segensvolle heilende Kraft, die von ihr ausging. Die Zeit im Krankenzimmer wurde für ihn zu einer Zeit der Erlösung. Er athmete auf wie Jemand, dem ein drückender Alp von der Brust genommen ist. Er sah sich der qualvollen Vereinsamung entrissen. Wie eine Blume unter dem Sonnenstrahl, so erschloß sich seine Seele nach und nach ganz der mütterlichen Freundin. Die Tage der Reconvalescenz vergingen in ernst vertrauten Gesprächen, die ihn Vieles lehrten, ihm Vieles brachten.

Er fing an seine Leiden, sein Leben in anderem Lichte zu betrachten, das Leben, das er am liebsten als werthlos, unerträglich von sich geworfen hätte. Madame Carabin überzeugte ihn, daß, wie gehemmt er auch durch sein schwaches Augenlicht, durch seine leicht empörten und gereizten Nerven war, er doch seine schönen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grade würde bethätigen können. Er war entschlossen, sich zu bescheiden und innerhalb der ihm durch seine Krankheit gesteckten Grenzen sein Möglichstes zu leisten.

Sie hatte ihn so veranlaßt, aus sich herauszugehen; sie hatte ihn ferner in sich selbst gefestigt. Jetzt lehrte sie ihn, von sich selber absehen und den Blick auf das Allgemeine zu richten. Indem sie an seine Herzensgüte, seine Hilfsbereitheit appellirte, zeigte sie ihm, wieviel Freude vor so viel Anderen ihm in seiner vom Schicksal so begünstigten Lebensstellung offen gelassen war.

Wieviele gab es, denen pecuniäre Schwierigkeiten den Weg verlegten, obwohl sie schon, – glücklicher als er, – die Gesundheit besaßen, ihre Begabung zu bethätigen! Die konnte er fördern! Und war es nicht in seiner Macht, das Elend derer zu mildern, die, körperlich gehemmt gleich ihm, sich vergebens zum Fluge rüsteten und mit versagenden Flügeln zu Boden sanken, die aber nicht wie er die Tröstungen einer sorgenfreien Existenz kannten, sondern zu all' dem Schmerz, zu all' der Verzweiflung, mit der ein gebrochenes oder der Entwickelung beraubtes Talent die Seele zerreißt, auch noch den bittersten Kampf um die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens zu kämpfen hatten?

Ja! sein Dasein konnte noch – nur in anderem Sinne! – ein reiches, schönes werden! Es war werth, gelebt zu werden, mit Bewußtsein, mit Kraft! – Hochfliegenden, umfassenderen Plänen entsagend, wollte er in dem, was zu thun ihm übrig blieb, Befriedigung suchen und finden!

»An unseren Schmerzen die Schmerzen Anderer fühlen, – aber nicht, beschäftigt mit dem eigenen, kleinen Loos, taub und blind sein für fremdes Leid!« hatte die edle Frau ihm gesagt. – Das Wort, hoffte er, sollte ihm Richtschnur bleiben für immer!

XI.

Die Besserung ging mit schnellen Schritten vor sich. Nach und nach wurde mehr Licht in's Krankenzimmer hineingegeben; nicht lange, da konnte der arme Gefangene seine Zelle verlassen.

Wie bleich und elend er freilich aussah! mit wie schwermüthigem Lächeln er unsere Begrüßungen aufnahm! Wie sehr er seine Augen zu schonen hatte!

Aber es kamen hellere Tage, – die Sonne schien wieder, seine geliebte Sonne! und unter ihrem wohlthätigen Einfluß, unter der liebevollen Pflege seiner »zweiten Mutter«, unter den schönen Augen vollends unserer kleinen Jeanne, in denen die Freude über seine Wiederherstellung so deutlich geschrieben stand, verschwanden die Spuren des bösen Anfalls schneller, als wir es zu hoffen gewagt hatten.

Nur trug leider die getreue Pflegerin schwer an den Folgen der aufreibenden Zeit. Sie hatte sich zu sehr angestrengt, und ihre Gesundheit büßte dafür. Nicht, daß sie etwa klagte, das lag durchaus nicht in ihrer Natur, aber sie war reizbar, über alle Maßen reizbar und leicht erregt. Jeanne, die besonders viel unter diesen Stimmungen zu leiden hatte, begriff ihre Mutter nicht; sie hatte sie noch nie so gesehen. Doch mit rührender Geduld, die immer wieder ihre innige, kindliche Liebe darthat, ertrug sie Vorwürfe und Scenen. Es wurde ihr aber wirklich manchmal recht schwer gemacht.

Eines Abends saßen wir mit Torsten in belebtem Gespräch um den Tisch im Eßzimmer, freilich, wie jetzt häufig, ohne Madame.

»Mutter leidet wieder sehr, sie wird auf ihrem Zimmer bleiben,« hatte Jeanne gesagt.

Da that die Thür sich plötzlich auf, und Madame Carabin trat mit auffallend hastigen Bewegungen herein. Ohne uns Anderen mehr als einen kurzen Guten Abend zu gönnen, sprach sie bereits im aufgeregtesten Tone auf Jeanne ein.

Die Schneiderin hätte zum 12. December kommen sollen, und nun hier! – sie zeigte auf einen offenen Brief in ihrer Hand, – schriebe sie, sie würde erst den 20. kommen, weil Mademoiselle Jeanne gesagt habe, Eile hätte es nicht. Das war wieder einmal Jeanne – so mache sie es immer –«

» Mais mère!« sagte das Kind flehend.

Ja, das wäre so. Sie wisse ganz gut, wie nöthig sie, Madame Carabin, den Rock brauche, – täglich wäre davon gesprochen worden, und nun käme die Schneiderin noch so unbequem, in den Tagen vor Weihnachten – zum Verzweifeln wäre es mit Jeanne, – immer Unsinn, immer Alles verkehrt –«

Jeanne hatte mehr als einmal den Mund geöffnet, wie um sich zu vertheidigen, – aber sie gab es immer wieder auf und sah nur Madame an, vorwurfsvoll und erschreckt zugleich. Unter halb traurigem, halb verwundertem Kopfschütteln ließ sie resignirt den ganzen Wortschwall über sich ergehen!

Endlich rauschte die Mutter so aufgeregt, wie sie gekommen war, wieder zur Thür hinaus –

Jeanne blickte ihr mit schmerzlichem Ausdruck nach, indem sie wieder einmal über das andere den Kopf dazu schüttelte. Ihr in Torsten's Gegenwart solch' eine Scene zu machen, – und wenn die Sache sich noch so verhalten hätte, aber da war ein Mißverständniß, – die Mama hätte, – nicht sie, – die Mama wäre –

Sie unterbrach sich von Neuen:: » C'est toujours Jeanne, toujours la faute de Jeanne!« klagte sie. Sie sah eine kleine Weile betrübt vor sich hin; dann nahm sie ihre Handarbeit wieder auf, die sie zuvor erschreckt hatte fallen lassen. Aber noch einmal schüttelte sie leise den Kopf: » Pauvre Jeanne!« seufzte sie in unbeschreiblich sich selbst bedauerndem drolligen Ton und sah dabei bezaubernd hübsch aus. Man hätte das Kind abküssen mögen.

Wir versuchten sie dann zu trösten, Torsten und ich; aber sie hatte in der That einen schweren Stand. Man bedenke doch: Sie war fast den ganzen Tag in Stunden vom Hause entfernt und sollte den Haushalt bis in's Kleinste hinein leiten. Sie sollte selbst mit helfen, sollte die Mutter pflegen, und uns, ihre Gäste amüsiren. Wirklich, es lastete zu viel auf so jungen Schultern.

XII.

Das Weihnachtsfest brachte eine bereits angedeutete Eigentümlichkeit Torsten's zu vollem Ausdruck. Wie draußen in der Natur, so konnte er auch in den Zimmern nie genug Licht haben. Die vorzüglich brennende Hängelampe gab nach ihm nur eine traurige Beleuchtung ab. Wäre die Hitze in dem kleinen Raum nicht unerträglich geworden, es hätten sicher noch ein paar Lampen hinein müssen. Auf seiner Stube brannten stets mehrere. – Aber das Weihnachtsfest, soviel hatte man ihm versprechen müssen, das Weihnachtsfest dürfe so düster nicht verlaufen. Er bat sich unbeschränkte Beleuchtungsfreiheit aus.

Nun, das Haus schwamm förmlich in einem Lichtmeer. Von fern bereits leuchtete es durch die Dunkelheit uns entgegen. In dem Gärtchen um das Chalet, den Hügel hinauf, Laterne über Laterne; im Flur, auf der Treppe, in den Zimmern gab es keinen bestellbaren Ort, auf dem nicht eine Lampe, eine brennende Kerze Platz gefunden hätte. Von Etagen, Fenstersims, Clavier, Schrank, überall, überall strahlte es uns entgegen. Wir standen wie geblendet.

»Ist das nicht schön? ist das nicht schön?« rief Torsten einmal über das andere. »Sehen Sie! so muß es sein! so hab' ich's zu Hause stets auf meinem Zimmer. Und wenn ich zurückgehe, – und das Landschlößchen ist mein, und ich heirathe, – dann soll das ganze Schloß so leuchten von oben bis unten. Da weiß ich doch dann, daß ich lebe. Nur keine Finsterniß um mich her, nur keine Nacht.« Er schüttelte sich schaudernd. Wir warfen uns unwillkürlich Blicke zu. Armer Junge! Er wußte nicht, wie nahe die Nacht ihm schon wieder gewesen!

XIII.

Eine Schneelandschaft am Genfer See – das war Etwas, was ich mir kaum vermuthet hätte. Macht man sich doch bei uns oben im Norden so übertriebene Vorstellungen von dem »südlichen Klima« von Montreux. Vor Weihnachten waren nur ab und zu ein paar schon in der Luft zerfließende Flöckchen gefallen; nun aber kam der Schnee in dicken Flocken herab und blieb liegen. Ueber Nacht fast hatten wir wirklichen, weißen Winter.

Abgesehen von dem ersten Gefühl der Enttäuschung, das diese sehr wenig südlichen Leistungen des Genfer Sees hervorriefen, erfreute der Anblick mein Herz. Die wildfremde Gegend, der sich die Seele bisher nicht hatte hingeben wollen, war auf einmal zu einem lieben, vertrauten Freunde geworden. Da waren keine kalten grauen Steinhäuser mehr auf kahlem Ufer an blauem, was sag' ich? – an fast immer grauem See, keine wie abgebrannt aussehenden Bergabhänge mit ihren Rebstöcken! Wiewohl die Sonne all' das manchmal aufgeleuchtet hatte mit gar brennenden Farben, es hatte nicht hineinwollen in mein Fühlen und Denken. Jetzt, inmitten Schnee und Eis war ich zu Hause, wie angelangt am Ziel nach ferner, mühsamer Wanderung. Alles redete mit bekannter Stimme zu mir, die Bäume, die sich unter der Schneelast beugten und doch stolz waren auf ihren Schmuck, die Häuser, die mit großen schwarzen Fensteraugen vergnügt unter der schimmernden Kopfbedeckung hervorsahen, die weichen, weißen Polster auf Holzstößen, Bänken und Brettern und die Wiesen, die sich unter die warme, wellige Decke schmiegten.

Und das war wieder die sanfte Bewegungslosigkeit in der Natur, die Ruhe und Stille, die Nichts unterbrach, als der Flug und Ruf der schwarzen Krähe und das Klingeln der Schlitten.

Schlitten! Das eine Wort, wenn immer ich's höre, zaubert vor meine Seele die Heimat, wie das Kind sie sah; den Schloßplatz, funkelnd im Sonnenlicht, und seine Reihen prächtig geschmückter Schlitten mit märchenhaft geschwungenem Schnabel. Ich sehe schwellende Polster, reiche Pelzdecken, sehe den Kutscher im wallenden Mantel und Pelzbarett, mit den riesigen dicken Fausthandschuhen; ich sehe die Pferde im blanken Geschirr, Roßschweif und Glockenspiel auf den Hälsen, und die Pferde stampfen und wiehern, und die Glöckchen klingeln! – Das waren Schlitten!

