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Eine Tagereise von Wien lag einsam das alte Schloß Strüth, in welchem vor siebzig Jahren der Freiherr Leopold von Strüth lebte und geigte. Die Musik war ihm das fünfte Element; aber Musik mit Auswahl, denn er liebte nur gute Musik und hielt ein echtes Streichquartett für die beste unter der guten.
Jeden Montag war Quartett auf Schloß Strüth, wobei der Freiherr die Bratsche spielte, und sein Gutsnachbar, der Graf Thürmer von Neuhaus, die erste Geige; jeden Donnerstag hingegen ritt der Freiherr nach Neuhaus zum Quartett beim Grafen.
Der Bediente des Freiherrn durfte Montags zwar die Wachslichter ins Musikzimmer tragen, aber sie aufstecken oder gar anzünden durfte er nicht, das tat der Herr mit eigener Hand. Er war sonst recht bequem und ließ sich gerne bedienen, nur nicht fürs Quartett; denn da konnte er selber sich's kaum recht machen, geschweige ein Bedienter. Und wer ihn vor oder während des Quartettes sah, der mußte ihn für einen rechten Pedanten halten; allein das war er bloß in diesem besonderen Falle, und hier war er pedantisch nicht aus Pedanterie, sondern aus Ehrfurcht vor den höchsten Offenbarungen der Kunst. Darum wusch er sich auch allemal die Hände, bevor er ans Quartettgeigen ging, nicht weil sie schmutzig gewesen wären, sondern wie zu einer symbolischen Reinigung, gleich dem Priester, der sich für ein Opfer im Allerheiligsten rüstet.
Jeder Quartettabend ward für ihn zum vollen Quartetttage. Schon der Morgen verging in emsiger Vorarbeit. War es Winter, so mußte das Quartettzimmer schon tags vorher geheizt werden, damit sich die Instrumente an die Wärme gewöhnten, und in keiner Krankenstube ward je das Thermometer sorgsamer beobachtet. Vierzehn Grad Reaumur erklärte der Freiherr für die wahre Quartetttemperatur, während er sonst in den Wohnräumen seines Schlosses an sechzehn Grad gewöhnt war. Er schätzte aber den inneren Wärmezuschuß, welchen ein herzbewegendes Quartett gibt, nach langjähriger Erfahrung auf zwei Grad, so daß Haydn und Mozart, die überwiegend gespielt wurden, bei zweiundfünfzig Quartettabenden im Jahre wohl eine Heizkraft von anderthalb Klaftern Buchenholz darstellten.
Zahllose kleine Geschäfte erfüllten den Quartettag; dem Musiker wären sie lästig gewesen, dem Musikfreunde sind sie heiter und behaglich; denn sie sind ein Vorgeschmack der Quartettseligkeit des Abends, und wenn der Freiherr Montags höchsteigenhändig die Geigen abwischte und die vier Stühle zurechtrückte, so dünkte ihm das schon halbe Musik.
Ganze Musik aber war ihm die wichtigste Vorarbeit: die Auswahl des Programmes. Indem er da die Notenhefte prüfte und verglich, wählte und verwarf, die Hauptthemen sang und pfiff, spielte er morgens schon im Geiste Quartett, wie abends mit dem Fiedelbogen. Und wer weiß, welches der reinere Genuß war? Längst verhallte Erinnerungen rauschten aus den Notenblättern auf. Denn was versetzt uns unmittelbarer in vergangene Tage zurück, als das Wiedererklingen einer Weise, die wir damals hörten, und wie oft täuschen wir uns selbst und halten eine schwache Musik bloß darum für wunderschön, weil sie uns an eine wunderschöne Zeit erinnert, wo wir ihr zum erstenmal lauschten!
Und in dem Musikzimmer konnte man so weltvergessen geisterweise in Tönen träumen, auch am hellen Tage. Das Schloß lag einsam auf einem Hügel am Waldessaum, die grünen Wipfel schauten zu den Fenstern herein, und höchstens vernahm man da süßen Vogelschlag leise von fernher. Sonst war alles stille. Der Freiherr hatte keine Familie außer einer Tante, einer alten, schweigsam, geräuschlos waltenden Witwe, welche ihm mit einer kleinen Dienerschaft haushielt in den weiten, schweigenden Räumen. Man konnte glauben, das ganze Schloß schlafe, und die Bewohner wachten nur auf, um zu geigen.
In dieser tiefsten Stille also machte der Freiherr stille Musik, wenn er in seinen Noten blätterte, wie in einem Geschichtenbuch aus alter Zeit. Trauliche Bilder schauten ihn dazu von den Wänden des Musikzimmers an, Landschaften und Stilleben guter älterer Meister. Es war ein Tempel friedlicher, heiterer, sinniger Kunst.
Nur ein Bild paßte nicht zu den anderen, in dem kalten antikisierenden Stil der damaligen Pariser Schule stellte es Erato dar, die Muse des Liedes und der Liebe im Liede. Der Kopf war ohne Zweifel Porträt; man porträtierte damals wohl Kinder als geflügelte Genien, Damen als Göttinnen. Aber während der Freiherr, wenn er musikalisch träumend auf und ab schritt, bald einen Everdingen, bald einen Mignon wohlgefällig betrachtete und seine Quartettthemen im Anschauen immer lauter und lustiger pfiff, verstummte er vor diesem Bilde, ward zerstreut und verließ wohl gar den vertrauten Raum. Es schien, als ob dieses Gemälde, welches dem Gegenstande nach von allen ganz allein musikalisch aussah, das einzige unmusikalisch stimmende Bild wäre.
Ja noch mehr! Kam der ersehnte Abend und zündete der Freiherr die Lichter an, so mußte der Bediente die Erato jedesmal mit einem grünen Tuche verhängen. Hätte es der Bediente ja versäumt und der Blick des Herrn wäre im Spielen auf das Bild gefallen, so würde er das ganze Zusammenspiel unfehlbar umgeworfen haben; Eratos Auge hätte ihn aufgeregt, in einen fremden, trüben Gedankengang hineingezogen, und zum Quartettgeigen braucht man Sammlung, Ruhe und innere Heiterkeit.
Am Abende des 10. Mai 1799 zog ein schweres Donnerwetter gegen Schloß Strüth heran, wo der Freiherr bereits seit einer halben Stunde im Musikzimmer stimmte, des Eintritts der Mitspieler gewärtig. Unter dem Heulen des Windes und dem Klirren der Scheiben erschien Schlag sieben Uhr das Violoncell und die zweite Geige in der Gestalt des freiheitlichen Gutsverwalters und des alten Kammerdieners, denn auf Strüth nahm man nur solche Leute in Dienst, die in der Violinschule wenigstens bis zur dritten Lage sich hinaufgegeigt hatten. Jene beiden waren freilich bloß »stumme Personen«, wie man in der Theatersprache sagt, sie geigten fest und redeten nur, wenn sie gefragt wurden.
Desto gesprächiger war der vierte oder vielmehr der erste Mann, die erste Geige, welche diesmal ein wenig auf sich warten ließ, Graf Thürmer von Neuhaus. Dampfend vom scharfen Ritte trat auch er endlich herein, gerade vor Torschluß, denn im selben Augenblick begann der Regen stromweise niederzustürzen, und Blitz und Donner nahten in immer kürzeren Pausen.
Dem Grafen folgte sein Diener, einen Geigenkasten unterm Arm.
Diesen Geigenkasten blickte der Freiherr so verdächtig an, daß er den Grafen beinahe übersehen hätte; denn er – der Geigenkasten – war ein unberufener Eindringling, und der Haus- und Quartettherr ahnte wohl dessen Bedeutung. Graf Thürmer war nämlich ein Geigennarr; er hatte auf Neuhaus ein ganzes Lager von alten Geigen, echten und unechten, die er alle als vortrefflich pries: die echten, weil sie echt waren, und die unechten, weil sie von Rechts wegen hätten echt sein sollen. Er liebte die Musik, weil er die Geigen liebte, und glaubte, Mozart und Haydn hätten eigentlich nur deshalb so wundervoll komponiert, damit Stradivari und Guarneri ihre Geigen nicht umsonst so wundervoll geleimt und gehobelt hätten.
Beim Freiherrn war es umgekehrt. Er schätzte eine gute Geige, weil er eine gute Musik liebte, und der Graf meinte, das heiße doch die Welt auf den Kopf stellen. Da es aber hierüber in früheren Jahren manchmal zum Streit gekommen war, indem der eine Geigen geigen, der andere aber Musik geigen wollte, so hatte man sich über ein festes Grundgesetz geeinigt. Spielte Montags das Quartett auf Schloß Strüth, so stellte der Freiherr vier gleichartige Instrumente von Stainer, und kein anderes sollte berührt, am wenigsten eine fremde Geige mitgebracht werden. Desgleichen bestimmte der Freiherr das Programm des Abends, und niemand sollte ein anderes Musikstück auch nur zu wünschen wagen. Musizierte man dagegen am Donnerstag beim Grafen, so war dieser der Quartettherr, er konnte Geigen vorführen, soviel er wollte, und Tonstücke auflegen nach Belieben; der Freiherr war dann sein Vasall, mit Schild und Speer (das heißt mit Fiedel und Fiedelbogen) zu jedem Dienste treu und gehorsam.
Es mußte wohl eine ganz außerordentliche Geige sein, ein großer Fund, der dem Grafen keine Ruhe ließ, daß er so den Montag zum Donnerstag gemacht und das fremde Instrument gesetzwidrigerweise mit herübergebracht hatte.
»Ich bringe da etwas ganz Neues, etwas uralt Neues!« rief er in brennender Mitteilungsbedürftigkeit. Allein der Freiherr unterbrach ihn im festen Gebieterton des Quartettherren, während er ihm als einem alten Freunde doch zugleich freundlich lächelnd auf die Schulter klopfte: »Auch ich habe eine Neuigkeit oder vielmehr zwei, eine große und eine kleine; die kleine ist ein Quartett von Haydn, neu für uns; spielen wir dies zuerst, dann werde ich nach dem Finale meine große Neuigkeit eröffnen.«
Der sonst so schweigsame Gutsverwalter räusperte sich und stotterte auch etwas von einer Neuigkeit, welche er mitgebracht, und griff nach der hinteren Rocktasche, als ob er sie da herausholen wollte. Allein ein strafender Blick seines Herrn traf ihn so scharf, daß er verstummte und die Hand ganz langsam und leer aus der Tasche zurückzog.
