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Man schrieb 1839. – Es war damals eine schöne Zeit, – die Ära der reisenden Virtuosen und musikalischen Wunderkinder.
Wer nur ein Solo geigen, blasen oder klimpern konnte, der reiste und gab Konzerte, in Paris oder in Straubing, in Petersburg oder in Buxtehude. Der Wein war jahrelang gut geraten und das Brot sehr billig; Virtuosenkonzerte trugen noch Geld ein, großes und kleines Geld, je nach dem Mann und dem Orte. Sie erregten noch volle, freie Bewunderung, gläubigen, fessellosen Enthusiasmus.
Das öffentliche Leben stürmte und brauste im Theater und im Konzertsaal, weil es anderswo nicht stürmen und brausen durfte. Reisende Künstler und Künstlerinnen waren öffentliche Charaktere, überall gegenwärtig, überall sichtbar und bekannt; die Nation wußte mehr von ihnen als von den Staatsmännern, die überall unsichtbar waren.
Die Oden und Sonette auf Paganini bildeten eine ganze Literatur, welche jedoch glücklicherweise nicht gesammelt erschienen ist. Allein Paganini hatte bereits Feierabend gemacht, und ob Ole Bull ihn ersetzen könne? – das war eine schwere Tagesfrage.
Daß begeisterte Jünglinge einer Sängerin vom reinsten Triller die Pferde ausspannten, um den Wagen selber zu ziehen, galt in den Tagen der Malibran für etwas Gewöhnliches, und ein Pantoffel, den die Sontag in Frankfurt im Schwanen zurückgelassen hatte, wurde von einem Engländer mit zehn Louisdors bezahlt, obgleich die Kritik nachwies, daß es der Pantoffel ihres Kammermädchens gewesen sei.
Doch die Malibran schlummerte 1839 bereits auf dem Friedhofe zu Laeken, Henriette Sontag war als Gräfin Rossi verstummt und Jenny Lind noch nicht für Europa, für die Welt entdeckt. Es herrschte eine Art Interregnum der großen Sängerinnen; die Virtuosen der Geige und des Klaviers behaupteten um so siegreicher allgewaltig das Feld.
Als der junge Liszt sein zweites Konzert in Wien gab, standen die Zuhörer nicht bloß im Hausgang und auf der Treppe, sondern auch auf Leitern, die ein erfindungsreicher Unternehmer an die Saalfenster gelehnt hatte; die oberste Sprosse kostete fünf Gulden, und der glückliche Inhaber dieses Platzes war noch in keiner Unfallversicherung eingekauft. Vornehme Damen tauchten ihr Taschentuch in das Glas Wasser, aus welchem der Künstler getrunken hatte – es war damals eine schöne Zeit, – die Ära der reisenden Virtuosen und musikalischen Wunderkinder !
Unter so vielen glücklichen, erfolggekrönten Künstlern gab es natürlich auch einige unglückliche, die keinen Erfolg hatten.
Ich will von solch einem Unglückskinde erzählen.
Im Winter neununddreißig auf vierzig war Ludolf Hilmer, Pianist aus Heidelberg, nach Wien gekommen, um von hier aus die europäische große Route eines Virtuosen zu beginnen. Hatte er in Wien durchgeschlagen, ging ihm ein glänzender Ruf von der Musikhauptstadt an der Donau voraus, dann machte sich ja alles weitere von selber.
Er kündigte demgemäß drei Konzerte an.
Wer war Herr Ludolf Hilmer? Kein Mensch wußte es. Durch die Presse war ihm kein Ruf vorausgegangen. Er selbst schien gar nicht zu wissen, daß es auch Zeitungen in Wien gebe, und die Zeitungen wußten nicht, daß es einen Hilmer in der Welt gab. Empfehlungsbriefe hatte er zwar eine ganze Tasche voll mitgebracht an berühmte Männer und große Häuser, aber keinen einzigen an seine Adresse überreicht. Denn bei näherer Erwägung schien es ihm doch ein recht übler Brauch, Menschen, die uns nicht kennen, und die wir nicht kennen, mit Besuchen zu belästigen.
Wenn es je einen jungen Mann von deutschester Bescheidenheit gegeben hat, dann war dies Ludolf Hilmer. Seine Bescheidenheit war so groß, daß man sie ausgesuchtesten Stolz hätte nennen können. Er wollte entweder alles durch sich selber sein oder gar nichts.
Das erste Konzert war am 12. November; es hatten sich zwanzig Zuhörer eingestellt, die auf dreihundert Stühlen sehr bequem Platz fanden. Fünfzehn von den zwanzig waren im Besitze eines Freibilletts.
Der Musikalienhändler, welcher das »Geschäftliche« des Konzertes besorgte, wollte ursprünglich hundert Freikarten ausgeben und Hilmer gar keine. Mit großem Widerstreben hatte er sich endlich zu den fünfzehn bewegen lassen. Er dachte: man muß nicht aufdringlich sein, und ein geschenktes Gut wird überall weniger geschätzt als ein erworbenes.
Die Bruttoeinnahme des Konzertes belief sich auf fünf, die Nettoausgabe auf hundertfünfzig Gulden, was keine glänzende Bilanz zu nennen ist. Allein Herr Hilmer war nach damaligen Begriffen ein reicher Mann; er verfügte über eine jährliche Kapitalrente von siebentausend Gulden und konnte sich also die Ausgabe von ein paar hundert Gulden wohl erlauben, um den ersten Grundstein seines europäischen Rufes zu legen.
Und hierzu wäre das Konzert auch ganz geeignet gewesen, wenn es nur mehr Leute gehört hätten. Der Künstler spielte meisterhaft, bewundernswürdig, das »Publikum« folgte anfangs mit Staunen, dann mit heller Begeisterung; sämtliche Zuhörer klatschten stürmischen Beifall, und die beiden Zuhörerinnen, eine ältere und eine junge Dame, lächelten Teilnahme; denn Damen pflegten damals noch nicht zu klatschen. Als der Künstler geendet hatte und, seelenvergnügt über seinen Erfolg, den Saal verlassen wollte, trat ihm ein altes Männchen in den Weg und sagte, ihm vertraulich auf die Schulter klopfend: »Die Musikstücke, welche Sie spielten, sind nicht ganz nach meinem Geschmack, und Ihr Vortrag ist mir zu ungestüm. Dennoch hat mich selten ein Cembalist so tief ergriffen wie Sie, junger Mann! Und ich habe Mozart und Beethoven hier gehört und Clementi und Weber, alle, alle! bis zu Liszt und Thalberg, – und habe vor Zeiten selber ein wenig mitgespielt.«
Hilmer maß ihn ganz verblüfft und bat um seinen Namen.
»Sie werden ihn kaum kennen. Ich bin der pensionierte Hofkapellmeister Gyrowetz.«
»Adalbert Gyrowetz!« rief Hilmer und drückte ihm erzitternd die Hand, – »der Komponist der Agnes Sorel, des Augenarztes, der Schöpfer so vieler anmutiger Symphonien und Quartette –«
Der Alte unterbrach ihn lächelnd. »Ich habe siebzig Quartette geschrieben, die man nicht mehr spielt, und dreißig Symphonien, die niemand mehr hören mag; – davon wollen wir nicht reden. Die Jugend geht auf anderen Wegen als wir Alten; aber die Kunst ist weit wie die Welt, es haben da viele Wege nebeneinander Platz. Schreiten Sie mutig fort auf Ihrer erwählten Bahn: Sie werden es zu was Rechtem bringen!«
Bei diesen Worten entschlüpfte der Alte, obgleich ihn Hilmer noch festhalten wollte.
Er sah sich um und fand sich schon allein im Saale; – wie geschwind hatte sich derselbe geleert! Und doch war es dem Künstler jetzt, als habe er vor der größten und glänzendsten Hörerschaft gespielt, weil ihn Gyrowetz so aufrichtig gelobt hatte. Seltsam! Hätte ihm jemand vor einer Stunde von Adalbert Gyrowetz gesprochen, den er längst tot und begraben glaubte, so würde er die Achseln gezuckt haben über den alten Zopf, und jetzt fühlte er sich hoch gehoben von dem Lobe, welches ihm dieser selbe Mann gespendet, der einst von Mozart in das Kunstleben Wiens eingeführt worden war und hier die ganze große Periode unserer klassischen Tonkunst miterlebt und überlebt hatte!
Doch es war Zeit, den Saal zu verlassen. Hilmer schritt stolz durchs Vorzimmer. Da vernahm er, wie sich zwei seiner Zuhörer über ihn unterhielten, während sie ihre Garderobe ordneten. Er drückte sich in eine Fensternische, sah in die dunkle Nacht hinaus und lauschte ihrem Gespräch.
»Dieser Hilmer soll schon achtundzwanzig Jahre alt sein,« bemerkte der eine, »schade, daß er nicht fünfzehn Jahre alt ist oder zehn, dann wäre er ein Wunderkind und seine Leistung phänomenal.«
»Man erzählt, er sei ein Wunderkind gewesen, aber ein unbekanntes«, fiel der andere ein. »Mit fünf Jahren spielte er bereits den ganzen Schlittenwalzer; allein sein Vater unterdrückte das aufkeimende Genie und zwang ihn, Jurisprudenz zu studieren. Und der arme Mensch las im Corpus juris, während ihm lauter Musiknoten vor den Augen tanzten, er schrieb Pandektenhefte mit Musik im Herzen, machte sein Examen mit Musik im Kopfe und bestand es ganz gut zu seinem eigenen Staunen und Bedauern. Doch als dann der tyrannische Alte gestorben war, warf er die Fesseln von sich, und so erhebt er sich erst jetzt zum freien Fluge des Genius!«
»Wie schade, daß Herr Hilmer seine Lebensgeschichte nicht vorher in der Zeitung hat drucken lassen!« bemerkte ein Dritter. »Ein Märtyrer, der seinen Kerker gesprengt! Hätte man dies im voraus gewußt, so würden fünfzig Billette mehr genommen worden sein.«
»Leider sieht der junge Mann nur gar zu rotbackig aus für einen Märtyrer und zu gesund und robust für ein Genie«, sprach bedauernd die erste Stimme.
Der Lauscher in der Fensternische konnte nicht weiter verstehen, was die drei Herren noch alles an ihm auszusetzen fanden. Er wollte sich fortschleichen. Da huschte seine weibliche Zuhörerschaft an ihm vorüber, die beiden Damen, welche so freundlich Beifall gelächelt hatten.
»Mir tut Herr Hilmer recht herzlich leid,« sprach die ältere, »ein so schönes Konzert vor lauter leeren Stühlen! Der junge Mann soll ein Gelehrter sein; ich finde, er spielt auch wie ein Gelehrter; es fehlen ihm die kleinen Koketterien und die großen Effekte des echten Virtuosen.«
»Im Gegenteil!« flüsterte die jüngere. »Mir scheint er viel zu viel Virtuos. Sahen wir ihn nicht vor vier Jahren bei Thibauts Musikabenden in Heidelberg? Ich hätte Höheres von ihm erwartet, Klassischeres. Ein Jünger der Wissenschaft, der bei Thibaut morgens auf der Universität Pandekten hörte und abends Palestrina im Thibautschen Hause, sollte überhaupt gar keine Virtuosenkonzerte geben; die müßte er den gewöhnlichen Musikern überlassen.«
Die Damen verschwanden. Hilmer fand sich allein und begehrte auch keine weitere Kritik. Von seinen zwanzig Zuhörern hatte, wie es schien, ein jeglicher etwas anderes an ihm auszusetzen; nur darin waren alle einig, daß sie ihn bedauerten. War der lebhafte Beifall, welcher jede seiner Nummern begleitete, vielleicht auch nur der menschenfreundliche Ausdruck dieses Bedauerns gewesen? Am herzlichsten hatte ihn der alte Gyrowetz gelobt, von dem er gar kein Lob hätte erwarten dürfen. Und wer war die junge Dame, die ihn schon von Heidelberg her kannte? Sie sah recht anmutig aus; – etwas scharfes, aber feines Profil. Ihre Stimme klang milder wie ihr Urteil. Nur meinte Hilmer, sie hätte eigentlich sagen sollen, was der alte Gyrowetz gesagt, daß selten noch ein Pianist sie so tief ergriffen habe, und der pensionierte Hofkapellmeister hätte dann immerhin mit ihren Worten einen klassischeren Vortrag fordern mögen. Das wäre doch die natürlichere Verteilung der Rollen gewesen!
Unter solchen Gedanken ging der Künstler nach Hause und fand zuletzt, daß er ein zwar kleines, aber interessantes Publikum gehabt habe und darum alle Ursache, mit seinem ersten Erfolge zufrieden zu sein.