Aber hier! – wir hatten gute Gelegenheit, so ein Ding, so einen Waadtländer Schlitten aus nächster Nähe zu betrachten. Torsten hatte uns zu einer Schlittenfahrt aufgefordert.

Die Sonne schien herrlich, – um spätestens zehn Uhr war der Kutscher bestellt. Es wurde elf; er kam nicht. Wir warteten bis zwölf Uhr; dann ging der empörte Torsten, um ein anderes Gefährt zu besorgen. Aber kein Schlitten zu haben, – in ganz Montreux. Das schöne Wetter hatte Alles zu Ausflügen veranlaßt. Das Mädchen wurde also noch einmal zu unserer Holz- und Kohlenlieferantin geschickt, die zugleich » voiturière« war. Diesmal brachte sie die Nachricht, der für uns bestimmt gewesene Schlitten habe die Deichsel gebrochen, aber man erwarte jeden Augenblick einen andern Kutscher zurück. Als wir uns zu Tische setzten, waren nicht nur mehrere »Augenblicke« verflossen, sondern es erhoben sich auch schon wieder leichte Nebel, wie meist gegen oder kurz nach Mittag. Dennoch erhofften wir für die Höhen, – wir wollten nach » Les Avants« hinauf, – einen freien Ausblick und Sonne.

Endlich um 2 Uhr erschien unser Kutscher, – kein anderer. Torsten stellte ihn höchst gereizt zur Rede, worauf er mit Seelenruhe auch die »gebrochene Deichsel« zum Besten gab; eine Geschichte, die wir halb schon zu glauben anfingen, als uns Rosa lachend erklärte, diesem selben Kutscher um 10 Uhr Morgens begegnet zu sein, als sie mit ihrem Kücheneinkauf aus der Stadt kam. Er habe eine Gesellschaft von sechs Personen den oberen Weg nach Clarens gefahren.

»Das ist, was ich dachte!« rief Jeanne. »Der Mann hat noch eine andere Bestellung vorher angenommen; vermuthlich eine Partie nach Schloß Hauteville!«

Torsten wurde fast weiß vor Aerger. Nur der Gedanke, daß Jeanne um ihre Schlittenfahrt käme, hielt ihn ab, den Kutscher mit einem Donnerwetter heimzuschicken.

Madame Carabin suchte ihn zu beruhigen. »Das ist so bei schönem Wetter, Torsten! Die Leute haben so wenige Schlitten; da verlangt die ganze Welt sie.«

»Und das entschuldigen Sie noch!« rief Torsten außer sich. »Sagen Sie Ihrer Frau voiturière!« schrie er den Kutscher an, »ich sei fertig mit ihr für immer! – aber Sie Mensch, Sie, fahren Sie jetzt, was Ihre Pferde laufen können, das rathe ich Ihnen. – Ist das ein Schlitten?« fuhr er dann mit unterdrücktem Aerger fort. »Haben Sie jemals schon ein so jammervolles Gestell gesehen?«

Die Frage galt mir; ich schüttelte energisch den Kopf. Das »Gestell« hatte mich schon aus allen Himmeln gerissen. – Ein schwarzangestrichener Holzkasten, der vorn in einen rothangestrichenen, stumpfen Schnabel auslief; zwei dunkelblaue, steinharte schmale Sitze ohne Rücklehne, Stroh unter den Füßen; ein schäbig aussehender Kutscher, am Halse der Pferde zwei blind angelaufene Glocken und vorn und hinten am Wagen gelb und rothe Lappen, die Fähnchen vorstellen sollten.

Ein Blick unsäglicher Verachtung aus Torsten's Augen streifte das Gefährt, als er uns gegenüber Platz nahm. Dann rief er Rosa zu, noch außer den Tüchern und Shawls Wärmflaschen für die Füße, seinen Fußsack und vor Allem seine – höchst elegante! – Reisedecke herunterzubringen. »So mit dem Ding zu fahren, müsse man sich schämen!«

Trotz meiner eigenen Enttäuschung konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Jeanne, die nie andere Schlitten gesehen hatte, erst recht nicht. »Der verwöhnte Sohn des Reichthums,« flüsterte sie mir zu.

Die Fahrt wurde also bereits bei wenig guter Laune angetreten; aber unsere Mißstimmung wuchs, als wir bemerkten, daß der Nebel stärker wurde und mit uns höher zog. Ja, er war von Veytaux aus schon über uns emporgestiegen, und ein Theil sank von dort nun herab, um den von unten nachsteigenden Dämpfen, die den See und Montreux unseren Blicken verdeckten, die Hand zu reichen. Ueber die Nebelregion hinauszukommen, war nicht mehr möglich, sie erstreckte sich sicher schon bis zu » Les Avants«. Es lohnte also nicht, an dem ursprünglichen Plane festzuhalten. Auf Jeannes Rath beschlossen wir, von Charnex aus den Weg über Sonzier zu nehmen und ein Stück nach Glion zu fahren, bis an den » Pont de Pierre«.

»Wenn Sie den Weg noch nicht kennen, der ist sehr schön!« Sie fügte weiter Nichts hinzu, zum Theil wohl, um uns die Ueberraschung zu gönnen, hauptsächlich aber, weil Torsten's fortgesetztes Schelten auf die französischen Schweizer sie verdroß. Er konnte sich nicht darüber beruhigen, daß er um » Les Avants« und um die Sonne gekommen war.

»So sind sie Alle,« polterte er mit der größten Offenheit, »geldgierig, verlogen, unzuverlässig. Unzuverlässigkeit, das ist der Nationalcharakter. Alles thun sie – mit dem Mund! Versprechen Alles mit der größten Liebenswürdigkeit, – stellen sich wer weiß wie glaubwürdig. Aber kein Arbeiter, kein Handwerker, der Wort hält, – Schuster, Schneider, Tischler, Gärtner, – was und wer es auch sei, – es ist Alles gleich! Nichts bringt sie aus ihrem unverschämten Gleichmuth, aus ihrer faulen Ruhe, aus ihrer stumpfen Bequemlichkeit heraus.«

Er polterte noch, als wir in Sonzier einfuhren. – Es ist das ein Dorf, wie alle Dörfer um Montreux, mit schmutzig kalten, roh und unfreundlich aussehenden Steinhäusern und mit engen Gäßchen, als ob sich die Häuser aneinander gedrängt hätten, um weniger zu frieren. Schmutzig grüne, von Wind und Wetter gebleichte Fensterläden, überhängende Dächer, – oder manchmal über dem ersten Stockwerk wie ein Gürtel um's Haus – hängen Maiskolben an Stricken aufgezogen oder getrocknete grüne Bohnen, die man merkwürdigerweise hier überall im Freien überwintert Die Bohnen werden dazu einige Augenblicke in kochendem Salzwasser abgewellt, erkaltet auf Bindfäden gezogen und an die Luft gehängt, wo sie trotz Frost und Schnee sich besser halten und auch weit mehr den Geschmack frischer Bohnen bewahren, als die eingelegten bei uns..

Einige Privathäuser von wohnlicherem Anstrich, von halb villenartigem Charakter gaben dem Ort ein wohlhabenderes Aussehen. Natürlich fehlte auch das, in allen Dörfern der französischen Schweiz stattliche Schulhaus mit seinen hohen lustigen Räumen, seinen großen, klaren Fenstern nicht. Ein einfaches Hotel harrte nebst mehreren kleinen Pensionen mit geschlossenen Läden der Frühlingsauserstehung.

Welch' einen Ausblick hätten wir von hier oben bei klarem Himmel gehabt!

Von Sonzier aus führte ein fahrbarer, wenn auch ganz schmaler Weg über den Pont de Pierre nach Glion. Links steil ansteigende, bewaldete Berge, rechts, durch den Nebel halb verhüllt, eine Schlucht, in der wir zu unserem Entzücken die Gorge des Chauderons erkannten. Es war an und für sich schon ein Genuß, wieder einmal Bäume zu sehen statt der Riesenzahnstocher in den Weinbergen unten, und diese Bäume standen außerdem noch in vollstem Reifschmuck. Was das für Reif war! Nadeln in jeder Länge, bis zu einem halben Zoll lang, von verschiedenstem Stande, für jede Baumart andere, nach Lage, Gestalt und Stärke der Zweige und Aeste; ja um den Stamm selbst standen die Reifnadeln, so daß man unwillkürlich an jene fabelhaften Lykopodienwälder der Vorzeit erinnert wurde, nur daß diese Nadelbäume weiß waren statt grün. Mein Lebtag hatte ich solche Herrlichkeit nicht gesehen!

Jeanne freute sich meiner Freude, aber zu unserem Erstaunen blieb Torsten ganz unbewegt. Eine Landschaft ohne Sonne war für ihn keine Landschaft.

Auch der wunderhübsche Blick auf den Pont de Pierre, – die steinerne Brücke, die über die Baie de Montreux nach dem anderen Ufer und zu mehreren zwischen Bäumen allerliebst liegenden Häuschen hinüberführt, – berührte ihn nicht.

»Wie schön wäre das Alles im Sonnenschein gewesen,« sagte er nur, »es wird kalt, ich denke, wir kehren um.« Er gab dem Kutscher ein Zeichen. –

»Torsten!« fragte ich, »sahen Sie vorhin den einzelnen Baum, der über den Abgrund hinausragte? – nicht? – o wie schade! Auf dem Rückweg müssen Sie Acht geben.«

Er sah nur trübe auf. –

Wir waren schon an verschiedenen starkbeladenen Hörnerschlitten vorbeigefahren. Je höher wir kamen, desto mehr trafen wir an. Dies bewegte Treiben überraschte uns. Sollte man nicht glauben, daß auch in den Bergen Alles mit der Natur ruht wie bei uns in der Ebene? Aber nein! schon mit dem ersten Schneefall regt es sich im Gebirge. Bald hier, bald dort sieht man von den höchsten Höhen Schlitten heruntergleiten, wie von selbst; man bemerkt den Mann nicht, der sie lenkt. Holz liegt darauf oder Heu, das bis dahin in den Almenhütten aufbewahrt wurde, ganz fest in ein Viereck zusammengepreßt wie ein Kuchen. So geht es über die abschüssige Schneefläche, bis eine fahrbare Straße erreicht ist; dort werden wohl zwei oder drei Schlitten zusammengebunden und ein Pferd wird davor gespannt, das der Mann nebenhergehend leitet. An den Biegungen wirft er dem Gaul die Zügel über und giebt seinem Schlitten einen Schub in die rechte Richtung.

Wir hatten jetzt einen einzelnen Holzschlitten eingeholt, der am Pont de Pierre an uns vorübergefahren war. Er glitt vor uns her, langsam, bedächtig.

Torsten wurde ungeduldig: er sprang auf. »Langsam Schlittenfahren ist eine größere Tortur als der klapprigste Wagen, – ein Schlitten muß sausen!«

Er sprach auf den Kutscher ein, der dem Bauern zurief, sich zu beeilen. Der schrie ein paar Worte im Patois zurück, die wir nicht verstanden, ohne seine Schritte viel zu beschleunigen.

Torsten murmelte Etwas auf Schwedisch, was einer Verwünschung nicht unähnlich klang.

Jetzt ein Peitschenknall unseres Kutschers – und der Mann setzte sich in einen langsamen Trab.

»Wir kommen doch nicht an ihm vorbei – der Weg ist zu schmal.«

»Ich denke, er wird breiter weiterhin!« sagte Jeanne.

»Unsinn! er ist die ganze Strecke gleich schmal!« schnitt ihr Torsten das Wort ab, so gegen seine Art schroff, daß sie betreten stille schwieg.

»Aber am Café doch nicht!« warf ich ein, in Erinnerung an die vielen Schlitten, die dort gehalten hatten, und an die Pferde an der Tränke.

»Bis dahin langsam fahren!« schrie Torsten. Welch' erfreuliche Aussicht!«

»Sehen Sie doch, er läuft jetzt schneller, der Mann,« beruhigte Jeanne.

»Der arme Kerl!« sagte ich. »Er hat zu schleppen. Fahren Sie nur langsam, Kutscher, es ist noch zu weit bis zum Café!«

Aber der Mann lief immer schneller, und der Kutscher trieb immer heftiger die Pferde an. Wir begriffen es nicht, bis das Räthsel plötzlich sich löste. Der Weg senkte sich unerwartet steil. Wir sahen den Mann, der noch eben im schärfsten Trabe seinen schweren Schlitten gezogen hatte, sich auf denselben setzen, und während seine Füße hier und da Richtung gebend den Boden berührten, sauste er mit Windeseile den Berg hinab.