Der Graf aber trat kühn gegen die Lichter und hielt eine prächtige Guarneri-Geige in die Höhe. »Welche Anmut der Form!« rief er, »die mediceische Venus hat keine reizendere Taille als diese Guarneri! Welch unvergleichlicher Schnitt der F-Löcher! Kein Bildhauer hätte die Schnecke zierlicher winden können! Vor allem aber bewundert diesen edeln, leuchtenden, spiegelklaren, unversehrten echten altitalienischen Öllack! Er ist mir lieber als ein ganzes Gemälde in Öl. Ein Öllack –«
Hier schlug ein Blitz herab, als ob er mitten durchs Schloß gefahren sei, ein kurzer Donner wie ein Kanonenschuß krachte im selben Augenblicke nach, und schwere Steine rasselten vom hohen Giebelschornstein. – »Gott steh uns bei!« rief der Kammerdiener; – »Jesus, Maria und Joseph!« der Verwalter; – »es hat eingeschlagen!« der Freiherr und sprang hinaus.
»Ein Öllack,« fuhr der Graf begeistert fort und faßte den Verwalter, der auch hinaustrachtete, am Rockknopf, »hören Sie, ein Öllack, wie er außerdem gar nicht mehr auf unsere Zeit gekommen ist. Der Teufel hole –«
Bei diesen Worten fuhr ein zweiter Blitz hernieder, daß die ganze Stube wie im Feuer aufleuchtete. – »Um Gottes willen, fluchen Sie nur jetzt nicht, fluchen Sie nicht das Schloß in Brand!« flehte der Verwalter.
Aber der Graf faßte ihn nur etwas fester, nämlich am ganzen Kragen und fuhr fort: »Ich sage, der Teufel hole die neuen Geigenmacher, welche mit ihrem niederträchtigen Spirituslack nicht nur ihre eigenen schlechten Fiedeln verpfuschen, sondern oft genug auch noch die edelsten alten Geigen dazu.«
Dann ließ er den Verwalter los und spielte mit keckem Bogen die Tonleiter auf und ab auf der wundervollen Guarneri und prüfte alle Saiten und Lagen, bis endlich der Freiherr zurückkam und meldete, es habe in einen Baum neben dem Schlosse geschlagen, ohne weiteren Schaden. Hierauf aber wandte er sich zum Grafen und fragte ihn trocken, ob denn dieser edelste Öllack etwa auch den Ton der Geige veredle.
»Der Ton«, erwiderte jener, »wird dadurch nicht besser und nicht schlechter; aber ein echter italienischer Lack ist eine Augenweide an und für sich, und ohne ihn wäre die schönste Geige ein totes Bild, wie ein Menschengesicht ohne den verklärenden Lichtglanz des Auges.«
»Nun gut,« sprach der Freiherr, »so wollen wir nachher diesen in Öl leuchtenden Seelenblick deiner Guarneri bewundern, vorerst aber greifen wir zu unseren altgewohnten Instrumenten und zum Quartett»– und er begann das a zu streichen, und dies war das Signal, daß jedes Gespräch verstummen solle. Der Graf biß sich in die Lippen und stimmte die dargereichte Stainer-Geige so heftig, als wolle er alle vier Saiten durch und durch spielen, und das Quartett begann.
Der erste Satz – in C-Dur – hob ganz gemächlich an, steigerte sich aber bald zu einem überraschend schwierigen Tongewebe. Das war dem Grafen ganz recht; denn er spielte leicht und keck, fast wie ein Virtuose. Der Freiherr dagegen, bei welchem die Musik so überwiegend inwendig saß, spielte schwach und war im Zählen noch schwächer. Nun verließ er sich gewöhnlich darauf, daß ihm der Guts- und Quartettnachbar zur rechten Zeit einhelfe, vorzähle und sonst einen kleinen musikalischen Rippenstoß gebe. Allein die Hilfe blieb diesmal aus. Der Graf war ganz versunken in seine erste Stimme und ließ den armen Bratschisten hilflos suchend umherirren, bis er im nächsten Wirtshause, das heißt beim nächsten Halt, mit den anderen wieder zusammentraf. Der Freiherr merkte wohl, daß dies die Buße für den Öllack sein solle, und fand seinen Freund, der auch als Mensch ganz besonders durch Lack und Schnitt glänzte, diesmal unangenehmer als je zuvor. Es dünkte ihm impertinent, daß ein Graf so fertig geige, als ob er ein Musikant sei, und über diesem Gedanken verlor er völlig den Boden und »schwamm« und konnte kein Ufer gewinnen. So fing man denn den Allegrosatz vier- bis fünfmal wieder von vorn an und schlug sich zuletzt auch mühsam bis zum Ende durch; allein die Aufgabe war und blieb zu schwer, und man kam zu keinem reinen Genuß des Ganzen.
Obgleich nun aber der Freiherr das Spiel zumeist verdorben hatte, ahnte und erriet er doch am tiefsten die verlorenen Schönheiten des Werkes, und da er sie auf seiner Bratsche nicht hatte klar machen können, so begann er, während man eine Weile verschnaufte, dieselben um so beredter mit Worten zu erklären. Das ärgerte nun wieder den Grafen, der so gut zu geigen, aber nicht halb so gut über das Gegeigte zu reden verstand, und er wandte sich deshalb, derweil sein Freund ästhetisierte, an den Verwalter und fragte nach seiner Neuigkeit in der hinteren Rocktasche.
Der Freiherr schaute auf sein Notenblatt und sprach, halb in sich hinein, halb für die anderen: »Der Anfang ist ganz schlicht, ruhig, bescheiden; das hat Haydn oft; man erwartet ein sinnig gemütliches Stück –«
»Karlsruhe, den 30. April«, las der Graf mit halber Stimme in einem Zeitungsblatte, welches der Verwalter aus seiner hinteren Rocktasche gezogen. – »Der Rastatter Kongreß hat ein schreckliches Ende genommen. Da der Erzherzog Karl die Franzosen in den letzten Wochen über den Rhein zurückgeworfen hatte, so rüsteten sich die französischen Gesandten zur Abreise. Allein –«
»Allein gefesselt von den einfachsten Melodien,« fuhr der Freiherr fort, »von den unscheinbarsten Themen, aus denen sonst kein Mensch etwas Gescheites machen könnte, werden wir mit jedem Takte durch neue Tongebilde überrascht –«
»Kaum sind sie vorgestern abend um 10 Uhr zum Tore hinausgefahren, so wird ihr Wagen von Szekler Husaren angefallen, und die zwei Minister Robertjot und Bonnier werden mit Säbelhieben jämmerlich erschlagen –«
»Recht heiter beginnt der Satz, zu tief bewegendem Ernste aber wächst er empor im zweiten Teile –«
»Der dritte, Debry, wird schwer verwundet in den Chausseegraben geworfen –«
»Denn das ist die wunderbare Art dieses Mannes, daß er uns oft da am innigsten rührt, wo er scherzt und lächelt –«
»Indem er sich aber tot stellt, begnügen sich die Szekler, ihn auszuplündern und liegen zu lassen –«
»Und indem er schwermutsvoll klagende Weisen anstimmt, überkommt uns eine stille Seligkeit, ein heiterer, heiliger Friede –«
»Halbtot, halbnackt, mit Schmutz und Blut bedeckt, rafft er sich bei Tagesanbruch aus dem schlammigen Chausseegraben auf –«
»Was ist das?« rief der Freiherr, wie aus einem Traume erwachend. »Wovon redest du?«
»Nun, von Debry, dem französischen Gesandten! – aus dem schlammigen Chausseegraben auf und kommt, von den umherstreifenden Soldaten ungesehen, wieder in die Stadt zurück. Der österreichische Oberst Barbaczy hat die Papiere der französischen Gesandten mit Beschlag belegt; Debry wurde gestern unter militärischer Bedeckung sicher hierher geleitet. Niemand weiß sich das Rätsel der Greueltat zu lösen; denn obgleich jene Franzosen durch ihre Anmaßung und Arglist jedes deutsche Herz empörten, so standen sie doch als Gesandte unter völkerrechtlichem Schutz und ist dieser Mord eine unerhörte Greueltat, deren Folgen kein Mensch abzusehen vermag.«
Der Freiherr nahm dem Grafen die Zeitung aus der Hand, um nun auch den Anfang des Artikels zu lesen. Er starrte in tiefem Sinnen noch lange in das Blatt, als schöpfe er eine ganze Welt von Tatsachen und Gedanken aus den wenigen trockenen Zeilen.
Inzwischen examinierte der Graf den Verwalter, wie ihm die fremde Zeitung zugekommen; denn in den Wiener Blättern stand noch nichts von dem Morde. Es fragte sich überhaupt, was man in Wien von dem Ereignis wollte wissen lassen, und inwieweit Thugut und Lehrbach, die leitenden Staatsmänner Österreichs, demselben nah oder ferne standen. Das reizte den Scharfsinn des Grafen, und seine Einbildung erging sich in hundert neugierigen Fragen, indes er auf der Guarneri-Geige seltsame Figuren, Triller- und Doppelgriffe phantasierte, als wolle er die Irrgänge der Diplomatie in Musik übersetzen; und dazwischen hielt er wieder ein und beliebäugelte die schöne Geige wie das Bild eines reizenden Mädchens.
So der Geigenfreund. Der Freiherr, der Musikfreund, legte die Bratsche weg, und es war ihm, als sei es fast Sünde, jetzt noch gemütlich Musik zu machen. Sein sittliches Gefühl war empört. Wie mußte die Freveltat auf Europa, wie mußte sie auf das ohnehin schon so wahnsinnig überreizte französische Volk wirken! Und welche Gewitterluft lagerte über Europa, welche Stürme zogen gegen das Vaterland heran! In Italien und am Rhein kämpften die Österreicher gegen die Franzosen, Tausende von Landsleuten bluteten vielleicht in dem Augenblicke, das ganze Schicksal des Deutschen Reiches entschied sich vielleicht eben jetzt, wo man hier so weltvergessen im Quartett sich vergnügte!
