Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Dritter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Gespensterkampf.

1862

Als Lissabon vor hundert Jahren durch das große Erdbeben zerstört wurde, stockten in Deutschland und weiter hinaus die warmen Quellen, und in den Wildnissen des Walchensees stürzte ein Stück Bergwand herab. Die Quellen kamen wieder, und der Bergsturz im menschenleeren Hochgebirg schädigte niemand. Trotzdem betrachten wir mit besonderem Schauer die heute noch erkennbare Stelle, welche uns erzählt, daß das Erdbeben von Lissabon selbst in den deutschen Alpen nachgezittert habe. Die furchtbare Katastrophe tritt uns hier gleichsam persönlich nahe in ihrer unermessenen Tragweite.

So fühlt sich die tiefer sinnende Einbildungskraft wohl auch aufs unmittelbarste ergriffen, wenn sie eine Katastrophe der Weltgeschichte, die in den Geschichtsbüchern kalt und groß vor uns emporsteigt, nachzittern sieht in dem friedlichen Lebensgang eines fernab wohnenden harmlosen Menschen. Mit Schrecken erkennen wir, daß jedes noch so verborgene Menschenschicksal dennoch verflochten sei in die großen offenbaren Geschicke der Menschheit, und fühlen uns beim bloßen Anhören solch eines kleinen nachzitternden Erlebnisses persönlich gepackt, während wir die allbekannten historischen Helden der Katastrophe gegenständlich ferne kämpfen und leiden sehen wie die Darsteller eines Trauerspiels aus dem Zuschauerraum des Theaters.

Erstes Kapitel

Schloß Wodenburg im Nieder-Wasgau war das seltsamste Schloß von der Welt; es war keine Ruine und auch kein wohnlicher Bau, sondern ein Mittelding zwischen beidem, ein Haus, welches hundert Jahre brach gelegen, ohne daß man es hatte zerfallen lassen. Wohlerhalten umfing noch die Ringmauer mit dem wappengeschmückten Tore den Schloßhof, aber zwei Fuß vor dem Tore stand eine hochschüssige Tanne; kein Wagen konnte mehr einfahren, und nur Fußgängern blieb zu den Seiten des Baumes freier Paß. Die Tanne inmitten der Einfahrt schien das echte Sinnbild des Schlosses. Das Pflaster des Schloßhofes war nirgends aufgerissen oder versunken, aber fettes Gras sproßte zwischen den Steinen, und eine Ziege nährte sich seit Jahren bequem von der gepflasterten Wiese. Dieses Tier gehörte dem alten Christian, der einzigen menschlichen Seele, die hinter jenem Tore wohnte, vor welchem die Tanne Schildwacht stand. Christian hatte das Schloß obenhin imstande zu halten und nistete in einem kleinen Häuschen, welches an die östliche Seite des Hauptbaues angeklebt war, und der einsame Christian konnte selber als ein in den Wogen der Zeit unberührt stehengebliebenes Altertum gelten. Er unterschrieb sich »Freiherrlich von Wodenburgischer Schloßaufseher auf Wodenburg«, und da das mäßig große Haus, welches er hütete, ein massiver Viereckbau mit Ringmauer und vier Erkertürmchen war und einem Freiherrn gehörte, so mußte man es immerhin ein Schloß nennen. Auch senkte sich am Südwesthange des Burgberges ein kleiner Herrengarten zu Tale nieder; neben verwilderten Hainbuchengängen wucherten dort Boskets von dicht verfilzten Brombeersträuchern, breite Beete von Nachtschatten und lange Rabatten von Brennesseln in wahrhaft tropischer Pracht. Ein Karpfenteich am Fuße des weiland terrassierten Gartens war auf die Dauer selbst den trägen Karpfen zu stillstehend geworden, und sie hatten den Fröschen und Wasserspinnen Platz gemacht, die jetzt über und unter der Decke gelbgrüner Meerlinsen ihr Wesen trieben. An die Nordseite des Schlosses lehnte eine kleine Kirche. Ursprünglich mochte sie die Burgkapelle gewesen sein; man hatte das Schiff aber schon im fünfzehnten Jahrhundert erweitert und aus der Kapelle ein Pfarrkirchlein geschaffen, in welches die wenigen armen Bewohner des am Fuße des Burgberges gelegenen Dorfes Wodenburg zum Gottesdienste gingen. Ein bedeckter hölzerner Gang verband Schloß und Kirche und führte aus den Zimmern in den herrschaftlichen Kirchenstuhl.

Diese Zimmer waren das merkwürdigste am ganzen Schlosse. Denn man schrieb jetzt 1792, der ganze Hausrat und Schmuck der Herrschaftszimmer aber war seit etwa 1692 unverrückt und unverändert derselbe geblieben, und zwar aus folgendem Anlaß. Schloß Wodenburg gehörte den Freiherrn gleichen Namens, die bis gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts hier gewohnt hatten. Damals aber waren ihnen durch das Aussterben der jüngeren Linie weit schönere Güter jenseits des Rheines zugefallen; die Familie war auf das andere Ufer übergesiedelt, hatte dort ein größeres Schloß, viel prächtiger eingerichtet, vorgefunden und die alte Stammburg fortan innen und außen stehenlassen, wie sie stand. Nur selten besuchte noch einer der Herren auf etliche Stunden die verwaisten Räume, gewohnt oder auch nur übernachtet hatte seit hundert Jahren niemand mehr in denselben. Der altväterliche Hausrat war anfangs aus kluger Vorsicht in unverrücktem Stand erhalten worden, später aus Pietät, und wenn die Freiherrn einen treuen Diener zur Ruhe setzen wollten, so schickten sie ihn als Hüter ihrer Familienreliquien nach Wodenburg.

Nun wurde der Wodenburg aber doch wieder einmal ein längerer Besuch zugedacht, und zwar von zwei schönen zwanzigjährigen Mädchen im September 1792. Charlotte, die einzige Tochter des verwitweten Herrn von Wodenburg, hatte sich's als die höchste Gunst vom Vater erbettelt und erstürmt, daß sie mit ihrer Freundin Sophie zwei Tage in den geheimnisvollen Zimmern des alten Schlosses schwärmen dürfe, wo die Zeit hundert Jahre lang stillgestanden. Diese Freundin, die Tochter eines reichen Kaufherrn, war mit ihr in Berlin erzogen worden; sie weilte gegenwärtig als Gast in dem väterlichen Hause und wurde in aller Weise geehrt und gefeiert. Charlotte jedoch meinte, was sie Sophien an äußeren Genüssen bieten könne, das habe dieselbe längst schon feiner und voller in dem großstädtischen Leben gekostet, ein wahrhaft neuer Genuß dagegen würden ihr ohne Zweifel zwei Tage auf Wodenburg sein. Die Torfahrt mit dem Tannenbaum, die gepflasterte Ziegenweide, die Zimmer mit dem hundertjährigen Hausrat und der alte Christian dazu, das waren Dinge, die man in Berlin für alles Gold des reichsten Bankhauses nicht haben konnte. Bei diesem Anlaß wollte Charlotte dann auch einen ihrer liebsten und ältesten Wünsche befriedigen. Denn bisher hatte sie immer nur auf flüchtige Minuten durch die geheimnisvollen Zimmer von Wodenburg wandeln dürfen; aber Tag und Nacht möglichst einsam dort zu verweilen, das deuchte ihr grauslich schön, und ganz besonders sehnte sie sich nach den Schauern der Nacht und nach dem wundersamen Traum, welchen sie sicherlich in dem großen Himmelbett und unter der schweren seidenen Bettdecke träumen müsse, unter welcher ihre Ahnen vor hundert Jahren zum letztenmal geschlafen. Nur frische Matratzen, Kissen und Leintücher bat sie vorher hinüberzuschicken; denn in diesem Stücke fürchtete sie etwas die Familienheiligtümer des siebzehnten Jahrhunderts.