»Wie das geht!« wer doch auf der › Luge‹ wäre!« jauchzte Jeanne.

Auch Torstens Gesicht erhellte einen Moment ein vergnügtes Lächeln. Gleich darauf aber versank er wieder in dumpfes Hinbrüten.

»Hier ist die Stelle,« rief ich. »Sehen Sie, Torsten, hier ist es. Das ist der Baum, den ich meinte. Ist das nicht schön? ist das nicht herrlich?«

Klar und scharf ragte der Laubbaum im Reifnadelkleid in die graue Luft hinein, weit über die graue Tiefe hinaus. – Unten rauschte die Baie, drüben schimmerte mattweiß die Bergwand mit den verschneiten Häuschen, die Nebelkappe saß darüber, aus der Tiefe herauf durch den leisen Nebel dämmerten dickbeschneite Tannen und zartfedrige Laubbäume. Alles weiß! Schwarz nur die Unterseite der Aeste am Baume, und das Rabenpärchen, das sich in seinen Zweigen wiegte.

»O, sie ist schön, die Natur!« brach Jeanne mit leuchtenden Augen aus.

»Wie das trüb ist!« sagte Torsten zu gleicher Zeit. Er zog den Mantel über der Brust zusammen, als fröstelte ihn.

»Ja! aber dennoch schön! es ist eine ganz eigenthümliche Schönheit; nicht wahr, Madame?«

Ich nickte freudige Zustimmung. »Sie sehen doch so weit, Torsten, Sie sehen doch den Baum?«

»Ja!« sagte er gleichgiltig.

»Und das Rabenpärchen?« fragte Jeanne. Sie beugte sich lebhaft vor.

»Ja!« Er sah gelangweilt darauf hin.

Jeanne und ich wechselten einen Blick, sie der hellen Verzweiflung, ich des Bedauerns. Dann aber vergaßen wir Torsten über dem Anblick und saßen in stillem Genießen.

»Die Liebe überwindet Alles!« hörte ich plötzlich auf Deutsch neben mir, in so eigenem Tone, daß ich herumfuhr.

Torsten hatte halblaut gesprochen, mehr zu sich, als zu mir. Er blickte noch in dieselbe Richtung; aber sein Gesicht war verändert. Ein seltsames Licht glimmte in den sonst so matten Augen; auch sahen die Augen den Baum nicht mehr, sie schweiften darüber hinweg, als suchten sie Etwas in weiter, weiter Ferne.

Jeanne hatte die halblauten Worte ebenfalls gehört und mit dem rapiden Verständnis; der Französin ihren Sinn erfaßt. Wie ein Sonnenstrahl, der in ein finsteres Thal fällt, so wirkten sie auf das Mädchen. Ihre ganze Seele trat in ihre Augen, warmes Roth übergoß die Wangen, ihr Mund zuckte sehnsüchtig. »Ja, die Liebe, die Liebe überwindet Alles,« besagte jeder Zug ihres glühenden Gesichtchens. Hätte Torsten sie nur angesehen! Sie war unsagbar reizend in diesem Augenblick völligen Sichselbstvergessens.

Aber er sah sich nicht um, – seine weit geöffneten Augen schienen noch die Ferne durchdringen zu wollen, fragend, forschend.

Wo war er? Wo weilten seine Gedanken?

Jeannes Blicke ließen nicht von ihm, es war, als wollte sie in seiner Seele lesen. – Sie sah erst das Licht in seinen Augen langsam ersterben, dann verdüsterte sich allmählich seine Stirne; mit einem Seufzer sank er wieder in sich zusammen. Da war auch für Jeanne wieder die Sonne erloschen. Noch einen schmerzlichen Blick warf sie auf ihn, dann wandte sie sich ab.

Die Nebel verdichteten sich und senkten sich tiefer. Es wurde feuchtkalt. Wir hüllten uns fröstelnd in unsere Decken. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gab ich jede Unterhaltung auf. Torsten war gänzlich in grüblerisches Schweigen versunken. Jeanne starrte seitwärts zum Wagen hinaus. Ihr Gesicht trug einen enttäuschten, hoffnungslosen Ausdruck, der mir in's Herz schnitt.

XIV.

Rothgelbe Anschlagzettel verkündeten in ganz Montreux eine Theatervorstellung für den 20. Januar. Endlich wieder eine Oase in der Wüste der gesellschaftlichen Unterhaltungen.

Auch galt der bevorstehende Genuß als besonders grüne Oase; merkwürdiger Weise! Denn es war eine Dilettantenvorstellung. Der akademisch litterarische Verein der Lausanner Studenten wollte nun Montreux beglücken, nachdem er bereits in Lausanne und Bevey mit großem Erfolg gespielt hatte. Soviel für Fama!

Jeanne brachte aus ihren Stunden immer mehr interessante Details mit, und der schnell entflammte Torsten besorgte natürlich Billets. Zu seiner großen Verwunderung erlangte er nur noch Plätze dicht am Orchester und nicht einmal alle in einer Reihe. Das Haus war schon vier Tage vorher ausverkauft. Dieser erstaunliche Andrang erklärte sich daraus, daß die »Eingeborenen« von Montreux und Umgegend, die den herkommenden Theatertruppen nur wenig Beachtung schenken, zu dieser Vorstellung vom Bürger hinauf bis zu den höchsten Spitzen in voller Anzahl sich einfanden. Hatte doch jeder einen Sohn, Neffen, Vetter und Freund unter den Schauspielern.

Jeanne war die Woche hindurch ausnehmend geschäftig gewesen. Man erschien nämlich zu dieser Aufführung in großer Toilette. Es galt daher, das Crèmekleid, das mit kostbaren alten Spitzen besetzt war, – sie stammten noch aus den guten Tagen der Familie, – reinigen zu lassen und in aller Eile umzugarniren. So war es doch zu unmodern. – Keine leichte Aufgabe bei den vielen Stunden, nicht wahr, kleine Jeanne? – aber die Mutter half, und ich half; – es wurde Alles noch fertig.

Torsten hatte für Blumen gesorgt, – gelbe Rosen für Jeanne, Veilchen und Reseda für mich.

Das Kind sah bezaubernd aus; das mattgelbe Kaschmirkleid stand ihr köstlich zu dem dunklen Haar und den herrlichen Farben. Sie senkte in schämiger Freude den Kopf, als wir Alle sie bewundernd betrachteten.

Aber natürlich war sie wie immer zu spät fertig geworden. Der Weg bis zum Cursaal war weit, und die elektrische Bahn, wie immer, wenn man es eilig hatte, nicht zu bekommen.

Die Musik spielte bereits, als wir eintraten. – Nun hasse ich das Zuspätkommen, und wir hatten überdies, um unsere Sitze zu erreichen, den Saal, der bis auf den letzten Platz gefüllt war, in seiner ganzen Länge zu durchschreiten und in zwei verschiedenen Reihen Aufstand zu verursachen. Trotzdem konnte ich eine gewisse Befriedigung über die Bewunderung, die unser Liebling auf dem ganzen Wege erregte, nicht unterdrücken. Jeanne selber hatte nicht im Geringsten das Gefühl des Spießruthenlaufens. Gehörte sie doch zu jenen glücklichen Menschen, die das Bewußtsein ihrer Schönheit rettet.

Da mich die unmittelbare Nähe der großen Trommel entsetzte, nahmen die jungen Leute auf meinen Wunsch die beiden Plätze vor mir ein; wir saßen kaum, als sich schon nach den bekannten drei dröhnenden Stößen der Vorhang hob.

Warum die französischen Schweizer nur nicht ›klingeln‹ können?

Ich habe seither in Erfahrung gebracht, daß die Franzosen dieses Stampfen, das auch bei ihnen als Zeichen zum Heben des Vorhangs Sitte ist, für feierlich » Les trois coups solennels.« Siehe Max Orell: John Bull et son île. halten. Uns weniger civilisirten Deutschen scheint es freilich eine äußerst barbarische Unsitte.

Als erstes Stück kam Molières ›Arzt wider Willen‹ zur Aufführung. Es erwies sich als eine Komödie, die, in der Art wenigstens, wie sie hier gegeben wurde, so grob possenhaft ist, daß sie kaum mehr in unsere Zeit hineinpaßt. – Wir suchten auf dem geschmackvoll gezeichneten und natürlich auf ›altem‹ Papier gedruckten Programm vergebens die Namen der Darsteller. Darüber schwieg des Sängers Höflichkeit. Aber die Studenten, die für uns Fremde waren, waren es für die ›Eingeborenen‹ keineswegs. Das bewies zur Genüge das herzhafte Klatschen, wenn der eine oder andere Schauspieler auf der Bühne erschien. Auch lagen schon jetzt auf der Rampe einer der Logen links Lorbeerkränze mit den Schleifen der Verbindungen, denen die Darsteller angehörten, – in jener Welt, die nicht die der Bretter war. – Es war sehr schön, wirklich! besonders die Darstellung der Frauenrollen! – Zum Glück hatten wir's mit einer ›Stummen‹ und einer derben Xantippe zu thun. Da ließ sich die Sache noch allenfalls an. Nur sperrte die Stumme zum Zeichen, daß sie nicht reden könne, einen so ungeheuren Mund über unförmigem Halse auf und bewegte sich dermaßen schwerfällig in der Rolle – und Schleppe! – einer Salondame, daß man den jungen Edelmann nicht begriff, der sich um solcher Schönheit willen, zum fingirten Gehilfen eines fingirten possenreißenden Arztes machte.

Was für eine Geschmacklosigkeit, dem Publicum in einer öffentlichen Vorstellung dergleichen zu bieten. Natürlich ist es immer der Mangel an gut gepflegten öffentlichen Bühnen in einem Lande, der solche Auswüchse zeitigt, und diesen Mangel hat man dem Puritanismus auf die Rechnung zu schreiben.

Aber man muß dann wirklich schon die ganze Unverwöhntheit der französischen Schweizer besitzen, um so Etwas schön zu finden. Die hohen und höchsten Offiziere des Landes mit ihren Familien und die Spitzen der Stadt und Umgegend waren allem Anscheine nach ganz befriedigt. Und Jeanne! nun Jeanne genoß ohne Reflexion. Sie war völlig von der Bühne in Anspruch genommen.

Herr von Moerner dagegen fand seine Nachbarin weit interessanter als die Aufführung, um die er sich nicht im Geringsten kümmerte. Das beständige Spiel ihrer belebten Züge, dieses Antlitz, das jeden Eindruck wiederspiegelte, riß ihn hin. So oft Jeanne aufsah, begegnete sie seinem Blick, der in Bewunderung und herzlichster Freude auf ihr ruhte. Was fehlte ihr also mehr zu ihrer Seligkeit? – Er widmete sich ihr heute so ganz und gar; sie hatte ihn gleichsam noch nie so für sich allein gehabt. Er war der zartesten Aufmerksamkeiten voll, mit Bewegungen und Blicken, die jedes Wort, jede Handlung zu einer Liebkosung machten; dazu seine übersprudelnde Laune, seine ansteckende, lebhafte Heiterkeit. Das Kind war ganz, vollkommen glücklich. Aber es schien, als ob die Größe des Glückes ihr beinahe den Athem benahm und das Blut nach dem Herzen zurückdrängte. Sie, der sonst das Gesicht leicht glühte, war trotz der großen Hitze im Saal bleich; von einer klaren, leuchtenden Blässe, – man fühlte das warme Leben dahinter pulsiren, fast zu gewaltsam, – und die Augen waren groß und geheimnißvoll dunkel. Nie hatte ich sie schöner gesehen.

