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»Melancholie steigt auf aus dickem Geblüt. Was kann ich darfür, daß mein Blut schwarz und dick fließt? Da hilft kein Purgieren und Aderlassen. Alle Kräfte Himmels und der Erden wirken zusammen, um einen einzigen Menschen so zu machen, wie er ist: wie soll ich selber mich anders machen können?
Mit eigener Willensstärke soll ich mich erlösen aus meinem Trübsinn. Aber Wille ist ja nur bewußte Lebenskraft. Ich suche die verlorene Lebenskraft wieder: wie kann ich sie durch den Willen gewinnen, der nur aufkeimt aus der Lebenskraft, der in ihr enthalten ist und eins mit ihr?
Paracelsus schreibt: des Menschen Wille könne so stark werden, daß einer durch den Geist allein, durch bloßes inbrünstiges Wollen, ohne Schwert einen anderen steche – aber das Rezept zu dieser Willensstärke hat er uns nicht hinterlassen.
So bleibe ich preisgegeben der Melancholie, dem dicken Blute, dazu auch der Hypochondrie, die mir das viele Studieren in den Unterleib gehext hat.
Überall siehet der Mensch Krankheit vor sich, Elend an Leib und Seele, Not und Tod. Nur im größten Leichtsinn mögen wir fröhlich sein. Die sichere Erkenntnis unserer Schwachheit ohne die sicheren Mittel, ihr zu wehren, das ist der größte Fluch, der auf das Menschengeschlecht geladen ward. Das Tier erkennt nicht einmal seine Gebrechlichkeit: dennoch weiß es sicherer, ihr zu steuern. Die Schlange, wenn sie aus der Höhle kriecht, heilt ihr verdunkeltes Auge mit Fenchel; die Rebhühner und Krähen purgieren sich im Frühjahr, damit sie für den ganzen Sommer gesund bleiben, und der wirkliche vierbeinige Esel weiß mit Hirschzunge sicherere Kuren zu vollbringen als mancher Esel von der medizinischen Fakultät mit einer ganzen Apotheke. Darum sind auch etliche Ärzte der Meinung, die Menschen hätten die Heilkunst eigentlich vom lieben Vieh gelernt.
Jetzt, wo ich zum erstenmal im Leben nicht Herr meines Körpers bin und mein schwacher Leib den Geist mit Schwermut schlägt, jetzt begreife ich Calanus, den Gymnosophisten, der, als er die erste Leibesschwachheit verspürte und zum erstenmal im Leben ein wenig krank zu werden anfing, sich selber verbrannte. Freilich war Calanus damals dreiundsiebzig Jahre alt, und ich bin erst dreiundzwanzig. Will darum noch eine Weile zuwarten mit dem Verbrennen.«
So schrieb Johannes Piscator, der hypochondrische Philosoph, seine Gedanken nieder als ein Selbstgespräch und setzte auch gleich das Datum darunter: »am ersten März 1561.«
Vor zehn Jahren schon war der jetzt dreiundzwanzigjährige junge Mann ein gelehrtes Wunderkind gewesen. Der dreizehnjährige Knabe nahm es mit jedem Professor im Disputieren auf und sprach griechisch und lateinisch wie Wasser; sein Gedächtnis war ganz gespickt mit Historien und Zitaten aus den Alten, und im sechzehnten Jahre schon ward er für würdig erachtet, als Magister der freien Künste lehrend aufzutreten. Sein Ruhm ging durch ganz Schwaben, sein Heimatland, denn keiner machte ja glänzender als der sechzehnjährige Magister den Spruch zuschanden, daß die Schwaben erst mit dem vierzigsten Jahre gescheit werden.
Aber nach kurzer Frist geriet Johannes Piscator wieder in Vergessenheit. Aus dem frühreifen Knaben ward wirklich ein tüchtiger Gelehrter. Das war vielleicht ein noch größeres Wunder als seine Frühreife. Wäre er ein recht origineller Lump geworden, so hätten sich wohl Liebhaber gefunden, die ihm von Zeit zu Zeit auf die Strümpfe geholfen und seinen Ruhm neu aufgefrischt hätten. Da er aber nur ein ordentlicher, fleißiger, gelehrter Mann, also etwas ganz Gewöhnliches geworden war, so ließen ihn seine früheren Gönner fallen. So stand denn der dreiundzwanzigjährige Johannes verlassen in der Welt, ein ungefreundeter Mann, ohne Eltern und Verwandte, ohne Geld und Gut, ohne Amt; aller Künste Magister, nur nicht der Kunst, sich selbst zu beherrschen und sich selbst zu helfen.
Er war nach Ulm gewandert, um dort mit gelegentlicher gelehrter Fronarbeit ein Stückchen Brot zu gewinnen. Da sich die reichen Herren von Ulm nicht sonderlich beeilten, Freundschaft mit ihm zu schließen, so begnügte er sich einstweilen mit dem Umgang des Platon und Aristoteles, des Cicero und Tacitus. Er fand, diese seien doch seine besten Freunde, denn sie hielten buchstäblich aus als Freunde bei Salz und Brot.
Gar oft zog Johannes Piscator an den Sommernachmittagen hinaus in die nahen Wälder, um sich in den Himbeeren und Erdbeeren sein Mittags- und Abendessen zu suchen. Allmählich jedoch verspürte er bei dieser Lebensweise die Wahrheit des Spruches: »Lang gefastet ist kein Brot gespart.« Denn die Kraft seines Körpers nahm sichtlich ab, und Trübsinn lagerte sich über seine Seele. Verlassen und allein, erschrak er plötzlich vor dem Gedanken, daß er krank werden könne. Bis dahin hatte er's nämlich noch gar nicht für möglich gehalten, krank zu werden. Die Bauern sagen: »Es ist nichts ungesunder als krank sein.« Über diesen Spruch grübelte Johannes Piscator so lange, bis er krank war bei gesundem Leibe. Was er nur sah und hörte, erinnerte ihn fortan an Siechtum, Gebrechlichkeit und Tod. Er machte lieber eine Viertelstunde Umweg, als daß er am städtischen Spital vorbeigegangen wäre, und kündigte seinem Flickschneider die magere Kundschaft, weil derselbe Kirchhof hieß. In der Physika des Simon Artopäus hatte der hypochondrische Gelehrte gelesen, daß jene Leute, von denen der achtzigjährige Sohn eines Tages weinend vor der Hütte saß, weil er von seinem Vater Schläge erhalten, darum, daß er seinen Großvater hatte aus dem Bett fallen lassen, – daß jene Leute zu so hohen Jahren gekommen, weil sie neben einer Diät von Milch, Brot und Salz fleißig Holunderbeeren gegessen. Darum begann er auch täglich Holunderbeeren zu schlucken. Eine alte Schwäbin verriet ihm dagegen, die ältesten Leute im Schwabenland würden diejenigen, welche allabendlich eine gebrannte Mehlsuppe verspeisten. Doppelt genäht hält besser. Johannes Piscator suchte darum, sooft es seine Mittel erlaubten, die Holunderbeeren mit der gebrannten Mehlsuppe zu verbinden.
Bei dieser braunen Suppe saß er eben auf seinem Kämmerchen und hatte die eingangs gegebenen Betrachtungen niedergeschrieben; allein obgleich er in Wort und Schrift zu dem leidlich mutigen Schluß gekommen war, so blies er doch in Gedanken alsbald wieder Trübsal. Man hätte den krummgesessenen Gelehrten lebenssatt nennen können, wenn er sich nicht täglich krank geängstigt hätte um die Erhaltung seines Lebens.
Da kam polternd ein schwerbestiefelter Reiter die Treppe heraufgestiegen zu dem hohen Olymp der Dachstube und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen.
»Grüß dich Gott, Johannes!« rief er. »Du erkennst mich nicht? Freilich! Der Bart und der Soldatenrock macht einen neuen Mann! Ich bin ja Hunold, der mit dir auf einer Schulbank gesessen. Wir wollten beide Magister werden; du bist's, und ich bin jetzt Dienstmann des Grafen Albrecht von Löwenstein.«
Piscator schüttelte ihm herzlich die Hand. »Gäbst du mir deinen Sold, Freund, – ich gebe dir gern meinen Magister dafür.«
»Das ist's ja eben, weshalb ich von Heilbronn herübergeritten bin. Ich soll dir Sold bieten, und den Magister sollst du dazu behalten.« Er warf einen schweren Beutel voll Geld auf den Tisch. »Seht her! Hier liegt das Handgeld. Der Sold kommt später. O Freund, Sold ist ein schönes Wort, und lauter Schönes reimt sich darauf: Gold, hold und« – hier strich er sich selbstgefällig den Schnurrbart und pflanzte sich breit in stattlicher Manneshaltung vor den verkümmerten Humanisten – »Hunold.«
»Und du willst mich auch für eueren Reiterdienst anwerben?«
»Daß Gott verhüte! Reite du fort und fort auf deinen Pergamentbänden; unsere Pferde sind uns zu lieb, als daß wir das geringste derselben dir zwischen die Beine zu geben wagten. Aber fahren sollst du, fahren ins Gelobte Land, nach Jerusalem. Ein venezianisches Schiff wird dich nach Joppe tragen, und höchstens auf Eseln wirst du dann sanft von einer heiligen Stätte zur anderen gewiegt werden. Doch ich muß dir ausführlich und in der Ordnung meines Herrn Begehren kundtun.«
Sie setzten sich.