Als der Vater endlich dem Andringen der Tochter nachgab, ward der große Reisewagen gepackt und mit Mundvorrat gefüllt, als gälte es eine achttägige Belagerung des Schlosses auszuhalten. Etliche Flaschen Wein aus dem siebzehnten Jahrhundert wurden mit besonderer Sorgfalt in die Seitentaschen des Wagens geborgen; sie konnten ohne chronologischen Verstoß aus den alten Venetianer Gläsern auf Wodenburg getrunken werden; der Schinken, die Würste und die Wildbretpastete freilich waren neueren Datums. Frau Weiland, eine ehrsame Pfarrerswitwe, welche dem Freiherrn den Haushalt führte, begleitete die beiden Mädchen in der Doppeleigenschaft einer Oberhofmeisterin und Kammerjungfer, und der Kutscher sollte zugleich als Bedienter aufwarten. So glaubte der Vater jeder Forderung des Anstandes, der Sicherheit und Bequemlichkeit genügt zu haben. Er selber aber wollte am dritten Tage, bis wann sich die Mädchen seiner Ansicht nach in dem alten Neste wohl satt gelangweilt hätten, hinüberkommen, um die ganze Gesellschaft wieder heimzuführen.

Am Nachmittage hielt der Wagen bei der Tanne vor dem Schloßtor. Die beiden Mädchen stiegen lachend aus, schlüpften, jede auf einer anderen Seite des Baumes, zum Portale hinein und schritten dann Arm in Arm über den grasbewachsenen Hof, wo sie von dem alten Christian staunend begrüßt wurden. Nachdem ihn Charlotte wegen der nötigen Vorkehrungen an Frau Weiland gewiesen, führte sie ihre Freundin in den verwilderten Schloßgarten. Beide schwelgten zunächst in der Wonne, ungestört und einsam sich selber zu haben, und der schwärmerischen Charlotte gesellte sich noch die nicht minder süße Lust hinzu, diesen wundersamen Ort, von welchem sie so oft erzählt, der Freundin mit beredtestem Führereifer nun in voller Wirklichkeit zu zeigen. Indem sie Sophien durch die Buchengänge führte, wo sie schon als Kind seltsam aufgeregt umhergestreift, war es ihr, als sei ihre Freundschaft, die doch kaum sechs Jahre alt, nunmehr auch in die Kinderjahre zurückverlängert worden. Denn wenn wir jemand recht liebgewinnen, wird es uns ja ohnehin schwer zu begreifen, daß es einmal eine Zeit gab, da wir noch gar nichts von ihm wußten, und wir dichten uns gerne das wahrhaftige Märchen vor, als sei eine Neigung, die nur mit uns selber sterben soll, auch von Anbeginn mit uns selber geboren.

»Dieser Lustgarten ist doch etwas unwegsam«, sagte Charlotte; denn sie war eben mit ihrem Kleide in einem Dornbusch hängengeblieben, und als sie Zugriff, um sich frei zu machen, verbrannte sie die Finger an einer großen Nessel. »Sehr unwegsam! Übrigens habe ich meine eigenen Gedanken, wie dem abzuhelfen sei. Setzen wir uns auf diesen Baumstamm; ich will dir meinen Plan vorlegen.« Es war in der Tat das beste, sich auf den Stamm zu setzen; denn über ihn hinauszusteigen hätten die beiden Mädchen doch nicht vermocht. Eine dicke, knorrig verästete Eiche, von den Stürmen des letzten Frühjahrs gefällt, lag nämlich quer über dem verwachsenen Pfade, jeden weiteren Schritt verbietend.

Charlotte begann: »Mein Lehrer behauptete, Wodenburg habe ursprünglich Wodansburg oder der Berg des Wodan geheißen, und was wir als alt oben in dem Schlosse anstaunen, das sei im Grunde funkelneu gegenüber jenem Uraltertum, auf welches der Name des Berges zurückdeutet. Wo jetzt die Kirche steht, da lag die Opferstätte, der heilige Hain des Wodan; in den katholischen Zeiten war darum die Kirche dem Erzengel Michael geweiht, dem Nachfolger und Erben Wodans auf so manchem Berge. Was sagst du dazu, Sophie, wenn wir dem alten Wodan wieder zum Rechte verhülfen und diesen verwilderten Lustgarten in seinen Opferhain verwandelten?« –

Sie hielt an, wie jemand, der auf eine bedeutende Frage eine bedeutende Antwort erwartet.

Sophie jedoch warf ganz leichtfertig die Worte hin: »Aber der Hain des Heidengottes war ja, wie du selber bemerktest, gar nicht im Lustgarten, sondern oben, wo die Kirche steht.«

»Liebe Freundin«, sagte Charlotte, »wo es sich um eine zweitausendjährige Geschichte handelt, da verzeiht man's den größten Gelehrten, wenn sie einen ganzen Büchsenschuß weit nebens Ziel schießen, warum sollte man es uns nicht verzeihen, daß wir hier den Wodanshain einen Büchsenschuß seitab vom rechten Flecke stellen? Das ist antiquarische Lizenz. Hier unter deutschen Eichen und Buchen wollen wir uns in Germaniens und des Wodansberges Urgeschichte zurückversenken, hier wollen wir Klopstocks Bardiete lesen und die Gesänge der Barden Rhingulf und Sined, und einige Gartenbänke im altdeutschen Bardenstil müssen dann auch neben den gebahnteren Pfaden aufgestellt werden, denn auf diesem knorrigen Eichenstamm sitzt man doch entsetzlich schlecht, und an der lieblichsten Stelle des Haines muß Klopstocks Büste auf granitenem Sockel aus dem Dickicht hervorleuchten. Ich habe schon die Inschrift für den Sockel gewählt, die Chorstrophe der Hermannsschlacht:

Höret Taten der vorigen Zeit!
Zwar braucht ihr, euch zu entflammen, die Taten der vorigen Zeit nicht,
Doch tönen sie euerm horchenden Ohr,
Wie das Säuseln im Laube, wenn die Mondnacht glänzt!«

»Bei Wodan und Braga! Das wäre schön!« bemerkte Sophie fast spöttisch und rümpfte kaum merkbar das kleine Spitznäschen. »Aber zerstörst du dir nicht selber wieder dein Altertum, wenn du Klopstock, einen Lebenden, mitten hineinpflanzest?«

Mit Eifer versetzte Charlotte: »Nein! Und zwar um deswillen nicht, weil Klopstock ein Dichter ist. Mit dem rückwärtsgewandten Sehergeiste des Sängers bürgerte er sich ein unter den traumhaften Gestalten der dunkelsten Vergangenheit und ließ uns alle heimisch werden unter ihnen und einherwandeln neben Wodan und Hermann. Und wie er jedes empfindsame Gemüt unter den Lebenden hineingeführt in den altdeutschen Urwald, daß wir schauten und lauschten, so stelle ich auch seine, des Lebenden, Büste mitten in Wodans Hain. Das Brustbild des Altertumsforschers würde mir das Altertum meines Haines stören, nicht aber das Brustbild des Dichters. Der Forscher enthüllt uns, wie fernab dem heutigen Leben die alte Zeit liegt, welche er zergliedert; der Dichter singt uns unmittelbar in den Traum der alten Zeit, daß uns tausend Jahre werden wie ein Tag und die eigene Gegenwart uns versinkt in dem Zauberbilde der Vergangenheit.«

Die beiden Mädchen erhoben sich schweigend und stiegen die Nordseite des Abhanges hinauf, bis sie, aus dem Garten tretend, vor der Kirche standen.