Wie herzlich sie lachte über die thränenreiche Veronique in dem ›Trésor‹ von Coppée, einem Einakter in Versen, der an Sentimentalität, Unmöglichkeit und mangelndem dramatischen Leben Nichts zu wünschen übrig läßt. Wie sie lachte über den Wachsperlen-Schatz, von dem eine Perle nach der anderen dem achtlosen Helden zu Boden fiel; und über den alten Abbé, der am Tische rechts zusammenzubrechen hatte und darüber den Stuhl umriß, daß er mit Stuhl und Tisch fast zu Boden gestürzt wäre; und dann über Vatel, den Koch der Köche, mit dem Degen an der Seite und seiner Schaar von Unterköchen, über die er wie ein General gebot. Diese lustige, kleine Komödie von Scribe Vatel. bildete unstreitig den Glanzpunkt des Abends. Unendlich komisch wirkten die Kneifer der Herren Studenten zu ihrem Küchencostüm und dem Kochlöffel an ihrer Seite. – Hier war denn auch etwas Leben in die Veronique von vorher gekommen. Sie gab ein Küchenaschenbrödel, das den großen Sohn des großen Vaters zu lieben wagt, gegen den Willen des Vaters, aber mit dem des Sohnes. – Wirklich! für einen Studenten spielte die kleine Person charmant, und man zweifelte keinen Augenblick an der Echtheit und dem berechtigten Entzücken Aller über den Wohlgeschmack ihres Pudding » à la chipolità«, – zu dem der große Vatel allein das Geheimniß zu besitzen glaubte, – trotzdem dieses Wunder der Kochkunst in Folge eines Bühnenversehens aus einem ganz andern Topfe servirt wurde, als dem, in dem es gekocht worden war.

Als wir den Saal verließen, geschah es in heiterster Stimmung. Aber es dauerte lange, ehe wir zu unserer Garderobe kamen. Jeanne hatte sich aus dem Gedränge im Vestibül auf die Stufen der Treppe geflüchtet. Neben all den dunkeln Ueberziehern und Kapotten fiel die zartweiße Gestalt allgemein auf. Ein bewunderndes Murmeln wurde hörbar; man ging vor der Treppe auf und ab; es versammelte sich um sie, wie ein Hofstaat. Viel zu kurzsichtig, um Etwas deutlich sehen zu können, war sie sich doch ihrer Schönheit zu sehr bewußt, als daß nicht eine Ahnung der Sachlage der ihr dargebrachten spontanen Huldigung in der stolzen Haltung des Köpfchens, in dem halb befangenen, halb geschmeichelten Ausdruck ihres Gesichtes bemerkbar gewesen wäre.

Jetzt kam Torsten mit unsern Mänteln und Tüchern. Auch ihm fiel das Hinreißende in der Erscheinung des Mädchens auf; er stand einen Augenblick wie gebannt, – und dann, – mit dem ganzen Stolz des Mannes, der sich einer allgemein bewunderten Schönheit nahe weiß, half er ihr in ihre Sachen hinein. Mit fast übertriebener Beflissenheit legte er ihr den Pelzmantel um die Schultern, mit fast übertriebener Vertraulichkeit befestigte er ihren weißen Baschlik, indem er angelegentlich mit ihr sprach, sein bestrickendstes Lächeln auf den Lippen. Darauf erst bot er mir seine Hilfe an.

Wollte Jeannes Capuchon nicht halten, oder war dies eine kleine Koketterie ihrerseits? – Ich wurde mir nicht ganz klar darüber. Sie nestelte noch immer daran herum, und ihre feine weiße Hand hielt den goldumsäumten Baschlik unter dem Kinne zusammen, der ihr doch plötzlich halb und halb vom Kopfe herunterglitt und die dunklen Locken sichtbar werden ließ. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung der Bewunderung, und Torsten wandte sich um. Er stand wieder einen Augenblick ganz still, beugte sich dann in seiner lebhaften Weise zu mir herunter, und, indem ihm die innere Bewegung warm zu Gesicht stieg, fragte er: »Ist sie nicht reizend, unsre Kleine von Beauregard?«

Jeannes feines Ohr hatte die Worte aufgefangen. Ihr eben noch so blasses Gesichtchen übergoß sich mit glühender Röthe. Die Wimpern sanken langsam über die strahlenden Augen, um den Mund spielte ein glückliches Lächeln.

XV.

» Gare! Gare!«

Wer ist im Winter in Montreux gewesen und hat den Ruf nicht gehört? – Solange Schnee liegt – wer hat etwas Andres gehört als: » Gare! Gare!« –

» Gare! Gare!« erschallte es vom frühen Morgen bis späten Abend – » Gare! Gare!« ertönte es noch bis in unsere Träume hinein. Denn es wurde gelü» g«t! Das heißt geschlittert auf den kleinen Handschlitten, die hier zu Lande » Luges« heißen.

Das Lü» g«en (ein von den dortigen Deutschen gebildetes Wort), das ist der echte und rechte Wintersport im Waadtland, ein Sport, der übrigens sicher einheimisch ist, wo immer es Berge und Schnee giebt.

Vom kleinsten Dorf- und Stadtbuben hinauf bis zum ältesten Manne – Mädchen, Frauen, Alles lü» g«t! Die Montagnards, Männer und Frauen, kommen auf Lü» g«es von den Bergen herab, mit dem Korb auf dem Rücken oder der Tasche am Arm zum Einkauf. Die Fremden, unter denen sich besonders die Engländer durch Ausdauer und ungenirte Stellungen auszeichnen, wetteifern mit den Eingeborenen; und jeder steile Weg, jeder Abhang, soweit er sich dazu eignet, ist tagtäglich von unzähligen Lü» g«es übersät.

Wir auf der Avenue Belmont hatten vollauf Gelegenheit, diesen urwüchsigen Sport aus nächster Nähe zu beobachten, denn der Weg nach » Les Avants« war besonders beliebt. Die ausdauerndsten Lü» g«er stiegen wohl bis dort hinauf; weniger kräftige erwählten Chernex oder Sonzier als das Ziel ihrer beschwerlichen Wanderung, den Schlitten am Strick hinter sich, um dann mit einem Göttergefühl ohne Gleichen in's Thal hinunterzusausen.

Man schoß Purzelbäume, – Männlein und Weiblein rollten übereinander im Schnee. Hier stießen zwei Lü» g«es zusammen, dort sprang eine dritte, die sich an einem Stein des Anstoßes ihres Besitzers entledigt hatte, in tollem Bogen über die vor ihr, noch besetzte, hinweg, um einem seitwärts stehenden Zuschauer an die Brust zu fahren.

Heut brach Einer ein Bein, morgen verstauchte sich ein Anderer den Arm, stieß mit dem Kopf gegen einen Holzstoß oder eine Mauer, – der zerrissenen Kleider gar nicht zu gedenken.

Was that's?

Wer halbwegs wieder aufkonnte, zog von Neuem seine Lü» g«e den Berg hinauf und schoß wieder hinunter, ad infinitum, Morgens, Abends, bis tief in die hellen Mondscheinnächte hinein.

Jeanne und Torsten zählten natürlich zu den eifrigsten Lü» g«ern; waren doch Beide Kinder der Berge und mit der Führung des Schlittens vertraut. Und wenn auch leider der Sonntage nicht viele waren, so blieb wenigstens doch der Nebel weg; es gab Frost, anregende Kälte.

Die gesunde Bewegung, die frische Luft thaten Wunder an Torsten, körperlich und geistig. Er nahm zu, seine bleiche Gesichtsfarbe verlor sich, sein Gang wurde elastisch, seine gute Laune erlitt keine Einbuße mehr. Was unsere kleine Jeanne betraf, so blühte sie wie eine rothe Rose. Aber es war auch erstaunlich, wie viel freie Zeit zum Lü» g«en sich selbst an den beschäftigtsten Tagen fand. » Wenn man nur will,« sagte Torsten. Und man wollte immer. – Das waren glückliche Stunden.

Und doch kam mir Jeanne manchmal merkwürdig verstimmt vor, wenn die Kinder sich wieder zu Hause einstellten. Sie maß öfters Torsten von der Seite mit so seltsamen forschenden Blicken. Und was war das für ein Schatten auf ihrem Gesicht, der sich zu vertiefen schien, je mehr seine Lustigkeit stieg? Gab es in ihrem Freudenbecher einen Tropfen Wermuth, von dem wir Nichts ahnten und der ihr auf Momente das Vergnügen des Tages wie das des Abends verdarb?

Wir lasen jetzt Abends Molières Misanthrop zusammen, den wir im Theater von der, über Liebhabervorstellungen sehr mit Unrecht vernachlässigten, Scheelerschen Truppe gesehen hatten. Die meisterhaften Verse entzückten uns beim Lesen noch mehr, wie wir auch die unendlichen Feinheiten des Stückes erst jetzt recht würdigten. Von der Bühne herab war uns Ausländern doch gar Vieles entgangen. Als Madame Carabin bemerkte, daß wir Molière so viel Geschmack abgewannen, schlug sie regelmäßige Leseabende vor und versprach, uns mit noch manch anderen Meisterwerken auf dem Gebiet der Komödie bekannt zu machen. Wir gingen freudig darauf ein und lernten so eine Anzahl jener feinen Lustspiele älteren und neueren Datums kennen, an denen die französische Litteratur so reich ist. Jeanne kam mit unermüdlicher Liebenswürdigkeit unserm etwa mangelnden Verständniß zu Hilfe und warf ihre ganze kleine enthusiastische Seele in die Lectüre hinein.

An andern Abenden wurde wieder musicirt; d. h. Torsten spielte und sang, und wir hörten zu –, wenn nicht etwa Albert, der zweite Sohn, anwesend war, der ihn auf der Violine begleitete. Jeanne war bei der Musik nicht mehr in dem Maße dabei, wie früher, oder richtiger, es kam während seines Gesanges eine offenbare Unruhe über sie, die ihr den Genuß wesentlich beeinträchtigen mußte. Ich sage Unruhe, ich könnte aber fast Gereiztheit sagen. – Torsten hatte uns einmal mehrere schwedische Lieder hintereinander zum Besten gegeben, und wir dankten ihm warm für den Genuß.

»Wissen Sie gar nichts Französisches?« unterbrach uns Jeanne übelgelaunt. »Es ist langweilig, wenn man nie was versteht! Oder wenigstens Etwas auf Deutsch oder Italienisch –«

»Verstehen Sie Italienisch besser?« fragte Torsten mit ruhigem Nachdruck.

Sie wurde roth: »Deutsch doch!«

Da ging er, ohne ein Wort zu sagen, an das Piano und sang ein deutsches Lied, darauf ein französisches. Das Mädchen strahlte, als er geendet hatte, und gab ihrer Dankbarkeit auf anmuthigste Weise Ausdruck; Herr von Moerner, viel zu groß angelegt, um irgend Etwas nachzutragen, lächelte schon wieder vergnügt. Solch' kleine Scharmützel störten das Einvernehmen der »Kinder« nicht im Mindesten, sondern erhöhten im Gegentheil den Wärmegrad ihrer Beziehungen zu einander, wenn einen Augenblick darauf wieder Alles in Ordnung war. – Nur schien Jeanne wirklich vorzuziehen, daß Torsten nicht mehr so viel musicirte. Sie machte immer so bald unter irgend einem Vorwand dem Singen ein Ende, brachte das Buch herbei, das wir gerade lasen, oder wußte ihn auf geschickte Art zum Erzählen anzuregen. Er sprach dann lebhaft und interessant in der alten Art, ohne aber wie früher bei ganz unerwarteten Gelegenheiten in trübes Brüten zu verfallen. Wenn Jemand das that, so war es vielmehr unsere kleine Jeanne jetzt. Und wenn Madame Carabin die Wandlung rühmte, die mit dem jungen Menschen vorgegangen war, so schwieg sie, und wenn Madame sich seiner Gesundheit freute, so trat ein sonderbar ängstlicher Ausdruck in ihre Augen.

Heut kam sie zu mir auf das Zimmer, wie oft nach dem Mittagessen. Ich war gerade damit beschäftigt, aus meinem Reisekorb eine passende Häkelnadel zu einer neu anzufangenden Handarbeit herauszusuchen. Jeanne setzte sich auf die Armlehne meines Sorgenstuhls am Tisch, und wir plauderten.

» Il parle tant de la Suède maintenant,« sagte sie ziemlich unvermittelt in einer Gesprächspause.

»Ja, nicht wahr? Es ist außerordentlich interessant! – Nun, wo wollen Sie denn hin, Kind?« unterbrach ich mich erstaunt in der Vergleichung zweier Stärken und drehte mich so hastig herum, daß die Haken sammt Etui fast zu Boden gefallen wären.