Er hatte sich kindisch gefreut auf diesen Abend und schämte sich jetzt, daß er sich gefreut hatte, und der Graf, sein alter Freund, erschien ihm mit jeder Minute fremder, abstoßender; er hätte ihm die Guarneri aus der Hand reißen und sie zum Fenster hinauswerfen mögen.
Allein er faßte sich wieder und sprach: »Unser Spiel geht heute schlecht zusammen; dem Grafen ist der Blitz in seinen italienischen Öllack gefahren und mir der Gesandtenmord in mein Quartett. Ich wollte euch mit einer fröhlichen Botschaft überraschen und weiß nicht mehr, ob es recht ist, sich jetzt von Herzen zu freuen. Doch versuchen wir's noch einmal mit der Kunst. Die Musik ist eine so göttliche Trösterin und trägt unser Gemüt so rein zum Himmel empor, daß ich manchmal sage, eine echte Musik ist auch ein Gebet; und warum sollen wir dann nicht beten oder musizieren in dieser Stunde? Stimmen wir also die Geigen aufs neue zum zweiten Satze!«
Den zweiten Satz des Quartettes bildeten aber jene ergreifenden Variationen über »Gott erhalte Franz den Kaiser«. Schon bei den ersten so feierlich innigen Takten verklärte sich das Auge des Freiherrn, und auch die anderen atmeten tief auf. Die Musik klang ja so trostvoll, und der patriotische Bratschist fürchtete sich alsbald nicht mehr der Sünde, jetzt Musik zu machen, denn es war ihm, als spreche aus diesen Tönen eine Verheißung, daß das Vaterland nicht gar zu Grunde gehen solle. Als alle tiefgerührt und hocherhoben die letzten kirchenfeierlichen Akkorde gespielt, rief der Freiherr: »Gottlob, das war eine rechte Musik der Genesung, und jetzt ist mir auch die Zunge gelöst für meine zweite Neuigkeit! Ich habe den Meister dieser Töne, ich habe Joseph Haydn, den ich so lange schon vergebens zu sehen begehrte, hierher aufs Schloß eingeladen, und er wird kommen. Das wird ein Fest werden! Dann müssen wir ihm seine Quartette vorgeigen, daß er seine Lust daran haben soll. Und was ist köstlicher, als einem Manne endlich einmal dankend die Hand drücken zu dürfen, der uns – unbekannt und ferne – durch seine Werke seit langen Jahren doch schon so befreundet begleitet hat, ein Fremder und doch zugleich der teuerste alte Freund!«
Selbst der Graf wurde jetzt angesteckt von der Begeisterung des Freiherrn; sie jubelten miteinander so hoch, wie man es nur in dieser fieberglühenden Zeit konnte und heutzutage gar nicht mehr vermag, stießen an mit den Gläsern und tranken und geigten die halbe Nacht hindurch. Der Öllack, das verunglückte Allegro und der Rastatter Gesandtenmord wurden ganz vergessen, und die inwendige Musik siegte über die Politik und die Geigen und löste alle vorbereiteten und unvorbereiteten Dissonanzen zur lauteren Harmonie – sogar im Gemüte des Kammerdieners, den es anfangs schwer beunruhigt hatte, daß er nächster Tage den Haydn, einen bürgerlichen Musikanten, wie einen Edelmann werde bedienen müssen.
Die ganze Woche ward gerüstet auf den Empfang des Gastes. Und da der Herr des Hauses vor lauter Musik nun gar nicht mehr zu haben war und die alte Tante siech und hinfällig, so hatte diese des Grafen Schwester von Neuhaus herüber gebeten, damit dieselbe anordnend und repräsentierend ihren Platz einnehme.
Gräfin Helene Thürmer auf Neuhaus war nach ihrer eigenen Ansicht noch jung, nach der Ansicht ihres Taufscheins war sie sechsunddreißig Jahre alt. Früher blendend schön, fesselte sie noch immer durch stolzen, untadeligen Wuchs, edles Profil und geistvolles Auge, und da Vater Haydn auch in seinen alten Tagen schöne Mädchen gerne sah, so taugte sie diesmal besonders zur Rolle der Wirtin. Dazu verstand sie gar wohl künstlerische Festtage anzuordnen und zu schmücken; denn hatte sie auch niemals etwas Ordentliches gelernt, so bewies sie doch Geschick für alles, trieb alle Künste ein bißchen und waltete mit Geschmack, wohin nur ihre feine Hand rührte. Insbesondere aber schwärmte sie für Musik und ließ oft den ganzen Tag das Klavier nicht kalt werden.
Allein gerade wegen ihrer Musikwut schwankte der Freiherr, ob er seine schöne Nachbarin höchst liebenswürdig oder ganz unausstehlich finden solle. Er hatte in diesem Punkte seine eigenen Erfahrungen gemacht und pflegte zu sagen: »Die unmusikalischen Frauenzimmer ärgern einen, weil sie die Musik nicht verstehen, die musikalischen, weil sie die Musik mißverstehen.«
In früheren Jahren verband ihn nämlich eine langgenährte, tiefe und gegenseitige Neigung mit jener vornehmen Dame, welche als Erato im Musikzimmer hing, mit ihrem rechten Taufnamen aber eigentlich auf gut wienerisch Babett hieß. Sie hätten sich gerne geheiratet, allein aus Familieninteressen mußte Babette den Rittmeister von Gretenstein nehmen. Das war der bitterste Schmerz gewesen, welchen der Freiherr in seinem friedlichen Dasein jemals erlebt hatte, und der auch nach Jahren noch oft genug insgeheim an seinem Herzen nagte. Babette aber hatte so wenig musikalisches Gehör, daß sie nicht einmal die falschen Töne empfand, welche ihr Geliebter zeitweilig seiner Bratsche entlockte. Trotzdem ließ sie sich ihm zuliebe als Erato malen, quälte sich ihm zuliebe in die Musik hinein und lernte Klavier, oder vielmehr sie lernte am Klavier, daß sie mit bestem Willen kein Klavier lernen könne. Dies war dem Freiherrn ein großer Kummer; doch als der größere Kummer kam und Erato einen anderen heiratete, ward ihm jener erste Kummer wieder zum Troste; denn er meinte, es stehe sehr in Frage, ob eine Ehe zwischen einem so musikbedürftigen Manne und einer so musikarmen Frau dauernd hätte glücklich werden können. Ganz im Gegensatze nun war Gräfin Helene durch und durch musikalisch. Wenn der Freiherr Quartett bei ihrem Bruder spielte, so saß sie allemal als die andächtigste Hörerin im Hintergrunde; sie jubelte mit dem Allegro, schwärmte mit dem Adagio, scherzte mit dem Menuett und redete wie ein Buch über die Schönheit des Gehörten. Der Freiherr aber behauptete, die Gräfin treibe nur Tendenzmusik. So lange er als mit Babetten verlobt gegolten, habe sie nur italienische Arien gesungen und Tänze gespielt, als Babette aber einen anderen geheiratet, da sei die Gräfin auf einmal klassisch geworden in ihrem Geschmack und bei den Quartetten aufgetaucht. Ihr Bruder liebe das Quartett um der Geigen willen, sie aber scheine es um des Geigers willen zu lieben. Und zwar sei diese Leidenschaft fürs Quartett merklich gewachsen, seit Helene das fünfunddreißigste Lebensjahr erreicht; wenn das so fortgehe und sie ledigerweise ins vierzigste eintrete, dann fange sie wohl gar noch selber zu geigen an. Bei einem Frauenzimmer, wie bei einer guten Musik, dürfe man niemals die Absicht merken. Babette sei ein gar natürliches Mädchen gewesen, aber ohne alle Musik; Helene sei eine rechte Kokette, aber ganz von Musik erfüllt. Übrigens wisse man doch nicht, was das Schlimmere sei. Denn Babette sei mit aller Natur niemals musikalisch geworden, während Helene durch das unausgesetzte reinigende Bad des Quartettstudiums doch am Ende noch ein leidlich natürliches Frauenzimmer werden könne.
Auf den 18. Mai wurde Haydn erwartet. Weil aber alles so gar genau und schön zum Empfange vorbereitet worden war, so ging nun alles gerade ganz verkehrt. Und dies war das beste.
Der Freiherr fuhr zur nächsten Stadt, um mit eigenen Pferden den gefeierten Gast abzuholen; allein er verfehlte ihn; und so kam dieser ganz allein auf einem einspännigen Bauernwägelein. Die Gräfin hatte sich's gar fein ausgedacht, wie sie den Tondichter als einen »Fürsten der Kunst« begrüßen und dann einige passende Worte einstreuen wolle über »irdische Unsterblichkeit«, welche gleichsam ein umgekehrter Adel sei, indem sie dem Namen im voraus für eine unabsehbare Zukunft Rang und Glanz verbriefe, wie der wirkliche gute Adel hinterdrein aus einer unabsehbaren Vergangenheit herauf.
Als Helene aber den unscheinbaren Mann vom Bauernwagen steigen sah, glaubte sie, es sei der neue Tierarzt, den man eilends zu dem wutverdächtigen Hühnerhunde des Freiherrn gerufen hatte, und schickte den Bedienten hinab, daß er den Doktor gleich in den Holzstall führe, wo Hektor eingesperrt lag. Der Bediente aber kam bestürzt zurück und sagte, der Fremde habe sich geweigert, in den Holzstall zu gehen, er sei auch gar nicht der Hundedoktor, sondern Herr von Haydn selber. Nun war auf einmal der »Fürst der Kunst« und die Unsterblichkeit als umgekehrter Adel rein vergessen, die Gräfin begrüßte den Künstler mit Lachen und Entschuldigungen, und im Lachen errötete sie beschämt, was ihr viel schöner stand als jenes erhabene Zurückwerfen des Kopfes und stolze Lockenschütteln, mit welchem sie sonst Gäste zu empfangen pflegte.
Haydn fand die schöne Dame höchst natürlich und liebenswürdig (und das hatte seit langer Zeit kein Mensch gefunden) und plauderte sich rasch ins unbefangenste, anziehendste Gespräch. Er hatte in London gelernt, auch unter vornehmen Leuten sich leicht zu bewegen, hatte dazu aber auch seine bürgerliche deutsche Bescheidenheit heil und ganz wieder über das Meer zurückgebracht und redete so schlicht und fest, daß die Gräfin in denselben Ton eingehen mußte und gar keinen Platz fand für ihre gezierten Worte und geschnürten Gedanken.