»Hast du keinen Trunk Wein, Johannes?«
»Wasser! Klares, kühles, köstliches Wasser, Hunold I«
»Hinweg damit! Ein Reitersmann muß auch in der Wüste fechten können: ich kann auch mit trockenem Mund meinen Auftrag ausrichten, und doch soll dir der Mund wässern, indem ich spreche.«
Hunold berichtete, daß sein Gebieter, Graf Albrecht von Löwenstein, entschlossen sei, mit seinem Bruder Friedrich und vierundzwanzig anderen deutschen Rittern und Herren, zu denen noch zehn vornehme Holländer stoßen würden, eine Wallfahrt nach Jerusalem und dem Berge Sinai anzutreten. Mit Gefolge und Dienerschaft werde man also wohl an hundert Mann stark sein. Große Fährlichkeiten seien zu bestehen; vor Jahr und Tag versehe sich keiner der Rückkehr. Aber auch ewiger Ruhm vor der Welt und ewige Seligkeit sei die Krone der Pilgerfahrt. Der ganze Zug sei nun gerüstet; binnen heute und sechs Tagen würden alle Reisegenossen in Innsbruck versammelt sein, dann gehe es unverweilt über die Berge nach Venedig. Nur ein Mann scheine seinem Herrn noch zu fehlen: nämlich ein Gelehrter, der Lateinisch wohl zu sprechen und zu schreiben wisse, über alle merkwürdigen Orte und Antiquitäten in Italien, auf den griechischen Inseln und im Heiligen Lande Auskunft geben könne und dazu fähig, eine genaue Chronik der Pilgerfahrt, Kindern und Kindeskindern zum Gedächtnis und zur Erbauung, in wohlgesetztem Deutsch oder Latein zu verfassen.
»Mein Herr hat von dir gehört, Johannes«, – so schloß Hunold seine Rede, »er glaubt, du seiest tüchtig zu diesem Dienst wie keiner; dazu ledig, kinderlos, freundlos, ein Mann, der jeden Tag sein Bündel schnüren kann. Hier liegt das Handgeld auf dem Tisch, womit du dich reisemäßig ausstatten sollst, wenn du einschlägst und diesen Brief unterschreibest. Schlag ein, Johannes, es ist das beste Teil! Drei Tage hast du Frist, dich von Ulm loszumachen; dann aber mußt du flink auf die Beine, damit du zum Termin am Sammelplatz in Innsbruck bist.«
Mit der ganzen Heftigkeit eines Melancholikers, dem die äußersten Affekte sich berühren, sprang Piscator auf, wie verwandelt, schlug ein, unterschrieb den Brief und griff, sonst ein so großer Geldverächter, mit gieriger Hand nach dem Beutel.
»Ich ziehe mit, Hunold! nicht um des ewigen Ruhmes und der ewigen Seligkeit willen, die du verheißest, sondern damit mich Hunger und Hypochondrie hier in Ulm nicht totbeißen. Freund, hier habe ich's erfahren, daß der Hunger rohe Bohnen gar kocht! Besser, der Türke schlägt mir den Schädel ein, als daß ich hier krepiere vor Ärger über das Ulmer Krämerpack, das mich nicht kennen, nicht anerkennen wollte, das mich ohne Arbeit und Brot hätte sitzen lassen, bis die Hühner Zähne kriegen! Was werden die stolzen Kaufherren für Augen machen, wenn sie von dieser Berufung des verlumpten Johannes Piscator hören! Ich werde meine drei Tage Frist noch in Ulm aushalten, nicht um meine Angelegenheiten zu ordnen (denn das wäre in einer halben Stunde geschehen), sondern um diese Krämer noch einmal recht zu ärgern, um vor ihnen einherzustolzieren, nun auch meinerseits mit dem Geld in der Tasche zu klimpern, um ihnen ein Schnippchen unter der Nase zu schlagen. Heiliger Erasmus und Melanchthon, heiliger Camerarius und Reuchlinus, in welcher Barbarei sind diese Geldsäcke gefangen! Euklid lief bei Nacht fünf Meilen weit, um den Sokrates zu hören; ich kam ihnen bei Tag ins Haus, und sie hörten mich nicht. Du machst dir kein Bild von dem Ingrimm, der mich in Ulm ergriffen hat über alles Kaufmannsvolk der Welt! Wie Cicero gegen den Catilina donnere ich oft stundenlang einsam auf meiner Stube lateinisch gegen die Krämer. Hinweg aus diesem Krämernest! Das Sprichwort sagt: Ein armer Jud' kann nicht wuchern, aber auch der ärmste Ulmer wuchert doch, über die Tür ihres Kaufhauses sollten sie ihr Motto schreiben:
Lügen und Trügen sind so wert,
Daß man ihr' zu allen Käufen begehrt.
Als der Teufel seine fünf Töchter an die Stände der Menschen verheiratete, gab er dem Adel die älteste Tochter, Arrogantia, die Mutter der Hoffahrt; den Bauern die zweite, Falsitas, die Mutter der Verschmitztheit und des Betrugs; den Handwerkern das Zwillingsschwesterpaar Invidia und Avaritia, von denen der Neid und Geiz ausgegangen; endlich den Geistlichen die Jungfrau Hypokrisis, die Heuchelei. Da nun für die Kaufleute eine sechste Tochter nicht mehr vorhanden war, so erlaubte er ihnen zu buhlen mit allen fünfen, also daß sich sämtliche Teufelei auf Erden: Hoffahrt, Betrug, Neid, Geiz und Heuchelwerk bei den Kaufleuten einträchtig zusammengefunden. Sieh, Hunold, diese Geschichte, die halb in den vitis patrum steht, halb meine eigene Erfindung ist, habe ich in die schönsten lateinischen Verse gebracht, und zum Abschied von Ulm würde ich sie an der Rathaustür anschlagen, wenn die Dummköpfe, die es treffen soll, lateinische Verse lesen könnten!«
Hunold sprach: »Das Wasser, das du trinkest, muß Weines Kraft haben, denn so trunken wie heute habe ich dich nüchtern noch niemals donnern hören.«
Johannes verkühlte sich aber ebenso rasch wieder, als er heiß geworden, und da er bei weiterer Erkundigung hörte, daß Hunold nicht mitziehe nach Jerusalem, und da es sich gar bei Aufzählung sämtlicher Reisegenossen fand, daß der gelehrte Humanist von allen nicht einen einzigen persönlich kenne, ward es ihm sogar sehr kühl. Denn als echter Stubensitzer fürchtete er sich vor fremden Gesichtern. Doch Wort und Handschlag war gegeben, das Handgeld eingestrichen, die Unterschrift geschrieben: also stand die Sache fest, und die Freunde trennten sich, Hunold vergnügt, seinen Auftrag so gut vollzogen zu haben, Johannes zwischen Freude und Besorgnis schwankend, aber doch voll Hoffnung auf bessere Tage.
In großer Aufregung ging Piscator den ganzen Abend in seiner Kammer auf und ab, immer auf der Pilgerfahrt nach Jerusalem begriffen, und als er sich zu Bette legte, war er doch noch nicht weiter gekommen als bis zur Einschiffung in Venedig und einer heiteren Landung an den Ionischen Inseln. Als ihn der Schlaf bewältigte, spann der wirkliche Traum den Faden der wachen Träume weiter. Ein gewaltiger Sturm erhob sich, da sie kaum wieder einige Meilen in See waren. Welch Dröhnen, Pfeifen, Heulen, Krachen! Alle Winde waren aus ihren Schläuchen gelassen, gegeneinander wütend wie in der Aeneide oder nacheinander wie in der Odyssee.
»So durch den Meerschwall trieben Orkan' ihn dorthin und dorthin; Bald daß stürmend ihn Notas dem Boreas gab zur Verfolgung, Bald daß wieder ihn Curos des Zephyros Sturme zurückwarf.«
Das Schiff flog aus dem Abgrund zum Himmel und vom Himmel zum Abgrund wie in Ovids Klageliedern. Von den Stürmen aus allen Klassikern ward der arme Schläfer im Bett herumgeworfen. So etwas träumt man nur einmal im Leben. Die Matrosen fluchten, und die Pilger lagen betend auf den Knien; die einen riefen die Heilige Jungfrau an, die anderen wandten sich direkt an unseren Herrgott. Da trieb die Todesangst auch unseren Humanisten zum Gebet. Allein es fiel ihm kein anderes ein als das Gebet aus Ovids Seesturm; und neben seinem Bücherschrein kniend, sprach er mit tiefer Inbrunst:
»Di maris et coeli – quid enim nisi vota supersunt? – Solvere quassatae parcite membra ratis!« »Heda! Auf die Beine! Gearbeitet statt gebetet!« rief der Schiffspatron mitten in die klassische Andacht hinein und zog den Betenden unsanft am Arme in die Höhe. »Das Schiff muß erleichtert werden! Alle Fracht über Bord! Flugs hier mit Eurem Bücherplunder angefangen!«
Und mit Seufzen und Jammern begann der Ärmste seine Heiligtümer in die Flut zu werfen. Auf den Wellen tanzten Cicero und Sallust, Homer, Virgil, Plato und Aristoteles, die er allesamt bequemlichkeitshalber zu einer Reise nach dem Berge Sinai mitgenommen. Und die Bücher, welche Piscator hinauswarf, wurden ihm schwer in den Händen wie Blei, daß er sie kaum über Bord bringen konnte, und wieviel Bücher er auch davontrug, mehrten sie sich doch immer wieder in dem Schrein; zuletzt warf er ganze Stöße von Schriftstellern ins Wasser, deren Namen er in seinem Leben nicht gehört hatte, und zu allerletzt zwanzig Bände seiner eigenen sämtlichen Werke, die noch gar nicht erschienen waren. Als er aber solchergestalt alle seine köstlichen Schätze geopfert, glättete sich das Meer, als hätte man Öl auf die Wogen gegossen, der blaue Himmel brach aus dem zerrissenen Gewölk, und nach langer ruhiger Fahrt liefen die Pilger endlich in einen Hafen der Insel Cypern ein. Da lief auch der Träumer in den Hafen eines eisernen, traumlosen Schlafes, aus dem ihn erst der späte Morgen weckte.