Jeanne war bereits in der Thür, ich hatte eben noch Zeit, einen Blick in ihr schon wieder sorgenvoll zusammengezogenes Gesichtchen zu werfen. Was sie nur haben mochte.

Nur die Ausflüge in die Umgegend von Montreux, die Torsten jetzt regelmäßig an dem schul- und stundenfreien Donnerstag veranstaltete, fanden in ihr noch das alte unbekümmert glückliche Kind, und es gewährte ihr Stolz und Freude zugleich, uns mit den Sehenswürdigkeiten ihrer Heimat bekannt zu machen.

Wir besuchten aus Pietät Schloß Chillon zuerst. Es wirkt sehr malerisch in der Landschaft, besonders wenn man es von Villeneuve aus zu Gesicht bekommt; das ist aber auch das Beste daran. Das Schloß an und für sich bietet nicht viel von Interesse. – Wir waren bei der Besichtigung der Räumlichkeiten, von denen einige zu Sitzungen der Stände noch benutzt werden, recht zerstreut. Die Erzählung der Grausamkeiten langweilte uns, die Fußspuren Bonivard's fanden uns skeptisch, die Marterinstrumente widerten uns an. Auch haben die unterirdischen Gefängnisse viel von ihrem Schauer eingebüßt, seit – elektrisches Licht in ihnen brennt. Der arme Bonivard lebte freilich in einem weniger erleuchteten Jahrhundert. Eindruck machten uns einzig und allein die » oubliettes«, ein abgrundtiefer, abgrunddunkler Brunnen, zu dem der Gefangene »willig« hinunterstieg, weil man ihm vorspiegelte, er würde da unten die Freiheit finden, um erst auf haarscharfe Messer und dann in's Wasser zu stürzen, wo er, es ist kein Zweifel, Befreiung fand für immer!

Die riesige freundliche Küche mit Ueberbleibseln alten Hausrathes waren uns interessanter, schon wegen des gewaltigen Kamins, in dem man sicherlich mehrere Ochsen ganz hätte braten können, – und wegen des angenehm in die Nase steigenden Schinkengeruches, der sie erfüllte.

Noch? Nach so beträchtlicher Zeit des Unbenütztseins? Die Herzöge von Savoyen waren ja lange todt und vergessen! Das Wunder klärte sich auf, als wir, dem köstlichen Nasenkitzel folgend, in den Kamin traten.

Eine Reihe der schönsten Schinken hingen da! – Aber aus der Zeit der Herzöge von Savoyen stammten sie nicht, sie waren weit neueren Datums. Denn geräucherte Schinken des Schlosses Chillon sind, wie wir erfuhren, eine im Handel bekannte Specialität und haben einen weiten Markt, selbst bis nach Paris hin. Leider werden »Proben« den Besuchern nicht verabfolgt, obgleich wir Drei einstimmig der Meinung waren, daß eigentlich schon im Interesse des Geschäfts ein Schinken immer angeschnitten sein müßte.

Vom landschaftlichen Standpunkt aus eine der schönsten Fahrten war die nach Schloß Hauteville. Es ist herrlich gelegen, mit der Aussicht auf ein ganz anderes Gebirgspanorama, und man fährt von dort aus einen eigenartig schönen Weg durch eine Platanenallee, der im Sommer geradezu entzücken soll. Aber auch in der sonnendurchleuchteten Poesie des Winters wird er mir unvergeßlich bleiben. – Unter den vielen Dörfern, die wir passirten, hat eines eine gewisse Berühmtheit erlangt durch den Maler Beguin, der, ein Kind des Ortes, lange Jahre dort gewohnt hat, und von dessen Hand sich eine Menge genialer Zeichnungen an Häusern und Hütten finden. Es wohnen noch mehrere Zweige derselben Familie dort, und geht man durch's Dorf, so geschieht es Einem leicht, daß hie und da ein Kind, wenn man es nach den Bildern fragt, bereit ist, die Skizzen des »Onkel Beguin« zu zeigen. Ein Engel auf einer Scheunenthür, eine lustige Zechgesellschaft, um ein Faß gruppirt, die den Giebel eines Hauses schmückt, und flotte Pferdestudien an weißen Mauern sind mir noch in der Erinnerung.

Auch nach » Les Avants« kamen wir endlich und hatten die Freude, die Berge im Schneeschmuck und hellsten Sonnenschein zu sehen. Es lag außerordentlich viel Schnee; selbst die Dent de Jaman war ganz weiß. Die Tannenbäume sehen wie überzuckert aus, die sonst kahlen Laubbäume hatten ein wunderbar schönes Federkleid an. In den » Sunboxes« des Hotels – es sind dies nach der Sonnenseite offene Holzhütten – lagen oder saßen die Kurgäste mit Sommerhüten und Sonnenschirmen bewaffnet, bei 5 Grad Kälte und von Schnee umgeben, lasen, schrieben oder plauderten. Als wir dem Wirthe unsere Verwunderung darüber aussprachen, brachte er uns eine von einem Gast dort aufgenommene Photographie: Vier Herren, die an einem Tisch mitten im Schnee Karten spielten – in Hemdsärmeln! – Auf dem Teich vor dem Hause wurde Schlittschuh gelaufen; den Abhang hinter dem Hotel lü» g«te man herab; » Gare! Gare!« tönte es vertraut zu uns herüben. Torsten und ich bekamen nicht wenig Lust, in diesem abgeschlossenen sonnigen Hochthal hoch über dem Nebel der Ebene einige Tage in vollster Einsamkeit und Weltentrücktheit zuzubringen. Aber mich störte der Kostenpunkt und Torsten die Engländer, die hier oben den Ton angeben, – und dann, ein Blick in Jeannes leuchtende Augen, – und die Wahl wurde uns nicht schwer.

»Mutter!« sagte die Kleine bei der Rückkehr, »ich bringe Dir einen Deserteur. Er hat oben bleiben wollen in Les Avants. Die schönen Engländerinnen haben's ihm angethan.«

»Das hätte er nur thun sollen, mein Kind! Er würde dort oben mehr Abwechslung finden, als wir ihm zu bieten im Stande sind.«

Torsten protestirte auf's Lebhafteste. Er vermisse Nichts. Wo könnte ihm wohler sein? Ihn verlangte nach keiner anderen Abwechslung, nach nichts mehr und nichts Besserem, so lange er hier war, als der Gesellschaft der lieben Mutter, der kleinen Schwester und Madame Ehlert –

So lange er hier war! Jeanne war zusammengezuckt. Sie forschte unruhig in seinen Mienen.

Wie wir die Treppe nach unsern Zimmern hinaufstiegen, um unsre Sachen abzulegen, faßte sie krampfhaft meine Hand. »Er denkt schon an's Fortgehen!«

»Torsten? welcher Unsinn! Es fällt ihm nicht ein. Was sind das für Hirngespinnste!«

Ein Hoffnungsschimmer überflog einen Augenblick ihre Züge, dann wurden sie gleich wieder traurig.

» Depuis qu'il luge, il pense à la Suède.«

Depuis qu'il luge! – Da wäre ja dann des Räthsels Lösung. Von der Zeit schrieb sich ihre Verstimmung her. Laut sagte ich: »Ewig hierbleiben wird er natürlich nicht, Kind. Das wissen Sie doch, daß er nur für den Winter gekommen ist, um sich zu kräftigen. Wir Alle gehen einmal fort, ich auch! Aber Kopf in die Höhe! noch ist's nicht so weit, Jeanne! wir haben noch lang hin bis zum Mai.«

Meine Worte schienen sie aufzuheitern. Sie küßte mich dankbar. –

Auch kam sie nie wieder auf diesen Punkt zurück. Aber sie fuhr fort, besorgt auf all seine Reden zu achten, und sie verfolgte ihn unablässig mit ängstlicher Unruhe im Blick, – wie eine Mutter ihr Junges, das flügge werden will.

XVI.

Der Februar brachte uns schon eine Art Vorfrühling. Primeln, Crocus, Schneeglöckchen blühten an den Bergabhängen. Täglich kehrten wir mit reichlicher Ausbeute heim. – Wenn man sie mit den Wurzeln ausgräbt und mit feuchtem Moos umgiebt, so halten sich diese ersten Frühlingsblumen wochenlang im Zimmer, auch wenn frischfallender Schnee die minder glücklichen Geschwister draußen von Neuem begräbt.

Nur ist dieses Blumenausstechen eine böse Praxis, zumal wo, wie hier, der Blumenraub massenhaft ausgeführt wird, weil man damit dem Bauer die Wiesen zertritt und die Grasnarbe zerreißt. Aber wie das so geht, – ein Jeder hält es für unrecht, und ein Jeder thut's.

Die sonnig warmen Tage wurden fleißig zu Spaziergängen benutzt. Jeanne konnte sich wirklich beruhigen; Herr von Moerner war noch mit Leib und Seele bei uns. Regten sich Heimatsgedanken in ihm, so war das die natürliche Folge seiner wiedererwachenden Lebenskraft. Er war einfach wohler, das war sein ganzes Verbrechen. Er lebte völlig der Gegenwart, nur darauf bedacht, sie auszunützen.

Besonderes Vergnügen gewährte es ihm, Jeanne zu begleiten, wenn sie im Freien skizzirte, was die warme Witterung ab und zu schon gestattete. Wir ließen uns dann plaudernd an ihrer Seite nieder. Aus den leichten Plaudereien wurden oftmals ernste Gespräche, die immer wieder Gelegenheit boten, uns an des Mädchens sinnig nachdenklichen Bemerkungen zu freuen.

Vor uns, – es war um die Mittagsstunde, – saß ein junges unschönes Bauernweib auf der Bank mit einem Kind auf dem Arm. Sie hatte einen Korb neben sich stehen. Wir waren ihr am Morgen begegnet, ohne daß sie uns irgend welches Interesse eingeflößt hatte. Ebenso gleichgiltig streiften unsere Blicke sie jetzt von unserm etwas erhöhten Platz. – Plötzlich leuchteten die Züge des Weibes auf; von der andern Seite schritt ein Arbeiter auf die Gruppe zu. Das Kind streckte ihm beide Aermchen entgegen. Der junge Vater, – eine auffallend gute Erscheinung – hob mit einem Jubelschrei den Knaben zu sich auf, küßte ihn, spielte mit ihm und ließ ihn die ganze Zeit nicht mehr von dem Schooß, während er das Essen verzehrte, das die Frau ihm gebracht. Das Weib selber, das vorher so wenig anziehend gewesen, strahlte jetzt vor Glück.

»Es ist eine schöne Sache, das Leben,« sagte Jeanne sinnend. »Ueberall Menschen; man kennt sie nicht, man geht an ihnen vorüber; und jeder hat doch sein eigenes Leben, sein Theil Glück, seine Freude.«

»Ja!« erwiderte ich. »Das ist aber eigentlich das Traurige daran. Jeder hat sein Leben, sein Glück, seine Freude für sich, nur für sich. Keiner lebt mit dem Andern ganz. Eine weite Kluft trennt selbst die Seelen derer, die sich am nächsten stehen, die sich am meisten lieben. Es giebt nicht eigentlich eine Brücke von Mensch zu Menschen!«

»Wie sehr haben Sie Recht, Madame Ehlert!« sprach Torsten. »Und sein Glück kann man zur Noth Andern noch einigermaßen mittheilen, seine Leiden niemals. Es ist der Mensch im Schmerz allein.« –

Jeanne sah uns mit großen Augen wundernd an. Das Kind hatte in seinem jungen Leben derlei Erfahrungen noch nicht gemacht.

XVII.

» Il n'a pas de souffle!« sagen die Franzosen mit glücklichem Ausdruck von einem Dichter, – es war von Coppée die Rede, – den sein Talent nicht weit aufwärts trägt, der sich mit kleinen Zielen und kleinen Erfolgen begnügt, weil die Höhen für ihn unerreichbar sind.

Wie dem Dichter Coppée, so ging es jetzt mir, nur im buchstäblichsten Sinne des Wortes, da wir Drei endlich gemeinsam nach vielen vereitelten Vornahmen die Gorge de Chauderons aufgesucht hatten. Das junge Volk war mir bald weit voraus. Aber das kletterte auch wie die Ziegen!