»Wir kommen von dem verwachsenen Pfad der Sage auf festen geschichtlichen Boden«, sagte Charlotte, indes sie die Freundin durch die offene Kirchentür zur Sakristei führte. »Sieh hier dieses alte Meßgewand; ich kann es nur mit Entsetzen und doch auch wieder – du magst mich tadeln – mit einem gewissen Stolze betrachten. Die dunkeln Flecken auf dem Gewände sind Blutflecken, das runde Loch in der Mitte ward von einer Kugel geschlagen. Unsere Familie bekannte sich schon in der ersten Zeit der Reformation zum lutherischen Glauben; die Nachbarschaft war zum großen Teile bischöfliches Gebiet, also katholisch. Da schlichen sich nun die Priester bald offen, bald heimlich herüber, um unsere Bauern wieder rückfällig zu machen zum Papsttum. Mein Ahnherr drohte solchen Sendlingen mit schwerster Strafe. Vergebens! Als er einmal mehrere Wochen von Wodenburg entfernt gewesen, vernahm er bei der Heimkehr unten im Dorfe, ein Priester habe sich gar in seine eigene Schloßkirche geschlichen und lese die Messe. Wütend über solche Frechheit, stürmt mein Ahn den Berg hinauf, tritt in die Kirchentüre, sieht den Priester am Altare und schießt ihn nieder, ohne ein Wort zu reden. Seitdem hat man nicht mehr versucht, die wodenburgischen Bauern katholisch zu machen; das durchschossene blutige Meßgewand aber ward zum ewigen Andenken hier in der Sakristei bewahrt.«

Charlotten war fast der Atem vergangen, während sie die wohlbekannte Geschichte am Orte der Tat der Freundin erzählte, und diese wandte sich schaudernd ab von dem durchbohrten Gewand und rief: »Fürwahr, das ist entsetzlich!« Als sie aber die Kirche verlassen hatten und zum Schlosse hinüberschritten, gewann das Nachdenken bei der anmutig verständigen Sophie zuerst wieder die Oberhand über den unmittelbaren Gefühlseindruck. Sie sprach: »Unsere aufgeklärte Zeit wird dem Ritter recht geben, daß er mit dem Priester so kurzen Prozeß gemacht. Geht man doch weiter und macht jetzt drüben in Frankreich auch den Rittern gerade so kurzen Prozeß. Vielleicht kommen dann wieder Tage, wo man jenen Priester wie diese Ritter gleicherweise Märtyrer nennen wird. Übrigens begreife ich, daß du nicht ohne Stolz der erschrecklichen Geschichte gedenken kannst. Es erhebt uns, die Vorfahren handelnd in weltbewegende Ereignisse verflochten zu sehen, sei ihre Tat auch noch so klein gewesen. Die Familiengeschichte hat dann doch ein Stücklein Weltgeschichte aufzuzeigen. Und dünkt die Tat uns hart und grausam, so sprechen wir: das war die Schuld jener harten Zeit; dem Ahnherrn aber schreiben wir es gut, daß er als ein Kind dieser Zeit wenigstens keck und frischweg gehandelt habe.«

Bei diesen Worten betraten sie die alten Herrschaftszimmer. Die sahen so behaglich aus und doch zugleich so gespensterhaft. Zwar stand noch all der Hausrat unverrückt, wie ihn die Familie vor hundert Jahren verlassen, und füllte fast zum Übermaß die engen Räume. Trotzdem erschienen diese leer. Denn auf dem Nähtisch fehlte die halbvollendete Arbeit der Hausfrau, auf dem Schreibpulte Bücher, Papiere, Tintenfaß, bei den kleinen Stühlchen der Kinder lag kein Spielzeug, und obgleich die Toilette im Schlafgemach noch mit dem Silberspiegel und den großen Wasserbecken prangte, vermißte man doch jene zahllosen Fläschchen, Töpfchen und Kästchen, welche eine Dame für ihren Putz bedarf. Alle diese Dinge hatte man mitgenommen. Sie verbinden aber den gröberen Hausrat erst recht persönlich mit dem Besitzer und erzeugen jene kleine Unordnung, die auch dem verlassenen Zimmer das trauliche Gepräge eines bewohnten Raumes gibt. An den Wänden hingen die Brustbilder der ehemaligen Bewohner, im steifsten Prunke kalt und hart gemalt. Sie schauten so ernst und traurig darein und schienen sich zu langweilen in den überfüllten und doch leeren Räumen, in welchen die Zeit hundert Jahre lang stillgestanden.

Die Stühle und Sessel des Staatszimmers waren mit Stickereien bedeckt, welche das Auge der beiden Mädchen besonders fesselten. So stickte man jetzt nicht mehr; das waren ganz verschollene Sticharten. Wie lange schon moderten die Hände der Frauen und Fräulein des Hauses, welche vermutlich diese mühsame Arbeit ausgeführt! Hier entdeckte man noch einen kleinen Fehler, dort hatte sichtbar eine andere, fertigere Hand begonnen. Was mochte die Stickerin gedacht und empfunden haben, als sie in so beschaulicher Arbeit hier die Nadel führte!

Mit derlei Fragen und Ausrufen warfen sich die Mädchen zuletzt bequem in die alten Sessel. Sophie aber meinte, es komme ihr nun doch nicht vor, als seien die ursprünglichen Besitzer erst gestern von diesen Stühlen aufgestanden, denn die Sonne habe inzwischen ja alle Farbe der Stickerei hinweggebleicht und die Mottenlöcher im Rückkissen stammten wohl auch nicht von Anno 1692. Wären die alten Stühle noch neu, dann könnte man sie ein echtes Altertum nennen, da sie aber inzwischen so sehr gealtert, so seien sie eben nicht mehr die alten, sondern neu in einem anderen Sinne; denn die hundert Jahre hätten sie nun doch ganz leise zu etwas anderem gemacht, als sie ursprünglich gewesen.

Charlotte, welche die Ironie der Freundin allezeit zum Ernste zurückbog, erwiderte: »Liebe Sophie! Ich sage in deiner Redeweise, du würdest etwas vernünftiger reden, wenn du etwas weniger Verstand hättest. Das Alte, genau so wie es vor hundert Jahren war, rührt uns nicht, ja wir vermöchten es nicht einmal als alt zu erkennen. Wir müssen nicht bloß schauen, wie es ursprünglich gewesen, sondern auch wie das Jahrhundert verändernd darüber hingegangen ist. In diesem Widerspruche liegt die Poesie des Altertums. Die Burgruine versetzt uns mitten unter die Ritter, nicht aber das wohlerhaltene altdeutsche Schloß, obgleich die Ritter doch nicht in Ruinen hausten. Aber die Ruine weckt in uns den ganzen Schauer der Vergangenheit, und indem wir das Alte als gestorben umfassen, wird es uns wieder wahrhaft lebendig. Das Alte als Gegenwart auf uns wirken zu lassen, vermag in aller Welt nur der Dichter; darum kann man sagen, er zieht uns reiner in ferne Zeiten zurück als alle Trümmer und Antiquitäten der Welt.