Es war kein erquickliches Erwachen. Johannes fühlte seine Glieder kalt und steif, den Kopf schwer, die Nase verschnupft, daß er niesend in die Höhe fuhr. Da schaute er rings um sich greuelvolle Verwüstung. Als er im Sturme die Bücher über Bord warf, hatte er fast sein sämtliches Bettzeug weit in die Stube hinausgeschleudert (darum waren ihm auch die Bücher im Arm so schwer geworden); und nackt und bloß hatte er die ganze kalte Märznacht auf dem Strohsack gelegen!
Jammer und Reue überkam ihn, wie er nun in aller Nüchternheit eines schlechten Morgens seiner verbrieften Verpflichtung von gestern gedachte. »Wenn ich bei dem bloßen Traum von einem Seesturm einen solchen Rheumatismus davontrage, was wird erst aus mir werden bei einem wirklichen Sturme! Was mir gestern abend der gescheiteste Streich meines Lebens deuchte, war, wie es scheint, der dümmste. Da wir uns für Weise hielten, sind wir zu Narren geworden, wie Paulus an die Römer schreibt. Aber ein Mann, ein Wort! Was man geladen hat, muß man auch fahren. Und den Ulmern muß ich entrinnen und meinen krankgesessenen Unterleib kurieren! Ja, und jetzt will ich ausgehen und trotz meinem Schnupfen die Ulmer ärgern drei Tage lang. Zum Teufel mit allen Bedenken, wenn man die Rathaustreppe herabsteigt und sein Wort gesprochen hat!«
Es ging doch nicht so leicht ab mit den drei Tagen. Piscator ärgerte die Ulmer, aber der Reue über seine Voreiligkeit entrann er darum doch nicht. Als ihn die Rache nicht zerstreuen wollte, suchte er wieder Trost bei seinen Büchern. Er nahm den Philosophen Seneca vor, er las Boethius de consolatione philosophiae. Vergebens. Auch die Philosophie des »letzten Römers« tröstete ihn nicht.
So trat er dann am vierten Tage recht trübselig seine Wanderschaft über Augsburg nach Innsbruck an. In seiner Ledertasche trug er ein halbes Dutzend Klassiker und etwas weiße Wäsche. Allein auch die kleine Last drückte den des Tragens und Wanderns Ungewohnten, und er war kaum drei Stunden gegangen, da schlich er bereits so elend dahin, als habe er den härtesten Tagemarsch zurückgelegt, ließ den Kopf hängen und sah zu Boden wie ein Hühnerdieb.
Am Rande eines steilen Abhanges, der sich jäh zur Donau niederzog, setzte er sich zur Rast auf einen Stein. Die Gegend ist wild und rauh und kahl und langweilig dazu. Ihr Anblick, selbst im Morgenschein der Märzsonne, vermochte den hypochondrischen Pilger nicht aufzuheitern.
Die Donau, hier noch als ein verheerender Bergstrom über die Hochfläche brausend, benagt die felsenlosen Sandhügel, daß sie zu steilen Hängen abstürzen, und breitet auf dem anderen Ufer hundert Arme zu einem verwirrten Knäuel von Bächen und Altwassern in die Ebene, uferlos, um nach jeder Schneeschmelze, jeder Regenwoche sich ein neues Bett zu wühlen und unter neuen Geröllbänken fruchtbares Land zu begraben. Die von den Wasserarmen umschlungenen Auen deckt undurchdringliches Gestrüpp, üppigster Baumwuchs, dem keine Axt naht, eine Urwildnis, deren vom Sturm gefällte, vom Wetter gebleichte Stämme bekunden, daß nie ein Kahn diese tückischen Strudel durchschneidet und keines Menschen Fuß die Inseln betritt. So war es damals.
Auf der Landseite schweifte der Blick unseres Wanderers über die endlose kahle Hochfläche und die graugrüne Sumpfniederung des Ulmer Rieses. Wer noch nicht melancholisch ist, der kann es bei diesem Anblick werden. Nur manchmal bei besonderer Gunst von Luft und Licht erhalten die öden Gründe einen prächtigen Abschluß. Es steigen dann, von leisem, blauem Dufte überhaucht, die vielgestaltigen Gipfel und Kämme der Vorarlberger, Allgäuer und bayrischen Alpen am Saume des Himmels auf, ein Traumgebilde der zartesten Farben und Formen. Und mit jener geheimen Macht, womit uns die Dichtung dem gemeinen Leben entrückt, zieht uns dieses verschwimmende Bild des Hochgebirges zu sich hinüber, daß wir uns selbst aus der umliegenden Öde hinwegdichten zu waldbeschatteten Alpenseen, auf lichte Matten, unter die Riesendome des Urgesteines, von deren Kuppen der ewige Schnee seine Quellen, Bäche und Wasserstürze vieltönig ringsum niederbrausen läßt.
Johannes Piscator, der jetzt auch die Schneegipfel am Horizont erblickte, dachte nicht an die Landschaftspracht des Gebirgs, sondern an das, was hinter den Bergen lag: – an Innsbruck; an die Straße, die über diese Joche ging – nach Venedig und so weiter. So ward es ihm nicht leicht und frei beim Anblick der Alpenkette, sondern nun gar erst recht schwül und beklommen.
Da kam von Augsburg her ein Wanderer des Weges, der schritt anders aus wie vorhin unser unglückseliger Gelehrter! Das ging vorwärts wie der Wind und mit einer Kraft und Leichtigkeit der Bewegung, daß es eine Lust war, dem Burschen nachzuschauen.
Der Humanist erschrak über die kraftgedrungene Gestalt, die so recht im griechischen Heroenschritt auf ihn zugestiegen kam; denn keine Menschenseele war sonst weit und breit, und der schnellfüßige Achilles wandelte sich dem furchtsamen Magister rasch in einen Gauner und Straßenräuber. Doch als der stattliche Jüngling dem Rastenden ein treuherziges »Grüß Gott!« entgegenrief, schwand demselben die Furcht, denn es war ihm, als ob einer, der in Gottes Namen grüßt, nicht Raub und Mord sinnen könne.
Ein paar Worte wurden hin- und hergewechselt, die sich bald zu einem Gespräch ausspannen, und der neue Ankömmling fand es endlich bequemer, sich gleichfalls niederzusetzen, als stehend die Unterredung weiterzuführen.
Er bot dem Magister einen Schluck aus seiner Feldflasche und einen Bissen Fleisch und Brot.
Piscator lehnte dankend ab. »Ich frühstücke niemals. Natura paucis contenta.« »Ihr müßt ein Schulmeister sein, Freund«, entgegnete der andere. »Einmal, weil Ihr auf der Reise nicht eßt, wann Ihr etwas kriegt, obgleich Ihr hungrig seid, wie Schulmeister gewöhnlich sind und wie ich's Euch auch jetzt an den Augen ansehe; und dann weil Ihr schon bei dem dritten Wort mit den verfluchten lateinischen Brocken um Euch werft.«
Mit gutmütigem Lächeln nickte Piscator bejahend.
»Nun seht, da gibt es gleich eine Verwandtschaft zwischen uns«, rief der Fremde. »Mein Vater ist auch ein Schulmeister. Er ist so gelehrt, daß er seinen ehrlichen deutschen Namen Fischer nicht mehr tragen mochte und sich selber in einen Piscator übersetzte. Er wollte mich auch gelehrt machen, aber ich widerstand hartnäckig. Da tat er mich zu einem Küfermeister in die Lehre: dem lief ich davon; darauf zu einem Schlosser: den hätte ich beinahe selbst in einem Streite zu Blech gehämmert. Endlich versuchte man, ob ich nicht durch den als den gröbsten Mann in ganz Franken bekannten Lebzelter Sturm in Nürnberg zu einem brauchbaren Bürger zu erziehen sei. Darüber bin ich dreiundzwanzig Jahre alt geworden, habe wirklich bei dem alten Sturm volle zwölf Monate als Lehrling ausgehalten und will jetzt mein Glück weiter versuchen bei der löblichen Lebzelter- und Wachszieherzunft in Ulm.«
»Ihr heißet Piscator«, rief der Gelehrte; »so schreibe ich mich auch – Johannes Piscator aus Beutelsbach, der freien Künste Magister.«
»Gerhard Piscator aus Schweinfurt, einjähriger Lebzelterjunge!« fügte der andere hinzu.