Schön ist es hier überall! So hoch ich komm', sagte ich mir, komme ich. Also den herrlichen Naturgenuß auskosten, langsam, bedächtig. Zugleich ließ ich meinen Blick rechts und links schweifen, blieb stehen, sah zurück und ergötzte mein Auge an dem ersten Frühlingsgrün der Bäume, dem saftigen Moosteppich, an der kühlen Abgeschiedenheit der engen Schlucht. Hier starrer Felsgrat, überhängendes Gestein, dort sanft ansteigende, sich bereits hellende Wiesen und immer der schmale, steile Pfad, bald näher, bald ferner weißschäumenden, silberklaren Wassern.

Und in das Rauschen, Plätschern und Gurgeln des Wildbaches klang Vogelgezwitscher, tönten von oben her die fröhlichen Stimmen der Kinder und ihr jubelndes Jauchzen.

Die Natur, die ich anfangs mit vollem Bewußtsein in mir aufgenommen hatte, verschwamm allmählich mit mir selbst. Gedankenregungen, die keine Gedanken wurden, kamen und gingen und ließen nur das sanft umschmeichelnde Gefühl zurück, daß sie, aus meiner Umgebung geboren, mit derselben in vollstem Einklang standen. Wie die Stimmen der Kinder allmählich verhallten, überkam es mich traumhaft. Versonnen, versunken schritt ich vorwärts.

Plötzlich bei einer der mannigfachen Biegungen des Weges hatte ich Jeanne und Torsten, die ich weit vorauswähnte, fast unmittelbar vor mir. Es geschieht einem Schlafenden dann und wann, daß er im Augenblick des Erwachens sich doch sofort mit vollster Klarheit Rechenschaft abzulegen vermag von dem, was er vor sich sieht. So fuhr ich jetzt zum Bewußtsein auf, denn in der Haltung der Beiden lag Etwas, was mich wach machte, ganz wach.

Sie standen auf einem Vorsprung am Wasserfall, ein klein wenig tiefer als der schmale Steig, unbeweglich. Jeanne hatte den rechten Arm auf die eiserne Rampe gestützt, die Linke umfaßte achtlos einen Strauß Frühlingsblumen. Den Körper etwas vornübergebeugt, als ob sie eben noch in das Tosen hinabgeblickt hätte, hielt sie jetzt den Kopf seitwärts emporgehoben, wie wenn bei plötzlichem Aufschauen Etwas in Torstens Augen sie gebannt hätte. Ich sah ihr Gesicht nicht, wohl aber das Torstens. Mit selbstvergessenem Ausdruck schaute er auf sie nieder, er beugte sich herab zu ihr – tiefer und tiefer –

Ich wollte umkehren und die Kinder allein lassen, – aber indem ich das noch dachte, hatte ich schon einen Schritt vorwärts gemacht. Bis zur heutigen Stunde vermag ich es nicht, den Gedankengang zu analysiren, der mich bewog, die Beiden zu trennen.

So dunkel der Impuls war, so mächtig war er. Ich schritt vorwärts, so geräuschvoll wie möglich, stieß mit dem Sonnenschirme auf die Kieselsteine des Weges und schlug mit der Eisenspitze des Stockes auf das metallne Geländer.

Der helle Klang drang durch das Rauschen des Falles. Torsten fuhr aufgeschreckt herum, sah mir verwirrt einen Augenblick in's Gesicht und sprang dann mit gewaltigen Sätzen seiner langen Beine den Weg hinan. – Fassungslos starrte Jeanne ihm nach. Sie stand einige Secunden lang wie betäubt, – und dann –

Ich habe immer gesagt, daß Jeanne kein Engel war, sondern eine kleine heißblütige Französin, von lebhaftem Temperament, – ich wiederhole das hier ausdrücklich, – und dann drehte sie sich mir mit sprühenden Augen zu und überschüttete mich mit Vorwürfen.

War sie etwa noch ein Kind, das überwacht werden mußte? das man keinen Moment, keinen einzigen Moment, – hier stampfte sie mit dem Fuße auf – allein lassen konnte? Sie bedurfte keiner Aufpasserin mehr, nicht sie! – sie könne sich selber hüten. Was brauchte ich unaufgefordert die Duenna zu spielen?

Ihre Worte überstürzten sich, ihre Augen funkelten. Armes Kind! Ich ließ sie eine Weile sich ausreden, es war hart genug für sie. Dann fragte ich sie, so ruhig, als es mir möglich war, weil mich ihr ungezogenes Wesen doch ein wenig reizte, ob sie nur dazu in mich gedrungen hätten, sie zu begleiten, trotz meiner Kopfschmerzen, um mich den ganzen Weg über allein gehen zu lassen. – Jeanne schwieg augenblicklich. Heiße Röthe der Beschämung stieg ihr in's Gesicht, und so schnell, als ihr ungehöriges Benehmen ihr klar wurde, schlang sie auch schon in stürmischer Abbitte die Arme um meinen Hals und küßte und schmeichelte so lange, bis ihr eigenes Schuldbewußtsein, – denn ich war ihr ja nicht im Ernst böse, – die Ueberzeugung zuließ, daß ihr verziehen worden war.

Torsten erwartete uns an einer Bank weiter oben. Er konnte im ersten Moment eine leichte Verlegenheit nicht verbergen. Dann kam er rasch auf uns zu. »Eine herrliche Aussicht! Kommen Sie, man sieht den ganzen Grammont,« und indem er mir meinen Plaid abnahm, erging er sich in wortreichen Entschuldigungen darüber, daß er bisher nicht bemerkt habe, wie ich mich damit schleppte, – was natürlich gar nicht der Fall war, denn es war ein sehr leichtes Tuch.

Die Lebhaftigkeit, mit der man die Aussicht bewunderte, verbarg ein wenig die Aufregung, in der man sich befand. Beim Weiteraufwärtssteigen, wie für den ganzen übrigen Spaziergang blieb Torsten dicht an meiner Seite, widmete sich mir mit einer Angelegentlichkeit, die etwas Uebertriebenes, Gemachtes besaß. Jeanne hatte zwar, um die Unterhaltung wieder in unbefangene Geleise zu leiten, scherzhaft erzählt, ich hätte über Vernachlässigung geklagt. Aber war das wirklich nur der Wunsch seiner Herzensgüte, mich vergessen zu machen, daß ich von ihnen vergessen worden war? – Hielt er sich nicht zu mir, fast als suche er Schutz bei mir? Schutz? wovor? vor wem? Er mied vielleicht Jeannes Nähe, weil er fürchtete, ihrem Zauber auf's Neue zu unterliegen und sich in meinem Beisein hinreißen zu lassen. Lag aber nicht beinahe Etwas wie Dankbarkeit in seinem Wesen?

Mein wiederholtes Kopfschütteln veranlaßte das Kind zu lustig neckenden Bemerkungen. Ich würde mich gern haben auslachen lassen, wenn ich nur mit meinen Grübeleien hätte in's Reine kommen können. Die Geberde, mit der Torsten auf mich zugekommen war, war sie nicht geradezu die einer gewissen Erleichterung gewesen? War er froh, daß mein Dazwischentreten ihn vor einer Aussprache bewahrt hatte? – Das ließ sich nicht annehmen! – Wollte er durch gespielte Unbefangenheit darüber hinwegtäuschen, daß es ohne mich zu einer Aussprache gekommen wäre? Wollte er vor mir verbergen, daß er Jeanne liebte? Das war möglich! Männer sind so wunderlich in solchen Dingen. Hatte nicht mein eigener Bruder, der doch wußte, daß ich unter allen Umständen auf seiner Seite stand, mir eine directe Unwahrheit gesagt, als ich ihn fragte, ob er eine gewisse junge Dame – seine spätere Gattin! – liebe, – und er war doch dazumal schon heimlich verlobt mit ihr gewesen! –

Ja, das mußte es sein! – Nur, warum, wenn er denn so angelegentlich um mich beschäftigt war, warum bemächtigte sich seiner je länger, je mehr eine auffallende Zerstreutheit, die er nur mit Mühe verbarg? Was nahm seine Gedanken derart gefangen, daß er bei unseren Fragen aufschreckte und ganz verkehrte Antworten gab? – Anfänglich waren meine forschend auf ihn gerichteten Blicke noch einer leicht befangenen Miene begegnet, jetzt sah er sie gar nicht mehr. Nur augenblickweise raffte er sich zu gezwungener Heiterkeit oder übertrieben lustigen Einfällen auf. Er ging neben uns her, sprach mit uns, erschöpfte sich mit Höflichkeiten, aber er war in Wahrheit meilenweit weg von uns, – das ließ sich herausfühlen. »Da verstehe nur Einer den Menschen!« brummte ich ärgerlich in mich hinein. Ich schüttelte wieder den Kopf.

Es waltete wirklich ein Unstern selbst über unseren in fröhlichster Laune begonnenen Ausflügen. Halb durch eigene Schuld, halb durch die der Andern, brachte Jedes von uns einen Mißton heim.

Jeannes Verstimmung war verständlich. Die meinige auch! Was hatte ich nicht die Hände von Dingen gelassen, die mich Nichts angingen. Was hatte ich Ereignisse zu vereiteln gesucht, die ich im Grunde doch wünschte? Mit Recht war ich zornig auf mich.

Aber Torsten – Torsten war unbegreiflich! Er schien sich mit Selbstvorwürfen zu quälen und sich dann doch wieder mit wilder Lust darüber hinwegzusetzen. Er schien ärgerlich auf Jeanne, und zugleich verrieth sein ganzes Benehmen ihr gegenüber Etwas wie demüthige Abbitte. Er verletzte sie fast durch sein förmliches Fremdthun, durch übertriebene Zurückhaltung, um in anderen Momenten wieder widerstandslos offen ihr seine bewundernde Zuneigung zu zeigen. Wenn so sein Wesen neue Räthsel aufgab, Jeannes alte Sorge mußte ich ihr jetzt zugestehen: er hatte Heimweh. Aber die Sehnsucht nach seinem Schweden war wohl bisher ihm selber unbewußt in seinem Innern aufgekeimt; nun erst ward er sich klar darüber; von diesem Spaziergang im ersten Frühlingsgrün sprach er sie aus.

Hatten die Stimmen der erwachenden Natur leise lockend zu seiner Seele geplaudert von den Reizen seines nordischen Heimatlandes?

XVIII.

Alles, was sich an Groll gegen das winterliche Montreux in unseren Herzen festgesetzt hatte, verschwand vor der Pracht und Schönheit, die uns der Lenz offenbarte. Jeanne hätte keinen eifrigeren Verbündeten finden können, um ihren lieben Flüchtling zu halten. Es war, als ob die Natur Alles aufböte, um ein Herz zu fesseln, das sich doch leise von ihr zu lösen begann.

Torsten gab sich zwar willig dem Zauber von See, Himmel und Erde hin, war bereit, die Umgebung nach allen Richtungen zu durchstreifen, war ebenso unermüdlich im Sehen, wie Jeanne im Zeigen; ja, ich möchte sagen, er kam um so mehr zum Vollgenuß der Natur, als sich zu seinem Entzücken über dieselbe das Glücksgefühl der sich immer mehr festigenden Gesundheit gesellte. Aber – die Sehnsucht nach der Heimat wuchs.

So sehr er von Liebe und tiefem Dank erfüllt war gegen das Land, das ihm Genesung gebracht, in dem er, wie er sagte, sich selbst gefunden hatte, d. h. jene Heilung der Seele gefunden, ohne die kein Kranker gesundet, – er trat doch dem Gedanken an die Heimkehr ernstlich nahe, es war ihm recht, daß sein Winteraufenthalt zu Ende ging. Er fühlte zu dem Frühling um sich einen zweiten Frühling in seinem Innern keimen, und sein Herz jubelte auf bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit seinem so lang, so viel entbehrten Vaterland als ein Genesener. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es ihn nach Schwedens Bergen, nach seinen klaren, blauen Seen.

Ja, es zog ihn hin zur Heimat – und dennoch fröstelte ihn, wenn er der Rückkehr gedachte. Hier umgab ihn Liebe, dort stand er allein; die Heimat war kalt, war liebeleer!