Wie es aber Stimmungen gibt, in welchen man zum Kirchhofe sich flüchtet, nicht um die Toten zu schauen, wie sie leibten und lebten, sondern um mit ihnen als Toten lebendig zu verkehren, so zog mich auch die friedlose, zerwühlende Stimmung dieser Zeit schon lange nach Wodenburg. Denn wenn von Frankreich herüber jeder Tag eine neue Greuelbotschaft bringt, wenn das Erdbeben der Revolution die Grundpfeiler von ganz Europa erschüttert, dann mag man wohl gerne auf ein paar Tage sich und die Welt vergessen in diesem grabesstillen Heiligtum, umrauscht von den Geistern eines vergangenen Jahrhunderts, welches sturmvoll war wie das unserige; in seinen Reliquien aber zeigt es uns traulichste Ruhe, denn der Friede des Todes liegt auf ihnen.«

Sie erhob sich und führte die Freundin in das nahe Erkerstübchen. »Sieh im Westen jene blauen Berge, hinter welchen soeben die Sonne versinkt! Sie liegen in Frankreich. Bei uns ist noch Frieden; da drüben wütet der Krieg. Was hilft alles Selbstvergessen? Das Leben behält dennoch sein Recht. Hinter jenen blauen Bergen kämpfen deutsche Krieger, um das Advokatenregiment in Paris zu stürzen und den König wieder auf seinen Thron zu setzen. Die ausgewanderten französischen Edelleute, welche mein Vater gastlich aufnahm, bringen ihm täglich hoffnungsvollere Kunde. Wenn nun der Vater uns übermorgen abholt und uns vom Tore aus schon entgegenriefe, daß das deutsche Heer des Herzogs von Braunschweig gesiegt, daß es Paris im Sturm genommen habe, daß das gute alte Recht von nun an wieder Recht sein und bleiben werde! O liebe Sophie, wir würden den ganzen Plunder vom siebzehnten Jahrhundert und alle Heiligtümer von Wodenburg vergessen und uns glücklich preisen, daß uns Gott vergönnt, in keiner anderen Zeit zu leben als in dieser schönen Gegenwart!«

Sophie drückte der Freundin warm die Hand und schwieg und schüttelte leise mit dem Kopfe. Charlotte sah es nicht; sie starrte mit Tränen im Auge westwärts nach den blauen Bergen und dem blutrot verglühenden Abendhimmel.

Zweites Kapitel

Beim Abendbrote erschien Frau Weiland, die Oberhofmeisterin, um mit den Mädchen zu speisen. Christian wartete auf; den Kutscher hatte man samt den Pferden in der Dorfschenke untergebracht. Das Tischgespräch war trocken und gleichgültig; in Gegenwart einer Oberhofmeisterin kann auch das phantasievollste Mädchen keine Geister beschwören. Die beiden Fräulein nippten ein wenig an dem hundertjährigen Weine, die ehrwürdige Frau tat einen tieferen Trunk. Charlotte rühmte die duftende Blume des alten Gewächses, Sophie tadelte den herben Geschmack, Frau Weiland empfahl seine magenstärkende Kraft. So fand eine jede ihren eigenen Geist wenigstens im Weine wieder.

Gleich nach Tische sagten die Mädchen der alten Dame gute Nacht. Charlotte hatte gesorgt, daß Frau Weiland jenseits der Hausflur schlief, welche die Gemächer des oberen Geschosses in zwei Hälften teilte. Sie wollte möglichst einsam mit ihrer Freundin die süßen Schauer einer Nacht auf Schloß Wodenburg durchkosten.

Als die Mädchen nun so allein bei zwei flackernden Kerzen saßen, beschlich sie beide doch ein peinliches Bangen; aber keine gestand es der andern. Die aufregenden Gespräche und Eindrücke des Tages zogen ihnen durch die Seele; sie schauten einsilbig, oft lange schweigend vor sich hin.

Man hörte dröhnende Tritte in der Vorhalle. Die Mädchen schraken zusammen. »Es ist wohl Christian, der das Tor schließt und in sein Häuschen zu Bette geht«, sagte Sophie lächelnd, rascher gefaßt als ihre Freundin.

Dann gab es wieder eine lange Pause; man hörte den Holzwurm im Getäfel klopfen.

Die ferneren Winkel des Zimmers waren nur dämmerig beleuchtet, rechts und links aber führten offene Türen in zwei Schlafgemächer. In dem einen stand das riesige Ehebett, welches Charlotte für sich zum Lager erkoren, in dem anderen ein kleineres altes Bett, für Sophien bestimmt. Keine aber wagte es jetzt, in die dämmerigen Winkel oder gar in die dunkeln Kammern zu blicken. Ein Krachen in dem trockenen alten Holzwerk steigerte die Furcht.

»Fürchtest du dich?« fragte endlich Sophie kleinlaut.

»Wie sollte ich mich fürchten?« entgegnete Charlotte mit einer Stimme, welche ihre Frage Lügen strafte. »Ich sehe mich hier von vertrauten Gestalten umschwebt. In einem adeligen Hause bürgert man sich von Kindesbeinen in die Vergangenheit ein. Die alten Herren und Frauen, welche von diesen Bildern auf uns herabblicken«, – doch wagte sie keinen Gegenblick – »haben nichts Gespenstisches für mich; ich habe, seit ich denken kann, mit ihnen gelebt, und sollten sie gleich auf der Stelle mir als Geister erscheinen, so weiß ich doch, daß ich mich in der Familie und in bester Gesellschaft befinde.«

»Ei, dann fürchte ich mich noch viel weniger«, parodierte Sophie. »In einem bürgerlichen Hause lebt man von Kindesbeinen immer frisch in der Gegenwart und weiß, daß das Vergangene tot ist. Und wenn dir's vor jenen Geistern nicht bangt, weil sie dir nur als gute alte Bekannte erscheinen können, so habe ich's noch viel sicherer, denn ich weiß, daß sie überhaupt gar niemals kommen werden.«

»Es lohnte wohl die Probe, welcher Glaube besseren Schutz gewährt!« rief Charlotte, zitternd vor Angst und Unmut. »Verlangst du es, so gehe ich auf der Stelle ganz allein in den Wodanshain hinab und bringe dir einen Zweig der Eiche, auf welcher wir heute saßen.«

»Das wäre doch ein schwacher Beweis!« entgegnete Sophie und schüttelte die Locken ihres kleinen Trotzköpfchens. »Vor dem Wodan habe ich nun gar keine Angst. Der ist mir viel zu alt. Auch die Unsterblichkeit der Gespenster ist nur eine verlängerte Sterblichkeit, und eine alte Geschichte, die so ewig lange her ist, verliert zuletzt den unmittelbaren Duft des Altertums. Vor dem Geiste eines gestern Verstorbenen fürchten sich die meisten Leute, vor den Geistern Adams und Evas fürchtet sich kein Mensch mehr. Mir dünkt es viel bequemer und doch überzeugender, wenn du einmal versuchtest, eine Weile fest und unverwandt in jenes dunkle Zimmer zu schauen.«

Charlotte wagte den Versuch, fuhr aber rasch zurück und heftete den Blick beschämt auf den Tisch.

Sophie sprach nunmehr mild und begütigend: »Liebe Freundin, am Ende fürchten wir uns alle beide, obgleich eine jede für sich das beste Schutzmittel wider die Furcht besitzt. Ich gestehe dir auch gerne, daß es mir unheimlich ist, dort in der dunkeln Kammer allein zu schlafen, nicht aus Furcht vor Gespenstern, sondern aus Furcht vor der Gespensterfurcht. Das Ehebett, welches du dir ausgewählt, hat Raum für vier so dünne Gestalten wie wir und scheint eher ein Bett für die ganze Familie als ein bloßes Ehebett gewesen zu sein. Wie wäre es, wenn du mir Gastfreundschaft in deinem ungeheueren Bette gewährtest? Können wir nicht schlafen, so lassen wir das Licht brennen und plaudern durch die ganze Nacht alle Gespenster hinweg.«

Sichtbar entrüstet, lehnte Charlotte diesen Vorschlag ab. Das große Himmelbett war ihr immer ein ganz besonderes Heiligtum gewesen; hier hatten ihre Ahnen vor hundert Jahren zum letztenmal geschlafen, und wenn das Bett ja noch einmal benützt werden sollte, so durfte ihres Erachtens nur ein Glied der Familie dasselbe wieder einweihen. Es war anmaßlich von der bürgerlichen Kaufmannstochter, der Versuch einer Profanation, daß sie zum erstenmal mitschlafen wollte in der adeligen Familienreliquie. Dennoch kämpfte bei Charlotten die Liebe zu der treuen Freundin mit dem abenteuerlichen Vorurteil.