Ungebeugten, ja gehobenen Mutes kündigte Hilmer sein zweites Konzert an, und zwar auf den 15. Dezember. Er wollte nun aber auch einmal weltklug sein und beschloß also, seine fünfundzwanzig Empfehlungsbriefe abzugeben. Acht Tage vor dem Konzert mietete er sich einen Wagen und fuhr, die sämtlichen Briefe in der Tasche, zunächst zu Lord Knaresborough, der ein glänzendes Haus machte und, obgleich er erst ein halbes Jahr in Wien lebte, als Kunstmäzen bereits von der ganzen Stadt gepriesen wurde. Der Lord empfing unseren Musiker so hoffärtig herablassend, daß sich derselbe schon nach wenigen Minuten wieder empfahl, stracks nach Hause zurückfuhr und die übrigen Briefe in den Ofen warf, da er sich nicht noch weitere vierundzwanzigmal ärgern wollte. So hatte nur der Lohnkutscher einen wirklichen Erfolg dieser Empfehlungsbriefe zu verzeichnen, denn er war auf einen halben Tag gemietet und hatte kaum eine Viertelstunde zu fahren gebraucht.
Übrigens fand Hilmer bald seinen guten Humor wieder, indem er Tag und Nacht nicht vom Klaviere kam und sich mit wahrer Leidenschaft auf das Konzert vorbereitete. Die Kunst trägt wie die Liebe ihren süßesten Lohn in sich selber. Die tiefste Liebe verstummt, allein in einem Konzert pflegt der Künstler dann doch nicht zu verstummen, und Hilmer wollte in seinem zweiten Konzert noch viel lauter und gewaltiger zu aller Ohren reden wie in dem ersten.
Er hatte erkannt, daß sein Publikum aus einer größeren und kleineren Hälfte bestehe, und er gedachte beide Hälften zu entzücken. Darum wählte er für das neue Programm zuerst recht schwindelnd verwegene, blendende Virtuosenstücke von Thalberg, Henri Herz, Liszt und anderen Modekomponisten; an den Schluß aber stellte er – damals ein unerhörtes Wagnis – das große Rondo in A-Moll von Mozart. Er erwartete nämlich, das Gyrowetz und die junge Dame wieder auf den vordersten Stühlen sitzen würden. Für den alten Meister hatte er das klassische Stück seines Freundes Mozart gewählt und der jungen Dame wollte er im Vortrag desselben zeigen, daß er nicht bloß Virtuos, sondern auch ein wahrer Philosoph des Klaviers sei.
Das Konzert fand am anberaumten Tage statt, – diesmal vor fünfundzwanzig Zuhörern. Lord Knaresborough hatte zehn Karten genommen und dieselben zur Hälfte seinem Kammerdiener, zur anderen Hälfte der Kammerjungfer seiner Gemahlin geschenkt, welche dann wieder ihren Überfluß dem Stubenmädchen, der Köchin und dem Portier zur Benutzung und weiteren Verteilung übergaben.
Das Publikum war mehr lebhaft als gewählt, übrigens sehr dankbar und doch um fünf Köpfe stärker als beim ersten Konzert. Gyrowetz und die junge Dame waren diesmal nicht erschienen.
Hilmer erschrak, als er dies entdeckte; er fühlte sich plötzlich wie mit kaltem Wasser übergossen, nüchtern, verstimmt. Wer vor eine Zuhörerschaft tritt, gleichviel ob auf dem Podium des Konzertsaales, auf der Bühne des Theaters oder auf der Rednerbühne, der wendet sich niemals an die ganze Masse: er spielt, denkt, spricht zunächst immer für einzelne, die er kennt, schätzt, auf deren Urteil er in Zustimmung oder Widerspruch besonders gespannt ist, er faßt sie ins Auge, er hält sie im Sinn, wenn er sie nicht sehen kann. Und sollte ein Künstler oder Redner gar niemand von den Hunderten kennen, die ihm entgegenblicken, so erspäht er doch alsbald ein paar charakteristische Gesichter, die ihn fesseln, und für welche er vor allen anderen singt, redet oder spielt.
Vielleicht hat er sich getäuscht und die interessanten Gesichter waren nur die Larven ganz langweiliger, nichtiger Menschen. Das schadet nichts. Der Künstler hatte sich dann doch die wahrhaftigen Spitzen seines Publikums eingebildet, und die Masse wird immer und überall nur in den Individuen lebendig.
Zum Glück mußte unser Klavierspieler auf sein Klavier und seine Noten sehen. Er wäre sonst doch vielleicht aus dem Takt gekommen bei dem vergeblichen Bemühen, unter den Bedienten und Stubenmädchen, welche ihm in vorderster Reihe gegenübersaßen, ein begeisterndes Gesicht zu entdecken.
Allein er war Künstler von Grund aus. Kaum hatte er die ersten Akkorde angeschlagen, so übte die Musik auf ihn ihren tiefsten Zauber, sie trug und hob ihn zu steigender Glut und Kraft der Leidenschaft; er sang mit der rechten Hand wie Thalberg, daß man gar kein Klavier mehr zu hören glaubte, und donnerte mit der Linken wie Dreyschock, daß man meinte, er habe eigentlich gar keine linke Hand, sondern zwei rechte Hände. Und was das Merkwürdigste war, er spielte dem alten Gyrowetz und der schönen Unbekannten zu Gehör, die er deutlich vor sich sitzen sah, obgleich sie nirgends sichtbar waren. Der Beifall war stürmisch, jubelnd; sogar die Köchinnen und Stubenmädchen klatschten und riefen Bravo.
Nur bei dem Mozartschen Rondo gähnten und plauderten die Zuhörer: sie hatten zum Schlusse offenbar etwas ganz anderes erwartet. Die Herren griffen zu ihren Hüten, noch bevor die letzten Takte gespielt waren, und nur zwei Hände erhoben sich zu jenem kleinen Beifallsgeplätscher, welches auf deutsch besagt: »Gottlob! das Stück ist endlich zu Ende!«
Hilmer erwachte wie aus einem Traume. Die beiden Phantasiegestalten, für welche er eben sein Bestes geleistet hatte, waren verschwunden, leere Gesichter sahen ihn fremd und gleichgültig an, das Konzert hatte lange gedauert, ein jeder eilte, hinauszukommen, nur Hilmer eilte nicht. Er blieb einsam im Saale, bis die Lichter ausgelöscht wurden, und der Hausknecht, welcher dieses Geschäft besorgte, versicherte ihm, daß er heute abend wunderschön gespielt habe. Er schenkte dem Manne drei Gulden, wofür ihm derselbe die Hand küßte und ihn »Herr Baron« nannte.
Zu Hause angekommen, beschloß er, niemals wieder vor dem großen Publikum zu spielen. Vor dem »großen Publikum«? Es waren ja nur fünfundzwanzig Personen gewesen! Aber sie waren doch das große Publikum im getreu verkleinerten Abbild. Sie hatten die Kunststücke seiner Finger bewundert und seine aus dem innersten Herzen quellende Kunst nicht verstanden. Hätten tausend Zuhörer vor ihm gesessen, sie würden es geradeso gemacht haben, wie diese fünfundzwanzig. Er beschloß, niemals wieder öffentlich zu spielen, sondern nur noch im engsten Kreise vor Kennern und vor wahrhaft künstlerischen Gemütern, die keine Kenner zu sein brauchten.
Allein wie stand es dann mit der geträumten glänzenden Künstlerlaufbahn? Das wußte er selber nicht. Er wußte überhaupt nicht mehr, was er eigentlich wollte, nur was er nicht wollte, wußte er ganz genau.
Des anderen Morgens saß Hilmer zu Hause am Klavier und phantasierte, daß die Saiten klirrten; er haderte mit sich und mit Gott und der Welt, er suchte Gedanken und fand keine, und dies gibt gerade die rechte Stimmung zum Phantasieren.
Da klopft es an die Türe, wiederholt, immer stärker, bis er endlich aufspringt und Herein! ruft.
Ein unbekannter junger Mann tritt ein und bittet auf einige Minuten um Gehör.
Der Künstler maß den Störenfried mit großen, zornigen Augen, allein er konnte den Fremden doch nicht wieder zur Türe hinausschicken, ohne gehört zu haben, was derselbe eigentlich wolle. Und der Mann hatte so etwas anmutig Keckes, er sah gar nicht aus, als ob er sich stracks wieder fortweisen lasse. »Ich heiße Achilles Schneider«, begann derselbe, »und bin gekommen, Sie um Unterricht im höheren Klavierspiel zu bitten.«
Hilmer erklärte ihm, daß er nur ganz ausnahmsweise Unterricht gebe und nur an sehr vorgeschrittene Schüler, die sich zum Künstlerberuf ausbilden wollten.
»Gerade dies ist meine Absicht.«
»Und bei welchem Meister haben Sie bisher Ihre Studien gemacht?«
»Lediglich bei mir selbst. Ich bin Autodidakt und seufze schon lange unter dem Fluche des meisterlosen Tastens und Suchens. Aber als ich gestern abend Ihre unvergleichlichen Leistungen hörte, da erkannte ich, daß man nur in der Schule eines solchen Meisters ein wahrer Meister werden könne. Wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke: du mußt! Und so wage ich's, Ihnen mein Anliegen vorzutragen. Ich bin arm, ich habe gar nichts. Ich hätte auch Ihr gestriges Konzert nicht besuchen können, wenn mir nicht der Portier des Lord Knaresborough ein Billett geschenkt hätte. Ganz bescheiden setzte ich mich darum in den hintersten Winkel des weiten Saales neben den großen Ofen, wo außer mir nur noch zwei Damen saßen –«
»Eine ältere und eine jüngere?« unterbrach ihn Hilmer. – »So schien es.« – »Die jüngere mit reichem, flachsblondem Haar?« – »Etwas unordentlich genial frisiert«, ergänzte Achilles Schneider. – »Mit blauen Augen und etwas spitzer Nase?« – »Dessen entsinne ich mich nicht mehr, aber ihre Reden klangen mitunter allerliebst spitzig.« – »Sie spricht mit einem leisen Anflug pfälzischen Dialekts?« – »Ganz recht! fast wie Euer Gnaden.« – »Wer sind diese Damen? wie heißen sie?« – »Ich kenne sie nicht; aber Euer Gnaden scheinen sie zu kennen.« – »Ich kenne sie noch weniger, ich kenne sie gar nicht!« entgegnete Hilmer hastig.
Beide sahen einander eine Weile ganz verblüfft an. Dann fuhr Schneider fort: »Was kümmerten mich auch die Damen, wo ich ganz hingerissen war durch den Zauber Ihrer Kunst! Die Großartigkeit Ihres Allegros zwang mich zum zerknirschten Selbstbekenntnis meiner Schülerhaftigkeit, aber die himmlische Milde, die herzgewinnende Liebesfülle, mit welcher Sie Mozarts Rondo vortrugen, gab nur dann wieder den Mut, Ihnen meinen heißesten Wunsch zu offenbaren, – und so stehe ich denn hier und erwarte Ihren Entscheid.«
Hilmers Zorn über den störenden Eindringling hatte sich gelegt. Der junge Mann konnte ein unterdrücktes Genie sein; sollte er ihm da nicht auf die rechte Bahn helfen? Und Herr Schneider war ein armer Teufel obendrein, der offenbar keinen Pfennig für den ersehnten Unterricht bezahlen konnte. Hilmer hatte ein edles, menschenfreundliches Herz. Schon der bloße Schein war ihm unerträglich, daß er den Bittenden abgewiesen haben könne, weil die Erfüllung seiner Bitte ihm selbst nur Mühe, nicht Gewinn brächte.
Er ersuchte den Kunstjünger, ihm etwas vorzuspielen.
Wie ein Herrscher schritt Achilles Schneider zum Flügel und begann mit hocherhobenen Händen und stets niedergetretenem Pedal den Hoffnungswalzer von Strauß hervorzuschmettern. Ob er einen Ton traf oder daneben schlug, schien ihm ganz gleichgültig, wenn nur das Feuer und die Kraft nicht fehlten. Hilmer unterbrach ihn schon nach zwanzig Takten. Er hatte genug: – das unterdrückte Genie war ein Dilettant von der schlimmsten Sorte. Statt aller Kritik fragte er den seltsamen Menschen nur, was denn bisher sein eigentlicher Beruf gewesen sei, und was er denn wirklich erlernt habe?
»Ursprünglich wollte ich mich zum Gelehrten ausbilden«, antwortete jener, »und kam bis über die Mitte des Gymnasiums. Allein ich mißfiel den pedantischen Schulmeistern. Wenn die Geschichte Karls des Großen gelehrt wurde, dann sann ich sofort darüber nach, wie ich mich ausnehmen und was ich tun würde, wenn ich selbst heute Karl der Große wäre, und so wußte ich nie genau, was der alte Karl wirklich getan hatte. Wurde Sophokles gelesen, dann sah ich mich im Geiste als den Sophokles unserer Zeit, der mit achtzig Jahren übrigens ein ganz anderes Drama als den langweiligen Ödipus auf Kolonos dichten und die Nachgeborenen zur Bewunderung fortreißen würde. Und so blieb ich im Übersetzen des alten Sophokles immer der Schlechteste und wurde zuletzt vom Gymnasium weggejagt.«
Hilmer begann Teilnahme zu empfinden; er entsann sich ähnlicher Phantasien aus seinen eigenen Schuljahren; doch hatte er sich zu bezwingen und etwas Tüchtiges zu lernen gewußt, was dem armen Jungen offenbar weniger gelungen war.