Warum nannte er denn die Schweiz seine zweite Heimat? Doch in erster Reihe um der Menschen willen, die sie ihm dazu gemacht hatten! – An Madame Carabin hing er mit leidenschaftlicher Verehrung, mit dankbarer Sohnesliebe; ein noch stärkeres, fast elementares Gefühl fesselte ihn an Jeanne! In ihr war ihm mehr geworden, als er je besessen, – eine Schwester, eine liebe kleine Vertraute, die gleichartige Gefährtin seiner Interessen, Beschäftigungen, Streiche. –

Er konnte sich den Tag ohne sie nicht mehr denken; ihre Gegenwart war ihm zur lieben Gewohnheit, zur Nothwendigkeit geworden. Es beglückte ihn schon, sie nur zu sehen. Wie ihr Lachen ihm wohlthat, ihre ganze lebhafte, zärtliche, fröhliche Art! – Jeanne war mit ihm verwachsen, gehörte zu seiner Existenz!

Und sie sollte er verlassen!

Das Herz krampfte sich ihm zusammen, wenn er der nahenden Trennung gedachte. Wahrlich! kein Glück war vollkommen; Schmerz war in Allem, was uns Menschen umgab. Gewinn auf der einen Seite, Verlust auf der anderen, – so wog die eherne Wage des Lebens.

Wie sehr er sich aber auch zwischen so widerstreitenden Empfindungen hin- und hergerissen fühlte, er sprach sich über seine Liebe zu Jeanne nicht aus, auch mir gegenüber nicht. Er schloß sich nur inniger an die beiden Frauen an, als wolle er noch einmal alle Zärtlichkeit auskosten, die ihm hier in so reichem Maße zu Theil geworden, als wolle er einen Wärmevorrath an Zuneigung und Sympathie mitnehmen in seinen herzerkältenden Norden.

Mit jedem Tage, der den Zeitpunkt seiner Abreise näher rückte, empfand er tiefer, wie schwer er sich trennte.

Jeanne wollte von alledem Nichts wahr haben. Ihrer Ansicht nach war er viel zu »glücklich«, von Montreux fortzugehen, sprach zu viel von seinem Vater, von der Freude, sein Schweden wiederzusehen. Das war gerade, als ob der Abschied ihn Nichts, gar Nichts kosten würde.

»Jeanne!« sagte ich, »wer könnte anders denken! wer würde sich nicht auf die Heimat freuen, wie liebe Freunde er auch in der Fremde gefunden?«

»Fremde!« grollte sie, »also doch Fremde!« Was er denn von einer zweiten Heimat gesprochen, die er gefunden, von einer zweiten Mutter, von einer Schwester – das wären Worte gewesen, Nichts als Worte? Er verließ sie so leicht, spürte keinen Verlust.

Anspruchsvolle kleine Jeanne! und wie Unrecht sie ihm that! Sie sah nicht, daß sein Blick auf ihr ruhte, als könne er sich nicht losreißen; und sie bemerkte Nichts von seinem inneren Kampfe, weil sie ganz in ihrem Schmerz aufging. Für sie war die Natur nicht mehr schön, die Sonne nicht mehr heiter, der Genuß kein Genuß mehr. Die Trennung stellte sich wie ein schweres, Alles verdunkelndes Gespenst vor ihr auf. In ganz kurzer Zeit würde er fortgehen, – sie konnte es nicht ausdenken! – und noch hatte er nicht gesprochen: – Ob sie auch von Tag zu Tag darauf harrte, – er sprach nicht. Würde er etwa fortgehen, ohne – – o Gott! liebte er sie denn nicht? Was hielt ihn zurück? Warum quälte er sie so? –

Sie suchte ihre Aufregung unter einer gezwungenen Gelassenheit zu verbergen, aber sie täuschte weder ihre Mutter noch mich; und selbst Torsten fragte häufig: »Ist Jeanne nicht wohl?«

Freilich wartete er meine Antwort nicht ab. Es schien, als benutzte er die Frage nur, um ein Gespräch über die bevorstehende Abreise und über die lieben Freunde einzuleiten. Er konnte sich nicht genug thun, sie zu preisen, und der Refrain war immer: Wie würde sie ihm fehlen, Jeanne, die kleine Jeanne –

Er brach gewöhnlich rasch ab, um seiner Bewegung Herr zu werden. – Aber durch alle seine Reden klang immer Eines durch: der verhaltene Schmerz über die Trennung von der Kleinen.

Ich schätzte Torsten hoch für seine Zurückhaltung. So sehr ich mit Jeanne fühlte, der junge Mann hatte Recht. Pläne machen, ein anderes Leben an das seine binden, so lange seine Gesundheit eine schwankende, so lange die Gefahr des Erblindens nicht beseitigt war, konnte er nicht. Ein halbwegs achtbarer Mann hätte nicht anders gehandelt, – und Torsten nun, mit seinem stark ausgeprägten Ehrgefühl, dem angeborenen Adel seiner Gesinnung! – Aber wie schwer mußte sein Schweigen ihm fallen!

Die Qual des Abschieds band ihm die Zunge, so daß er fast stumm den beiden Frauen gegenüber saß, und nur seine Augen folgten Jeanne, wohin sie immer ging. Es war, als wolle er sich jede ihrer Bewegungen, jede Miene, den Klang ihrer Stimme, ihr Lächeln einprägen, um es nimmer, nimmer zu vergessen.

XIX.

Die letzten Tage vergingen von Torstens Seite in aufgeregter Gesprächigkeit, von der Jeannes in trostlosem Schweigen. Madame versuchte durch unveränderten Gleichmuth, durch doppelt herzliche Freundlichkeit und Aufmerksamkeiten aller Art die schmerzliche Versunkenheit ihrer Tochter zu maskiren, aber auch sie war Torsten augenscheinlich dankbar, daß er keine Aussprache herbeizuführen suchte. Ihrer Mutterliebe, ihrem gesunden Sinn widerstand es in gleichem Maße, ihr junges, schönes Kind an einen ewig kränkelnden Mann, voraussichtlich einen Krüppel, zu fesseln. So lieb sie Torsten auch hatte, zum Stab eines Blinden war ihr das begabte, mit soviel Reizen ausgestattete Mädchen zu gut, – ein besseres Schicksal sollte ihr aufgespart sein.

Es widerstrebte auch ihrem Stolze, dem überaus reichen Manne ihre Armuth aufzubürden. Sie war glücklich, Torstens Verwandten gegenüber, die ihn vertrauensvoll zu ihr gesandt, jede Spur eines Verdachtes von sich abweisen zu können, als hätte sie den reichen Freier für ihre Tochter einfangen wollen.

Arme kleine Jeanne! – Am letzten Mittag war es mit ihrer Selbstbeherrschung zu Ende. Sie hielt nur mit Mühe die Thränen zurück und berührte die Speisen kaum.

Torsten, der ihre Aufregung sah, ging es nicht besser. Er war unendlich niedergeschlagen. Seine Blicke streiften mit tiefer Trauer das bleiche Gesicht des schönen Mädchens. Auch seine Hand zitterte, als er das Glas hob.

Gleich nach Tisch sollte er fort. Albert, der jüngere Bruder, der allein von Lausanne herübergekommen war, um den letzten Tag mit dem Freunde zu verleben, – denn Jules hatte sich nicht freimachen können, – wollte ihn nach Genf begleiten, das Torsten noch nicht kannte. Er stand schon bereit.

Torsten weinte wie ein Kind, als er sich zum Abschied über Madame Carabins Hand beugte. Er stammelte von Schluchzen erstickte Worte des Dankes. – Darauf kehrte er sich zu Jeanne und streckte ihr seine Hand entgegen. Als er sie aber vor sich stehen sah in ihrer ganzen Lieblichkeit, das weiße Gesichtchen mit dem kummervollen Blick ihrer dunkeln Augen zu sich erhoben, als er die zuckenden Lippen sah, – da, seiner selbst nicht mehr mächtig, in überströmendem Gefühl, riß er das Mädchen an sich, küßte sie auf den Mund, einmal, zweimal. »Jeanne,« stammelte er, »liebe Jeanne, liebe kleine Schwester!«

Dann stürzte er aus dem Zimmer.

Madame Carabin blieb mit Jeanne zurück. Ich begleitete Torsten bis an den Wagen. Er drückte mir mit krampfhaftem Drucke die Hand.

»Nehmen Sie sich unserer Kleinen an!« sagte er tiefbekümmert.

XX.

Torstens Fortgehen hatte eine Lücke hinterlassen, die Nichts ausfüllen zu wollen schien. Wir Frauen versammelten uns einsilbig um den Abendtisch, an dem Rosa, die voraussetzte, daß Mr. Albert wieder zurückkehren werde, ein Couvert mehr als nöthig aufgelegt hatte. Madame Carabin wollte es unbemerkt entfernen, aber Jeanne hatte es schon gesehen. »Nein, nein, laßt es!« schrie sie außer sich.

So saßen wir um den Tisch, den leeren Stuhl zwischen uns. Jeannes Blicke streiften ihn unaufhörlich. »Es ist, als ob er noch da wäre!« sagte sie. Dann brach sie plötzlich in Thränen aus.

Ihr Weinen erst löste den Bann, der uns bis dahin gefangen gehalten. Unsere Gedanken waren so mit Torsten beschäftigt, daß es uns Allen war, als weilte er noch mitten unter uns. Mehr als einmal hatten wir nach der Thür gesehen, als erwarteten wir jeden Augenblick, daß er eintreten und sich auf den für ihn bestimmten Platz setzen würde.

Jetzt auf einmal kam es uns zum Bewußtsein, daß er wirklich fort war, und das Gemach, das seine Gegenwart mit fröhlichen Scherzen erfüllt hatte, wurde öde und kalt.

Wir vermißten ihn unendlich. Jedes ging im Hause umher, wie wenn er etwas Verlorenes suche. Die Mahlzeiten verliefen unbehaglich schweigsam; und noch immer legte Jeanne ein überzähliges Gedeck, noch immer setzten wir uns mit dem stillen Gast zu Tische.

Madame Carabin, der jedes ungesunde Gefühl zuwider war, wollte der Sache ein Ende machen. Aber Jeanne bat so inständig, mehr noch mit den Augen, als mit den Lippen: »Bis ein Brief kommt, Mutter!« daß sie das Kind, wenn auch kopfschüttelnd, gewähren ließ.

Wir erhielten sehr bald die erste Nachricht von Torsten, einige Zeilen zum Zeichen seiner glücklichen Ankunft. Ein Brief folgte schnell darauf, ein lieber, langer, ausführlicher Brief. Er schrieb lustig, natürlich, in seiner uns so wohlbekannten Art. Es war, als wenn er zu uns spräche. Er berichtete, wie wohl und unverändert thätig er seinen Vater angetroffen habe, und wie erfreut derselbe gewesen sei, ihn so frisch und munter zu finden. Er sei aber auch überglücklich, sein geliebtes Schweden wiederzusehen. Wie herrlich Schönes er auch schon gesehen, die Heimat, die Heimat sei doch das Schönste auf der ganzen Welt. – Und jetzt besonders sei es schön dort, – er mache einen zweiten Frühling durch. Welch' seltenes Glück, in einem Jahre zwei Lenze zu erleben! Er sähe das als eine gute Vorbedeutung für die Zukunft an.

Der weitaus größte Theil des Briefes war uns gewidmet. Der Schreiber lebte noch mit uns. Nichts und Niemand hatte er vergessen. Selbst den drolligen alten Mann nicht, der die Avenue Belmont für die » Utilité publique« auszubessern pflegte – auszubessern mit den spitzen harten Steinen, die die Wege in Montreux zu einer Marter machen. Denn Walzen sind hier eine unbekannte Größe, und das Feststampfen bleibt den Zwei- und Vierfüßlern, sowie den Wagen überlassen.