»Oh, wenn ich doch in Eurer Haut stäke, Vetter Gerhard, wie in Eurem Namen! Die Lebzelterei ist wohl ein recht friedliches, harmloses, ungefährliches Geschäft?«
»Das eben ist zum Verzweifeln, Vetter Johannes. Wenn Ihr Euch kein heißes Wachs auf die Finger tropfen laßt, so hat's gar keine Gefahr bei dem Handwerk. Doch wo drückt Euch denn der Schuh so stark, daß Ihr aus der Haut fahren möchtet, Magister?«
»Ich habe mich dem Grafen von Löwenstein als Reisebeschreiber verdungen zu einer Fahrt nach Jerusalem –«
»Wie? Ihr seid einer dieses berühmten Zuges? Oh, könnte ich mit Euch ziehen über Land und Meer, statt in Ulm Lebkuchenmänner zu backen!« Der Magister sprach trocken: »Ich bin ein ruhiger Mann, den Büchern ergeben, die ich daheim lassen muß, den gelehrten Arbeiten, für die eine deutsche Dachkammer und nicht ein venezianisches Schiff oder ein palästinensischer Reitesel die rechte Werkstatt ist. Fährlichkeiten liebe ich nicht. Mir graust vor der Seefahrt –«
»Auf die See möcht' ich ums Leben gern!« rief der Lebzelter begeistert. »Mitten hinein in den ärgsten Sturm! Und einen Schiffbruch möchte ich erleben, wo das Schiff mitten entzweibricht wie ein verbackener Lebkuchen! Alle meine Genossen ertrinken vor meinen Augen; ich allein werde nackt und bloß auf eine Klippe geschleudert–«
»O Freund«, rief der Magister hohen Tones, »Ihr würdet anders sprechen, wenn Ihr jemals einen Seesturm miterlebt hättet!«
»Ihr habt also einen erlebt, Magister? Ihr seid zur See gewesen?«
»Ja! Halb und halb. Nämlich der bloße Traum von einem Seesturm hat mir einen bodenlosen Rheumatismus gebracht; nun denket erst, wie mir's bei einem wirklichen Sturme ergehen mag! Ersaufen wir aber auch nicht, dann wird die Landreise noch gefährlicher wie die Seefahrt. Türkische Raubscharen umschwärmen uns –«
»Ha! Bruder Johannes von Beutelsbach, einem Türken den Kopf zu spalten, wäre mir lieber, als wenn ich die größte Wachskerze in der ganzen Christenheit gegossen hätte!«
»Wer dem Türken entrinnt, den frißt die Pest.«
»Die kriege ich nicht! Ich bin pestfest. In Nürnberg hat sie mir Meister Sturm jeden Tag zwanzigmal auf den Hals gewünscht, und sie ist doch nicht gekommen!«
»Ei, zum Teufel, ritterlicher Lebzelter, wenn dir das alles so wohl gefällt, dann gehe du doch nur gleich statt meiner nach Jerusalem. Ein Piscator um den anderen! Ob der Beutelsbacher mit dem Schweinfurter und der Johannes mit dem Gerhard verwechselt ist, wen kümmert das? Wenn die Fische im griechischen Meer nur einen Piscator zu fressen kriegen, so ist meiner Ehre schon genug getan. Es gilt, Gerhard! Ein Magisterdiplom gegen einen Lehrlingsbrief!«
Der Lebzelter erwog ernstlich. »Nein!« rief er endlich, »es geht nicht an. Seht, den Magister könnte ich schon machen, nicht aber Ihr den einjährigen Lehrjungen. Wo wollt Ihr dazu Kenntnisse und Geschick hernehmen?«
Dennoch ward die Sache weiter durchgesprochen; aus dem Scherz ward Ernst. Keiner der Pilger kannte den erwarteten Gelehrten. Gerhard mochte bis zur Einschiffung in der Tat ganz gut den Magister spielen, und nachher konnte man ihn nicht mehr zurückschicken. Nach Ulm durfte Johannes nun freilich nicht als Lebzelter gehen; allein auch in Augsburg wußte sein neuer Freund einen offenen Platz; dahin wollte er den Humanisten empfehlen. Endlich schlugen sie ein. Der abenteuernde Bursche nahm das Diplom und das Handgeld, der verzagte Philosoph den Brief und des Lehrjungen drei Batzen. Der Lehrling nahm den Hut und Degen des Magisters und der Magister die Mütze und den Stock des Lehrjungen. Nur seine Klassiker gab Johannes nicht heraus. Nähere Verhaltungsmaßregeln wollten sie auf dem gemeinsamen Marsch austauschen; denn beide mußten ja jetzt gegen Augsburg ziehen.
Gerhard begann sofort ein Examen mit dem Magister. »Wie wirst du dich nun einführen, wenn du nach Augsburg zu Meister Furtenbacher, dem Lebzelter, kommst?«
Johannes wollte demselben schlechtweg guten Tag sagen, sein Schreiben vorzeigen und ihn um die ledige Lehrlingsstelle bitten.
Da wäre Gerhard fast geborsten vor Lachen und ließ den gelehrten Mann gar nicht ausreden. »Mit Spott würde man den einjährigen Lehrjungen fortjagen, der so unkundig alles Zunftbrauches! Zuerst mußt du dir in Augsburg einen Bürgen suchen, der gutsteht, daß du alles bezahlst, was du deinem Meister etwa verderben oder veruntreuen könntest.«
»Wer aber wird mir bürgen wollen?«
Gerhard schaute den Genossen mit der Miene überlegener Pfiffigkeit an. »Ich gebe dir ein Briefchen an die alte Magd deines Meisters. Bevor du ihn besuchst, schleichst du dich abends ungesehen in die Küche und übergibst der Alten den Zettel. Sie wird dich zum nächsten Abend wiederkommen heißen, und, ein schönes, junges Mädchen wird dich dann vermutlich zu dem Manne führen, der für dich bürgen soll.«
»Das ist ein abenteuerlicher Eingang«, seufzte Johannes.
»Freilich, Vetter! Vielleicht erlebst du bei der Lebzelterei mehr Abenteuer als ich auf meiner Reise nach Jerusalem. Doch weiter. Vorgestellt durch den Bürgen, machst du dann dem Lehrherrn deine Reverenz und einigst dich mit ihm über Aufgeld und Lehrgeld.«
»Wie? Ich soll auch noch Lehrgeld zahlen?«
Gerhard blieb stehen und rief: »Heiliger Michael, Patron der Lebzelter, erbarme dich dieses Menschen, der Magister ist und noch nicht weiß, daß man für alles, was man auf der Welt lernt, Lehrgeld zahlen muß!«
Dann griff er in die Tasche und fuhr fort: »Vetter, du hast allzu gutmütig mir vorhin all deine klingende Habe ausgeliefert: nimm hier zehn Gulden zurück, damit du Aufgeld und Lehrgeld zahlen kannst und deinen Bürgen und das schöne Mädchen nicht zu Schanden bringst. Also, nachdem Vorgedachtes vereinbart ist und dein Meister dich gedungen hat, gehst du anderen Morgens mit dem Meister und dem Bürgen zu dem Führer der Lebzelterhauptlade, damit dich derselbe einschreibe und dir die Handwerksordnung zustelle. Hierauf hast du allen anderen Zunftmeistern einen Respektsbesuch zu machen. Der Führer der Hauptlade wird dich dann auf den nächsten Sonntag berufen, daß du unter seinem und deines Meisters Vortritt in die St. Annakirche gehest, um dort in den Stühlen der Lebzelterinnung den göttlichen Segen auf deine Augsburger Lehrzeit herabzuflehen, und am Abend dieses Sonntags mußt du dann den Gesellen des Hauses ein Traktament geben, so reich, als es dein Beutel erlaubt. Hierbei aber sind wiederum viele besondere Regeln genau zu merken, die ich dir jetzt einzeln aufzählen will.«
Dem Magister wirbelte der Kopf schon von den bisherigen Vorschriften. Die ganze Angst eines Stubengelehrten vor dem Eintritt in eine neue, geregelte und doch verwickelte, ganz nüchtern praktische Lebensführung überfiel ihn wie ein Fieber. Jetzt deuchte ihm wieder bequemer, nach Jerusalem zu ziehen, als Lehrjunge bei den Lebzeltern zu werden, und beinahe hätte er den Tausch bereut.
Als die Wanderer spät abends nach Zusmarshausen kamen, war Gerhard eben bei den Vorschriften angelangt, wie sich ein Lehrjunge beim Feilhalten von Lebkuchen und Wachsarbeiten auf den Jahrmärkten zu benehmen habe. Er machte nur eine Pause im Dozieren, zuerst um zu essen, dann um den geheimnisvollen Brief an die alte Magd des Meisters Furtenbacher zu schreiben. Er war jetzt in der Tat der Magister und Johannes Piscator der zu seinen Füßen sitzende Lehrjunge geworden.
Als sich beide ermüdet auf die Streu gestreckt hatten, sprach Gerhard noch tief bis in die Nacht hinein über die leichteste Art, den Backofen zu heizen, und über die sicherste, die Wachsbleiche zu bewachen und doch dabei zu schlafen. Über der letzten Untersuchung war Johannes ins Schnarchen geraten. Gerhard zog darum nun auch endlich die wollene Decke übers Ohr, und indem er vor sich hinmurmelte: »Ein Glück, daß ich diesen Magister als Lehrjungen zu Furtenbacher schicken kann; er wird im Hause hilfreich und nützlich sein, – meinen Platz in der Werkstatt für mich offenhalten, falls mich die Lust anwandeln sollte, später wieder einmal bei den Honigtöpfen zu sitzen, – und, was das wichtigste, Galanterien sind von ihm nicht zu fürchten: – der gute, dumme Vetter; er ist auch nicht schuld, daß die Frösche keine Schwänze haben!« – indem er solches murmelte, schlief er ein.