Der letztere fuhr fort: »Mein Vater war Theaterdiener in Prag. Zu erneuten gelehrten Studien reichte das Geld nicht. Ich mußte daher trotz all meines Lateins die Rollen austragen und die Proben ansagen helfen, auch pflegte ich hinter der Szene Wind und Donner zu machen. Man verwandte mich nebenbei zu kleinen Rollen, und ich hoffte, ein großer Schauspieler zu werden. Allein während ich mich als Faust oder Wallenstein dachte, mußte ich einen Bedienten machen, der ein Glas Wasser bringt. Kein Wunder, daß ich es der Anstandsdame übers Kleid schüttete! Ich wurde von der Bühne verwiesen. Da tat mich mein Vater zum Theaterschneider in die Lehre. Doch ich verachtete jene moderne Unkunst, welche auf der Bühne mehr durch die Garderobe als durch den Geist zu wirken strebt. Der Geist! – darin liegt's! Der Geist hat mir überall ein Bein gestellt. Übrigens lernte ich damals mit Kleidern umgehen, und das ist der beste Anfang zur Kunst des Umgangs mit Menschen. Ich sann hierüber nach, und da noch kein Knigge ein Buch über den Umgang mit Kleidern geschrieben hat, so entwarf ich den Plan zu einer solchen Schrift im Kopfe, während ich die Schere in der Hand führte, und zerschnitt die Robe der Maria Stuart in ganz unheilbarer Weise. Man wies mich aus der Werkstatt. Da nahm mich das Restaurant des Theaters auf – als Aushilfskellner. Die Theaterrestauration ist in den Zwischenakten die wahre Börse der Bühne, wo die Wechsel auf den Erfolg der Dichter und Darsteller ausgestellt, diskontiert und protestiert werden. Ich redete eifrig mit, ich bewies, daß Donna Anna ihre erste Szene, welche ich nicht gehört, besser gesungen habe als ihre zweite Szene, welche ich auch nicht gehört hatte. Kein Wunder, daß ich zu servieren vergaß, und im Zwischenakt haben's die Gäste so eilig! Ich warf meine Bildung in die Wagschale der oft recht ungebildeten Debatte, und die Bildung warf mich zuletzt auch wieder zum Büfett hinaus.
»Mein Vater war inzwischen gestorben, meine persönliche Verbindung mit der deutschen Bühne hierdurch abgebrochen. Und so zwang mich die bittere Not, eine Stelle als Bedienter zu suchen, wobei mir meine frühere dramatische Beschäftigung in Bedientenrollen sehr zu statten kam. Allein wenn ich schon als Bedienter in der Komödie immer vergessen hatte, mich ganz in den Geist eines wirklichen Bedienten hineinzudenken, so dachte ich mich jetzt als wirklichen Bedienten erst recht lebhaft in den Geist eines dramatischen Bedienten. Die Folge war, daß ich von den allergewöhnlichsten Bedienten übertroffen und immer tiefer herabgedrückt wurde und heute völlig beruflos und brotlos bin. Ich könnte ein ausgezeichneter Bedienter sein, wenn ich den rechten Herrn fände, der mich zu Höherem emporzöge, indem ich ihm diente, zum Höchsten! denn ich möchte doch gar zu gern und recht bald, – Eure Gnaden haben mir's gestern angetan! – als ein großer Klaviervirtuos auftreten, aber in ganz anderer Weise wie Eure Gnaden!«
Hilmer fragte ihn, wie er denn so bald als Klaviervirtuose auftreten wolle, da er noch keine Tonleiter richtig spielen könne.
»Eben daran fehlt es mir. Ich besitze alle Erfordernisse zum großen Klaviervirtuosen, nur Klavierspielen kann ich noch nicht. Eure Gnaden spielen Klavier wie kaum ein zweiter, aber alle übrigen Erfordernisse zum großen Virtuosen fehlen Ihnen ganz und gar.«
Hilmer mußte laut auflachen. Der Bursche hatte recht. Er besann sich eine Weile; dann aber sagte er scharf: »Ich brauche keinen Bedienten.«
»Verzeihung, gnädiger Herr! Sie haben einen solchen Gehilfen sehr notwendig. Jeder Künstler, der öffentliche Konzerte gibt, der reist – und Sie werden reisen –, hat heutzutage seinen Bedienten, Sekretär, Geschäftsführer oder wie man's sonst nennen mag.«
»Ich werde nicht reisen; ich werde kein öffentliches Konzert mehr geben, – vielleicht niemals mehr, – wenigstens in nächster Zeit nicht.«
»Wenn Eure Gnaden bloß noch in den Salons spielen wollen, dann brauchen Sie erst recht einen Bedienten, denn ein Künstler, der keinen Kammerdiener mitbringt, erscheint den hohen Herrschaften selbst wie ein Bedienter.«
Hilmer ging lange schweigend auf und ab. Endlich fragte er: »Sie können den Geigern das a auf dem Klaviere richtig angeben?« – »Nicht bloß das a, sondern den ganzen D-Moll-Akkord!« – »Sie können Noten lesen? die Stimmen auflegen? Noten abschreiben? einen Geschäftsbrief entwerfen?« – Achilles nickte zustimmend.
»Und kann Er Stiefel wichsen und Kleider ausklopfen?«
Achilles versicherte, daß es ihn fast mehr kränke, wenn man ihm diese Fertigkeiten zutraue, als wenn man sie bezweifle, allein er sei Meister in solchen Dingen.
Hierauf erklärte ihm Hilmer, daß er ihn zum Bedienten annehmen wolle, auf Probe bei dreitägiger Kündigung, und Achilles Schneider willigte in alle weiteren Bedingungen ein.
So hatte unser Künstler durch seine ersten Konzerte zwar viel Geld verloren, aber den originellsten Bedienten von ganz Wien gewonnen. Er tröstete sich mit diesem überraschenden Ergebnis.
In den ersten Tagen seines neuen Dienstes bekam Achilles gar nichts weiter zu tun, als Kleider und Schuhe zu reinigen, Briefe zur Post zu tragen und was dergleichen niedrige Geschäfte mehr sind.
Wenn ihm sein Herr Stiefel zu wichsen befahl, dann nannte er ihn »Er«, wenn er ihm aber Noten abzuschreiben gebot, dann nannte er ihn »Sie«. Denn er meinte, die äußere Würde solle sich nach der Arbeit bemessen und nicht nach der Person.
Am vierten Tage kam ein Brief von Lord Knaresborough, worin er Herrn Hilmer zu einer Soiree auf nächsten Montag abend einlud, mit der Bitte, »Musik« mitzubringen. Kaum hatte der Künstler den Brief gelesen, so rief er seinen Diener. »Entwerfen Sie eine höfliche Antwort an Lord Knaresborough. Ich bedaure, seine Einladung nicht annehmen zu können.«
Achilles war starr vor Erstaunen. Er beschwor seinen Herrn, die höchst ehrenvolle Einladung nicht abzulehnen; die Abende des Lords seien berühmt in der ganzen Stadt, und der Engländer pflege die Herren Virtuosen mit den wertvollsten Geschenken zu belohnen, – »schreiben Sie, ich könne nicht kommen«, unterbrach ihn Hilmer mit gesteigertem Nachdruck. Aber Achilles ließ sich so leicht nicht besiegen. Er erzählte dem gestrengen Herrn, auch die Primadonna der Hofoper werde bei dem Lord am Montage singen, Ernst wird geigen, Servais Violoncell spielen, ein ganz erlauchter Kreis fremder und einheimischer Künstler werde dort versammelt sein, das wisse er alles von seinem Freunde, dem Portier. »Gut! vor diesem Publikum will ich spielen!« rief nun plötzlich Hilmer, wie verwandelt. »Entwerfen Sie eine freundliche Zusage an den Lord.«
Am Montag abend versammelten sich die Künstler und Künstlerinnen bei Lord Knaresborough in einem eleganten Vorzimmer und wurden dort vom Lord und der Lady begrüßt, wobei man eine Art Cercle bildete. Dann entfernten sich die beiden Herrschaften und ließen ihre künstlerischen Gäste allein bis zum Beginn ihrer Vorträge. Die »Gesellschaft« befand sich in dem anstoßenden Salon, und die innere Türe des Künstlerzimmers führte unmittelbar zu einem Podium am oberen Ende des Saales, wo der Flügel stand. Zwischen dem Podium und den Zuhörern aber war eine dicke, rotseidene Schnur quer über die ganze Breite des Saales gespannt, damit die Künstler oder gar die Sängerinnen sich nicht vor oder nach ihrer Produktion unter die »Gesellschaft« mischten. Das war so englische Sitte, die der Lord nach Wien mitgebracht hatte: der Künstler, welcher für Geld spielte, die Sängerin, welche für Geld sang, waren nicht gesellschaftsfähig.
Ludolf Hilmer sollte das Konzert eröffnen. Bevor er auftrat, erschien jedoch Achilles in ganz neuer Livree, legte die Noten feierlich auf das Klavierpult, stellte vier Wachskerzen derart zurecht, daß je eine hohe und eine niedere Kerze gepaart war, damit das Licht gleichmäßig auf die obere und untere Hälfte des Notenblattes falle, brachte hohe und niedere Lederkissen und legte sie prüfend und mit den Augen messend auf den Klavierstuhl, damit sein Herr die gewohnte Sitzhöhe ja sofort vorfände.
Er machte dieses »szenische Arrangement« mit solch ergötzlicher Wichtigtuerei und zugleich mit aller Feinheit eines Schauspielers, der einen Bedienten spielt, daß die plaudernde Gesellschaft ganz stille wurde und ihm mit behaglichem Lächeln zusah.
In diesem Momente gespannten Schweigens trat Hilmer vor und setzte sich an den Flügel. Achilles hatte ihm mit seiner dramatischen Aktion einen unschätzbaren Vorsprung verschafft: sonst mußte der Künstler zu spielen beginnen, damit die plaudernden Zuhörer allmählich verstummten; jetzt waren sie schon verstummt, bevor er anfing.
Hilmer spielte die Cis-Moll-Nokturne von Chopin mit gewohnter Meisterschaft. Diese Musik paßte so recht zur schwülen, parfümierten Luft des Salons, sie war so ganz gemacht für die blasierten Herren und die nervösen Damen.
Als aber die letzten Takte leise hingehaucht erstarben und die ganze Gesellschaft verhaltenen Atems lauschte, um dann in stürmischem Beifall ihrer Bewunderung Luft zu machen – da sank plötzlich die rote Schnur!
Achilles hatte sich zur Seite geschlichen und sie unvermerkt im rechten Augenblicke ausgehängt. Zwar wollten sie die Bedienten des Lords wieder emporheben, allein Achilles stand mit beiden Füßen darauf und behauptete seinen Posten, und etliche Wiener Herren waren bereits über die gefallene Schnur geschritten und drückten dem Künstler die Hand, der nun auch seinerseits die Schnur überschritt und sich bald mitten im geheiligten Raume der Gesellschaft befand.
Der Lord und die Lady rümpften zwar die Nase und sahen ganz entrüstet darein, aber die Schnur blieb für diesen Abend liegen. Denn da der unbekannte Herr Hilmer nun einmal in den Salon gekommen war, so konnte man doch die anderen hochberühmten Künstler nicht wieder ins Vorzimmer zurückschicken: Sie bewegten sich auch sehr fein und ungezwungen auf dem Parkettboden, belebten die Unterhaltung, ja die Primadonna trank sogar, mit dem russischen Gesandten plaudernd, eine Tasse Tee, als ob sich das ganz von selbst verstünde.
Lord Knaresborough lud zwar unseren Virtuosen niemals wieder zu seinen Soireen, aber die Schnur wurde dort auch nicht wieder gesehen und Ludolf Hilmer von allen Kunstgenossen Wiens als der Retter der Standesehre gefeiert. Die Geschichte von der Schnur ging, poetisch ausgeschmückt, durch die Feuilletons: Hilmer war mit einem Schlage ein berühmter Pianist geworden.
Der stillen Verdienste Achills gedachte freilich kein Mensch. Als er des anderen Morgens seinem Herrn die Stiefel brachte, die er vor lauter innerem Jubel nur halb gereinigt, sagte er mit Selbstgefühl: »Wir haben gestern den ersten durchschlagenden Erfolg gehabt!«
»So scheint es. Aber wichse Er in Zukunft auch meine Stiefel mit besserem Erfolg!« erwiderte Hilmer trocken.
Schon nach wenigen Tagen machte der reiche Bankier Aaronsky unserem Künstler seine Aufwartung und lud ihn in den schmeichelhaftesten Formen zu einer der berühmten musikalischen Matineen, die er Sonntags in seinem Hause zu geben pflegte, – sofern man einen Palast ein Haus nennen kann.
Ohne langes Besinnen sagte Hilmer zu. Auch der große Geiger Ernst war geladen, von welchem Herr von Aaronsky behauptete, er spiele Hegelsche Philosophie auf der Geige.
Der Sonntag kam, und Hilmer fand sich pünktlich im Hause Aaronskys ein, gefolgt von Achilles, welcher die Noten und auch die Kissen trug. Denn der vollkommene Pianist sitzt auf seinen eigenen Kissen.