Torsten erkundigte sich ferner nach dem Verlauf all' unserer Beschäftigungen. Hatte Jeanne die Stunden im Hôtel Breuer bekommen? Worüber war sie wieder gefallen? Und wieviel Servietten hatte ich gestopft? Wie viele Teller hatte Rosa zerschlagen? – Und wie war es mit Jules' Stellung? Hatte er Aussicht, sie zu bekommen? Und würde Albert, wie er versprochen, am Sonntag bei uns sein? Dann sollten wir nur Alle an ihn denken, wie er unser gedenken würde. – Gebrauchte Jeanne auch seinen Stock, den er ihr da gelassen, und was hatte sie inzwischen gezeichnet? Er erinnere sie an den Blick von der dritten Bank auf dem Chemin des Roses, und dann den von der Terrasse des Hôtel Masson müsse sie unzweifelhaft auch skizziren. Er hoffte von Herzen, daß Madame Carabins neuralgische Schmerzen nachgelassen hätten – und Jeanne – hätte sie etwa noch mit den bösen Zähnen zu schaffen? Pauvre petite Jeanne! Wie hätten die sie gequält.«

So ging der Brief weiter – an tausend Einzelheiten erinnernd. Seine Fragen, seine Bemerkungen bewiesen die wärmste Theilnahme, die innigste Zugehörigkeit. Aber es drehte sich Alles um Jeanne. Was er inzwischen auch erwähnte, er kam immer wieder auf die Kleine zurück. »Und nun erwarte er ungeduldig Nachricht von seinen Schweizer Lieben. Jeanne solle nur hübsch ausführlich antworten; sie wisse, daß er sich für Alles, auch das Kleinste interessire. Er schicke dann auch bald wieder einen recht langen Brief.

Man kann sich vorstellen, wie glücklich Jeanne war! Wieder und wieder fand ich sie mit dem Brief auf dem Knie, während sie selig in die Ferne träumte. Merkwürdig, wie lange so ein junges Menschenkind an ein klein wenig Glück zehren kann! –

XXI.

Das bischen Glück hatte aber auch lange vorzuhalten. Tage, Wochen vergingen – Jeannes Antwort mußte längst in Schweden sein – Torsten ließ Nichts von sich hören.

Wir erschöpften uns in Vermuthungen. Madame Carabin war besorgt. »Er wird doch nicht wieder krank sein!«

»Ach bewahre!« rief ich, »er hat zu thun.«

»Er hat uns vergessen!« sagte Jeanne.

Ich sah das Kind verletzt an. Kleine Närrin! Sie hatte es lächelnd gesagt, – sie glaubte es selbst nicht. – – – – –

Aber das Lächeln schwand von Jeannes Lippen, wie eine Woche nach der andern kam und ging. Ich, die ich bisher fest zu Torsten gehalten hatte, fing selber an, die Sache unerhört zu finden. Was ihn auch beschäftigte, zu einer Karte fand sich immer Zeit. Wenn er krank war, konnten die Seinigen Nachricht schicken.

Madame war dafür, daß man noch einmal hinschrieb. Jeanne wollte davon Nichts wissen.

»Ich sage Dir, er ist krank, oder der Brief ist vielleicht verloren gegangen.«

Ein ironisches Lächeln war die ganze Antwort.

Aber des Mädchens Augen hafteten immer gespannter auf dem Briefboten. Sie entriß ihm die Briefe förmlich; mit fieberhafter Hast überjagte sie Adressen und Marken: – – aus Schweden Nichts!

Und jedes Mal wandte das Kind sich mit trüberem Blick von uns ab und verließ das Zimmer. – Was kümmerte sie denn noch, daß Andere schrieben? – –

Einmal im Corridor, – Jeanne küßte mich zur guten Nacht vor meiner Thür, – kam es hastig durch ihre zusammengepreßten Lippen:

»Ich sage Ihnen, er hat Beauregard vergessen.«

Ich schalt sie Kleingläubige, Undankbare. – Kannte sie Torsten nicht besser? Erst damit zeige man, daß man eines Menschen Freund sei, daß man an ihn glaube, wo der Schein gegen ihn spräche.

»Er hat Beauregard vergessen!« wiederholte sie härter.

XXII.

Ich kam spät von Clarens heim. In Vertes Rives, einer der ältesten und behaglichsten Pensionen in Montreux, die viel von Deutschen aufgesucht wird, hatte ich einen fröhlich angeregten Nachmittag und Abend verbracht. – Es schien in Beauregard schon Alles zu ruhen, ich fand Niemand mehr im Salon vor. Vermuthlich hatte Madame Carabin, die seit einiger Zeit viel an Nervenschmerzen litt, sich früher als sonst niedergelegt, und Jeanne leistete ihr Gesellschaft. Um die Frauen nicht zu stören, stieg ich gleich leise in mein Zimmer hinauf.

Behagliche Wärme empfing mich. Rosa, das gute Mädchen, hatte vorsorglich mein Feuer angemacht. Wie ich ihr Dank wußte! – Das würde jetzt noch ein gemüthliches Stündchen werden! – Ich zündete vergnügt meine freundlich brennende Lampe an, meine gute, alte Lampe, die mich von der Heimat hierher begleitet, und setzte ihr den hübschen rothen Lichtschirm, ein Neujahrsgeschenk meiner kleinen Jeanne, auf. Er verdunkelte zwar etwas das Zimmer, aber was schadete das! Auf dem Tisch war es hell, gerade wie zum Lesen geschaffen. Ich rückte also den Lehnstuhl an den knisternden Ofen und machte es mir bequem.

Noch keine zwei Seiten meines Buches hatte ich durchblättert, da klopfte es leise, und gleich darauf ging die Thür auf.

» Est-il permis?« fragte Jeannes Stimme.

»Freilich, freilich, Kind! Kommen Sie näher.«

Sie kam mit langsamem Schritt auf mich zu und legte mir einen offenen Brief in den Schooß.

»Einen Brief, Kind! Für mich, Jeanne?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Ist er – ist er von –« Ich nahm das Blatt auf. »Ah, von Torsten, von Torsten! Sehen Sie, Kind, sehen Sie? Wer hat nun dem guten Torsten bitteres Unrecht gethan? Wer hat uns schon glauben machen wollen, er hätte Beauregard vergessen, wer, wer? Jetzt bitten Sie's ihm nur schön ab, Sie Böse! – Ja, aber – soll ich den Brief denn lesen? Er ist an Ihre Frau Mutter –«

Jeanne war etwas zurückgetreten, der Schatten der Lampe fiel auf ihr Gesicht, aber ich sah, daß sie nickte. Ich las also.

Torsten entschuldigte sich, daß er so lange nicht geschrieben; nicht etwa, weil er der lieben Freunde vergessen, im Gegentheil, oft, sehr oft habe er ihrer gedacht.

Ich las den Satz laut, triumphirend.

Aber er habe eine Zeit so bangen Zweifels, solcher Verzagtheit durchgemacht –

»Verzagtheit? Was ist denn gewesen, Kind?« Jeanne antwortete nicht.

»Nun ist die böse Zeit vorüber, und ich bin glücklich; und nun sollen meine liebe Mutter, meine liebe Schwester auch die Ersten sein, die von mir hören. Denn sie sind es, denen ich mein Glück verdanke. Sie, Madame, haben mir den Weg aus der Dunkelheit heraus gezeigt. Sie haben mir bewiesen, daß auch ich noch einer Lebensaufgabe gerecht werden könne, daß ich nur die lähmende Schwermuth, den Mangel an Selbstvertrauen abzuschütteln brauche, um aus meinem Dasein noch Etwas zu machen, was eines Menschen, was eines Mannes werth ist. Ich habe meine Seele dieser Erkenntniß geöffnet, die hinfort meine Zukunft durchdringen wird; – und nun mag die Finsterniß kommen, die ewige Nacht, die ich bis jetzt als die schrecklichste Prüfung gefürchtet. Ich werde sie tragen mit Ergebenheit und Stärke, ja, es wird mir leicht werden, sie zu tragen, – o ganz leicht! – denn nun werde ich eine Sonne an meiner Seite haben, die mir die Nacht erhellen wird mit Tageshelle. Wie glücklich ich bin! – In all den langen bangen Tagen und Nächten habe ich mit dem Zweifel gerungen, ob ich mich anbieten dürfe –«

Mit fieberhafter Hast las ich weiter – jetzt kam ja, was ich erwartet und gehofft. –

»Anbieten dürfe, ob ich auch das Recht habe, ein fremdes Leben an das meine zu ketten. Aber da habe ich mich der Worte der lieben Mutter erinnert; in ihnen habe ich Muth gewonnen, die Frage zu wagen. –«

Ich sah halb auf – Jeanne trat weiter zurück; o Jeanne, kleine Jeanne! Darum also suchst Du die Schatten der Lampe! –

»Und mein Vater billigt meine Wahl –«

Ich las es jubelnd und laut.

»Und jetzt bin ich glücklich – ganz glücklich, und meine Braut –«

Lächelnd und langsam schlug ich um und sah wieder halb zu Jeanne hinüber.

»Ist auch glücklich, das edle, herrliche Mädchen, Emmy Magnusson –«

Emmy Magnusson, Emmy – mechanisch wiederholte ich die Worte.

Was war das jetzt? Das hier? Ich fühlte, daß ich Nichts begriff. –

»Immer schon habe ich sie geliebt –«

Wen denn? Emmy Magnusson, nicht Jeanne? Mein Gott, was wurde aus Jeanne?

Mechanisch las ich weiter: »von Jugend auf, – und sie mich auch, immer, das weiß ich nun. Aber weil ich nicht gesprochen, hat sie geglaubt, ich liebe sie nicht. – Wie hätte ich denn sprechen können? ich, halbblind, ein Krüppel? Ich hatte geglaubt, ich dürfe, ich könne ihr nicht nahen. Und das ist meine Verzweiflung gewesen, das! Darum meine Verzagtheit, mein Trübsinn, darum die ungleichen Stimmungen, die die liebe Mutter, die die liebe kleine Schwester so oft an mir getadelt. Nun werden Sie verstehen. – Aber jetzt bin ich ganz glücklich, ganz gleich, ganz heiter; und ich kann meine Seligkeit nicht länger für mich behalten – ich muß sie denen mittheilen, von denen ich weiß, wie sehr sie sich für mich interessiren; ganz so, wie ich mich für sie, wie ich mich immer für sie interessiren werde –«

Ich ließ den Brief sinken; ich konnte nicht weiter lesen. –

Von meinem Schooß glitt die Einlage, zwei zusammengebundene Visitenkarten. Sie lagen hell im Lichte der Lampe; ich sah das rothe Seidenbändchen, das sie zusammenhielt, las deutlich die Namen, die in meinem Kopfe hämmerten: Emmy Magnusson, Torsten de Moerner.

Ich weiß nicht, wie lange ich so da gesessen haben mag, das Blatt krampfhaft zwischen den Händen. Ich wagte nicht aufzuschauen, denn ich fürchtete mich vor dem ersten Blick in Jeanne's Gesicht. Recht gut, daß sie weiter zurückgewichen war! ich hatte es wohl bemerkt; in dem Augenblick, wo ich den Brief hatte fallen lassen, war sie bis an die Thür geflohen.

Ein dumpfer Laut, wie von unterdrücktem Stöhnen, schlug jetzt von dort an mein Ohr.

Ich Selbstsüchtige, die ich für mich den Schmerz fürchtete, der in des Kindes Gesicht zu lesen sein würde, und das Kind selber verzweifelte. – Ich sprang auf und riß den Schirm von der Lampe.

Da stand Jeanne, die Hände auf die Brust gepreßt, mit einem Antlitz, aus dem der letzte Blutstropfen gewichen schien, und starrte mit fast irren Augen nach mir.

»Jeanne!« schrie ich auf. »Jeanne! Kind!« Ich streckte meine Hände nach ihr aus.

Sie rührte sich nicht; sie sah mich noch an mit demselben irren Blick.

» C'est Jeanne, Jeanne Guignon!« sprach sie jetzt mit herzzerreißendem Lächeln und lehnte den Kopf wie von Schmerz übermannt zurück an die Thür.

»Jeanne!« rief ich wieder, »liebes Kind!«

Da warf sie beide Arme über den Kopf zurück; mit einem wilden Aufschrei stürzte sie vorwärts und sank laut aufschluchzend zu meinen Füßen nieder.

Ich nahm sie in meine Arme und barg das weiße Gesichtchen an meiner Brust. Ich streichelte und küßte den dunklen Lockenkopf, wiegte sie, wie eine Mutter ihr krankes Kind wiegt, – Worte fand ich nicht.

Was konnte ich thun? Was konnte ich sagen? – Jeanne, arme kleine Jeanne! – –


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