Sophie aber schnitt den Knoten rasch entzwei und sagte: »Fürchtest du dich nicht, allein in dem großen Bette zu schlafen, so fürchte ich mich in dem kleinen noch viel weniger.«

Abermals gab es eine Pause peinlichen Schweigens.

Da erklang plötzlich Musik durch die lautlose Stille der Nacht, tiefe, ernste Töne, die immer mächtiger aufsteigend heranwogten; sie hallten von der Kirche herüber, es waren Orgeltöne! Doch mit solcher Macht hatten die Mädchen noch niemals Orgel spielen hören und noch niemals so altertümlich erhabene Harmonien, die wie ein breiter Strom, Flut an Flut, einherbrausten.

Charlotte ward totenblaß und hielt sich krampfhaft an der Lehne ihres Sessels. Sophie sprang auf mit einem hellen Schrei. Sie sah auf die bleiche Freundin, welche gerade unter dem Bilde ihrer Urgroßmutter saß, und bemerkte entsetzt, wie ähnlich jetzt die Urenkelin der Ahnfrau sei, nur deuchte ihr das Bild ein lebendes Wesen und die erstarrte Freundin das Gespenst des Bildes, und sie wußte nicht, was sie tiefer erbeben mache, die Orgeltöne aus der Kirche oder die Geistergestalt Charlottens.

Diese aber winkte ihr Stille, erhob sich heldenhaft fest und sprach: »Sophie! Ich muß hinüber in die Kirche. Jetzt oder nie kann ich innewerden, ob es den Lebenden vergönnt ist, mit ihren Vorfahren über das Grab hinweg zu verkehren.«

Sophie hielt die Freundin am Kleide fest, bat und flehte, daß sie dableibe, und wollte Frau Weiland und Christian wenigstens als Schutzwache herbeirufen. Alles vergebens! Schon schritt Charlotte zu der Tür des Ganges, welcher auf den herrschaftlichen Kirchenstuhl führte; der Schlüssel steckte, die Türe war nur von innen verschlossen. Charlotte beschwor Sophien, keinen Lärm zu machen; es war, als werde sie von den fort und fort heranwogenden Tönen widerstandslos hinweggezogen.

»Wenn wir denn durchaus Geister sehen müssen, so will ich wenigstens Licht dazu haben«, rief Sophie verzweiflungsvoll, holte eine der brennenden Kerzen und eilte der Freundin nach. Das andere Licht blieb in dem verlassenen Zimmer.

Auf dem Verbindungsgange erreichte sie wieder die traumhaft, aber fest Voranschreitende, umklammerte sie und sprach: »Teuerste Charlotte! Blicke doch hier seitwärts nach den Kirchenfenstern: in der Kirche ist's ganz dunkel, und die Orgel wird sicher woanders gespielt. Und graust es dir denn nicht vor dem blutigen Meßgewand?«

»Es ist ein Zeugnis des Glaubenseifers meines Ahnherrn, und mit diesem Gedanken kann ich es zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ruhig betrachten«, erwiderte Charlotte.

Jetzt traten sie in den Kirchenstuhl. Mit einem abgerissenen Akkord verstummte die Orgel. Obgleich die plötzliche Stille nunmehr fast unheimlicher war als vorher die Musik, so schritt doch Charlotte aus dem Stuhle auf die nahe Orgelbühne. Da trat ihnen ein altes, hageres Männlein entgegen; in der Linken hielt es eine trübe Laterne, mit der Rechten streckte es ein großes Notenbuch vor, gleich einem Schilde. Beide Parteien blieben stehen und maßen sich eine Weile schweigend: Charlotte fast unwillig verwundert, als wollte sie fragen: »Nichts weiter?« – Sophie in unruhiger Angst; der alte Mann mit zweifelnd verwirrten Blicken.

Endlich rief Sophie: »Der Mann ist kein Gespenst; er hat von Noten gespielt: Gespenster spielen alles aus dem Kopfe!«

»In der Tat, das ist nicht die Urgroßmutter von dem Bilde, sondern die Urenkelin, unser gnädiges Fräulein Charlotte«, sprach jetzt der Alte, gleichfalls sichtlich erleichtert, nahm sein Notenbuch unter den Arm und machte einen Bückling, wie er vor fünfzig Jahren schon altmodisch gewesen. »Christian hat mir nicht gesagt, daß die Herrschaften im Schlosse sind, sonst würde ich gewiß zu so später Abendstunde die Orgel nicht berührt haben.«

»Und wer seid Ihr denn eigentlich, guter Mann?« fragte Sophie.

»Ich bin der abgesetzte Schulmeister und Organist Kaspar Rübsamen.«

Beschämt wollte Charlotte wieder hinweggehen. Sie hatte zum wenigsten den glaubenseifrigen Ahnherrn mit seinem Mordgewehr zu sehen gehofft, und nun war es bloß ein lebendiger abgesetzter Schulmeister mit einem abscheulich plebejischen Namen.

Aber der Alte vertrat ihr den Weg und bat demütigst um kurzes Gehör. Es sei ihm schweres Unrecht geschehen, und vergebens habe er bisher um eine Audienz bei dem Kirchen- und Schulpatron, ihrem gnädigen Herrn Vater, nachgesucht; auch seine schriftlichen Eingaben seien unbeantwortet geblieben. Nun wolle er der Tochter wenigstens sein Leid klagen, vielleicht lege sie ein Fürwort bei dem Vater ein.

Gutherzig und allezeit bereit, einem schuldlos Gekränkten zu helfen, kehrte Charlotte wieder um, und nach ihrer Art jede Tatsache mit höheren Bezügen verknüpfend, dachte sie, diese Geisternacht auf Wodenburg sei denn doch eine Fügung des Himmels, der verborgenes Unrecht habe ans Licht bringen wollen. Sie setzte sich also mit Sophien auf die Bänke neben der Orgel und sprach herablassend und mit entsprechender Handbewegung zu dem Schulmeister: »Setze Er sich, Wurmsamen, und rede Er ganz frei.«