Die ganze erlesene Gesellschaft war schon im voraus gespannt auf das Erscheinen des Bedienten, der beim Lord ein so artiges Vorspiel geliefert hatte.
Allein Achilles gab durchaus nicht die Szene, welche man erwartete, sondern eine ganz neue. Ein Originalgenie wiederholt sich nicht. Mit der einfältigsten Bedientenmiene von der Welt legte er die Noten auf und ordnete das Geigenpult und den Klavierstuhl. Als dann aber Ernst zu ihm herantrat, um seine Geige zu stimmen, gab er, bedeutungsvoll zu dem Virtuosen aufblickend, nicht bloß das a an, wie gewöhnliche Kalikanten, sondern den vollen D-Moll-Dreiklang, wie ein Künstler, und zwar in drei wuchtigen, lang aushaltenden Schlägen, die wie die Einleitungsakkorde zu einer tragischen Symphonie erdröhnten. Er horchte auf. Die Geige war noch nicht ganz rein. Jetzt wiederholte er den Akkord, aber in einer Folge von Arpeggien, vom großen D bis hinauf zum dreigestrichenen a, wobei er diese Oberquinte mit aufgehobenem Pedal ganz leise verklingen ließ. Er horchte wieder verständnisvoll. Noch stand die Geige um eine Schwebung zu tief. Da schlug er den Akkord mit beiden Händen im Tremolo fortissimo an, daß die Saiten klirrten, und brach plötzlich ab: – die Geige war vollkommen rein. Stolzen Schrittes verschwand er. Man behauptete nachher, der Bediente habe beim Angeben des a eine ganze »symphonische Dichtung« gespielt, allerdings ohne Melodie, was übrigens auch sonst bei derlei Werken vorkomme, aber doch in drei Charaktersätzen: Allegro maestoso, Adagio cantabile und Presto con fuoco.
Das Duett der beiden Künstler fand tobenden Beifall. Man wußte nicht, ob derselbe mehr dem weltberühmten Ernst galt oder dem neuentdeckten Genius Hilmer, dem Meteor, welches erst seit acht Tagen am Wiener Kunsthimmel sichtbar war.
Als nach dem Schlusse der Matinee Achilles seinen Herrn im Vorzimmer erwartete, drückte der Haushofmeister auf Befehl des Bankiers dem Bedienten ein Trinkgeld von fünf Gulden in die Hand. Er hatte es ja so wohl verdient. Die dort versammelten Diener sahen es mit neidischen Blicken. Achilles aber trat zu dem Hausknecht, der ihm eben seine Noten und Kissen brachte, und schenkte ihm die fünf Gulden mit herablassender Handbewegung. Die ganze Dienerschaft steckte die Köpfe zusammen; Hilmer, der gerade vorüberging, hatte den Vorgang fliegenden Blickes bemerkt; doch tat er nicht dergleichen.
Zu Hause fragte er Achilles, warum er das Trinkgeld nicht für sich behalten habe. Achill erwiderte: »Hätte mir's der niederträchtige Haushofmeister unter vier Augen zugeschoben, so hätte ich's gleich verstohlen mit Vergnügen in die Tasche gesteckt. Aber so öffentlich vor aller Augen – das schickt sich nicht für unsereins. Oder würden etwa Eure Gnaden die hundert Gulden, mit welchen dieser Aaronsky Ihren heutigen Klaviervortrag honorierte, angenommen haben, wenn er Ihnen vor den versammelten Gästen beim Abschied einen Hundertguldenschein überreicht hätte?«
»Ich würde es nicht nur getan haben, ich tat es wirklich.«
Achilles trat einen Schritt zurück, maß seinen Herrn mit großen Augen und rief: »Dann war ich heute der Virtuos und Sie –«
»Und ich? Was will Er sagen? Geh Er hinaus und bürste Er meinen Mantel, damit Er merkt, daß Er der Bediente ist.«
Hilmer setzte sich ans Klavier und phantasierte wie rasend durch alle Tonarten eine ganze Stunde lang.
Als er aber nach acht Tagen wieder zu der Matinee des Bankiers geladen war und ihm Herr von Aaronsky am Schlüsse sehr artig eine Zigarre anbot und ihm dann angesichts der versammelten Gäste wieder eine Hundertguldennote in die Hand drückte, faltete der Virtuose die Note ganz ruhig zu einem Fidibus, führte sie ans Licht, zündete sich die Zigarre damit an und empfahl sich.
Des anderen Tages sprach das ganze kunstliebende Wien von Ludolf Hilmers Fidibus. Nur ein Genie konnte im Anzünden einer Zigarre zugleich ein so zündendes Epigramm aufblitzen lassen. Nach der Geschichte mit der Schnur hatte die Zeitungskritik unseren Künstler auf die Kunsthöhe von Henri Herz erhoben; nach der Geschichte mit dem Fidibus erhob sie ihn auf gleiche Stufe mit Hummel und Thalberg. Was wäre der Virtuosenruhm ohne die Anekdote? Und Achilles sorgte dafür, daß zu den historischen Anekdoten von seinem Herrn auch noch viele mythische in Umlauf kamen. Denn was wäre die Künstleranekdote ohne den Mythus?
Am 16. Dezember hatte Hilmer, wie wir wissen, den Achilles Schneider in seinen Dienst genommen und schon mit der Jahreswende hatte sich sein ungünstiges Geschick völlig gewendet. Im Januar erhielt er so viele Einladungen zu musikalischen Vorträgen in die vornehmsten Häuser, daß er kaum die Hälfte annehmen konnte. Im Februar gab er sein drittes eigenes Konzert trotz des früheren Vorsatzes, überhaupt kein solches mehr zu geben wollen. Achilles hatte freie Hand erhalten, alle zweckdienlichen Vorbereitungen zu treffen; vierzehn Tage lang hatte er mit aufreibender Hingabe für diesen Zweck gearbeitet und sich zum besonderen Lohne nur ausbedungen, daß ihn sein Herr niemals wieder mit »Er« anrede und einen eigenen Stiefelwichser anstelle. Der Erfolg des Konzertes war wunderbar. Man maß ihn nicht nach der Zahl der Anwesenden, die sich Schulter an Schulter im Saale drängten, sondern nach der Schar der Abgewiesenen, die kein Billett mehr erhalten konnten.
Obgleich Hilmer nie wieder so gut gespielt hatte, wie in dem trostlosen zweiten Konzert, sprach ihm doch Achilles seine steigende Bewunderung aus über seine riesenhaft wachsende Virtuosität. Er war zufrieden mit seinem Herrn, und es ist in unseren Zeiten immer erfreulich, wenn sich die Herrschaften die Zufriedenheit ihrer Diener erwerben.
Ganz im stillen räsonierte Achilles doch zuweilen über Hilmers Lebenswandel, der ihm von Tag zu Tag unheimlicher vorkam. Der gefeierte Künstler lebte nämlich sozusagen gar nicht. Er brütete einsam zu Hause, schrieb Noten oder spielte Klavier; er fuhr nicht spazieren, ging in kein Kaffeehaus, besuchte keinen Ball; er besaß nur Bewunderer, keine Freunde, und mied die heitere Wiener Gesellschaft, in welcher er doch hätte glänzen können. Vor allem aber hatte er nicht das kleinste Abenteuer mit irgendeiner Dame.
Achilles sann lange vergebens über dieses rätselhafte Wesen seines Herrn. Da blitzte ein erschreckender Verdacht in ihm auf: der Ärmste war wohl gar ernstlich verliebt!
Verliebt – in wen? Von der Geliebten vermochte selbst Achilles' Scharfblick keine Spur zu entdecken. Aber gerade eine Liebe, die so heimlich, daß nicht einmal der Bediente sie durchschauen kann, ist die allertiefste und gefährlichste. Achilles wagte, schwer bekümmert, hierauf anzuspielen; – Hilmer tat, als höre er's nicht, und wies ihn barsch an seine Arbeit. Nun war ihm sein Verdacht erst recht bestätigt. Wenn sein Herr alle Woche einen anderen Liebesroman eingefädelt hätte, das wäre wunderschön gewesen; denn in solchen Fällen ist ein Bedienter unentbehrlich, er wird der Herr seines Herrn, wie uns hundert alte Lustspiele lehren. Bei einer ernstlichen Liebe dagegen wird das geliebte Wesen vielmehr die Herrin, und was so ein leidenschaftlich Liebender sich selbst kaum zu gestehen wagt, das vertraut er noch viel weniger seinem Bedienten. Hilmer schien diesem durchaus unstatthaften Zustande verfallen zu sein.
Es ließ Achilles keine Ruhe; er mußte der Sache auf den Grund kommen. In einer stillen Stunde, wo sein Herr, was jetzt so selten geschah, das Haus verlassen hatte, unterwarf er dessen Schreibpult einer gründlichen Untersuchung. Er glaubte Briefe, Verse, ein Band, eine Haarlocke finden zu müssen; allein er fand gar nichts derart, wohl aber eine Menge vielfach umgebildeter Skizzen zu einer halb vollendeten Klaviersonate. Also dies nur und nichts anderes war es, woran sein Herr nächtelang so eifrig geschrieben hatte! Achilles beschaute die Sonate sehr lange von hinten und vorn, von oben und unten. Sie ging aus Des-Dur; das ist die wahre Tonart der Verliebten; das Adagio stand gar in B-Moll – das ist die Tonart der in sich selbst verglühenden Leidenschaft. Für das Konzert war sie offenbar nicht bestimmt; sie schien sehr einfach; die großen Läufe, die fingerbrechenden Arpeggien, die unfaßbar schweren Kadenzen fehlten gänzlich. Aber da stand viel molto espressivo, dolcissimo, affettuoso, languisando, smorzando. Eine Sonate derart, die obendrein niemals fertig wird, schien sehr verdächtig. Der Musiker haucht seine Liebesseufzer in Noten aus; – wenn man den Noten nur ansehen könnte, an wen die Seufzer gerichtet sind! Plötzlich entdeckte Achilles über den ersten Takten des Adagios ein ganz leicht mit Bleistift geschriebenes, halb verwischtes Wort mit drei Ausrufezeichen, welches nicht wie eine Vortragsweisung aussah. Er buchstabierte lange daran. »Jetzt hab' ich's!« rief er, »sie heißt Marie!«
»Jetzt hab' ich dich erwischt! Unverschämter!« rief zu gleicher Zeit sein Herr und klopfte ihm auf die Schulter. »Was hat Er in meinem Pulte zu suchen? die Schubladen zu öffnen? die Papiere durcheinander zu werfen?«
Achilles war einen Augenblick sprachlos, aber nur einen Augenblick. Dann sagte er im Tone wahrhaft väterlicher Bekümmernis: »Gnädiger Herr! Ich bemerkte schon lange, daß eine unselige Leidenschaft an Ihrem Herzen nagt, Ihren Adlerflug lähmt und Ihre Gesundheit zerrüttet. Sie verschließen sich gegen mich, und ich möchte Sie retten, auch wenn ich Ihren ganzen Zorn auf mich lüde. Sie lieben! Und, wie es scheint, im bitteren Ernste. Ein großer Pianist darf sich verlieben, aber lieben darf er nicht, geschweige denn sich verloben, oder gar verheiraten. Viituosenehen enden immer unglücklich. Die Klangkraft unserer heutigen Flügel und die Tonfülle unserer neuesten Musik macht jede Ehe eines Klaviervirtuosen auf die Dauer unhaltbar. Auch die zärtlichste Gattin hält es nicht aus, Tag und Nacht Etüden fortissimo spielen zu hören. Das Ehepaar müßte zwei Häuser in verschiedenen Straßen bewohnen« –
Hilmer unterbrach den Schwätzer und sagte, er habe ihm gestattet, seine Konzertgeschäfte zu besorgen, nicht aber sich in seine Herzensangelegenheiten zu mischen.
Achilles behauptete dagegen, diese Herzenssache gehöre durchaus zur Konzertfrage, denn sie drohe alle Konzertgeschäfte umzuwerfen. Und nun stritten sich beide so heftig darüber, ob die Liebe das Konzert berühre oder nicht, daß der Herr dem Diener zuletzt im hellen Zorn zu schweigen befahl und das Zimmer zu verlassen und ihm den Dienst auf übermorgen kündigte.
Am dritten Tage erschien Achilles Schneider vor seinem bisherigen Herrn, um sich von ihm zu verabschieden und das Haus zu verlassen.