Als Johannes Piscator in Augsburg angekommen, tat er pflichtlich, wie ihm sein Namensvetter geheißen. Aber er tat es in einer Stimmung, die gar nicht zu beschreiben ist. Da er zur alten Magd des Lebzelters schlich, um ihr den Brief zu übergeben, biß ihn die Reue, daß er ein Gesicht schnitt wie – nach Bauernrede – ein Topf voll Teufel. In die Lechkanäle, die in raschem Gewoge die Stadt durchfluten, hätte er springen mögen trotz seiner Wasserfurcht, so unwürdig erschien er jetzt sich selber. War die Verschreibung zur Pilgerfahrt schon eine große Narrheit gewesen, dann war der Einzug in die Lebzelterwerkstatt eine noch viel größere. Schwer belastete jetzt der Betrug sein Gewissen, mit welchem er den edlen Rittern einen Schweinfurter Lebzelter als Archäologen, Latinisten und Schriftsteller aufgebunden. Der andere Piscator, um den sich Verwandte und Freunde kümmerten, nahm es sorglos hin als einen lustigen Streich, als eine Abenteurerei, die in den Grundrechten der Jugend verbrieft ist, davonzulaufen nach Jerusalem. Auch Trotz und Grimm und Hoffnungslosigkeit machten ihm, wie wir später sehen werden, den Abzug leicht. Johannes dagegen, der einsame, freundlose Mann, der niemand in Sorgen setzte, wenn er jetzt ein einziges Mal in seinen jungen Jahren einen tollen Jugendstreich begann, wollte verzweifeln über seinen eigenen Leichtsinn.
Es geschah, wie Gerhard vorgesagt. Nachdem die Magd das Brieflein gelesen – eine Magd, die lesen gelernt, war damals noch eine Rarität – und ein zweites, eingeschlossenes, sorgfältig aufgehoben hatte, hieß sie den Magister morgen zur selben Stunde wiederkommen, und als er wiederkam, stand das verheißene schöne Mädchen schon am Platz, tief in den Mantel gehüllt, bereit, den Fremden zu seinem Handwerksbürgen zu führen. Sie grüßte mit stummer Verbeugung, und auch als Johannes, von dem Mädchen und der Alten begleitet, durch die Straßen schlüpfte, fiel von keiner Seite ein Wort. An einem großen Haus, welches fast wie der Flügel eines Klosters aussah und an eine Kirche angebaut war, pochte die Magd ans Tor und blieb dann auf dem Vorplatz zurück.
Durch ein altertümlich überwölbtes Treppenhaus stiegen die beiden hinauf zu den bewohnten Räumen. Piscator, der zu irgendeinem Zunftmeister zu kommen wähnte, erstaunte nicht wenig, als sie in die Stube eines Gelehrten traten. Da waren Bücher die Fülle an den Wänden aufgestellt, daß dem Magister Lebzelter das Herz pochte, und Wohlstand und Behagen schien auch hier einmal die Frucht der Erforschung der Weisheit geworden zu sein. Eine ehrwürdige Gestalt, ein Mann von wohl sechzig Jahren mit langen silbergrauen Locken, erhob sich gegen die Eintretenden. Als Johannes den Gelehrten im weitfaltigen, pelzbesetzten Hausgewand gebieterisch vor sich stehen sah, war es ihm, als steige die Erscheinung eines der humanistischen Wissensfürsten seiner Universitätsjahre vor ihm aus der Erde und er selber müsse versinken vor Scham über die Maske, in der er jetzt einem solchen Manne gegenübertrat.
»Vetter«, rief Judith in munterem, fast schalkhaftem Ton, »hier bringe ich Euch den Lehrjungen, dem Ihr Bürge sein wollt. Macht's untereinander ab; ich plaudere derweil mit Eurer Schwester.« Und im Fortgehen warf sie dem Magister die Worte zu: »Es ist mein Vetter, der Herr Scholarch Kaspar Notthaft, der hier vor Euch steht.«
Der Scholarch erhob das Licht und musterte seinen Empfohlenen vom Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick, als wolle er ihn durch und durch sehen. Da er die struppigen Haare, die unordentliche Kleidung wahrnahm, lächelte er freundlich. Das Lächeln ward noch freundlicher, als er des Lehrjungen Gesichtszüge prüfte: – eine starke Nase, viel zu energisch, um schön zu sein; tiefliegende, blöde graue Augen, aus denen einer bei dem berühmten Gelehrten Piscator das versteckte Funkeln des Geistes herausgelesen hätte, während der Scholarch bei dem Lehrjungen Piscator nur Schüchternheit und Einfalt aus demselben Blicke entzifferte; die von der Arbeit der Gedanken gerunzelte Stirn – der Scholarch sah bei dem Lebzelter nur die Runzeln, nicht die Gedanken –; überhaupt einen reif durchgebildeten Kopf, der aber das Gelehrtenprivilegium der Häßlichkeit etwas stark für sich in Anspruch genommen hatte. Als aber vollends der Scholarch die zusammengesessene Gestalt unseres Johannes wahrnahm und die mageren Beine, deren Linienführung keineswegs dem griechischen Ideal entsprach, drückte er ihm unter freundlichstem Lachen die Hand und sprach: »Ich will Euer Bürge sein, Piscator. Ihr wißt, es ist das bei uns nur noch eine leere Form, und seit Menschengedenken hat kein Handwerksbürge für einen Lehrjungen wirklich mit dem Geldbeutel eingestanden. Aber hier in Augsburg übt der Bürge auch noch eine andere Pflicht. Er soll des Lehrlings Patron werden, der ihn schirmt vor Übervorteilung durch gaunerisches Volk, vor Mißhandlung durch die Mitgesellen (wenn der Meister gegen diese nicht Schutz geben will); er soll sein zweiter Vater, gleichsam sein Handwerkstaufpate sein, und wo der Meister ein gewissenloser Mann wäre, soll der Lehrjunge bei dem Bürgen selbst gegen den Meister Recht finden bei Mißhandlung, Betrug und Überbürdung in der Arbeit.«
Da der Scholarch eine Weile einhielt, so nahm Piscator des Augenblicks wahr, um nun doch auch einmal ein Wort zu reden, und sprach: »Wenn sich nämlich der Überbürdete nicht selbst hilft gleich den Ochsen von Su–« (er wollte sagen: Susa, besann sich aber sofort) – »von Sulzbach, die täglich hundert Eimer Wasser führten; als man jedoch den hundertundersten noch zufügen wollte, waren sie nicht mehr von der Stelle zu bringen.«
Der Scholarch horchte auf und dachte bei sich: »Wie doch die Geschichten der alten Autoren Gemeingut werden! Es erzählt sich also jetzt der Schweinfurter Pfahlbürger diese Anekdote ganz, wie sie uns in den Klassikern berichtet wird, nur daß er statt Susa die Variante Sulzbach macht!« Dann sprach er laut gegen den verkappten Magister: »Ich zähle Euch meine Pflichten als Bürge nicht auf, damit Ihr etwa meint, Ihr könntet den trefflichen Meister Furtenbacher bei mir verklagen, wenn Ihr liederlich und faul seid. Allein es gibt gewisse Menschen, die sich nun schlechterdings nicht allein forthelfen können, die durch ihre Gutmütigkeit jeden herausfordern, daß er sie rupfe und ausbeute: solche Menschen bedürfen der Vaterschaft eines mannhaften Bürgen. Meister Furtenbacher kann sich nur um die Lebzelterei bekümmern; ich will für das übrige sorgen. Meine menschenfreundliche Base hat mir schon ungefähr gesagt, auf welcher Seite es not tut, Euch eine Krücke unterzustellen. Ihr seid mir ein wildfremder Mensch. Dennoch bürge ich für Euch – die Weiber haben mir wahrlich den ganzen Tag genügend darum im Ohr gelegen«, dachte er im stillen, fuhr aber laut fort: – »damit Ihr seht, daß es doch noch Leute gibt, die einen gutmütigen, der Welt unkundigen Menschen für Gotteslohn beschützen, statt ihn zu rupfen und zu betrügen. – Und hiermit gute Nacht!«
So entließ er den verblüfften Johannes, dem nun eine, wenn auch noch sehr schwache Lichtdämmerung auf die seltsame Art und Weise fiel, wie er in Augsburg zu einem Bürgen gekommen war.
Auf dem Vorplatz fand er die Magd, die ihm den Heimweg zeigte, da Jungfer Judith die Abendstunden noch mit der Schwester des Scholarchen verplaudern werde.
Heldenmütig bestand Piscator in den nächsten Tagen die verwickelten Aufnahmeförmlichkeiten in die Lebzelterwerkstatt. Selbst das Traktament, welches er den Mitgesellen zu geben hatte, lief glatt vom Stapel, und ob der Magister schon über allerlei Unanstelligkeit einen kleinen Spott einstecken mußte, so kam er doch, wie man so sagt, glücklich mit dem blauen Auge davon.