So gingen die beiden am golden verglühenden Frühlingsabend im Schloßgarten auf und ab, und als sie im besten Zuge waren, erschien endlich auch der Freiherr, und Haydn deuchte ihm bald ein alter Bekannter, die Gräfin dagegen war ihm völlig neu; denn sie sprach heute ganz wie andere vernünftige Menschen, blickte und bewegte sich ohne alles tragische Pathos, wenn sie das Wetter und die Gegend pries, und, was das größte Wunder, der alte Haydn schien ein besonderes Gefallen an ihr zu haben, während der Freiherr befürchtet hatte, sie werde ihm das ganze Schloß Strüth verleiden. Infolgedessen gefiel sie denn auch ihm ganz besonders, und er fand ihr griechisches Profil heute griechischer als je zuvor.
Auch der Graf gesellte sich jetzt zu den dreien, und die kleine Gesellschaft ging zum Abendtische auf die Terrasse des Gartens.
Nach vornehmer Leute Art fragte Graf Thürmer den berühmten Tonsetzer kurz und scharf, welches Werk ihn eben beschäftige. Haydn erwiderte, er ruhe sich aus von der »Schöpfung«; das sei eine gar ernste Arbeit gewesen, weil Gott selber die Welt gemacht, aber auch eine gar heitere, weil er sie so schön gemacht habe. Als jedoch die anderen Genaueres von diesem eben vollendeten Werk wissen wollten, hielt er die Hand ans Ohr und sprach leise: »Hören Sie auf den köstlichen Gesang!« – Es zogen nämlich ein paar Bauernmädchen in der Ferne singend vom Felde heim, und dem Meister leuchtete die helle Freude über diese frische Musik aus den Augen, und als sie verklungen war, sagte er: »Ich glaube wohl auch eine oder die andere schöne Melodie erfunden zu haben; in England aber hörte ich einmal etliche Waisenknaben ein Kinderlied singen, da wurde ich ganz glücklich und traurig zugleich; denn eine so schöne Melodie hatte ich mit aller Kunst doch niemals gemacht, ja es schien mir die schönste, welche ich in meinem Leben gehört.«
Die Gräfin lauerte längst, das Wort zu erhalten, und ihr Bruder begann eben von seinen Geigen, darum pries sie, rasch einfallend, des Meisters bescheidenen Sinn und brachte dann in kühnem Übergang ihren vordurchdachten Satz über die irdische Unsterblichkeit und den umgekehrten Adelsbrief.
Haydn, dessen linkes Ohr solchergestalt auf die Geigen und dessen rechtes auf die Unsterblichkeit hören mußte, fiel den beiden miteinander gewandt in die Rede. – »Mit der irdischen Unsterblichkeit, gnädige Gräfin, ist es gerade wie mit den alten Geigen, verehrter Herr Graf. Man sagt, eine Geige altert nicht, sie wird mit den Jahren immer besser und ist unsterblich (wenn sie nicht verbrennt oder zerschlagen wird). Allein das ist nicht ganz richtig. Hundert Jahre lang wächst eine gute Geige und wird immer edler im Ton und hält sich wohl auch noch weitere fünfzig Jahre auf der Höhe; dann aber wird das Holz schwächer, der Ton trockener, es geht ans Nachbessern, man unterlegt, füttert und stärkt die Decke, und eine geschickte Hand vermag die unsterbliche Geige noch weitere fünfzig Jahre in der Fülle ihrer Klangkraft zu erhalten. Nun aber ist es auch aus und vorbei. Die gefütterte Geige nimmt noch fünfzig Jahre in Ehren ab; tritt sie dann ins dritte Jahrhundert, so ist sie eine merkwürdige alte Schachtel geworden. Nur weil unser Leben so viel kürzer ist als das Leben einer Geige, glauben wir, die Geige altere nicht. Und so sprechen wir auch von unseren unsterblichen Werken, nur weil wir selber so gar sterblich sind und ihre Dauer mit der viel kürzeren unserer eigenen Tage messen und es im glücklichsten Falle nicht mit ansehen müssen, wie sie eine Weile noch unterlegt und ausgefüttert werden, um endlich doch zu vertrocknen.«
Alle schwiegen eine Weile. Dann aber bemerkte der Graf, mit dem Ausfüttern könne man wohl auch länger als fünfzig Jahre aushelfen, wenn man nur ein Holz nehme, welches ebenso alt sei als die Geige selber. Er habe zur Erhaltung einer hundertundfünfzigjährigen Amati die Spitze seines Schloßturmes abbrechen lassen, denn die Balken des Turmdaches seien urkundlich auch gerade einhundertundfünfzig Jahre alt und von Wind und Sonne göttlich ausgetrocknet. – »Das ist nun ein wahrer Edelstein von einem Holze, dürr wie Stroh, außen ein wenig vom Wurme angenagt, gleichsam gestempelt, man riecht das edle Alter schon von weitem«, so schloß der Graf begeistert und bot dem gefeierten Gaste einen halben Balken von zwanzig Fuß zum Geschenke.
Haydn lehnte dankend ab, und der Freiherr pries im stillen den bescheidenen Mann, weil er lieber von dem Gesang der Bauernmädchen als von seiner »Schöpfung« gesprochen, die Gräfin, weil er das Lob der Unsterblichkeit so fein gewendet, und der Graf, weil er seinen unschätzbaren Balken nicht angenommen hatte.
Hierüber war es dunkel geworden, und man begab sich ins Musikzimmer zum Quartett. Zu Ehren des Gastes war eines seiner schönsten Werke aufgelegt. Das Allegro gelang über Erwarten; der Freiherr warf nur dreimal um, weil ihn der Gedanke verfolgte, daß Gräfin Helene heute viel liebenswürdiger sei als jemals in ihrem Leben. Haydn hörte mit bewundernswürdiger Geduld; er zählte nicht zu jenen Tonsetzern, welche gleich Krämpfe kriegen, wenn ihre Noten nicht genau so vorgetragen werden, wie sie sich dieselben im Geiste gesungen haben, und lobte den Eifer der Spieler, sagte ihnen aber auch deutsch heraus, wo gefehlt oder der Sinn vergriffen worden war.
Dadurch wuchs ihnen Lust und Mut, und das Adagio gelang noch viel besser; der Freiherr kam nur einmal aus dem Takte und versuchte dann an vier verkehrten Stellen wieder einzusetzen, schreckte aber nach den ersten falschen Noten immer wieder zurück, wodurch eine etwas befremdend dramatische Bewegung in den Gang der Harmonie kam. Doch das tat nichts; das Adagio war nicht umzubringen, und alle wurden gepackt von der tiefen und reinen Empfindung der wie in überirdischen Klängen dahinschwebenden Weisen.
Die Gräfin fragte den Meister, ob er sich nicht etwas ganz Besonderes gedacht habe bei der hohen und doch so süßen Lyrik dieses Satzes.
Haydn erwiderte, er denke sich freilich etwas Besonderes bei jedem seiner Tonstücke, mute aber keinem Menschen zu, das Gleiche wieder zu denken, sondern sei zufrieden, wenn die Hörer nur empfänden, was er empfunden habe. Und so vergesse er denn auch oft wieder, welche besondere Gedankenkette ihn zu einem Musiksatze geführt. Vorhin freilich sei es ihm fast gewesen, als klänge das in Liebe beseligende Walten einer edeln Frauengestalt aus den Tönen jenes Adagios, das er vor zwanzig Jahren gedichtet, heute wieder an sein altes Herz. Irre er sich dabei, so sei die holde Gegenwart der Gräfin wohl gar schuld, daß er nun meine, er müsse durch dieses besondere Gedankenbild damals zu dem Adagio gekommen sein.
Der Freiherr staunte bei diesen Worten, der Graf war befriedigt, die Gräfin entzückt. Und so wuchs die Freude der glücklichen Menschen, und man geigte ein Quartett ums andere und trank ein Glas edeln Weines ums andere, und obgleich sich Haydn anfangs geweigert hatte, auch einmal zur Geige zu greifen, so konnte er doch nicht widerstehen, als ihm die Gräfin selbst das Instrument gar anmutig darreichte, und spielte in einem Menuett die zweite Stimme, und der Freiherr wußte gar nicht, wie er's der schönen Helene danken solle.
Zum Schlusse aber brachten die beiden Männer noch eine Streitfrage in Quartettsachen vor den Richterstuhl des Vaters des deutschen Quartetts. Der Freiherr hatte, wann an den gewöhnlichen Montagen auf Schloß Strüth gespielt wurde, allezeit nur einen firnen Rheinwein auftragen lassen, denn er behauptete, die Kunst sei Erbauung; der Graf dagegen, welcher nicht bloß in seinen Geigen ein Feinschmecker war, bewirtete Donnerstags auf Neuhaus mit Champagner; denn er behauptete, die Kunst sei Genuß. Haydn sollte nun bestimmen, welcher Wein für ein rechtes Musterquartett passe.
Er sprach nach kurzem Besinnen, man müsse hier scharf unterscheiden. Beim Quartett tauge der Champagner nicht, sondern der firne Rheinwein; denn die Kunst sei Erbauung: – nach dem Quartett aber habe auch ein Glas Champagner sein Recht; denn in der Kunst werde die Erbauung selber zum Genuß.
Und nachdem dieser menschenfreundliche Schiedsrichterspruch für Strüth und Neuhaus feierlich und mit allgemeinem Beifall angenommen worden war, geleitete der glückselige Wirt seine Gäste zur wohlverdienten Ruhe.
Am folgenden Morgen schrieb Gräfin Helene unter anderem in ihr Tagebuch: Haydn auch in der Konversation ein Meister der Kunst, zwei scheinbar fremdartige Themen kontrapunktisch zu verbinden: Erschaffung der Welt und singende Bauernmädchen; Unsterblichkeit und alte Geigen, Rheinwein und Erbauung, Champagner und Genuß; Adagio in A-Dur und – –« hier folgten drei verschämte Gedankenstriche.