Sehr bescheiden und gerührt sprach er seinen Dank aus. »Mein letztes Wort«, so schloß er, »sei ein Wort der Bewunderung. Sie haben viel Meisterhaftes gespielt, aber ganz unübertrefflich spielten Sie doch Field und haben von Woche zu Woche immer besser Field spielen gelernt.«
»John Field?« fragte Hilmer erstaunt. »Ich habe seit Jahren keine Note von Field gespielt!«
»Das bezweifle ich nicht!« entgegnete Achilles. »Ich sprach auch nicht von Noten, sondern von Field.«
Hilmer bat um eine deutlichere Erklärung, und Achilles begann: »Mein Dienst ist zu Ende; also sei Wahrheit zwischen uns. Ich glaube alles zu besitzen, was zu einem großen Klaviervirtuosen gehört, nur Klavier spielen kann ich nicht. Sie sind ein Klavierspieler ersten Ranges, allein bevor ich zu Ihnen kam, fehlte Ihnen nicht weniger als alles, was zum großen Virtuosen gehört. Sie wollten mich nicht in die Klavierschule nehmen, allein Sie erlaubten, daß ich Sie in die Virtuosenschule nahm. Ich lehrte Sie Field spielen. Als John Field, der große Meister des modernen Klavierspiels, nach Petersburg kam, war er noch unbekannt und nur als Schüler Clementis in dem Hause eines vornehmen Kaufmanns und Kunstmäzens eingeführt. Er wurde zu dessen Abendgesellschaften eingeladen. Da sah er, wie den plaudernd umherstehenden Gästen Champagner und andere gute Dinge serviert wurden, aber an ihm ging der Bediente jedesmal vorbei, und als er ihm zurief, er möge ihm doch auch ein Glas Champagner geben, tat der Schlingel, als höre er's nicht. Das war so Sitte des Hauses. Doch als zuletzt der Kaufmann dem jungen Künstler eine Hundertrubelnote einhändigte, rief dieser den Bedienten herbei und drückte ihm die hundert Rubel in die Hand – für aufmerksame Bedienung. Der Vorgang machte ungeheures Aufsehen; die ganze Stadt sprach von Field, dessen Namen vorher kein Mensch gekannt hatte; er war von Stund' an ein namhafter Künstler.
»Nun werden Sie mich doch verstehen, gnädiger Herr, daß wir beide Field gespielt haben. Die Geschichte mit der Schnur bei Lord Knaresborough war meine Erfindung, im Grunde war sie aber doch nur eine freie Phantasie über Fieldsche Motive, die Geschichte mit dem Trinkgeld bei Aaronsky eine Variation über ein Thema von Field, und Sie variierten dann wieder meine Variation, indem Sie die Banknote als Fidibus verbrannten. Die Kunstgriffe entstehen wie die Kunstwerke: wir verändern, indem wir unsere Vorgänger nachahmen, und das nennen wir dann Originalität. Ein wirkliches Original war schließlich nur Adam, und den hat Gott nach seinem Ebenbilde geschaffen.«
Hilmer staunte und dachte bei sich: »Der Kerl ist doch unbezahlbar! Man sieht, wie die Gymnasialstudien höherer Klassen bei einem Bedienten nachwirken.« Dann fragte er ihn, ob er Field jemals gesehen und gehört, ob er ihn gekannt habe?
»Nein! aber ein ehemaliger Diener Fields erzählte mir dies alles und vieles andere; vermutlich war es teilweise erlogen, und doch genügte es mir, um Schule bei Field zu machen. Jener Diener war übrigens von dem Virtuosen fortgejagt worden, weil er ihn bestohlen hatte. Ich werde Sie niemals bestehlen, denn kein Künstler bestiehlt einen Künstler. Und nun habe ich nur noch eine Bitte. Sie haben mich als Ihren Bedienten entlassen; das ist nicht mehr zu ändern, aber ich bitte: nehmen Sie mich als Ihren Sekretär wieder auf! Nicht bloß um meinetwillen, sondern auch um Ihretwillen. Die großen Virtuosen und Sängerinnen haben Sekretäre; Künstler zweiten Ranges begnügen sich mit einem Bedienten. Sie haben mir die Livree abgenommen, verleihen Sie mir einen Frack mit weißer Halsbinde. Ich werde dann erst auf der Reise, in der Gesellschaft, in der Presse, im Publikum meine volle Tatkraft für Sie entfalten können.«
Der Bursche war unwiderstehlich. Er hatte Gedanken im Kopf und die schalkhafteste Keckheit dazu, über die man sich anfangs ärgerte, um hinterdrein darüber zu lachen. War er nicht ein Genie in seiner Weise? Und hatte sich Hilmer seit vorgestern nicht schon mehrmals ganz im stillen gestanden, daß ihm Achilles unentbehrlich geworden sei?
Er nahm ihn in Gnaden wieder auf – als Sekretär unter der Bedingung, daß er sich niemals mehr um seine Privatangelegenheiten kümmere, widrigenfalls er sich nicht nach einer dreitägigen, sondern nach einer dreistündigen Kündigungsfrist aus dem Hause zu entfernen habe.
Achilles küßte dem gnädigen Herrn dankend die Hand und sagte dann, ganz leise flüsternd: »Field hatte sich auch einstmals verliebt in eine schöne Französin und resolut, wie er war, schrieb er der völlig Unbekannten sofort: Mein Fräulein! Ich liebe Sie. Im Mai werde ich zweitausend Rubel haben, dann will ich Sie heiraten. Sind Sie einverstanden? Ihr ergebenster John Field.‹ Die Dame antwortete umgehend mit Ja! Doch sowie er dieses Jawort erhalten hatte, verfiel der Künstler in Tiefsinn, er komponierte nicht mehr, spielte nicht mehr, trank keinen Champagner mehr! – bis ein Freund den Grund seines trostlosen Zustandes entdeckte und die Sache rückgängig machte. Da lebte Field wieder aus. Ein Virtuos darf sich verlieben, aber beileibe keinen Heiratsantrag –«
Hilmer hieß ihn schweigen, und Achilles verstummte. Nach einer Pause fügte er jedoch noch leiser als vorher und mit anmutigster Schalkhaftigkeit hinzu: »Übrigens soll Field selbst in jenen trostlosen Tagen nicht an die Komposition einer Sonate gedacht haben. Er liebte Sonaten überhaupt nicht, sondern zog, soviel ich weiß, das elegantere Notturno vor.«
Als Hilmer allein war, fühlte er sich von inneren Widersprüchen grausam hin- und hergezerrt. So resolut wie Field hätte er einer Dame nicht schreiben können. Welcher Dame? Er dachte nur an eine einzige und wagte nicht einmal, sich ihr von ferne zu nähern.
Hatte er denn wirklich Field gespielt? Er schämte sich, daß er's in der Tat, wenn auch ganz wider Wissen und halb wider Willen, getan; er wollte es nicht wieder tun. Allein wäre er binnen weniger Wochen ein berühmter Virtuose geworden, wenn ihn sein Bedienter nicht Field spielen gelehrt hätte? Was hatte er dabei gewonnen? Das Publikum war entzückt über ihn, aber er war nicht entzückt über sich selbst. Nach allen Beifallsstürmen klangen ihm immer zuletzt die Worte jenes unbekannten Mädchens nach dem ersten Konzerte im Ohr, daß ein Mann von seinen Studien und seiner Bildung eigentlich gar keine Virtuosenkonzerte geben, sondern dieselben den gewöhnlichen Musikern überlassen solle.
Die schöne Unbekannte hatte es ihm angetan. Er suchte sie überall, allein er sah sie immer nur von ferne, in Konzerten, wo gute Musik, im Theater, wenn eine klassische Oper aufgeführt wurde. Mehrmals war es ihm beinahe gelungen, sich ihr zu nahen, und doch gelang es ihm nie. In seinem so dünn besuchten zweiten Konzert hatte die Dame unbemerkt hinter dem Ofen gesessen, er hatte sie nicht gesehen und doch für sie gespielt. In dem überfüllten dritten Konzerte sah er sie in vorderster Reihe sitzen und konnte nicht für sie spielen. Beim Herausgehen hätte er sich ihr gerne in den Weg gestellt, aber die gewaltige Menschenmasse und die Kenner, welche ihn glückwünschend umringten, wehrten es ihm. Seinen ganzen Virtuosenerfolg würde er nun darum gegeben haben, wenn er nur gewußt hätte, wer das blonde Mädchen eigentlich sei und wie sie heiße. Doch das konnte ja Achilles leicht für ihn ausspüren; als Bedienter im Lustspiel mußte er dergleichen gelernt haben. Allein es dünkte Hilmer Entweihung des Heiligsten, wenn er einen solchen Menschen mit dieser Aufgabe betraute. Hatte der Bediente den Künstler gelehrt, ein Virtuos zu sein, so konnte er ja auch dem Liebenden das Liebeswerben lehren. Hilmer war über sich selbst empört, als ihm dieser Gedanke auch nur ironisch durch die Seele fuhr. Er konzertierte jetzt kühn wie der weitläufigste Virtuose, aber in seiner schüchternen Verehrung für die Unbekannte war und blieb er der hilflos verlegene deutsche Gelehrte.
Da lächelte ihm unversehens ein kaum gehofftes Glück: er erfuhr ihren Taufnamen – Maria!
Dies geschah folgendermaßen. Hilmer stand in der hintersten Fensternische des Verkaufsraumes einer Musikalienhandlung und stritt mit einem Kunstgenossen über die Vorzüge der Londoner und Wiener Flügel. Er pries die »englische Mechanik« und schilderte beredt und mit erhobener Stimme, wie hier dem schweren Anschlage, den nur die starke Hand des Meisters beherrscht, die höchste Tonfülle entspreche, als er hinter sich eine Mädchenstimme vernahm, so zart und süß wie der verschwebende Pianoklang des weichsten Streicherschen Flügels. Er blickte um: – sie war es! die Unbekannte! Leider empfahl sie sich eben mit einem dicken Band Noten unterm Arme, den sie eingekauft hatte. Hilmer wollte ihr nacheilen, doch sein streitfertiger Kollege hielt ihn am Rockknopfe fest und bewies ihm, daß die weiblich weichen Streicherschen Klaviere doch den männlich harten englischen weitaus voranständen. Unser Künstler gab seinem Widersacher auf einmal alles zu, damit er nur ende. Aber die Erscheinung war verschwunden.
Zuletzt fand sich Hilmer allein mit dem Handlungsdiener, der so glücklich gewesen war, den dicken Notenband an die unerreichbare Dame zu verkaufen. Es war Bachs »Wohltemperiertes Klavier« gewesen. »Das Fräulein kauft nur klassische Sachen«, berichtete der Kommis auf des Künstlers schüchternes Befragen. »Sie begehrt fast immer Musik, die kein Mensch begehrt.« Und ihr Name? Der Ladenjüngling wußte ihn nicht. Denn sie entlieh keine Noten aus der Leihanstalt, sie kaufte, was sie brauchte; – eine höchst rühmliche Eigenschaft! dachte Hilmer, – und sie ließ sich nie eine Rechnung schreiben, sondern bezahlte gleich bar; – eine vortreffliche Gewohnheit! Sie nannte die ältere Dame, welche sie meist begleitete, Tante, und die Tante nannte ihre Nichte – Marie. Beide waren aus Karlsruhe und lebten schon den ganzen Winter in Wien.
Dies war alles, was Hilmer erfahren konnte. Er besuchte fortan täglich die Musikalienhandlung, kaufte und bestellte eine Menge Werke, die er eigentlich gar nicht haben wollte, und kramte müßig in den aufliegenden Notenheften, was ihm sonst verhaßt war. Allein Marie erschien nicht wieder. Sie hatte an dem »Wohltemperierten Klavier« vermutlich für Monate genug.
Auch Hilmer hatte wenigstens für Wochen genug, um über dem wenigen, was er nun von Marie wußte, zu brüten, – für einen gewöhnlichen Menschen so wenig und für einen Liebenden so viel!
Marie war also eine Karlsruherin. Hilmer entsann sich jetzt, daß Karlsruhe ganz besonders reich sei an reizenden Mädchen. Und die Karlsruher Mundart dünkte ihm plötzlich die schönste von ganz Deutschland. Sonst hatte er als Heidelberger Karlsruhe etwas von oben herab angesehen; nun entdeckte er, daß es doch eine recht vornehm anmutige Stadt sei, ja eine poetische Stadt, hart am Walde gelegen, dessen Eichenwipfel die Häuser der äußeren Straßen da und dort überragen, dessen frischer Duft am Sommerabend zu den geöffneten Fenstern einströmt. Marie wohnte vermutlich vordem in einer solchen Straße, etwa in der Stephanienstraße. Wichtiger wäre es ihm freilich gewesen, wenn er gewußt hatte, wo sie jetzt in Wien wohnte. Doch das erfuhr er nicht.
Sie war kein gewöhnliches Mädchen, vielleicht etwas eigensinnig, aber sie hatte selbständiges Urteil. Sie hatte ihn getadelt – nach seinem ersten Konzert – und gerade darum gefesselt; denn sie tadelte ihn, weil sie Höheres, Höchstes von ihm erwartete. Das wollte er leisten.
Er komponierte die Sonate, mit der er niemals fertig wurde, eine Sonate, im reinsten, idealsten Stil. Er verliebte sich in seine Sonate, bis ihm die Gedanken vergingen, – und dann hört das Komponieren auf! – weil er in das Mädchen verliebt war, welches er nur in Gedanken erreichen konnte, – und diese Liebe ohne Ziel und Ende trieb ihn im Ringe immer wieder zu der nicht endenden Sonate zurück. Dem Adagio hatte er ein Motiv aus Palestrinas Hymne an die Jungfrau Maria eingewoben und »Maria« darüber geschrieben, ein Motiv Palestrinas zur Erinnerung an die Heidelberger Musikabende bei Thibaut, wo man fast nur Palestrina sang, wo »sie« ihn zuerst beobachtet und er sie leider gar nicht bemerkt hatte; – und gerade bei diesem Adagio war er im Komponieren hilflos steckengeblieben.