»Rübsamen, wenn Ew. Gnaden erlauben! Ich war vierzig Jahre lang Schulmeister und Organist im Dorfe Wodenburg und darf mich wohl einen schulgerechten Musikanten nennen; denn ich lernte das Orgelspiel und den Kontrapunkt von einem Schüler des großen Sebastian Bach. Heiligere Musik als dieser erhabene Ahnherr meiner Kunst hat kein Mensch je geschrieben, und so spielte ich denn beim Ein- und Ausgang der Kirche und zwischen Altardienst und Predigt immer nur Präludien und Fugen, Phantasien und kontrapunktierte Choräle vom alten Bach. Der alte Pfarrer verstand die Musik und erbaute sich daran, und die Bauern, welche nichts davon verstanden, erbauten sich ebensogut. Nun kam aber eine neue Zeit und ein neuer Pfarrer. Leichtfertige Schwarmgeister wurden Mode, Gluck, Haydn, Mozart und wie diese verliebten Bänkelsänger alle heißen, in deren Harmonie keine Kunst und Schule, in deren Melodie keine Pracht und Gravität zu spüren ist. Der neue Pfarrer war ein Rationalist. Er wollte kürzeres Orgelspiel, weil die Wassersuppe seiner Predigt so ungeheuer breit und lang fließt, und befahl mir, meine Fugen abzukürzen. Der Ignorant! Eine Fuge ist ein unlösbares Ganzes, wie kann man die abkürzen? Es ist, als wollten gnädiges Fräulein Ihren Strumpf kürzen, indem Sie ihn unten abschneiden; die ganze Strickerei fädelt sich auf, und alle Zehen kommen heraus. Dem neuen Pfarrer war meine alte Musik überdies zu orthodox, zu wenig aufgeklärt. Wir zankten uns darüber, der Pfarrer wurde grob, und ich wurde noch gröber; denn wenn man mir an meine Heiligtümer der guten alten Zeit tastet und an meinen Ahnherrn Sebastian, dann kann ich sackgrob werden, und so ward ich schließlich wegen Injurien gegen den Pfarrer des Dienstes entsetzt. Jetzt spielt ein neuer Schulmeister zum Eingang ein Rondo von Pleyel und zum Ausgang den Menuett aus Don Juan, und das paßt vortrefflich zu der Predigt in der Mitte. Tiefer jedoch als der verlorene Dienst schmerzt es mich, daß ich nur noch wie ein Dieb in der Nacht Orgel spielen darf; denn der neue Schulmeister läßt mich natürlich nicht hier herauf. Der alte Christian aber, der alles Altertum zu schätzen weiß, gab mir seinen Kirchenschlüssel, damit ich wenigstens im Dunkeln, wann die gespensterscheuen Leute des Dorfes sich nicht mehr auf den Berg wagen, heimlich den großen Geist vergangener Zeit beschwören kann.«

»Und fürchtet Ihr Euch nicht?« unterbrach ihn Sophie.

»O nein! Der alte Bach scheucht mir allen Spuk hinweg. Indem ich mich in die geheimsten Gedanken des unsterblichen Toten versenke, wird alles um mich her lebendig und sprüht und leuchtet lauter Leben. Wie sollen sich Gespenster in solche Fülle von Licht und Leben wagen? Wenn ich ja dergleichen fürchtete, so wäre es am hellen Tage drunten bei dem neuen Pfarrer und Schulmeister; die sind tote Schatten, bei denen mir's kalt ums Herz und Nacht ums Auge wird.«

»Und doch zittertet ihr vorhin bei unserem Anblick? Sind wir auch solche tote Schatten?« fragte die mutwillige Sophie.

»Furcht ist ein eigen Ding«, entgegnete der Alte. »Wenn man auch das beste Schutzmittel wider dieselbe besitzt, so läuft es einem doch manchmal eiskalt den Rücken herunter. Übrigens hielt ich nicht umsonst mein Notenbuch wie einen Schild empor. Es enthält jene überaus herrlichen Choralfugen, welche Sebastian Bach so bescheiden als seiner ›Klavierübung dritten Teil‹ bezeichnet hat, und zwar in des Meisters eigener Handschrift. Betrachten Sie mit Ehrfurcht diese windschiefen Noten, diese gekritzelten Korrekturen und vor allem die vielen Tintenkleckse. Sie sind ein Zeichen der Echtheit. Denn der große Sebastian radierte nie und strich selten aus, sondern wenn er sich verschrieben, wischte er die falsche Note mit dem Finger weg und putzte denselben dann vermutlich an der Perücke ab oder an dem Futter seiner Rockschöße. Bei diesen Tintenklecksen, die wie Kometenschweife durch die Fixsternreihen des Notenfirmaments fahren, fühlt man den unmittelbarsten Hauch des schaffenden Geistes, und oft birgt der Klecks eine nicht minder tiefe verlöschte Schönheit als die verbesserte Note nebenan. Diese teure bekleckste Handschrift aber, in welcher der Meister schaffend uns erscheint, halte ich wie einen Schild empor und fordere im Namen des ewig lebenden schaffenden Geistes jedes Gespenst zum Kampfe heraus!«

»Jetzt haben wir heute abend schon das dritte Schutzmittel wider die Gespensterfurcht«, rief Sophie, »und doch fürchteten wir uns alle drei.«

»Und der Junge, welcher mir die Bälge tritt«, fügte der Schulmeister hinzu, »besitzt, glaube ich, noch ein viertes und ist, wie ich sehe, trotzdem davongelaufen.«

Charlotte war mit steigender Teilnahme den wunderlichen Reden des Alten gefolgt. Sie versprach, den Vater zu bitten, daß er einem Märtyrer der guten alten Zeit, welcher den Eifer für seinen künstlerischen Ahnherrn so schwer gebüßt, wieder zu einer Stelle verhelfe.

Kaspar Rübsamen aber fiel ihr fast beleidigt in die Rede. »Um Gottes willen keine Organistenstelle mehr! Soll ich bei einem anderen Pfarrer den Menuett von Mozart spielen? Ich bin mit Recht wegen Injurien abgesetzt und will es bleiben. Nur die Gnade möchte ich von dem gnädigen Herrn erbitten, daß mir die Orgel zu jeder Stunde des Werktags für meinen Bach geöffnet werde; am Sonntage mag dann der neue Schulmeister der Gemeinde vorspielen, was er will.«

Charlotte wollte antworten, aber ein seltsam verworrenes Getöse nahm ihr das Wort vom Munde weg.

Der Alte sprang ans Fenster und rief: »Die Rathausglocke im Dorfe unten läutet Sturm!« Und zugleich rief Sophie, welche eilends zur anderen Seite hinausgeschaut: »Ein großer Menschenschwarm mit Fackeln und Laternen dringt durch den Lustgarten den Berg herauf. Wie sie schreien und singen! Ein lustiges Lied! Und wie klingt es doch so gräßlich!«

»Ein lustiges Lied?« fragte der Alte. »Laßt mich doch hören, welches Lied sie singen!« – Alle lauschten atemlos. – »Jetzt verstehe ich das Lied«, sprach er dann mit der leisen Stimme des starren Schreckens, »jetzt weiß ich, wer die Leute sind. Das ist die furchtbarste Gespensterschar! Höret ihr die Tanzweise? Verstehet ihr den Rundreim:

Vive le son
De canon:
Dansons la Carmagnole ...?«

Drittes Kapitel

Mit Staunen erfuhr der Schulmeister erst jetzt von den geängsteten Mädchen, daß sie fast ohne Begleitung auf Wodenburg eingekehrt seien. An Flucht war nicht mehr zu denken; denn in wenigen Minuten hatte die andringende Schar das Schloß umzingelt. Die Mädchen wollten in ihre Gemächer zurück, um bei Frau Weiland und Christian Schutz zu suchen, aber der Alte widerriet das dringend, blies rasch und entschlossen die Kerze und sein Laternchen aus und überzeugte die Mädchen, daß sie, in der Orgel der dunkeln Kirche versteckt, weit sicherer als im Schlosse seien. Charlotte forderte, daß dann aber wenigstens Frau Weiland ihre Zufluchtsstätte teilen müsse; sie wollte die alte Frau nicht hilflos allein lassen und eilte zu deren Zimmer hinüber. Allein sie fand es dunkel und leer. Die gute Alte, welche gleichfalls vor Angst nicht schlafen konnte, hatte nämlich schon viel früher den Lärm gehört und die herandringende Masse gesehen und war in das Gemach ihrer Schützlinge gestürzt. Als sie es aber verlassen fand und auch im ganzen übrigen Hause keine Spur von den Mädchen, glaubte sie, dieselben seien schon vorher entflohen, zürnte heftig, daß man sie im Stich gelassen, und entkam mit Christian im letzten Augenblick, nachdem sie das Tor noch von außen verschlossen hatten. Auf dem Weg zum Dorf begegneten ihnen fliehende Bauern und berichteten, die beiden Fräulein seien soeben mit dem Kutscher im hellen Galopp nach der Stadt gefahren. Dies war richtig, insofern es den Kutscher betraf. Als derselbe nämlich unten im Dorfe die drohende Gefahr erkannt, hatte er sofort die Pferde angeschirrt und wollte aufs Schloß fahren, um seine Herrschaft in Sicherheit zu bringen, sah aber den Fahrweg von weitem bereits besetzt und jagte nun, so schnell die Pferde laufen konnten, nach der zwei Stunden entfernten Stadt, um von dort den Bewohnern des Schlosses Hilfe zu bringen.