Als dieser Sturm überstanden, ward es ihm mit jedem Tage ruhiger zumute. Zum erstenmal begann er den Frieden des Hauses zu schmecken. Der Zwang zur Ordnung, den er gefürchtet, erquickte ihn. Von Handwerksarbeit kam ihm wenig in seine Hände, da der Meister auf den ersten Blick sein Ungeschick erkannte. Er konnte kaum begreifen, wie einer ein ganzes Jahr bei dem gestrengen Meister Sturm in Nürnberg gelernt und doch eigentlich gar nichts gelernt habe, und räsonierte dann über die schlechte neue Zeit, wo man den Lehrjungen zum Hausknecht mache, ihn nur in der Küche, im Feld und unter dem Gesinde arbeiten lasse und darüber die Unterweisung im Handwerk versäume. Da er aber fürchtete, der ungeschickte Bursche möge am Backofen mit dem Feuer Unheil stiften, die Honigtöpfe nicht rein fegen, die irdenen Gefäße zerbrechen, Teig in den Modeln sitzen lassen, daß die Ritter und Frauen auf den nächsten Lebkuchen etwa ohne Hände und Füße zum Vorschein kämen, und wohl gar in Gedanken den Honig selber trinken, statt ihn in den Teig zu gießen: so machte er's geradeso, wie er's bei Meister Sturm tadelnd voraussetzte, und gebrauchte unseren armen Magister fast nur zum Stubenkehren, Stiefelschmieren, Wassertragen, zum Hacken und Graben im Garten und im Acker. Allein Johannes befand sich hierbei wohler als in der Werkstatt, er fühlte den Segen der Handarbeit und lernte im Haus und für das Haus leben.
Wenn er so an Sonntagnachmittagen manchmal stundenlang allein in des Meisters Stube sitzen durfte, dann ward es ihm ganz selig im Gemüte. Die Frühlingssonne schien durch die achteckigen Scheiben so lustig in das helle, reinliche Gemach. Crescenz, die alte Magd, die lesen konnte – denn sie war von guter Herkunft und selbst eine entfernte Verwandte des Hauses – sorgte für eine Reinlichkeit, die ein Holländer bewundert hätte. Der Boden war blütenweiß gescheuert und das Täfelwerk am Wandsockel und an der Decke stets so glänzend im nußbraunen Lack gehalten, als sei es gestern erst gefirnißt worden; um tausend Gulden wäre kein Spinngeweb in den Ecken zu finden gewesen, und die metallenen Prunkgeräte auf dem kunstreich ausgeschnitzten Schrein spiegelten das Licht blendend zurück, daß sie leuchteten wie die goldenen Schalen, Schüsseln und Becken im Tempel Salomonis. Judith, des Meisters einziges Kind, verwaltete das Hauswesen gemeinsam mit Crescenz in geteilter Herrschaft; die Mutter war gestorben. Wenn Crescenz rein hielt, dann sorgte Judith für den Schmuck des Hauses, wie sie selber des Hauses schönster Schmuck war. In den Fensternischen hatte sie kleine Wintergärten angelegt, die jetzt im März in voller Blüte standen. Die Distelfinken, Drosseln und Amseln, mit ihren Käfigen eine halbe Wand füllend, waren ihrer besonderen Pflege empfohlen, überall ordnete und schmückte ihre Hand; der Eindruck des Wohlstandes, des Behagens, der sonnigen Heiterkeit, den die Wohnstube wie das ganze Haus machte, war ihr eigenstes Werk. Da war es denn kein Wunder, daß der Meister an Sommer- und Winterabenden am liebsten friedlich in seiner trauten Stube saß, mit seinem Geschwisterkindsvetter, dem Scholarchen, der das tägliche Brot im Hause war, ein Glas Wein leerte und sich, ruhig und nur selten den Mund öffnend, von dem vielerfahrenen Mann über Gott und die Welt unterhalten ließ. »Weit von unserem Haus ist nah' bei unserem Schaden!« pflegte Meister Furtenbacher den Freunden zu erwidern, die ihn manchmal zu einem Gelag hinauslocken wollten. Allein er hatte gut predigen; denn in einem Hause wie dem seinen war es in der Tat heimlicher und bequemer wie in irgendeiner Schenke der Welt.
Wenn nun der Meister am Sonntagnachmittag im Festkleid in seinen Garten spaziert war und Johannes so allein in der Stube saß, da befiel ihn wohl eine Ahnung von dem Heiligtum, in welches er hier gekommen, und von der Heiligen, die über diese Räume einen so verklärenden Schein ergoß, – von Judith. Es ward ihm dann ganz fromm ums Herz. Er vergaß den Klassiker, den er sich zur heimlichen Lektüre in die Tasche gesteckt, und gedachte wohl gar der Eindrücke, die er heute morgen aus der Kirche mitgenommen, aus derselben Kirche, wo auch Judith gebetet hatte. Vorher hatte er nicht viel aufs Kirchengehen gehalten; seit er Wunderkind gewesen, hatte er etwa jährlich einmal eine Predigt gehört. Allein die ehrsame Lebzelterzunft war strenge in diesem Stück. Da mußte gebetet werden beim Aufstehen und Schlafengehen, vor Tisch, nach Tisch, beim Schiedläuten und bei der Vaterunserglocke. An allen hohen Festtagen mußten Gesellen und Lehrlinge kommunizieren, und daß sie an jedem Sonntage wenigstens einmal zur Kirche gingen, verstand sich ganz von selber. Anfangs war dieses fromme Wesen dem Humanisten etwas gegen den Strich gegangen, allein allmählich fand er ein Gefallen daran, nicht weil er sofort im Innern davon ergriffen worden wäre, sondern weil ihm die Stetigkeit der religiösen Formen wohltat und die Ordnung, die Würde, welche durch dieselbe in das Haus kam, und weil er sich in diesen religiösen Übungen den anderen Familienmitgliedern näher gebracht fühlte.
Seltsame Gedanken überkamen ihn auch manchmal, wenn er so allein in der Stube saß und die einzige bildliche Darstellung betrachtete, die an den Wänden angebracht war. Sie bestand in einem Kunststück der Wachsbildnerei, welches Furtenbacher selbst verfertigt hatte als Meisterstück und zugleich als Brautgeschenk für seine verstorbene Frau; denn Meisterwerden und Heiraten folgten bei ihm Schlag auf Schlag. In einem breiten Rahmen stand ein reicher Blumenstrauß, frei aus buntfarbigem Wachse geformt; ganz versteckt aber hinter den Blumen, dem flüchtigen Beschauer kaum sichtbar, zeigte sich ein Kreuz mit dem Gekreuzigten, und rings um den Rahmen liefen die Verse:
»Manch' schöne Blum' dein Auge sicht:
Die Blume des Lebens siehst du nicht.«
Das deutete sich der Humanist aus in dem allegorisierenden Geschmacke seiner Zeit. Waren nicht seine trauten heidnischen Poeten die schönen Blumen, welche ihm die Blume des Lebens verbargen? Und konnte nicht das Kreuz harmonisch neben der Antike stehen wie der Gekreuzigte neben den Blumen auf diesem Bild? Mußte er – Johannes – die klassischen Heiligtümer seiner Jünglingsjahre daran geben, um die christlichen Heiligtümer seines Knabenalters, da er noch so fromm mit der seligen Mutter betete, wiederzugewinnen? War nicht auch der Scholarch Kaspar Notthaft ein gewaltiger Latinist und Gräzist und doch ein exemplarischer Christ dazu? Ging er nicht jeden Sonntag in die Kirche und sang mit seiner Base Judith aus einem Gesangbuch?
»Aber beim Zeus!« fügte Piscator diesen Betrachtungen in lautem Selbstgespräche bei: – »Es wäre mir lieber, der reiche Mann schaffte sich ein eigenes Gesangbuch an; es ärgert mich, die beiden aus einem Buche singen zu sehen, und ich weiß selbst nicht warum!«
Der Meister und seine Tochter, der Scholarch und die alte Magd gewannen den stillen, traurigen Lehrjungen täglich lieber, und obgleich er als angehender Zwanziger aussah wie ein angehender Vierziger und in Küche und Werkstatt manches Unheil stiftete, ward er doch das Schoßkind der ganzen Familie.