Der Freiherr fand im Laufe des Tages zufällig dieses Blatt, und die Gedankenstriche machten ihm viele Gedanken. Er fühlte sich getroffen von der Wahrheit des Satzes: Haydn ein Meister der Kunst, zwei scheinbar fremdartige Themen kontrapunktisch zu verbinden, – freilich in ganz besonderem Sinne; denn es kam ihm vor, als seien er und Helene diese beiden fremdartigen Themen, welche der alte Hexenmeister ganz unter der Hand gleichfalls kontrapunktisch verbinde: so völlig verändert und so unvergleichlich liebenswürdiger erschien ihm Helene seit Haydns Ankunft.
Nur zu rasch verschwanden die Festtage, welche durch Haydns Besuch wie mit goldenen Lettern in die Chronik des musikalischen Schlosses eingezeichnet wurden. Der Freiherr und die Gräfin fanden sich aber auch nachher je in besonderer Weise angeregt von dem freundlichen Wesen des schlichten Mannes.
Helene hatte viel gelernt, nicht für die Musik, sondern fürs Leben. Sie hatte sich einen großen Künstler ganz anders gedacht: hoch hinaus, siegesbewußt, voll der eigenen Weisheit, lobbedürftig und schwer zu befriedigen, so etwa ein männliches Seitenstück ihrer eigenen Art. Statt dessen fand sie einen gemütlichen Alten, der sich nicht besser dünkte als andere Leute, ja, der sich's gar niemals merken ließ, daß er eigentlich ein berühmter Mann sei. Mit echt weiblichem Scharfblick erkannte sie sofort das Reizende dieses anspruchslosen Wesens, und mit echt weiblicher Geschmeidigkeit ging sie nachahmend alsbald selber darauf ein. Sie sah, wie sehr dies Haydn und dem Freiherrn gefiel, und so gefiel auch sie sich denn in der natürlichen Rolle und spielte sie so fein, daß Kunst und Natur dem schärfsten Auge nicht mehr zu unterscheiden waren.
Der Freiherr hatte diesmal von Haydn nichts gelernt, weder als Mensch noch als Bratschist, und so innig er sich an ihm erfreute, war doch seine Schwärmerei zu unmittelbar, als daß er gerade jetzt besonders scharf über des merkwürdigen Mannes Worte und Wesen nachgedacht hätte.
Die Gäste reisten ab; es ward leer und still im Schlosse. Der Schloßherr empfand diese Stille zum erstenmal in seinem Leben unbehaglich. Aber seltsamerweise vermißte er den alten Haydn weniger als die Gräfin. Sie mußte doch nicht so gar unausstehlich sein, denn sie hatte ja Haydn, dem gewiegten Kenner, schier besser gefallen als die ganze übrige Gesellschaft; sie allein hatte ihn vermocht, das Menuett mitzugeigen, ja, beim Adagio in A sprach er gar von einem Vorschauen ihres Bildes – Helene und ein Haydnsches Adagio! – es mußte doch Poesie auf diesem Bilde ruhen.
Und während der Freiherr solchen Gedanken nachhing, wurde es ihm bald kalt, bald warm, als schleiche ein leises Fieber durch seine Seele.
Einen Augenblick sprach er recht kühl und vernünftig: »Helene dünkt mir jetzt so schön, weil sie mich an so schöne Tage erinnert. Ich bin verliebt in den Traum dieser Tage, soll ich mich darum in Helene verlieben? Sie gefällt mir, weil sie Haydn gefallen hat: liebt man jeweils ein Mädchen, weil sie einem anderen gefällt? Sie ist mir ein Sinnbild der verklungenen Musikherrlichkeit: soll ich wohl gar ein Sinnbild heiraten?«
Dann aber besann er sich, es ward ihm heiß, und er meinte, die Sache habe doch ein anderes Gesicht: Helenens treue Neigung hatte sich seit Jahren ausgesprochen in ihrer Quartetttreue; sie hatte ihren Geschmack dem seinigen geopfert; sie hatte sich veredelt durch seine Musik, sie war in die Quartettschule gegangen. Er hatte ihre Koketterie hinweggegeigt, und dies war allerdings in jenen schönen Tagen zum erstenmal klargeworden, wo Haydn ihr die Meisterschaft wahrer Anmut bezeugte, indem er ihr Spiegelbild aus dem Adagio in A-Dur hervorstrahlen sah.
Und dann blickte der Freiherr weiter in die Zukunft. Sollte er für alle Zeit so einsam, familienlos auf seinem alten Schlosse sitzen bleiben? Sollte er sich nicht auch einen Stammhalter wünschen, nicht sowohl seines Hauses und Wappens – die Kunst hatte ihn über Standesvorurteile erhoben – als einen Stammhalter seines Quartetts? Sollten seine Notenschätze nach seinem Tode zerstreut, sollte auf Schloß Strüth nicht mehr gegeigt werden, wann einmal der Fiedelbogen seiner Hand entsunken war? Er stand im besten Mannesalter – vierzig Jahre – und bei der Gemütsruhe, welche ein regelmäßiges Hausquartett verleiht, hoffte er wohl über siebzig alt zu werden. Und in dreißig Jahren konnte er es nicht bloß zu einem quartettspielenden Sohne bringen, sondern zu einem ganzen Quartett von Söhnen. Dann mochte er seine letzten Tage in Frieden genießen und ruhig zuhören, wie die Kinder geigten.
Er drehte sich solchergestalt im fortlaufenden Zirkel zwischen Quartett und Helene, so daß er zuletzt beides gar nicht mehr voneinander trennen konnte, und obgleich es ihm von dieser steten Kreisbewegung fast schwindelte, ließ er sich doch gegen niemand etwas merken. Nur fiel es den Quartettgenossen auf, daß das Bild Eratos nicht mehr während des Spielens verhängt war, und daß der Freiherr auch nicht mehr zwanzig Takte statt zehn zählte, wenn er etwa beim Pausieren unversehens auf das Bild geblickt.
Plötzlich gab ein großes Ereignis den Ausschlag für Gräfin Helene, das war die Schlacht von Novi, in welcher Suwarow als Oberfeldherr des österreichisch-russischen Heeres die Franzosen niederwarf, am 15. August 1799. Schon im Juni und Juli waren kleinere Siegesbotschaften aus Italien gekommen und hatten das patriotische Herz des Freiherrn höher schlagen lassen. Während er's bei der Kunde des Rastatter Gesandtenmordes fast für sündlich hielt, in so greuelvoll schwerer Zeit einem heiteren Künstlerstilleben sich hinzugeben, ward es ihm jetzt so frei und hoch zumute, daß er niemals reiner sein Quartett genoß, als in diesem Lenz und Sommer, welche Kunst, Liebe, Natur und Politik im gleichen goldenen Sonnenschein erglänzen ließen.
Wären die Österreicher geschlagen worden, so hätte er sich als ehemaliger Offizier wieder zum Heere gemeldet; da aber das revolutionäre Frankreich gebrochen war und die gute, alte Zeit wiederzukommen schien, war es denn doch besser, Quartett zu spielen und sich zu verlieben nach gutem, altem Brauche.
Der entscheidende Sieg in Italien hatte den Freiherrn in diesem Sinne bereits seit mehreren Tagen still und tief bewegt, als am 1. September der Brief eines Freundes eintraf, welcher bei Novi mitgekämpft und Genaueres über die Schlacht meldete. Der Freiherr geriet in hellen Jubel der Begeisterung, sang und pfiff Quartettthemen und wurde von solch einem patriotisch-musikalischen Feuer ergriffen, daß er den Schluß des langen Briefes mit schwimmendem Auge und nur so obenhin aufs Ganze las, wie man am Klavier eine zwanzigstimmige Partitur zu lesen pflegt.
Dann ließ er satteln und sprengte zum Grafen nach Neuhaus; der Bediente mit einem schweren Pack Noten auf dem Mantelsack hinterdrein.
Dem Grafen eröffnete er sofort seine Kriegsneuigkeiten und gab ihm den langen Brief; der Gräfin hingegen überreichte er ein Notenheft aus dem großen Paket zum Geschenke und sprach: »Dies sind drei Klaviersonaten von einem jungen Manne namens Beethoven: – eine tiefbewegte, seltsam aufregende Musik, hier und da etwas geschwollen und geschraubt, etwas eigensinnig und für den Spieler schwer zu behandeln, und dennoch voll bezaubernder Schönheit. Wenn der junge Mann erst einmal reif geworden ist für den Quartettsatz und seine Launen im strengen Anschluß an Mozarts und Haydns Schreibart abgeschliffen hat, dann kann etwas Ausgezeichnetes aus ihm werden.«
Der Freiherr dachte aber bei diesen Worten zugleich und fast mehr noch an die Gräfin, welche auch für den Spieler so schwer zu behandeln war, jedoch Hoffnung gab, daß sie in der strengen Mozart-Haydnschen Quartettschule ihre Launen immer mehr abschleifen werde. Und indem er über die leidenschaftliche Empfindung der drei Sonaten sprach, kam er unvermerkt auf seine und der Gräfin leidenschaftliche Empfindung, und als er die Kritik der Sonaten (Opus 2) zu Ende gebracht, hatte er zugleich der Gräfin seine Hand angetragen.
Gräfin Helene aber hatte diese Hand schon so lange erwartet, daß sie, nicht aus Überraschung, sondern vielmehr wegen völligen Mangels an Überraschung, gar nicht wußte, wie sie antworten solle. Allein als sie so verlegen in wirklich bezaubernder Schönheit dastand, gab ihr der Freiherr die Hand und umarmte und küßte sie, und wie sie dies alles geschehen ließ und erwiderte, das war auch eine Antwort.
Der Graf hatte in einer Fensternische den Brief gelesen. Er trat im selben Augenblicke hervor, als jene beiden die zärtliche Gruppe bildeten, und las laut: »Unter den Gefallenen beklagen wir leider auch den Rittmeister von ––; der Name ist so undeutlich geschrieben, wie liesest du ihn? – Gnetenheim oder Grebenheim?«
»Gretenstein?« rief der Freiherr, ließ Helenens Hand fahren und griff nach dem Briefe. – »Gretenstein! – den Satz habe ich ganz übersehen; – Gretenstein, das ist der Gemahl Babettens!«
»Allein was habt denn ihr beide miteinander?« fragte der Graf, welcher nun erst ahnte, was vorgegangen. Sein Freund aber war so betroffen von jenem Satz im Briefe, daß er nicht zu antworten vermochte, und Helene, welche vorhin die Sprache nicht gefunden hatte, Ja zu sagen, mußte jetzt erzählen, daß sie Ja gesagt, weil der Freund nun hiefür die Sprache nicht fand. Doch kam er nach wenigen Minuten wieder zu sich selbst und zu Helenen zurück, und sie konnten sich alle drei erklären und aussprechen, sich freuen und beraten, hoffen und Pläne spinnen, und was man sonst bei Verlobungen zu tun pflegt.