So hatte im Grunde jeder klug gehandelt und das seinige getan, und dennoch waren die Mädchen hilflos abgeschnitten oben zurückgeblieben.

Der Schulmeister, welcher hinter den dunkeln Scheiben des Kirchenfensters alles genau beobachtete, erklärte Charlotten bald, daß die Andringenden weder Bauern des Dorfes seien noch französische Soldaten, sondern aufgewiegeltes Volk und Gesindel aus den elsässischen Grenzdörfern, welches in den letzten Tagen schon mehrfach die entferntere Nachbarschaft in Schrecken gesetzt habe. Übrigens spreche man auch seit heute früh von einem Einfall Custines auf deutschem Boden, und vermutlich stehe das freche Umherschweifen dieser Banden mit den Bewegungen des Revolutionsheeres in Zusammenhang. Er meinte, die Leute würden hier oben wohl allerlei Mutwillen treiben, etwa die Fenster des Schlosses einwerfen, aber sicherlich auch rasch wieder abziehen, da man weit und breit wisse, daß auf der gespenstischen Wodenburg nicht viel zu suchen sei. Etwas gefaßter belauschten nun auch die Mädchen das unerwartete Schauspiel.

Mit gewaltigen Schlägen pochte man wider das Tor des Schloßhofes, vor welchem die Tanne Schildwacht stand, schrie, heulte, pfiff und wartete dann wieder einige Minuten, ob von innen keine Antwort erfolge. Im Schlosse blieb es stille wie im Grab. Da mehrten sich immer donnernder die Schläge, das Holzwerk krachte, die Torflügel stürzten zertrümmert in den Hof, die Menge flutete nach, erfüllte bald den weiten Raum und pflanzte unter gellendem Gejauchze den Freiheitsbaum mit der Jakobinermütze in dessen Mitte. Es war die Tanne vor dem Portal, das Sinnbild des Schlosses, in welchem die Zeit hundert Jahre geschlafen, die man beim Einschlagen der Torflügel gefällt und nun als wurzellosen Freiheitsbaum bekrönt hatte!

Nachdem aber die Tanne aufgerichtet und unterm Absingen der Carmagnole umtanzt war, zerstreute sich der Schwarm nach verschiedenen Seiten des Schloßberges. Die einzelnen bunten Gruppen schienen sich eher zur Feier eines Volksfestes anzuschicken als zur Erstürmung des Schlosses. Doch begann planlose Gewalttat bald auf allen Seiten. Die schlecht verwahrten Nebengebäude wurden erbrochen und verwüstet, die Wappen von den Toren heruntergeschlagen, ein paar beutelustige Kerle drangen in den kleinen Keller bei dem Häuschen Christians, den sie anfangs für den Schloßkeller hielten, brachten aber unterm jubelnden Hohne ihrer Gesellen nur ein altes Sauerkrautfäßchen herauf.

Vor dem Eingang des Herrschaftsgebäudes drohte eine ernstere Szene. Einige der entschlossensten und bestbewaffneten Männer versuchten hier einzudringen. Aber die Türe, von innen durch eiserne Querstangen gefestet, widerstand; die Fenster des Erdgeschosses waren wohlvergittert; zum Einsteigen in den oberen Stock fehlte es an einer Leiter.

Da gewahrte einer Licht in dem Erkerzimmer, welches auf den Garten ging; es war jene zweite Kerze, die Sophie auf dem Tisch zurückgelassen. »Das ist ein Gespensterlicht!« rief eine Stimme. »Das Schloß ist seit hundert Jahren unbewohnt. Sehet ihr die Schattengestalten, welche an der Decke auf- und niedertanzen?«

Einige lachten, anderen grauste es. Vier mutige Bursche aber kletterten über die Mauer in den Lustgarten, um das Erkerzimmer von vorn zu fassen, und forderten die Insassen auf, herabzukommen und die Türe zu öffnen. Keine Antwort; das Licht schimmerte ruhig weiter. Da sprach einer von den vieren: »Ich will den harthörigen Herrschaften da droben die Ohren aufknöpfen!« legte sein Gewehr an und schoß in das erleuchtete Fenster. Alles blieb stumm; das Licht schimmerte fort, nur etwas unruhiger, vom Luftzug bewegt, der durch die zerschossene Scheibe drang. »Sehet ihr die Schattengestalten nicht immer wilder und zürnender an der Decke tanzen?« fragte ein anderer. Man wiederholte den Schuß. Dieselbe Stille wie vorher. »Kann man die Gespenster nicht herausschießen, so kann man sie vielleicht herausräuchern!« rief ein dritter und schleuderte seine Fackel in weitem Bogen zu dem zertrümmerten Fenster hinein, andere taten das gleiche, und in wenigen Minuten quoll statt des unheimlich stillen Lichtschimmers dicker Rauch aus dem Fenster hervor.

In demselben Augenblicke aber brauste ein mächtiger Choral wie von den Posaunen des Gerichtes zu den Frevlern herüber. Die unsichtbare Musik schien aus der Luft zu kommen und überhallte gewaltig die Tanzweise, welche von den Gruppen auf der anderen Seite des Schlosses zwischendurchklang. »O Ewigkeit, du Donnerwort«: die Weise war es, welche mit vollstem Orgelton aus den rauchenden Gemächern herabzudröhnen schien, und dazwischen, immer dünner und zaghafter verschwebend: » Vive le son de canon: Dansons la Carmagnole!«

»Das sind die Geister von Wodenburg!« riefen Stimmen in dem Haufen, und gerade der Mutigste, welcher zuerst geschossen, sprang nun in sinnloser Flucht den Berg hinab. Die anderen folgten ihm, der Schloßhof ward leer und stille.

Schlimmer jedoch stand es auf der anderen Seite, an und in der Kirche. Als der Schulmeister in seinem Verstecke sah, wie die Angreifer nach den Fenstern des Schlosses schossen und Feuer hineinwarfen, an ihren Ausrufen aber doch auch wieder ihre Gespensterfurcht erkannte, sprach er zu den Mädchen: »Jetzt müssen wir diese Tröpfe bekämpfen und verjagen, oder wir sind verloren.« Und er bat Sophien, in den Orgelkasten zu schlüpfen und die Bälge zu treten. Sophie widersprach; sie hielt es für sicherer, stille zu bleiben, als die wilde Rotte herauszufordern. Aber Charlotte kroch mutig in die Orgel und begann die ungewohnte Arbeit. Da zog der alte Rübsamen die Register des vollen Werkes und ließ zuerst den Choral in den breitesten Akkorden erschallen, als würde er von der Gemeinde gesungen, dann aber wob er die mächtige Fuge Sebastian Bachs über den Choral, der breit und schwer in den tiefsten Kontratönen des Pedals unter dem phantastischen Tongewimmel der Oberstimmen einherdröhnte. Und wie es sich für Gespenster ziemt, spielte er alles aus dem Kopfe.