Eine ganze Welt von Gefühlen schlummerte in dieser Sonate: Liebessehnsucht, Heimweh nach Heidelberg, Heimweh nach entschwundenen höheren Jugendidealen, Schmerz und Entsagung, Stolz und Triumph. Er schrieb das Werk für »sie« allein; nur ihr wollte er es vorspielen mit vollendeter Meisterschaft, nicht eher wollte er sie aufsuchen, bis die Sonate vollendet war, – und die Sonate ward nicht fertig.
Das ging so fort, bis der Frühling ins Land kam. Und mit der erwachenden Natur erwachte auch Hilmer wie aus einem Traume.
Seine Liebe war eine Krankheit, seine Liebe zu der Unerreichbaren, die er doch nur darum nicht erreichen konnte, weil er den Mut nicht fand, sie ohne Umstände aufzusuchen. Und er wollte genesen! Sechs Wochen lang kann man wohl für ein Wesen schwärmen, welches man nicht kennt, weil man's nicht kennenzulernen wagt, aber sechs Monate lang, – das wird zuletzt kindisch. Und Hilmer fühlte sich zu alt für solche Kinderei.
Diese und viele andere gescheite Dinge sagte er sich jetzt dutzend Male vor; er gab sich die größte Mühe, sich vor sich selbst zu schämen und über die verhexte Karlsruherin zu ärgern. Er warf die unvollendete Sonate in die Ecke, sie sollte in Ewigkeit unvollendet bleiben; dagegen beschloß er seiner Liebe um so geschwinder ein Ende zu machen.
Achilles hatte recht: ein großer Virtuos darf mit der Liebe spielen wie mit einer Trillerkette, wie mit einer Arpeggienkadenz, aber lieben darf er nicht. Und Hilmer wollte fortan ganz und gar Virtuose sein; sein Ruhm war gegründet, er wollte Wien verlassen, die große europäische Reise antreten, hinausstürmen ins Leben, in die Welt und vergessen, daß er einmal so kindisch geträumt hätte.
Aber die Wiener sollten zum Abschied noch ein Konzert von ihm hören, wie sie noch niemals eines gehört, unvergleichbar, durchweg neu, überraschend von vorn bis hinten.
Für die äußere Anlage dieses Konzertes war Achilles sofort mit gutem Rate zur Hand. Er meinte, sein gnädiger Herr habe zuletzt im größten Saale Wiens vor Tausenden gespielt, nun solle er zu allerletzt wieder in demselben kleinen Saale spielen, in welchem er vor einem halben Jahre so bescheiden angefangen. Das Abschiedskonzert müsse rätselhaft sein in allen Stücken, selbst in der Wahl des Ortes. Jener Saal fasse dreihundert Plätze; diesmal aber dürften nur hundertfünfzig Karten ausgegeben werden. das Stück zu zehn Gulden; lauter bequeme Fauteuils müßten im Saale stehen, Diwans an den Wänden, nirgends ein gemeiner Rohrstuhl, nicht einmal in der Garderobe. Nur ein hoher Adel, nur vornehme und reiche Leute dürften den phantastisch geschmückten Raum füllen, Freibillette seien höchstens an zwölf der berühmtesten Künstler und Künstlerinnen auszugeben. Nur Musik von aristokratischem Parfüm dürfe gespielt werden, feinste Salonmusik; Tonstücke für bürgerliche Menschen, wie sie Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und ähnliche Sonatenschreiber komponierten, seien strenge fern zu halten.
Hilmer war entzückt von diesem Plan und fand auch bald das richtige Programm zusammen; nur die Krönung des Ganzen, die Schlußnummer, fehlte noch. Er zerbrach sich lange den Kopf darüber, endlich rief er: »Ich hab's gefunden!« und zog aus dem Notenberge, der sich unordentlich neben dem Flügel türmte, ein Manuskript hervor und sprach: »Hier ist ein Zyklus von sechs Klaviersätzen, die ich vor Jahr und Tag komponiert und noch nirgends gespielt habe; sie führen den Titel ›Dämmerungslieder ohne Worte‹ –«
»Lieder ohne Worte!« unterbrach Achilles, »ach! das ist ja gar nichts Neues; die Mendelssohnschen werden bereits von allen Backfischen gespielt.«
»Aber das Werk hat noch einen Untertitel«, belehrte Hilmer: – »Sechs Märchenbilder.«
Achilles wiederholte, langsam die Worte wägend: »Dämmerungslieder ohne Worte, sechs Märchenbilder! – Die Dämmerung ist ein neues musikalisches Kolorit, auch wählte man bisher nicht gerade das Klavier, um Märchen zu erzählen. Allein, was soll man sich für Märchen denken? Doch nicht Grimms Hausmärchen? Die sind bürgerlich!«
Der Künstler sprach: »Die Großmutter pflegte uns Kindern am Abend Märchen zu erzählen, aber bevor sie begann, sagte sie jedesmal: ›Blast die Lichter aus!‹ Und wenn wir uns dann im Dunkeln oder im Dämmerschein des Mondes immer enger an sie schmiegten, dann klangen uns ihre Märchen so schaurig und wir sahen die Traumgestalten der Feen und Kobolde so leibhaft und glaubten alles so fest, was wir bei hellem Licht bezweifelt hätten. An diese Dämmerstunden dachte ich, als ich meine Dämmerungslieder komponierte, und bei jedem dieser Lieder schwebte mir ein anderes Märchen der Großmutter vor.«
»Ich habe eine Idee!« rief Achilles, »sie ist tausend Gulden wert! Was Sie eben sagten, das muß alles dem Publikum erzählt werden, zwischen der Musik, und zwar in Versen. Sie sind ja auch Dichter; dichten Sie um Gottes willen! – nur sechs Strophen –, vor jedem Klaviersatz wird eine Strophe gesprochen, die den Leuten sagt, welches Märchen sie sich nunmehr denken sollen. Und auf den Zettel setzen wir: ›Dämmerungslieder ohne Worte, Worte und Lieder von Ludolf Hilmer‹, und halb Wien zerbricht sich den Kopf über diesen Titel. Zum Anfang aber müssen Sie die Geschichte von der Großmutter in Versen geben, und bei der Stelle: ›Blast die Lichter aus!‹ lassen wir mit einem Ruck die Gasflammen zurückdrehen und die ganze Gesellschaft lauscht in der Dämmerung den Dämmerungsliedern. Das wird einen unerhörten Effekt machen.«
Hilmer lachte den tollen Ratgeber aus; aber Achilles sprach sehr ernst und ganz lehrhaft: »Wir wollen heutzutage die Musik nicht bloß hören, sondern auch sehen, wir wollen Gemälde nicht bloß betrachten, sondern auch hören; – das liegt im Geiste der Zeit. Wagen Sie nur, es auszusprechen! In vierzig Jahren wird man Ölgemälde mit Orchesterbegleitung betrachten und Symphonien mit lebenden Bildern hören.«
Nach langem Widerstreben überwand sich Hilmer, die Verse zu machen, und willigte zuletzt auch in die Verdunkelung des Saales. War er nun doch einmal Virtuose, so wollte er's auch völlig sein.
Wer aber sollte die Verse sprechen? Die tragische Heldin der Hofburg? Achilles protestierte dagegen und meinte, dann müsse man den Namen der Künstlerin auf den Zettel setzen, und damit sei die ganze Überraschung vereitelt. Überdies würde sich die berühmte Dame zu der kleinen »Episode« nur verstehen, wenn man ihr auch noch eine Hauptnummer im ersten Teile des Konzerts einräume, – etwa den »Gang nach dem Eisenhammer« oder das »Lied vom braven Manne!« – Das gehe nicht an. »Der Redner«, so fuhr Achilles fort, »muß sich auf die einzige kleine Aufgabe beschränken; unerwartet, unerkannt erscheint er im fernen Hintergründe; als ein Rätsel muß er während des Präludiums kommen, die wenigen Verse als ein Meister sprechen, als ein Rätsel mit dem letzten Akkorde wieder verschwinden. Ich kenne nur einen Mann, der alle diese Forderungen erfüllen mag und kann, und dieser Mann bin ich selbst.«
Hilmer sah ihn mit großen Augen an und meinte, die Aufgabe sei ihm doch zu schwer.
Achilles erwiderte stolz: »Sie haben mir früher eine Aufgabe gestellt, die mir allerdings fast zu schwer gewesen ist, und ich habe sie doch gelöst; das war die Aufgabe, Ihre Stiefel zu wichsen. Es ist mir unendlich viel leichter, Ihre Verse zu sprechen; ich war dramatischer Künstler, ich kann es heute noch sein!« Und sofort begann er zur Probe:
»Nachts um die zwölfte Stunde
Verläßt der Tambour fein Grab,«
und sprach die ganze »Nächtliche Heerschau« von Zedlitz so geisterhaft, daß ihm Hilmer mit steigender Spannung bis zum Schlusse folgte und zuletzt dem tollen Burschen wirklich zugestand, die geplanten Verse zu sprechen, vorausgesetzt, daß er ganz im Hintergründe bleibe und daß ihn niemand im Helldunkel zu erkennen vermöge.
Das Konzert fand statt. Alle Plätze waren verkauft, sogar auf zwei Leitern an den Hoffenstern des Saales standen Zuhörer, denen Achilles dort ganz insgeheim vier Sprossen vermietet hatte; er erprobte sich als der vollendete »Sekretär«, indem er fünfundzwanzig Saalkarten für eigene Rechnung kaufte, um sie dann gegen dreißig Prozent Aufgeld an »Fremde« wieder abzugeben. Doch wären ihm beinahe zwei Vorderplätze übriggeblieben, wenn sie sich nicht ganz zuletzt ein Fräulein Marie Dagolf, Stephansplatz 12, im zweiten Stock, hätte schicken lassen. Sie mußte fünfzig Prozent Agio zahlen, von Rechts wegen, weil sie so lange gesäumt hatte.
Hilmer spielte hinreißend; der Erfolg war unerhört. Und doch schwebte Achilles in großer Angst, denn seinem scharfen Auge entging es nicht, daß sein Herr vor Aufregung zitterte und während der kurzen Ruhepausen wortlos, wie ein Träumender, im Nebenzimmer saß.
Bei den »Dämmerungsliedern« erregte die plötzliche Verdunkelung zwar einige Unruhe im Publikum, doch lächelnd und flüsternd erkannten die Hörer bald die Absicht und folgten dann verhaltenen Atems. Hilmers Verse waren kurz und gut, seine Musik wunderbar charakteristisch, Achilles sprach schlicht, ergreifend.
Das letzte der Märchenbilder war »Dornröschen«; es hatte eine sehr zart anmutige Grundmelodie, fast wie ein Volkslied. Hilmer begann dieses Motiv, aber zu Achilles' großem Schrecken brach er plötzlich mit einem Trugschlusse ab, hielt ein, blickte sinnend in den Saal und modulierte dann zu einer anderen, ganz fremdartigen Weise hinüber und phantasierte in leisen, feierlichen Akkorden, die kein Ende nehmen wollten. »Er hat sich verirrt!« dachte sein Genosse; ,»wie wird er sich wieder herausfinden!«
In der Tat! er hatte sich verirrt. Schon beim Beginne des Konzerts sah er Marie in der vordersten Reihe, und je länger er spielte, um so toller verwirrten sich seine Gedanken, und doch spielte er so meisterhaft, denn er spielte für sie; – sollte er schließen, ohne ihr persönlich ein Wort m Tönen gesagt zu haben? Als er sich diese Frage stellte, brach er die volkstümliche Leitmelodie Dornröschens ab und intonierte den Hymnus Palestrinas an die Jungfrau Maria und bildete jenes Adagio seiner Sonate in freiem Fluge weiter und spann es scheinbar endlos fort, den Faden verlierend und wiederfindend, aber ganz zuletzt kam er doch wieder auf die rechte Spur, er kam wieder zu sich selbst, und die mystisch verschlungenen Tonfolgen gewannen in einem jubelnd aufstürmenden Allegro ihren hinreißenden Schluß.
Die Kritik fand des anderen Tages, daß der Künstler den – Schlaf Dornröschens und sein Erwachen in packend wahrer Tonmalerei wiedergegeben habe. Da sehe man recht, wie klar auch die reine Instrumentalmusik poetische Bilder malen, poetische Vorgänge erzählen könne, – nur habe Dornröschen fast etwas zu lange geschlafen. Die klugen Rezensenten ahnten nicht, daß sie vielmehr ein Liebesgeständnis in Palestrinaschen Kirchenmotiven gehört hatten.