Als der Bräutigam spät abends wieder nach Hause ritt, wußte er kaum, wohin er sein Pferd lenkte. Er fürchtete sich entsetzlich vor seinen eigenen Gedanken, die ihm grundschlecht vorkamen, vor denen er sich hätte ins Grab verstecken mögen, und die ihn doch nicht verließen. Der Rittmeister, welcher vordem zur rechten Zeit niemals hatte fallen wollen, mußte jetzt gerade zur unrechtesten Zeit gefallen sein. Die Schlacht von Novi hatte ihn – den Freiherrn – zum Bräutigam gemacht, und in dem Augenblick, da er eben Bräutigam geworden, erfährt er, daß durch dieselbe Schlacht von Novi seine frühere, nie ganz vergessene Braut Witwe geworden war. Im Jubel über den Brief aus Novi war er nach Neuhaus geritten, und doch wäre er vielleicht zu Hause geblieben, wenn er den Brief nicht gar zu musikalisch begeistert gelesen hätte, sondern Wort für Wort, wie man Briefe lesen soll, und nicht bloß ins Ganze, wie man eine zwanzigstimmige Partitur am Klaviere liest.
Zum erstenmal in seinem Leben räsonierte er über die Musik, tat aber sogleich wieder bei sich selber Abbitte, denn er wußte kaum, was freventlicher sei, daß er jetzt noch und wieder an Erato denke, oder daß er die Musik anklage, als habe sie ihm Helene für Erato untergeschoben.
Im Spätherbst war die Hochzeit auf Neuhaus – natürlich reich mit Musik geschmückt. In der Kirche sang der Schulmeister: »O Isis und Osiris, schenket der Weisheit Geist dem neuen Paar«, mit Orgelbegleitung und etwas verchristlichtem Texte. Vor den Fenstern des Schlosses stimmten Bauernmädchen das Lied an, welches Haydn so wohl gefallen. Außerdem aber hatte der Graf ein kleines Orchester zusammengebracht, das während der Tafel jene überaus frische und heitere D-Dur-Symphonie Mozarts spielte, die derselbe 1778 für das Fronleichnamskonzert in Paris geschrieben, obgleich sie eher an Figaros Hochzeit als an den Fronleichnam erinnert. Das Allegro begann bei den »Backhändeln«, und das Finale schloß beim Pudding, und ungeachtet die Tischgesellschaft während des so überaus zarten Adagios gerade einen überaus zarten Rehbraten verarbeitete, genoß sie doch die Musik nicht minder als den Braten. Man bot damals die höchsten Gaben der Tonkunst noch anspruchslos dar und nahm sie harmlos hin, wo und wie man sie fand, und glaubte noch nicht, daß eine gute Musik besser und eine schlechte gut werde, wenn man recht viel Umstände damit mache. Zum Schlusse hätte der Freiherr noch gerne ein kleines Quartett gespielt; der Graf aber widerriet das dringend und behauptete, für ihn sei heute der vierstimmige Satz durchaus ungeeignet und nur der zweistimmige zulässig.
Nach der Hochzeit kam gar vieles anders, als es der Freiherr erwartet hatte. Dem sonnigen Sommer folgte ein kalter, stürmischer Winter.
In jenen Septembertagen, da unser Held im Siegesjubel zur Verlobung ritt und eine goldene Zeit allgemeinen Welt- und Quartettfriedens nahe wähnte, schwamm Bonaparte bereits auf dem Meere zwischen Ägypten und Frankreich, und als der Freiherr eben recht weltvergessen in den Flitterwochen schwärmen wollte, erschreckte ihn die Nachricht vom Staatsstreiche des 18. Brumaire und der neuen Konsularherrschaft des gefürchteten Sohnes und Erben der Revolution. Des Freiherrn gründlicher deutscher Sinn ließ ihn über das kommende Geschick seines Landes und Volkes ebenso nachhaltig grübeln, wie über die Durchführung eines Quartettsatzes. Und er hätte so sehnlich gewünscht, daß die Deutschen in der Politik auch einmal Meister wurden, wie in der Kammermusik. Es sah aber zur Zeit noch gar nicht darnach aus.
Ganz anders dachte der Graf in derlei Dingen. Er fand es äußerst ergötzlich, daß in Paris schon wieder ein neuer Bühnenakt beginne, und daß man gar nicht mehr ins Theater zu gehen brauche, und dennoch in dem bunten Szenenwechsel von Revolutionen und Schlachten, von Thronensturz und Staatenaufbau die spannendsten Tragödien fortwährend umsonst zu sehen bekomme. Der Freiherr sagte: »Er betrachtet auch die Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkte des Öllackes; der größte Ideenkampf fesselt ihn als Neuigkeit; Quartette schreibt man um der Geigen willen, und die Völker erwürgen sich, damit dem Grafen Thürmer auf Schloß Neuhaus die Zeit nicht lang werde. Je näher wir beide uns treten, um so ferner rücken wir einander.«
Das galt von Helenens Bruder, aber zum Glück nicht von Helenen. Sie schwärmte für alles Große, wenn auch meist übertrieben und manchmal verkehrt, und begriff und teilte ihres Mannes patriotischen Sinn und sein politisches wie sein musikalisches Lieben und Hassen.
Trotzdem fühlte sich dieser oft recht gedrückt in seiner jungen Ehe. Helene wollte ihm das Leben gar zu schön machen und übersah, daß eine liebenswürdige Genügsamkeit bisher der eigenste Schmuck dieses Lebens gewesen war. Sie wollte glänzen mit ihrem Manne und durch ihren Mann, aber dieser Mann war unglücklich, daß er nun auf einmal glänzen sollte. Sie diente, um zu herrschen. Der Freiherr seufzte: »Als Haydn zu Besuche kam, entdeckte sie staunend, daß ein Genie auch bescheiden sein könne, und sie ward bescheiden, weil sie ein Genie sein will. Jetzt bricht ihre anspruchsvolle Natur wieder hervor. Ich möchte Haydn auf ein ganzes Jahr zu Gaste bitten. Allein das würde doch nichts helfen, binnen Monatsfrist wäre ihr der bescheidene Mann langweilig, und um des bloßen Gegensatzes willen würde sie dann ganz hoffärtig werden.«
Statt des einfachen Quartettes schlug Helene ein Orchester vor, auch hätte sie gerne kleine Opern auf Schloß Strüth aufgeführt und hatte einen fertigen Plan, wie das Musikzimmer zu einem Theater auszubauen sei. Dem Manne schauderte vor diesem Plan, und er blickte schwermutsvoll nach dem Bilde der unmusikalischen Muse Erato. – Helene, so dachte er still für sich, hat keinen Sinn für die Größe im Kleinen. Sie überbraust das Allegro und überempfindet das Adagio, das läßt sich hören; allein ihr mangelt jedes Verständnis fürs Andante. Und das ist ein großer Mangel; denn das Andante ist das wahre Tempo der Ehe. Zart, bescheiden, mäßig bewegt schwebt es einher, gemütvoll beruhigend und erquickend wie die echte Weiblichkeit.
In der Tat, je mehr sich Helene in ihrer neuen Würde fühlte und des endlich errungenen Sieges genoß, um so weniger fand und verstand sie das Andante.
So verging der Winter; in der Silvesternacht 1799 geigte man sich auf Schloß Strüth heiter und bewegt ins neue Jahrhundert hinüber, und als nun der Frühling kam und die gute Bauzeit, drang Helene immer bestimmter in ihren Gemahl, daß er das Musikzimmer erweitern möge zu einem Orchester»und Theatersaal. Und da er eben im Begriffe stand, auf ein paar Wochen nach Wien zu gehen, so könnte er dort ja gleich mit einem Baumeister Rücksprache nehmen.
Der Freiherr sagte: »Wir wollen den Saal bauen; aber ich fordere einen Preis von dir, den du vorauszahlen, eine Vorbedingung, welche du erfüllen mußt.«–Und bei diesen Worten übergab er der Frau eine große Mappe und fuhr fort: »Diese Mappe nenne ich ein Schmuckkästchen; denn sie birgt allerlei kleine versteckte und verstaubte musikalische Schmuck- und Schaustücke, allein es erfordert ein geübtes Auge, deren Wert zu erkennen. Versuch' es mir zuliebe, ob du die hier eingeschlossenen Noten mit rechter Empfindung spielen kannst, dir und mir zum Genügen. Gelingt es dir, so gehen wir ungesäumt an den Saalbau.«
Helene ging mit Freuden auf die Grille ihres Gemahls ein und öffnete nach seiner Abreise augenblicklich die geheimnisvolle Mappe. Eine Menge schlecht geschriebener Notenblätter mit vielen Korrekturen und Tintenflecken, vergilbt und abgegriffen, lag darin, die sahen gar nicht aus wie Prunk- und Schaustücke. So gar gefährlich schien diese Musik gerade nicht, wohl aber etwas langweilig. Es waren kleine Andantes, Menuette und Rondos aus Streichmusiksätzen vom älteren Stamitz, von Kamerloher, Gaßmann, Cannabich, Holzbauer, Wagenseil und anderen halb verschollenen Komponisten, ziemlich ungeschickt fürs Klavier ausgezogen von der etwas kavaliermäßigen Notenhand ihres Mannes.
Die arme Helene plagte sich grausam, diesen trockenen, altmodischen Stücklein einigen Geschmack abzugewinnen. Die Musik war an sich zwar einfach; dennoch konnte sie vieles kaum lesen, so verworren war die Schrift, und kaum spielen, so holperig war der freiherrliche Klaviersatz, und wo sie etliche Takte bequem las und spielte, da empfand sie nichts und berührte nur mit den Fingern, nicht mit der Seele, die Tasten. Der Saalbau schien sich doch in einige Ferne zu schieben.