»Nicht zu hastig, gnädiges Fräulein!« rief er zu der Bälgetreterin hinüber. »Sie dürfen den Balg nicht wieder aufheben, bevor er all seinen Wind ausgeblasen hat, sonst schreien die Pfeifen! Nur ruhig, Fräulein Sophie! Haben die Schufte wirklich das Schloß angezündet? Nur ruhig! Wir verbrennen nicht; der Wind bläst aus Nordost, er wird die Flamme von der Kirche hinwegtreiben. Sie treten die Bälge noch immer zu hastig, Fräulein Charlotte, das ganze Werk wird sich verstimmen. Wir haben Zeit, wir können die Fuge ausspielen und noch einige andere dazu, bevor der erste Funke aufs Kirchendach fällt. Nur keine abgekürzte Fuge!« Und dazwischen sang er wieder im tiefsten Brustton mit seinem Pedalbaß: »O Ewigkeit, du Donnerwort!« und: »Mein ganz erschrock'nes Herze bebt, daß mir die Zung' am Gaumen klebt.« – »Werfen die frechen Kerle gar die Kirchenfenster ein!« rief er dann wieder, und in der Tat fielen die Scheiben klirrend auf das Pflaster herab. »Jetzt kommen sie gar an die Tür! Das hätte ich nicht gedacht! Ganz stille, Fräulein Sophie, nicht gewimmert! Schlagen sie uns auch tot, so sterben wir wenigstens mitten im fromm erhabenen Gesange, und solange unser Herrgott seine Hand über uns hält und der große Sebastian mir Feuer in die Seele gießt, fürchte ich den Teufel nicht, geschweige diese miserablen Schufte!«

In der Tat war der Trupp, welcher unweit der Kirche lagerte, nicht halb so tief gepackt worden von den überirdisch feierlichen Tönen wie die anderen. Denn da sie die Kirche vor Augen hatten, so merkten sie wohl gleich, daß man dort Orgel spiele, und es erging ihnen nicht wie jenen, welche wähnten, die dämonische Musik schalle aus den brennenden Gemächern. Doch näherten sie sich nur verzagt dem Gotteshause; galt es doch für ganz besonders spukhaft. Als aber ein paar böse Buben Steine wider die Kirchenfenster warfen, wuchs den übrigen der Mut. Ein ortskundiger Mann trat vor und sagte zu einem Schützen, der neben ihm stand: »Bürger! Lege doch deine Büchse genau auf die Mitte jenes kleinen Fensters an; zielst du gut, so triffst du das orgelnde Gespenst an den Kopf, und die Musik wird stracks verstummen. Schon einmal hat jemand in dieser Kirche einen Meisterschuß getan und den Priester vom Altare weggeblasen; es wäre doch schön, wenn du nun den Organisten von der Orgel hinwegschössest.«

Der Schütze zielte lange und genau. Plötzlich aber setzte er wieder ab. »Die Hand zittert mir. Gälte es, auf einen Priester zu schießen, dann grauste mir's nicht. Aber mitternachts hält der Teufel Gottesdienst in den alten Kirchen, und wenn man nach dem Teufel schießt, so fährt die Kugel geradenwegs auf den Schützen zurück.«

Der andere aber rief: »Schlagen wir dann die Türe ein! Ich bin doch neugierig zu sehen, wie der Teufel Gottesdienst hält.«

So stürmte der Trupp wider die Kirchentüre. Doch, o Grausen! beim ersten Schlage sprangen die beiden Flügel weithin von selber auf! (Der Junge, welcher dem alten Rübsamen die Bälge trat, hatte sie bei seiner Flucht zu schließen vergessen.) – Schon dieser Spuk bewog gar manchen, das Weite zu suchen. Als aber die Beherztesten dennoch in die Kirche drangen und die Orgeltöne immer mächtiger fluteten, während man doch in dem tiefen Dunkel der Emporbühne nirgends einen Organisten sah, schrie einer unter ihnen: »Die Orgel spielt von selbst!« Dieses Wort wirkte wie ein Zauber: alle stoben zitternd auseinander. Eine verschlossene Türe, die von selber aufspringt, und eine Orgel, die von selber spielt, das war eine Verrückung aller Naturgesetze, und wenn auch keiner von den fliehenden Frevlern an Gott und den Teufel glaubte, so glaubten doch jetzt alle wieder an Gespenster.

Die Orgel spielte noch lange fort. Als sie endlich verstummte, da war es auch rings auf dem Berge ganz still geworden, und nur das Krachen der brennenden Balken hallte zuzeiten fürchterlich durch die schweigende Nacht. Behutsam schlich der Alte mit den beiden Mädchen aus der offenen Kirchentüre. Sophie weinte und schluchzte; Charlotte war still gefaßt, nur ungewöhnlich bleich. »Da versinkt die alte Herrlichkeit«, sprach sie und blickte in die Glut und empor zu der dicken, rotbeleuchteten Rauchsäule. »Da versinkt die alte Zeit mit ihren Geisterschauern und all den wunderschönen Träumen meiner Jugend!«

Der Alte aber faßte die Hände der beiden Mädchen und sprach, zu dem Feuer aufblickend und zu dem schwarzen Nachthimmel über dem Feuer:

»O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Ich weiß für großer Traurigkeit
Nicht, wo ich mich hinwende.
Mein ganz erschrock'nes Herze bebt,
Daß mir die Zung' am Gaumen klebt!

Das Donnerwort der Ewigkeit, mit Donnerkraft gepredigt von dem frommen, bescheidenen Sebastian, hat doch zuletzt alle Nachtgespenster verjagt. Der Geist vom Geiste hat die Gespenster geschlagen. Stehen wir nicht jetzt auf diesem Feuerberge wie auf der Stätte des Gerichtes? Und jeder, der hier oben die Gespensterschlacht mit durchgekämpft, ist gerichtet worden in seinem Wahn, jeder nach seiner Weise. Der Geist aber behielt den Sieg! Und selbst die, welche diesen Geist nicht verstanden, fühlten sich doch niedergeschmettert von dem Geiste.«

Als die beiden Mädchen am frühen Morgen nach mancherlei Not und Gefahr glücklich zu der nahen Stadt gelangten, fanden sie dort bereits den schwer geängsteten Vater und flohen mit ihm rasch auf das rechte Rheinufer. Allein es währte nicht lange, so erreichte sie auch dort der Strom der Revolution. Die alte Zeit war versunken gleich den Mauern und Gespenstern von Wodenburg.

An die schwarzen Mauerreste des Schlosses aber knüpfte sich später eine Volkssage. Die Wodenburg, so erzählen die Leute, habe hundert Jahre lang verlassen gestanden, innen und außen unverändert, und die Zeit habe keine Macht gehabt über das Haus, in welchem nur Geister wohnten. Da seien eines Tages zwei wunderschöne Fräulein gekommen, niemand habe gewußt woher, die hätten als Menschenkinder leben wollen mit den Geistern und ganz in Gewand und Art der vergangenen Zeit wie vor hundert Jahren. In der Nacht aber sei ein furchtbarer Geisterkampf, ein Kampf des Todes mit dem Leben entbrannt, unsichtbare Chöre hätten durch die Räume des alten Schlosses gesungen, die Kirchenglocke habe von selber geläutet, die Orgel von selber gespielt, die Kirchentüren seien von selber aufgeflogen, Flammen hätten mit einem Schlage aus den Winkeln des Schlosses gezüngelt, die beiden Fräulein aber seien versunken in dem schrecklichen Kampfe zusamt der alten Herrlichkeit.

Denn schlafen lassen dürfe man wohl die alte Zeit, aber wecken dürfe man sie nicht wieder.


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