Als Hilmer geendet, umdrängten ihn glückwünschende Gönner und Verehrer; etwas unhöflich machte er sich kurzweg von ihnen frei und drängte sich durch die Leute zu den vorderen Stühlen, zu Marie und ihrer Tante. Schon hatte er sie beinahe erreicht, da hielt ihn ein Unbekannter fest, der sich ihm als Xaver Piesenkam vorstellte, welcher eben eine neue Musikalienhandlung in der Alservorstadt begründet habe, und ihn aufs dringendste bat, ihm die Dämmerungslieder in Verlag zu geben. Hilmer hörte kaum, was der Mann sprach, und sagte ihm alles zu, was er begehrte, nur um ihn los zu werden. Doch als ihm dies zuletzt wirklich gelang, waren die beiden Damen bereits verschwunden. Des anderen Morgens erhielt er drei Zuschriften von Artaria, Haslinger und Mechetti, sie boten ihm hohe Summen für den Verlag der Dämmerungslieder, und der Virtuos entsann sich erst jetzt, daß er sein Werk gestern abend einem obskuren Winkelverleger geschenkt hatte, um nur das erste Wort mit Marie sprechen zu können. Und er hatte das Mädchen doch nicht gesprochen.
Wäre ihm sein Sekretär nach dem Schlusse des Konzertes hilfreich zur Seite gestanden, so würde er die Dummheit schwerlich begangen haben; allein Achilles hatte gleichzeitig eine andere Begegnung. Ein bekannter Autographenhändler gesellte sich zu ihm und klagte, daß er schon mehrmals Herrn Hilmer vergebens um »einige Zeilen von seiner Hand« gebeten, allein der Künstler habe ihm erklärt, daß er grundsätzlich keine Autographen weggebe. Nun bat er den »Herrn Sekretär«, ihm ein solches zu verschaffen, und bot ihm zwanzig Gulden für ein schönes Blatt mit Noten. Achilles, der jetzt nicht mehr dramatischer Redner war, sondern ganz Sekretär, versprach es und nahm gleich zehn Gulden als Aufgeld.
Des anderen Morgens erwischte Hilmer seinen Sekretär, als derselbe eben im Begriffe stand, die Notenskizze von drei »Pensées fugitives« in die Tasche zu stecken.
Da Achilles nicht leugnen konnte, so bekannte er sofort die Wahrheit und log nur mit der ehrlichsten Miene mildernde Umstände hinzu. Hingerissen vom Zauber der Dämmerungslieder, habe ihn jemand um ein Autograph des Meisters ersucht. »Ich konnte nicht widerstehen! Und da ich weiß, daß Sie keine Zeile herschenken, so wagte ich, dieses wertlose Blatt selber zu nehmen. Ich konnte der Dame nicht widerstehen, die so verschämt und doch so dringend bat. Man muß ritterlich gegen Damen sein, und nur aus diesem Grunde nahm ich das Papier.«
»Eine Dame?« fragte Hilmer. »Welche Dame? Wie heißt sie?«
»Wie sie heißt? Ja, wenn ich das nur wüßte! Ich habe ein entsetzlich schlechtes Namensgedächtnis. Sie saß, glaub' ich, in der vordersten Reihe«, stammelte Achilles.
»Ich kenne alle Damen, die in der vordersten Reihe saßen«, rief Hilmer. »Warum sprach mich die Dame nicht persönlich an?«, und da ihm sein Sekretär nun plötzlich wieder wie sein Stiefelwichser vorkam, so fügte er hinzu: »Esel! Wenn Er der Dame das Autograph bringen will, so muß Er doch wissen, wie sie heißt und wo sie wohnt?«
Achilles durfte keinen Namen nennen, den sein Herr kannte. Da fiel ihm ein, daß in der vordersten Reihe auch jene zwei Fremden gesessen, denen er ganz zuletzt noch ein Billett »vermittelt« hatte, wie er den Verkauf mit fünfzig Prozent Agio nannte. Er erhob sich mit stolzer Überlegenheit und sprach: »Eure Gnaden kannten doch nicht alle Damen der vorderen Reihe! Es waren zwei Fremde darunter, und just eine von diesen bat mich um die Handschrift, und jetzt kommt mir auch mein Gedächtnis wieder: sie heißt Marie Dagolf, hat ganz flachsblondes Haar und wohnt Stephansplatz Nummer 12, wird aber diesen Nachmittag Wien wieder verlassen, weshalb ich Eure Gnaden bitte, ihr die gewünschten Zeilen heute früh noch überbringen zu dürfen.«
Achilles glaubte meisterhaft gelogen zu haben, so recht genau gelogen und also mit dem vollen Gepräge der Wahrheit. Um so verblüffter war er, als ihm sein Herr die Handschrift hinwegnahm und ihm mit der größten Bestimmtheit und Grobheit befahl, unbekannten Damen künftighin nichts mehr zu versprechen, was er nicht leisten dürfe, und sich an seine Arbeit zu trotten. Achilles ging brummend ab mit dem festen Vorsatze, demnächst mit etwas geschickterer Hand einen solchen Fetzen beschriebenen Papiers sich anzueignen und an den rechten Mann zu bringen.
Hilmer war wie verwandelt. Seine ganze frühere Leidenschaft, die ihn gestern abend bereits so verwirrend neu erfaßt, loderte wieder zur hellen Flamme empor. Während des ganzen Vormittags bewachte er seinen Sekretär, damit derselbe nicht doch noch irgendein paar Zeilen seiner Hand erhaschen und Marie überbringen möge. Als aber die Mittagsstunde schlug, saß er bereits in der Droschke, um zum Stephansplatz Nummer 12 zu fahren. Er wollte Marie seine ganze halbfertige Sonate als sein wertvollstes Autograph persönlich überreichen.
Das Glück begünstigte ihn. Sie war zu Hause, ganz allein zu Hause; sie nahm seinen Besuch an.
Etwas verlegen bat er um Entschuldigung, daß er sie, wenige Stunden vor ihrer Abreise von Wien, mit seinem Besuche noch zu stören wage, daß es ihn aber doch gedrängt habe, ihr jene Zeilen von seiner Hand selbst zu überreichen, um welche sie gestern abend seinen Sekretär gebeten.
Fräulein Dagolf war ganz verblüfft von dieser Anrede, sammelte sich aber rasch und meinte, hier liege offenbar eine Verwechselung vor, denn sie denke nicht daran, Wien demnächst zu verlassen, sie habe gestern keine Silbe mit seinem Sekretär gesprochen, geschweige denselben um einige Zeilen von seines Herrn Hand ersucht, allein sie freue sich, daß der Irrtum ihr wenigstens den Besuch eines so berühmten Künstlers verschaffe, den sie ja auch als Landsmann begrüßen dürfe.
Nach diesen Worten war Hilmer noch verblüffter wie Fräulein Dagolf vorher nach seiner Anrede gewesen, er schämte sich, er war wie mit kaltem Wasser begossen, und es blieb ihm nichts übrig, als zur Aufklärung die ganze Geschichte wieder zu erzählen, welche ihm Achilles vorgeschwindelt hatte.
»Und also sind Sie mit dem Autograph an die unrechte Dame geraten,« rief Marie schelmisch, »und das kommt doch nur von der – Dämmerung! Ich bitte Sie, Herr Hilmer, spielen Sie niemals wieder ein Konzert im Dunkeln. Die reine Tonkunst bedarf solcher Kulisseneffekte nicht, und Ihre Musik braucht das Licht nicht zu scheuen.«
Hilmer verteidigte sich. Er sprach sehr begeistert, aber etwas konfus von Poesie, Stimmung, Romantik, von einer Allkunst, welche alle Sinne zugleich gefangen nehme.
Mit dem anmutigsten Lächeln entgegnete Marie, daß sie bei diesem Gedankenspiel wie bei seinem Klavierspiel seine zwar unebenbürtige, aber doch ganz entschiedene Gegnerin sei.
»Und doch besuchten Sie so fleißig und, wie mir schien, teilnahmvoll meine Konzerte?«
»Das tat ich und zwar vornehmlich aus zwei Gründen, um zu lernen und um zu räsonieren. Ich beobachtete Ihre Hand, um etwas von Ihrem meisterhaften Anschlag zu lernen – denn ich bin Klavierlehrerin! – und ich studierte Ihre ganze große Virtuosenkunst, um das Recht zu gewinnen, darüber räsonieren zu dürfen.«
»Also haben Sie nur auf meine Finger, nicht in meine Seele geblickt?«
»Auch dies versuchte ich, nur fand ich da nicht, was ich suchte; denn mir schien, Sie selber hätten sich immer am meisten verloren, wenn Sie am glänzendsten spielten. Vielleicht bin ich unfähig, Sie zu verstehen. Ich liebe das Einfache, Klare, Anspruchslose, ich schwärme für das knospenhaft Schöne, und die herausfordernde Bravour dünkt mir der Verfall einer jeglichen Kunst. Ich suche mein ganzes Leben lang – und ich bin schon einunddreißig Jahre alt! – vergebens nach einem Virtuosen, der in seinen einsamen Studien die unerhörtesten Schwierigkeiten besiegen lernt, um im öffentlichen Vortrage seine Virtuosität zu verbergen und das Schlichteste so vollendet einfach schön zu geben, daß jeder glaubt, es könne gar nicht anders sein, und er vermöge es gleich ebenso zu machen: und doch vermag es nur der einzige. Als ich Sie vergangenen November in einem fast leeren Saale hörte, da glaubte ich, Sie könnten einmal dieser einzige werden, wenn Sie immer vor so wenigen, ja noch wenigeren Zuhörern spielten. Leider wuchs die Schar der Hörer, wuchsen die Stürme des Beifalls immer riesenhafter, und da war es dann ganz natürlich, daß Sie sich – nach meinem kindischen Gefühle – von jenem Ideal immer weiter entfernten.«
Hilmer schwieg eine Weile und blickte zu Boden, dann sprach er, ironisch lächelnd: »Die Frauen sind unsere besten Lehrerinnen und Meisterinnen, wenn sie uns nicht belehren und nicht meistern wollen, wenn sie bändigend und adelnd auf uns wirken durch ihr bloßes liebenswertes Sein und Wesen oder vielleicht mehr noch durch ein poetisches Urbild jenes Wesens, welches wir selber uns vorzaubern in unseren geheimsten Träumen. Mein Leben lang – ich bin freilich erst achtundzwanzig Jahre alt! – habe ich vergebens nach einem weiblichen Wesen gesucht, welches uns meisterte, ohne uns meistern zu wollen. Ich glaubte eben jetzt ein solches gefunden zu haben, allein es war Täuschung!«
Bei diesen Worten ergriff Hilmer seinen Hut und empfahl sich in der artigsten Weise, und Marie dankte nicht minder höflich für seinen Besuch. Sie dachte aber dabei, es sei doch wunderbar, wie unartig der junge Mann in aller Artigkeit sein könne, und der Künstler dachte, so höflich seien ihm doch noch niemals die bittersten Grobheiten gesagt worden.
Seine Sonate, das kostbare Autograph, hatte Hilmer anfangs aus Verblüffung zu überreichen vergessen, und beim Weggehen vergaß er vor Ärger, sie wieder mitzunehmen. So war sie auf dem Tische liegengeblieben.
Hatte Marie dieselbe gar nicht bemerkt? Oder zögerte sie aus Schonung, sie ihm sofort wiederzugeben? Oder behielt sie die Handschrift, in der Erwartung, daß er wiederkommen und sie abholen werde, um sie an die richtige Adresse zu befördern?
Mit diesen Fragen quälte sich Hilmer drei Tage lang. Er fühlte sich unglücklicher noch als Field, nachdem derselbe das Jawort der Französin erhalten hatte. Das Essen schmeckte ihm nicht und das Komponieren und Spielen noch weniger. Um doch etwas zu tun, gab er Achilles auf vierzehn Tage Urlaub und spendete ihm eine Hundertguldennote, damit er sich für diese Zeit eine andere Wohnung suche und ihm nicht vor die Augen komme. Seit dem Besuche bei Marie war ihm der Anblick des Burschen unerträglich.
Achilles steckte die Note sehr ruhig ein und sprach vergnügt zu sich selbst: »Der Virtuosenruhm meines Herrn wird noch ungeheuer zunehmen, denn seine Narrheit ist noch immer im Wachsen.«
In der Einsamkeit zehrte Hilmer mit wahrem Genusse an seinem Arger, er schwelgte im Gefühl der Täuschung und Kränkung, die er erfahren. Ach, es tut uns oft so wohl, uns recht tief als mißachtet, beleidigt, als Märtyrer zu fühlen! Zum großen Künstler gehört seit Beethoven unbedingt ein Stück Märtyrertum, und wer ein solches nicht erlebt hat, dem dichten es später seine Biographen an.
Die drei ersten Tage war wunderschönes Wetter, die Frühlingssonne leuchtete so hell! Dann kamen düstere Sturm- und Regentage. Als das Barometer hochstand, war Hilmers Stimmung verzweifelt tief gesunken, als das Barometer fiel, erhob sie sich wieder. Das war bei unserem Virtuosen nichts Neues. Schon seit seiner Kindheit pflegte er bei hellem Himmel traurig zu sein und beim Donnerwetter am vergnügtesten, weshalb er sich auch nicht zum Juristen, sondern zum Künstler berufen glaubte.