Dazu kamen äußere Störungen, welche ihr vollends alle Ruhe raubten für diesen verzweifelten Gaßmann, Kamerloher und Genossen. Große Truppenmassen zogen an Schloß Strüth vorüber, die Einquartierungen drängten sich; bei dem Trommelschall, welcher den wirklichen Kampf, nicht der Parade galt, erzitterte auch das friedlichste Gemüt in kriegerischer Aufregung. Und Helene war nicht einmal ein friedliches Gemüt. Sie hätte lieber sich selbst gleich aufs Roß schwingen und mitreiten mögen, und sollte statt dessen den Geist des Andantes aus verblichenen Noten über sich kommen lassen.
Zu einigem Troste sah sie indes aus den Briefen ihres Mannes, daß es ihm draußen auch nicht friedlicher zumute war. Er schrieb im Juni von Wien, seine nahe Rückkehr ankündend: »In meinem Leben darf auf Schloß Strüth keine Note von Pleyel mehr gegeigt werden. Dieser Pleyel, der von einem darbenden Musiker zu einem reichen Musikverleger herabgesunken ist, widmet seinen Gesamtabdruck der Haydnschen Quartette dem Konsul Bonaparte! Meine Wiener Freunde lachten mich aus, als ich dafür Acht und Bann innerhalb des Strüthschen Gebietes über Pleyel verhängte. Wie darf ein Deutscher diese gemütlichste deutsche Musik dem ungemütlichsten Feinde Deutschlands huldigend zu Füßen legen! Und ich sagte jenen, die da lachten: der Konsul Bonaparte wird uns noch alle Quartettlust vertreiben, zum Danke dafür, daß man ihm unseren reichsten Quartettschatz gewidmet hat. Man faßt das nicht! Früher glaubte auch ich ganze sturmvolle zehn Jahre lang, wir könnten im Reiche ruhig zusehen, wenn draußen die Völker sich zerkriegen, und könnten immer lustig Quartett dazu geigen. Aber seit mir der Rastatter Gesandtenmord einen der schönsten Quartettabende verdorben hat, denke ich anders. Die unterrichteten Leute werden hier nachgerade sehr bestürzt, es soll ganz schiefgehen in Italien. Gestern sprach man von einem großen Siege, den unsere Armee bei Marengo erfochten, und heute heißt es, der Sieg sei ein Schreibfehler gewesen und müsse in Niederlage verbessert werden. Bonaparte wirft alles vor sich nieder; es kommt eine neue Welt und kommt eine neue Musik. Haydn war der letzte Fürst des Friedens in unserer Kunst. Ich schicke einige neue Werke von Beethoven nach Schloß Strüth; sie sind verführerisch schön. Allein ich bitte, spiele sie nicht, bevor Du Dich in dem Schatzkästlein der gekritzelten Noten recht heimisch fühlst und der Saalbau gesichert ist. Beethoven beunruhigt mich wie Bonaparte.«
Bald nachher kehrte der Freiherr zurück. Obgleich gerade vierzig Husaren auf dem Schlosse in Quartier lagen und wenig musikalischen Frieden aufkommen ließen, fragte er doch bald nach den alten Noten.
Helene berichtete klagend, wie sehr sie sich geplagt und doch nichts Rechtes herausgebracht habe, es sei aber auch gar zu harte Arbeit. Da sprach ihr Gemahl, wehmütig lächelnd: »Mir sind diese alten Melodien ein wahrer Seelengenuß. Sieh, das war die Musik, an welcher ich mit fünfzehn Jahren zuerst musikalisch denken und empfinden lernte. Der Geist meiner Jugend ruhet verzaubert in ihr. So dünkt es mir wenigstens. Oh, könntest auch du etwas von diesem Geiste heraushören! Wie ich die Mappe dir jetzt gebe, so gab ich sie vor Zeiten Erato. Aber sie wußte gar nichts anzufangen mit den alten Blättern. Ich schrieb mir damals diese Sätze aus den Stimmen fürs Klavier, damit ich sie wie rechte Jugendfreunde immer zur Hand haben könne. Ich glaube, meine Klavierbearbeitung ist recht schlecht, ich kann nur inwendige Musik machen. Und die Form der Originale selber ist oft steif, und die Gedanken sind nicht glänzend und reich, aber es ruht doch ein herzlicher Friede auf dieser Musik, der echte Geist des Andantes. Darum versuche immerhin noch einmal mir zuliebe, ob du nicht auch diesen Kinderfrieden herausspielen kannst.«
Tags darauf hörte der Freiherr von fernher, wie seine Frau sich insgeheim wieder an den alten Blättern übte. – »Sie strebt doch wenigstens nach dem Geist des Andantes,« dachte er, »und wenn mich mein inneres Ohr nicht trügt, so tut sie's doch mehr noch mir als dem Saalbau zuliebe.«
Um diese Zeit besuchte der Graf den Freiherrn. Er trat so Mimisch ins Zimmer, wie damals, als er die verbotene Guarneri mitgebracht, und rief, er komme, um Lebewohl zu sagen; er ziehe ins Feld. Jetzt, wo das ganze weite Land von großen Kriegstaten widerhalle, ertrage er's nicht länger, hinter den Geigen zu sitzen, der Soldat rege sich wieder in ihm, und wenn alle Welt sich schlage, dann müsse auch er mitschlagen.
Die beiden Edelleute hatten in jüngeren Jahren beim Heere gestanden; beide aber hatten damals rasch quittiert: der Graf, weil er für seinen Ehrgeiz zu langsam vorrückte, der Freiherr, weil das leere Garnisonsleben seinem idealen Sinne ein Greuel war.
Der Entschluß des Grafen berührte den Freiherrn tief. Mehrere Tage ging er nachdenklich umher; dann sagte er zu seiner Frau: »Dein Bruder liebt die Musik um der Geigen willen, und als uns Haydn besuchte, glaubte er dem Meister das höchste Lob zu geben, indem er gegen mich ausrief: Für einen bloßen Komponisten urteilt der Mann nicht schlecht über die Geigen. So geht dein Bruder denn auch in den Krieg um des Fechtens willen. Auch ich werde mich wieder als Freiwilliger melden, aber nicht, weil ich so besondere Lust zum Fechten hätte, sondern weil mein Kaiser in dieser Not eines jeden Armes bedarf.«
Er war darauf gefaßt, daß Helene ihn zurückzuhalten suche. Allein unter Tränen pries sie begeistert seinen Vorsatz und beklagte nur, daß sie nicht selber mitziehen könne. – »Ich bin die Frau eines Edelmannes«, sprach sie, »und darf nicht weinen, wenn du mit dem Schwerte ritterlich zu Pferde steigst.«
Der Freiherr blickte sie feierlich an und gerührt und liebevoll zugleich und dachte: die stolze Schwärmerin hat doch ein großes Herz. – Sie redeten viel und herzlich miteinander; sie hatten sich noch nie so nahe gestanden.
»Vergiß mir aber auch die alte Notenmappe nicht,« so schloß er endlich, »spiele die Stücklein fleißig mir zulieb – und auch wegen des Saalbaues. Es ist nur eine kleine Musik, aber der ehrliche deutsche Geist des Andantes ruht darin, und man kann sich auch im Andante hoch emporschwingen.«
Die Vorbereitungen zur Abreise wurden rasch getroffen. Das Vaterland bedurfte in der Tat jedes Armes, und die Gefahr rückte mit Gewitterschnelle immer näher. Die kurze Waffenruhe, welche auf die Schlachten des Juni und Juli gefolgt, war nur ein Aufatmen zu neuem Kampfe.
Helene ließ sich's nicht nehmen, dem scheidenden Gatten mit eigener Hand das mäßige Gepäck zu rüsten, und als sie unter geheimem Schauder auch ein Kästchen voll Verbandzeug ordnete, gab er ihr ein Notenheft und bat sie, dasselbe gleichfalls in dieses Kästchen zu legen. Es war ein handschriftliches Quartett von Beethoven, das erste von jenen sechsen, die im folgenden Jahre als des jungen Meisters achtzehntes Werk erscheinen sollten.
So begaben sich denn die beiden Schwäger gemeinsam zum Heere, welches gegen die obere Donau aufbrach.
Der Graf war gerade so ausgezeichnet als Soldat wie als Violinspieler: dieselbe glänzende kecke Bravour, welche er im Geigenbogen hatte, saß auch in seinem Degen. Ganz anders der Freiherr. Bei ihm ruhte alles so tief inwendig, daß er auch im Felde linkisch und unanstellig blieb und im Exerzitium anfangs kaum weniger umwarf als im Quartett. Er besaß jenen Mut, der bis zum äußersten kalt ausharrt, wann die Gefahr hereingebrochen ist, nicht aber jene herausfordernde Tapferkeit, welche die Gefahr aufsucht und mit ihr scherzt. Doch erkannten die Kameraden bald in ihm den festen, tüchtigen Mann und hatten ihn gerne trotz seinem wunderlichen Wesen.
Nun ging alles ganz gut bis zum 3. Dezember, dem heißen Schlachttage von Hohenlinden. Der Freiherr stand fern vom Schlachtfelde in Reserve zur Bedeckung einiger Vorratswagen am Saume der großen Tannenwälder, welche sich hier von den Hügeln zur Fläche herniederziehen und jeden Ausblick nach dem Kampfplatze verwehrten. Ja, man hörte sogar nur dumpf und in Pausen das schwere Geschütz- und Massenfeuer herübergrollen; denn ein heftiger Wind kam von der entgegengesetzten Seite und trieb schwarze Wolken herbei, die sich in den dicksten Schneewirbeln entluden.