Um so aufsässiger wurden ihm die Gesellen. Der schweigsame Bursche war den lustigen Kameraden unausstehlich. Als sie auf dem Gelag, welches ihnen Piscator bei seinem Einstand gegeben, den Wein maßweise soffen, eingedenk der Regel, daß der Wein der beste ist, welcher nichts kostet, da war es dem hypochondrischen Philosophen im Unmut entfahren, daß er die Zecher als » Epicuri de grege porci« – Schweine von der Herde Epicurs – anrief. Die Gesellen versicherten seitdem, es sei ein Hauptspaß, den Lehrjungen angetrunken zu sehen; denn alsdann spreche er lateinisch. Sie versuchten darum auf alle Weise, ihn ins Wirtshaus zu locken; allein vergebens. Da es in Güte nicht ging, wollten sie ihn mit Drohungen pressen. Ein Lehrjunge hat nach der Zunftordnung den Gesellen mancherlei Dienst zu leisten, ja er ist in vielen Stücken recht eigentlich der Gesellen Knecht, und sie reden ihn mit »du« an, während er ihnen mit »Ihr« antworten muß. Die Gesellen versprachen, unserem Johannes wenigstens die Hälfte seiner Dienstlasten zu schenken, wenn er mit ihnen am Sonntag ins Wirtshaus gehe. »Und etliche Seidel Bier darfst du uns auch setzen für die Ablösung deiner Servitute«, rief einer. »Wer gut schmeert, der gut fährt!« ein anderer. »Freilich«, sagte ein dritter, »wir werden in Zukunft die weitere Verleihung unserer Gnaden nach deiner Freigebigkeit messen: Danach das Geld, danach die Seelmeß!«
Piscator aber wich nicht vor den Andringenden, hielt ein kleines Büchlein, betitelt: »Ordnung der wohlehrsamen augsburgischen Lebzelterhauptlade« wie einen Schild entgegen und sprach: »Wollt ihr Gesellen, daß der Lehrjunge euch lehre, was Handwerksrecht ist? Hier steht geschrieben im dreizehnten Hauptstück: Es ist einem Lehrjungen verboten, mit dem Gesellen zu zechen oder zu spielen; auf widriges Betreten ist sowohl der Gesell als Lehrjung strafwürdig.«
Mit diesen Worten kehrte er ihnen den Rücken. Die Gesellen aber ärgerten und höhnten ihn von da an, wo sie nur konnten.
Die Gelegenheit fand sich bald, wo dem armen Piscator für seine Anwendung des Zunftgesetzes die Hölle recht heiß gemacht wurde. Ein wandernder Gesell aus Franken sprach bei Meister Furtenbacher ein. Er war schon bei allen anderen Zunftmeistern der Stadt gewesen, hatte ihnen den Handwerksgruß geboten, aber bei keinem Arbeit gefunden. Da behielt ihn endlich unser Meister aus Mitleid auf ein paar Wochen probeweise, obgleich er seiner nicht bedurfte.
Als der Franke in die Werkstatt trat, den Degen an der Seite und den Mantel über das Felleisen auf beide Schultern zurückgeschlagen, wie es die Zunftordnung will, reichte ihm Piscator freundlich die Hand und sprach: »Seid mir in Gott willkommen von wegen des Handwerks« – genau wie das alles im zwölften Hauptstück der Ordnung der augsburgischen Lebzelterhauptlade vorgeschrieben steht. Dann bat er ihn niederzusitzen und zog ihm die bespritzten Stiefeln aus; denn es war sehr schmutzig. Alle diese Nebenzweige des Lebzelterhandwerks hatte der gelehrte Mann bereits unter den Fußtritten und Rippenstößen der Gesellen vortrefflich erlernt, auch im Stiefelschmieren eine Virtuosität gewonnen, auf die ein Hausknecht hätte reisen können. Der Fremde, dem die Frechheit auf die Stirn geschrieben stand, hatte von Anbeginn den alten Lehrjungen höhnisch angeschaut, und da ihm die anderen Gesellen mittlerweile zugewinkt, daß er denselben ein wenig zum besten haben solle, so setzte er der Bescheidenheit Piscators die ausgesuchteste Unverschämtheit entgegen. Als dieser das Amt des Stiefelausziehens vollendet hatte, forderte der grobe Gesell auch die Abnahme des Mantels. Piscator tat, wie befohlen. Nun setzte sich der Franke noch einmal so breit in den Stuhl und begehrte, daß ihm der Lehrjunge auch Degen und Mütze abnehmen solle. Die anderen Gesellen lachten und kicherten bereits über das Schauspiel. Da hielt der schriftgelehrte Lehrjunge plötzlich ein, richtete sich auf aus seiner Demut und sprach: »Es stehet wohl geschrieben im Zunftbuch, daß ich Euch Mantel und Stiefel abziehen müsse; aber von Degen und Mütze stehet dort nichts geschrieben: seid darum so gut und greift jetzt selber zu.«
Die Rede rief einen fürchterlichen Tumult hervor. Der Franke drohte mit Faustschlägen; die anderen Gesellen hielten ihn zwar ab von solchem Friedensbruch der Werkstatt, schrien jedoch den Lehrjungen an wie die Dachmarder. Dieser aber schwieg und stand fest in der Brandung: – »Saevis tranquillus in undis!« sprach er lächelnd bei sich, des Wahlspruchs seines großen Zeitgenossen gedenkend. Allein der Meister war nicht zu Haufe, und Prügel blühten dem gelehrten Dulder jedenfalls im Schlußakt.
Da trat Judith in die Werkstatt. Die rohen Gesellen verstummten vor dem lieblichen Mädchen, und selbst der Franke verwandelte seine Raufelstellung fast willenlos in eine tiefe Reverenz. Sie fragte nach der Ursache des Streites. Nun erst kam Piscator zu Wort und erzählte so gewandt und bescheiden den Hergang, daß die anderen nichts zu erwidern wußten. Mit herzbewegender Huld nahm sich das Mädchen des Gekränkten an und hieß ihn mitgehen in den Garten, wo er arbeiten könne bis zu des Vaters Rückkehr. Johannes sah den Goldschein um das Haupt seiner Heiligen heller strahlen als je, aber er hatte nur Blicke des Dankes für sie, nicht Worte.
Judith berichtete sofort dem heimkehrenden Alten. Der gestrenge Zunftmeister ließ den fremden Gesellen vorfordern, zahlte ihm aus Gnaden einen Wochenlohn und befahl ihm, sich ohne Säumen marschfertig zu machen; denn solche Flegel und Händelstifter dulde er nicht über Nacht in seinem Hause.
Da sprach der Franke in gleisnerischem Ton: »Herr Meister, dieser Lehrjunge, der seinem Alter nach wohl mein Vater sein könnte, dieser ist es, der Händel in Eure Werkstatt bringt, denn alle Gesellen sprechen gegen ihn wie–aus einem Mund. Traut dem Burschen nicht. Er nennt sich Gerhard Piscator aus Schweinfurt« – hier sah der Ankläger den armen Magister mit stechendem Auge an –, »der Name ist gefälscht. Ich habe den Gerhard vor Jahren gekannt; er war ein Teufelskerl, ein flinker, lustiger, schneidiger Bursch, groß gewachsen, ein Eisenfresser, o ein höchst fideles Haus! Wie könnte er ein solcher krüppeliger Duckmäuser geworden sein? Die Jahre ändern viel, aber niemals machen sie eine Nachteule aus einem Adler. Vielleicht« – er sprach leise – »hat dieser Patron meinen Freund Gerhard auf der Landstraße ermordet und sich mit dessen Papieren bei Euch eingeschlichen –«
»Schweig, trunkener Bube!« donnerte der Meister dazwischen. »Ich dulde nicht, daß ein hergelaufener Raufbold wie du in meinem eigenen Hause einen Hausgenossen boshaft verleumde, der sich mir längst als fromm und ehrlich ausgewiesen hat. Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gegen dich getan und will dich auch noch nach Handwerksbrauch vors Stadttor geleiten lassen. Dann aber siehe zu, daß du in der nächsten Dorfschenke deinen Rausch ausschläfst und mir nicht wieder unter die Augen kommst.«
Wenn Meister Furtenbacher donnerte, war noch jeder verstummt. So machte es auch der Franke und schlich ganz still zur Türe hinaus. Der Meister aber befahl dem Lehrjungen, daß er den fremden Gesellen zunftgemäß aus der Stadt geleite und ihm das Felleisen vors Tor trage. Doch nicht dem Raufbold zu Ehren drang der Meister diesmal aufs Geleite, sondern weil er weiteren Skandal abschneiden und das Herumlungern des bösmäuligen Franken in den Herbergen verhüten wollte.
Piscator, der wie Butter an der Sonne gestanden, atmete wieder auf, da er seinem Feinde jetzt ebenso demütig das Felleisen durch die Straßen vortrug, wie er ihm vorhin die Stiefel ausgezogen. Als sie vors Tor gekommen waren, verabschiedete sich der Lehrjunge von dem Gesellen mit dem vorgeschriebenen Zunftspruch: »Mein werter Gesell, ich wünsch Euch viel Glück auf die Reise; haltet mir nichts für ungut; habe ich Euch was Leids getan, verzeihet mir's.«
Da erwiderte der Gesell: »Und ich will mich hängen lassen, wenn du der Gerhard Piscator von Schweinfurt bist. Glück auf die Reis' in's Dreiteufels Namen!« – und gab dem Magister eine so ungeheure Ohrfeige, daß dieser mit einem ganz roten und einem ganz weißen Backen in die Werkstatt zurückkehrte; der Gesell schritt eilends davon.
Piscator gestand nachgehends, als ihn der fränkische Gesell bei seiner Anklage so scharf angeschaut, da sei es ihm wohl gewesen, wie Paracelsus schreibt, als ob einer den anderen durch Willen und Blick allein – ohne Schwert – wirklich erstechen könne.
In der Nacht nach diesem bösen Tage hatte der Magister die Wache bei der Wachsbleiche und dem Backofen; denn es ward scharf gearbeitet.
Das waren selige Stunden, wenn Johannes abends allein war und ganz heimlich wieder in den Alten lesen konnte, – etwa beim Mondlicht, denn Wachs, Öl oder Talg ward vom Meister nicht gereicht. Oh, wie gar süß und köstlich schmeckte ihm jetzt, was ihm sonst trocken wie das tägliche Brot gewesen! Seit er leben gelernt, begann er auch erst lesen zu lernen.