In den sonnigen Tagen dachte er: »Dieses Fräulein Dagolf – verrückter Name! – ist also Klavierlehrerin!« Welche Enttäuschung! Klavierlehrerin in Karlsruhe, die Stunde zu dreißig Kreuzern! Höher zahlt man dort nicht. Die Klavierlehrerinnen waren unserem Virtuosen, wie fast allen Musikern, stets eine ganz besonders unangenehme Erscheinung gewesen, völlig unberechtigte Existenzen.
In den Regentagen aber sprach er zu sich selbst: »Hinter dieser ›Klavierlehrerin‹ steckt ein Geheimnis. Marie Dagolf – der Name ist althochdeutsch, sie ist uralt germanischer Abkunft, wie schon ihr wundervolles blondes Haar bezeugt – Marie gibt vermutlich nur aus phantastischer Passion Klavierstunden, vielleicht infolge eines Gelübdes; das sähe ihren allerliebst barocken, geradezu mittelalterlichen Ideen über das einfach Schöne in der Kunst ganz ähnlich. Sie hat das Stundengeben nicht nötig, sie ist reich, wie könnte sie sonst mit ihrer Tante während des ganzen Winters in Wien auf vornehmem Fuße leben! dreißig Kreuzer – welch frevelhafter Gedanke! sie gibt alle ihre Stunden umsonst.«
»Fräulein Dagolf ist volle drei Jahre älter wie ich, einunddreißig Jahre! nahezu eine alte Jungfer!« rief Hilmer hell auflachend, als eben das Abendrot des schönsten Maitages vor seinen Fenstern verglühte.
»Marie hat sich wunderbar frisch und jugendlich bewahrt,« flüsterte er sinnend vor sich hin, als nachts der gewaltigste Sturmregen wider die Scheiben prasselte, »ein jeder wird sie für ein Mädchen von höchstens dreiundzwanzig Jahren halten. Übrigens – ein paar Jahre mehr oder weniger, das macht ja gar nichts aus.«
Beim schönen Wetter verdroß es Hilmer, daß Fräulein Dagolf seine künstlerische Gegnerin sei, beim schlechten fand er einen ganz besonderen Reiz in Maries Gegnerschaft.
Sie hatte ihn schonungslos an sein schlechtbesuchtes erstes Konzert erinnert, an die zwanzig damaligen Zuhörer, das war abscheulich. Allein es würden ja gar nur achtzehn gewesen sein, wenn sie mit ihrer Tante nicht dabei gewesen wäre, und das war sehr lobenswert.
Sie trieb sich in dem Irrgarten der Ästhetik herum, und die Ästhetik war dem Virtuosen – bei schönem Wetter – eine ganz unerlaubte Wissenschaft. Beim Regen aber fühlte er sich auf einmal wieder als den ehemaligen Heidelberger Studenten und fand es reizend, daß Marie aus reiner Leidenschaft Klavierstunden gab und Kunstphilosophie trieb. Vielleicht gab sie die Stunden nach philosophischer Methode. Er hatte immer eine Vorliebe für öffentliche Charaktere unter den Frauen gehabt, für Schauspielerinnen, Sängerinnen, Dichterinnen. Gehörte die philosophische Klavierlehrerin nicht auch dazu? Für still befriedete Backfische, für jene kleinen Veilchen, die nur im Verborgenen des Mutterhauses blühen, besaß er kein Organ.
Zuletzt ertappte sich Hilmer auf dem Selbstgeständnis, daß ihm Marie, nachdem sie ihm allerlei Unangenehmes gesagt, fast noch interessanter schien als vorher, wo sie ihm gar nichts gesagt hatte.
Die Sonate kam nicht zurück, aber auch keine Zeile des Dankes für das wertvolle Geschenk.
Nachdem Hilmer noch eine Woche gewartet hatte und das Wetter immer schöner geworden war, ermannte er sich und schwang sich empor zur ganzen Höhe des beleidigten Stolzes. Es war ihm gelungen, binnen weniger Monate die Augen von ganz Wien auf sich zu lenken, nur die Augen, welche er am liebsten sah, wandten sich gleichgültig von ihm weg; seine Kunst hatte ganz Wien gefallen, nur der einen, welcher sie am meisten hätte gefallen sollen, gefiel sie nicht.
Jene Erfolge kamen ihm zuletzt ganz erbärmlich vor; er begann sich ihrer zu schämen und beschloß, Wien zu verlassen.
Nach wenigen Tagen war alles zur Abreise geordnet, die Koffer schon abgesendet. Hilmers nächstes Reiseziel war Pest.
Eben will er das verödete Zimmer verlassen, da wird ihm eine versiegelte Notenrolle überreicht mit Adresse von unbekannter Hand. Hastig reißt er den Umschlag auf, es ist seine unvollendete Sonate, das Autograph, welches Fräulein Dagolf ihm zurückschickt. Er sucht nach einem Brief und findet keinen!
Tiefgekränkt schiebt er die Rolle mit zitternder Hand in seine Reisetasche und eilt zu dem Donaudampfboot, welches ihn nach Ungarn tragen sollte.
Es war eine einsame Fahrt, das Verdeck menschenleer, Hilmer saß am Rande hinter dem Radkasten und blickte träumend in die Wellen. Die Reisetasche lag neben ihm auf der Bank.
Die Motive seiner Sonate schwirrten ihm verworren durch den Kopf, und er quälte sich vergebens ab, sie klar festzuhalten. Er öffnet mechanisch, fast ungewollt, die Reisetasche und nimmt die Notenrolle heraus, welche obenauf lag. Wie er sie aufrollt, entfällt derselben ein Papier, der Zugwind erfaßt es und will es über Bord führen. Da springt ein Mann, der bisher unbemerkt zur Seite gestanden, rasch hervor, erhascht das Blatt im letzten Augenblicke und überreicht es Hilmer mit artiger Verbeugung.
Der Mann war – Achilles!
Er sprach: »Als ich erfuhr, daß Sie nach Pest reisen wollten, begab ich mich ganz stille hinter Ihnen gleichfalls zu Schiffe. Bei den Wienern war ich Ihnen nützlich, aber wenn Sie bei den Madjaren Konzerte geben wollen, dann werde ich Ihnen unentbehrlich sein. Übrigens ist mein vierzehntägiger Urlaub zu Ende, und die hundert Gulden, welche Sie mir als Wartegeld gaben, waren es schon gestern.«
Hilmer hörte die letzten Worte gar nicht mehr. Das Blatt, welches Achilles gerettet hatte, war der Begleitbrief, den Maria dem zurückgesandten Manuskripte beigelegt und den der aufgeregte Künstler bei der Hast, mit welcher er in Wien die Rolle eröffnet, nicht gefunden hatte.
Er lautete: »Sie verzeihen vielleicht die späte Rücksendung der Sonate, welche Sie auf meinem Tische liegen ließen, wenn ich Ihnen sage, daß das fesselnde Werk selbst die Hauptschuld trägt. Ich las Ihre Komposition, spielte sie, studierte sie, glaubte das scheinbar so einfache und kunstlose Werk zu verstehen und erkannte dann wieder, daß ich es nicht ganz verstand. Aber es ist ja nur ein Torso. Ich würde mich lebhaft freuen, wenn ich die ergreifende Tondichtung später einmal vollendet sehen, oder mehr noch, wenn ich sie von Ihnen vorgetragen hören könnte.«
Hilmer hatte diese Zeilen eben zum zehntenmal gelesen, als das Dampfboot bei Preßburg anlegte. Er befahl Achilles, zu sorgen, daß die Koffer ans Land geschafft würden. Vergebens erklärte dieser, daß sie ja noch lange nicht in Pest, sondern erst in Preßburg seien. Hilmer stieg aus: er würde sich jetzt keine Meile weiter von Wien entfernt haben, er würde bei dem elendesten Dorfe ausgestiegen sein, wenn sich's nicht anders gefügt hätte. Denn für ihn gab es vorerst nur zwei Aufgaben: die Sonate zu vollenden, und dann nach Wien zurückzufahren, um sie Marie vorzuspielen.
Im Gasthaus zum »Grünen Baum« verschloß er sich in sein Zimmer und komponierte zwei Tage lang, während Achilles zwei Tage lang vergleichende Untersuchungen über Herrn Palugiays Ungarweine auf seines Herrn Kosten anstellte.
Während des Komponierens entdeckte der Künstler erst wieder das Wort, welches er einst mit Bleistift über das unvollendete Adagio geschrieben und welches vordem Achilles so sehr erschreckt hatte: – »Marie!« Als er ihr die Handschrift brachte, hatte er ganz vergessen, daß dieser verräterischer Stoßseufzer darin geschrieben stand, er hätte ihn sonst gewiß vorher mit Gummi weggewischt. Hatte sie das Wort gelesen? Sie mußte wohl, da sie ja die Sonate studiert zu haben behauptete. Die schriftliche Liebeswerbung Fields war sehr kurz und derb gewesen; dieses einzige Wort war eine noch kürzere Liebeswerbung, aber eine weit feinere. Und Marie hatte das Wort offenbar verstanden. Würde sie ihn sonst aufgefordert haben, die Sonate zu vollenden und ihr vorzuspielen?
So dachte der Künstler und der Gedanke – ein Liebender braucht so wenige Gedanken! – gab seiner Phantasie die Flugkraft, daß er nach vollendetem Adagio auch gleich das ganze glühend leidenschaftliche Finale in einem Gusse aufs Papier warf.
Als die Sonate fertig war, übergab Hilmer dem Wirt seine Koffer zur Aufbewahrung, weil er auf zwei, drei, acht Tage nach Wen zurückreisen müsse, und vergaß nicht einmal die Zeche zu bezahlen.
Da meldete sich auch Achilles, den er die zwei Tage lang gar nicht gesehen hatte, und bat um seine Entlassung. »Sie haben vorher das › Fine‹ unter Ihre Sonate geschrieben, und dies ist auch das Fine für mich. Seit Sie jene leidige Sonate begannen, hatte ich kein rechtes Glück mehr bei Ihnen. Die Sonaten gehören der Vergangenheit, ich gehöre der Zukunft. Ich wollte Ihnen die Stufen zum Parnaß zeigen, zu dem Hochgipfel des modernen Virtuosenruhmes; Sie steigen eigensinnig herab zu dem Gradus ad Parnassum des alten Clementi, und der war ja wohl der richtige Sonatenschreiber.«
Hilmer bewilligte das Gesuch in Gnaden unter Anerkennung treu geleisteter Dienste. Befreit atmete er auf, als ihm Achilles wirklich nicht wieder nachreiste.
Nach wenigen Tagen erhielt der Wirt zum »Grünen Baum« einen Brief Hilmers, der ihn ersuchte, die Koffer wieder nach Wien zurückzuschicken.
Der Vortrag der vollendeten Sonate durch den Meister, anfangs unter sechs Augen – denn die Tante war auch dabei –, bei späterer Wiederholung unter vier, mußte tieferen Eindruck auf Marie Dagolf gemacht haben als alle Konzerte des Virtuosen, denn nach einem halben Jahre waren die beiden Mann und Frau.
Diese Ehe aber hatte ganz andere Folgen als die Ehe Fields. Ludolf Hilmer gab keine Virtuosenkonzerte mehr und seine Frau keine Klavierstunden. Dagegen gab nun Hilmer Unterricht und schrieb die schönsten Tonwerke, welche anfangs kein Mensch hören und kaufen wollte. Es schien, als ob er bei seiner Frau die Virtuosität des Musikers völlig verlernt habe, allein seine Frau lehrte ihn dafür die Virtuosität des harmonischen Lebens. Und aus dieser Virtuosität erwuchs ihm zuletzt doch wieder eine so harmonisch reine und edle Kunst, durch welche er zuletzt weit höheren Ruhm gewann als früher unter der Führung des Achilles Schneider.
Ludolf Hilmer, ein berühmter Tonsetzer? Wer kennt denn diesen Namen? Kein Mensch. Und das ist ganz natürlich, denn der Name ist nur eine Maske; der Mann, bereits ein Verstorbener, hat ganz anders geheißen, er führte mehrere Namen; aber was ich von ihm erzählte, das ist eine wahre Geschichte. »Was ist Wahrheit?« fragte Pilatus. Der Leser braucht nur die neuere Musikgeschichte unter verschiedenen Namen nachzuschlagen, so wird er die Antwort finden.
Hilmer war schon zehn Jahre verheiratet, glücklich und beglückend, da begegnete er eines Tages im Wildbad seinem ehemaligen Bedienten und Sekretär, der dort als feiner Herr auftrat und die Kur gegen das Podagra gebrauchte.
Nachdem Achilles bei dem Künstler seinen Abschied genommen, war er Kammerdiener eines reichen österreichischen Kavaliers geworden, wußte sich aber rasch zum Haushofmeister und Intendanten aufzuschwingen, der seinen neuen Herrn erst recht lehrte, wie ein Kavalier leben muß.
Die Folge war, daß der Kavalier nach fünf Jahren in den Schuldturm wanderte, während sich der Intendant mit einem artigen Vermögen zur Ruhe setzte. Dieselbe Weisheit, welche dem Virtuosen ein »Gradus ad Parnassum« gewesen, war dem Kavalier zum »Gradus in Carcerem« geworden.