Der Freiherr war abgestiegen und hinkte, todmüde von einem erschöpfenden Ritt und doch innerlich ruhelos, gedankenvoll unter den schützenden Bäumen auf und ab, seine Soldaten, die im tiefsten Schnee gelagert in etwas ausgiebigerer Weise rasteten, immer im Auge haltend. Endlich lehnte er sich wider eine alte Tanne, den Blick in die weite Ebene gewandt. Er dachte an Helene und das Andante und an den schweren Kampf da drüben und an das neue Quartett aus F von Beethoven beim Verbandzeug, und alle diese vier Dinge hatten zugleich etwas Erhebendes und dennoch Beklemmendes für ihn, daß sie sich seltsam zu einem Ganzen zusammenwoben. Und wenn zuzeiten ein kurzes Rottenfeuer rhythmisch durch den verschneiten Wald herüberhallte und dann ein paar kurze Kanonenschläge hintendrein, so war es ihm, als intoniere auch die Schlacht jenes Thema, mit welchem der erste Satz des Quartettes ganz tief im Einklang aller vier Instrumente anhebt. – »Was ist das doch für eine dämonische, friedlose Musik,« dachte er, »die man selbst aus dem Schlachtendonner kann widerklingen hören; der Geist des Andantes ruht nicht auf ihr. Kein Haydnsches Quartettthema würde auf dieses Rotten- und Geschützfeuer passen.«
Im selben Augenblicke aber schlug ihm ein anderes Feuer ans Ohr, so nahe, daß es ganz und gar aufhörte, musikalisch zu sein; Flintenkugeln pfiffen ihm um den Kopf, feindliches Fußvolk brach aus dem Walde, und feindliche Reiter sprengten im Felde hinter der Waldecke hervor; im Nu war er umringt, abgeschnitten, seine Leute niedergehauen oder zerstreut, die Wagen genommen. Er setzte sich verzweifelt zur Wehr, allein ein Hieb über den rechten Arm entwaffnete ihn: er mußte sich gefangen geben.
Zum Verluste der Schlacht von Hohenlinden hatte der Freiherr übrigens durch seinen Quartetteifer nicht beigetragen; denn sie war schon verloren, bevor er gefangen ward, und eben jene abgebrochenen Salven, aus welchen er das Beethovensche Thema herausgehört, bezeichneten bereits die vollendete Katastrophe, das letzte Ringen der in Moreaus Hinterhalt gefallenen Armee.
Helene hatte diesmal ein betrübtes Neujahr. Seit jenem 3. Dezember war sie ohne alle Nachricht von ihrem Manne. Sie wollte verzweifeln in der Qual der Ungewißheit. Wenn sie aber gar den Mut verlor, dann griff sie zu der Notenmappe, und es war seltsam, wie die Armut dieser alten, trockenen Musik ihr jetzt wohltat, und wie sie sich da aufs unmittelbarste berührt fühlte von dem im kleinen so tiefen und liebevollen Geiste ihres Mannes, dessen jugendliche Phantasie sich einst an den dürftigen, aber doch wahren, reinen und gesunden Weisen erquickt hatte, ja, wie sie in denselben den fernen, vielleicht schon verstorbenen Gatten erst recht verstehen lernte. Daß sie sich aber so schwer in die Empfindung dieser Musik hineinarbeitete, war ihr jetzt ein wohltuendes Geschäft, und die unlesbare Schrift zu entziffern und den unspielbaren Klaviersatz etwas zu verbessern, ein wahrer Genuß; tat sie's doch, wie er gebeten, ihm zulieb.
Endlich zu Ausgang Januars kam ein Brief ihres Gemahls. Das Blatt zeigte seinen Namen und war von ihm geschrieben, aber sie fand seine gewohnten Schriftzüge nicht: er hatte mit der linken Hand schreiben müssen. Der Brief meldete die Verwundung und Gefangenschaft. Die Wunde war geheilt, allein das rechte Handgelenk gelähmt für immer. – »Als Haydn«, so schloß der Freiherr, – mich in jenen herrlichen Maitagen Bratsche spielen hörte, rühmte er gar nichts an meinem Spiel, außer mein rechtes Handgelenk. Er meinte, die linke Hand, in welcher die Fertigkeit des Geigers sitzt, wolle mir noch nicht recht gehorchen, aber das rechte Handgelenk, welches den Bogen führt, das rechte Handgelenk, in welchem die Seele des Vortrags ruht, das – meinte Haydn – sei vortrefflich entwickelt. Doch mir ziemt es nicht, zu klagen über mein gelähmtes rechtes Handgelenk, wenn an demselben Tage die rechte Hand des Vaterlandes gelähmt und sein tapferes Heer vernichtet wurde.«
Im folgenden Monat brachte der Friede von Luneville dem gefangenen Freiherrn die Freiheit. Auf der Heimreise traf er in Wien mit seinem Schwager zusammen. Der Graf hatte sich bei Hohenlinden aufs tapferste hervorgetan; man weissagte ihm eine glänzende Soldatenlaufbahn. Er ließ den Freiherrn sein neues Geschick und Glück etwas fühlen, gerade so, wie er ihm weiland seine größere Virtuosität recht deutlich unter die Nase gegeigt hatte, und pries den ersten Konsul als den wahren Helden dieser Zeit, ja als einen Erlöser der Staaten und Völker.
Geblendet von der gewaltigen Person und dem märchenhaften Lebensgang Bonapartes, begannen ihn viele Deutsche selbst damals schon als einen Halbgott zu bewundern, und wen er von anderen gepriesen sah, den pries auch der Graf. Den Freiherrn schmerzte diese Umwandlung tiefer, als das gelähmte Handgelenk. Zwar mied er allen Streit, allein er beschloß auch, niemals mehr mit seinem Schwager Quartett zu geigen (wobei er vergaß, daß er ja selber gar nicht mehr geigen konnte) und den Grafen aus dem Musikzimmer auf Schloß Strüth zu verbannen wie den Ignaz Pleyel. Hätte er geahnt, daß Beethoven in Bälde gar eine Symphonie »Bonaparte« komponieren werde, er hätte auch ihn zu den beiden anderen gleich im voraus in den großen Bann getan!
Allein wenn ihn der Graf in der Politik jetzt ebensowenig mehr verstand als in der Musik, so verstand ihn des Grafen Schwester, seine Frau, doch immer besser in beiden Stücken. Als er ihr nach dem schmerzlich glückseligen Wiedersehen bald genug erzählte, daß ihr Bruder als reiner Soldat und Bewunderer alles Bewunderten nun gar ein ganzer Bonapartist geworden, da brach sie in helle Tränen aus, und als er sie trösten wollte, sagte sie: »Du hast bei Hohenlinden nur den Bogenstrich verloren, ich aber habe dort meinen Bruder verloren. Wäre er dort gleichfalls gefangen worden, so würde er sich jetzt nicht von Bonaparte haben fangen lassen, und er hätte nicht so gut gegen die Franzosen gefochten, so würde er jetzt nicht schwärmen für die Franzosen.«
Dieser Ausspruch gewann Helenen vollends ihres Mannes Herz, und er schalt sich im stillen einen Toren, daß er so lange noch nebenbei an Erato gedacht und es jemals bedauern konnte, daß er den Bericht von der Schlacht bei Novi so musikalisch gelesen habe.
Und da er nun also doch wieder auf seinen alten Satz zurückkam, daß uns eine gute Musik immer und überall gut führe, so faßte er sich denn auch rechten Mut und fragte nach der Notenmappe. Mit verklärtem Gesichte brachte sie Helene herbei, setzte sich ans Klavier und spielte ihm den Gaßmann samt seinen vergessenen Kameraden mit einer Wärme und Wahrheit des Vortrags, wie er es selber gar nie für möglich gehalten. Sie trug mehr hinein, als darin lag, und doch nichts fremdes, und das ist das höchste Geheimnis alles künstlerischen Spielens. Die Melodien mochten manchmal etwas hausbacken sein, sie wurden aber seelenvoll unter ihrer Hand; denn der Geist der Liebe, der geprüften, bekümmerten, getrösteten Liebe sprach jetzt aus ihnen, und den hatte Helene hineingehaucht und war doch im rechten Ton und Tempo des Andantes geblieben.
Der Gatte mit der lahmen Hand war noch ein klein wenig glücklicher als an dem Tage, wo Haydn auf dem Schlosse erschien, und damit ist die höchste Stufe irdischen Glückes bezeichnet. – »Gleich morgen«, rief er, »muß der Riß zum Saalbau entworfen werden!« – Helene aber beschwor ihn, nie mehr eine Silbe vom Saalbau zu reden. Sie besaß jetzt das vollste Verständnis fürs Andante.
Und so lebten und musizierten beide dann noch lange recht einträchtig miteinander. Auch ward bald wieder regelmäßig jeden Montag Quartett auf Schloß Strüth gespielt, natürlich ohne den Grafen, und da der Freiherr bloß zuhörte und inwendig Musik mitmachte, so soll es weit besser gegangen sein als je zuvor.
In der Tendenzmusik des Andantes hatte Helene ihre frühere Tendenzmusik der Koketterie überwunden und gesühnt, und der Freiherr erkannte nun gar wohl, daß ihre Liebe für ihn zuletzt auch seine Liebe geweckt, und daß Helene in dieser Liebe die Unnatur ihres Wesens begraben, ihn selber aber erst recht hellsehend gemacht habe für ihre versteckten und verkannten Vorzüge.
Andererseits aber meinte er, neben der Liebe dürfe man dabei der Musik doch auch ihr Verdienst nicht schmälern. Die echte Musik sei Selbst- und Weltvergessenheit. »Wir vergessen unser schlechtes Selbst in der Musik, um unser besseres Selbst erst recht in uns zu finden. – So hat auch Helene ihr gutes Selbst doch erst durch die Musik gefunden. Oder habe ich vielleicht über der guten Musik ihre Schwächen vergessen? Gleichviel! Und es mag unentschieden bleiben, ob sie den Geist des Andantes fürs Leben gewonnen hat, indem sie Gaßmann und Stamitz so liebevoll gehorsam studierte, oder ob durch den Geist des Andantes, der in den Prüfungen des Lebens über sie kam, umgekehrt erst das Verständnis für Gaßmann und Stamitz ihr zugewachsen ist.«
So sprach der Freiherr, wenn er für sich allein war, und sagte es nicht einmal seiner Frau. Laut dagegen sagte er oftmals und vielen Leuten: »Gute Musik – namentlich Streichquartett – ist ein Selbst- und Weltvergessen, in welchem wir uns selbst erst recht finden. Die wenigsten Menschen aber ahnen, wie solches Selbstvergessen zu so gar vielen Dingen und zu allen Zeiten nützlich ist, – ausgenommen, wenn man während einer Schlacht auf einem einsamen Reserveposten steht.«