So zog er jetzt bei dem Schein des Feuers verstohlen seinen Homer in der kleinen Herborner Duodezausgabe unter dem Schurze hervor und las die Gesänge, welche den Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken erzählen. So mächtig hatte ihn die Lieblichkeit und die Größe dieser Bilder noch nie ergriffen wie hier in der stillen Nacht bei dem rotglühenden Scheine des Ofens. Der Magister hatte nur den klassischen Autor Homer gelesen; der Lebzelterlehrjunge las jetzt zum erstenmal den Dichter Homer. Da er noch ein menschenscheuer Schulmeister war, ganz besonders aber kein Weib auch nur von weitem ansah, war ihm Nausikaa, »des hohen Alkinoos Tochter«, nur eine Figur, worüber man die Scholiasten vergleichen und Erklärungen aufbauen mußte wie über Eumäos, den Sauhirten, und Melianthos, den Ziegenhirten, und die ganze übrige homerische Gesellschaft. Jetzt hatte er Judith kennengelernt, jetzt ging ihm ein Licht auf über die Frauen, und Judith, das gutmütige, schalkhafte Lebzelterkind, gab ihm den Schlüssel für Nausikaa, das adelige Königskind. Ja, es war ihm, als sei er selber auf seiner Irrfahrt in den seligen Frieden der Phäakeninsel gekommen, nämlich in das Haus des Meisters Furtenbacher, und er vergaß Stiefelschmielen und Wasserholen, die Lebkuchenmänner und Wachskerzen zusamt der Ohrfeige des Gesellen aus Franken, und Judith deuchte ihm die Nausikaa dieser Insel:
– »an Wuchs und reizender Bildung
Einer Unsterblichen gleich.« –
(Nur konnte man von ihrer Magd, der alten Crescenz, nicht sagen, daß sie gleich den zwei Mägden der Fürstentochter geschmückt sei »mit der Chariten Schönheit«.) Dann aber ergriff es ihn wieder gar wehmütig, und es war ihm, als müsse auch er, gleich Odysseus im Schlummer an diese selige Insel getragen, im Schlummer wieder von dannen segeln, Nausikaa zurücklassend, und ein Nebel verhülle ihm wohl das Land, wohin er steuere, aber keine Athene komme vom Olymp herab, um auch ihm endlich ein Ithaka aus dem Nebel heraufzuführen. Schon sah er im Geiste den Tag, wo er die Maske ablegen und seinen Phäaken die Irrfahrten seines Lebens erzählen werde und dann, gleich dem scheidenden Odysseus, scheidend Frieden und Gedeihen herabwünschen auf das gastliche Dach, nicht ohne den heimlichen Gedanken späteren frohen Wiedersehens: –
– –»jungkräftig müss' ich den Meister
Wiederfinden im Haus' und wohlbewahret die Tochter!
Lebt und waltet in Freude, und segnende Götter verleihn Euch
Tugend und Heil; und nie sei hier einheimisch das Unglück!«
Hier fuhr Piscator in die Höhe, durch einen kräftigen Rippenstoß des Altgesellen aufgeweckt: er war eingenickt über den göttlichen Homer und hatte nun doch die Wachtstunde verschlafen. – So verging unserem Johannes in wunderlich anziehendem Wechsel und doch in friedlicher Stetigkeit ein Monat um den anderen. In der Küche, in der Werkstatt, auf der Straße war er halb Lehrjunge, halb Hausknecht, auf der einsamen Dachkammer der echte deutsche Gelehrte. Auch in Gesicht und Haltung ward er von Tag zu Tag jünger, im Gespräch lebendiger. Manchmal erschrak er über sich selbst, daß er gar nicht mehr an seinen kranken Unterleib, geschweige denn an den Tod dachte. Die Klassiker las der Lehrjunge jetzt mit einer phantasievollen Wärme der Auffassung, daß der gelehrte Humanist manchmal seinem Doppelgänger mit dem kritischen Zeigefinger drohen mußte. So klassisch aber seine Studien waren, so romantisch blieb sein Minnedienst. Er schien hier streng nach dem provençalischen Liebeskodex des dreizehnten Jahrhunderts verfahren und das Noviziat der Liebe nach den dort vorgeschriebenen vier Graden durchmachen zu wollen. Bis jetzt war er freilich immer noch bei dem ersten Grade stehengeblieben, in welchem nur verstattet ist, »daß der Werber in der Stille verehre, ohne seiner Sehnsucht Worte zu geben.« Allein was bedurfte es der Worte? Judith war so gut und freundlich, zeichnete ihn vor allen durch ihre Güte aus, schützte ihn, erfreute ihn, wo sie nur konnte. Manchmal lachte sie ihn auch aus und neckte ihn. Was sich liebt, das neckt sich. Johannes kehrte den Satz flugs um und sprach: Was sich neckt, das liebt sich.
Weihnachten nahte heran; neun Monate waren es schon, seit der Magister die Welt und seinen Frieden in den engen Räumen des Lebzelterhauses gefunden, da begab sich eines Tages in diesem Hause eine seltsame Geschichte, die bald Lärm durch ganz Augsburg, ja durch ganz Schwaben machen sollte.
Der Altgeselle hatte nämlich dem Meister berichtet, er habe zum öfteren den Lehrjungen belauscht, wie er nächtlicherweile beim Feuer des Backofens oder beim Mondschein in Büchern lese, die mit einem Gewimmel von rätselhaften Zauberzeichen erfüllt seien, und lange unverständliche Zaubersprüche vor sich hinmurmele, bis er zuletzt in der Regel in einen ekstatischen Schlaf voller Traumgebilde, Ausrufungen und Verzückungen verfalle. Der Meister möge sich vorsehen. Dieser Lehrjunge, aus dem niemand klug werde, sei ein Hexenmeister; mit seinen zauberischen Bestrickungen aber scheine er es besonders auf Jungfer Judith abgesehen zu haben. Denn unter den sinnlosen Ausrufungen, die er schlafend von sich gebe, laute je das dritte Wort: »Judith!«
Dem Meister lief es nun doch heiß über die Stirn. Das Zeugnis des Altgesellen konnte er doch nicht schlechtweg verwerfen. Etwas Geheimnisvolles, Absonderliches hatte Piscator immer an sich gehabt. Dann fiel dem ehrlichen David Furtenbacher die Anklage des fränkischen Gesellen ein, der steif und fest behauptet hatte, der Lehrjunge sei gar nicht der rechte Schweinfurter Piscator. Auch war es dem Meister nicht entgangen, daß derselbe auf den Dulten stets die Buden der Schweinfurter Handelsleute mied, wie wenn sie die Pest zum Ausverkauf mitgebracht hätten, und daß er unsichtbar wurde, sowie er nur Leute aus Franken im Hause witterte, und die Grüße und Nachrichten nach Hause immer nur mündlich und durch den Donauwörther Boten besorgen ließ, der sie dann an seinen Kollegen von Nürnberg zum Weiterspedieren abgab, so daß diese Mitteilungen, Gott weiß wann und wie! – nach Schweinfurt kommen mochten.
Das alles überdachte der Meister jetzt zum erstenmal und beschloß, noch heute abend seinen Staats- und Gewissensrat, den Scholarchen, darüber zu konsultieren.
Der gelehrte Vetter legte nicht viel Gewicht auf die Frage, ob dieser Piscator wirklich der echte Schweinfurter Piscator sei oder nicht. Dagegen lockte es ihn, die Zauberbücher kennenzulernen, die Zaubersprüche zu erfahren. Er war mit sich selbst nicht eins, ob er an Zauberei glauben, dürfe. Die erleuchtetsten Geister der Zeit nahmen die Möglichkeit einer teuflischen Magie an; die größten Gesetzgeber der Kirche, der protestantischen wie der katholischen, geboten, daß man die Zauberer töten, daß man die Hexen verbrennen solle. Allein bei dem Scholarchen wie bei anderen Humanisten regte sich doch manchmal das dunkle Gefühl, als ob jemand, der sich mit der lichten Lebensweisheit der Alten gesättigt, der in dem sonnigen Tagesschein römischer und griechischer Dichter gelustwandelt, zuletzt kaum mehr ein Verständnis habe für das Eulengeschrei über die teuflische Magie, wie es aus Nebel und Finsternis klagend herüberhalle. Doch auch die gelehrtesten Schulmeister sind Kinder ihrer Zeit, und der Scholarch Kaspar Notthaft versprach in gespanntester Erwartung, den Lehrjungen vorerst einmal im stillen zu prüfen, um zu sehen, inwieweit jener ein Hexenmeister sei. Des anderen Morgens schon ward Piscator auf die Studierstube des Gelehrten beschieden.
In der Doppelwürde eines Pädagogen und eines Richters zugleich saß der Alte in seinem Lehnsessel; Johannes trat unbefangen vor den Hausfreund und Bürgen, der ihm immer treu gesinnt gewesen.
Notthaft begann sein Examen rundweg: »Du liesest des Nachts beim Feuer des Ofens oder beim Mondschein manchmal in Büchern, Gerhard? Ist's nicht also?«
Piscator schwieg verwirrt. Allein der Scholarch löste ihm die Zunge: »Leugnen hilft nichts! Während du hier vor mir stehest, durchsucht der Meister deine Kammer, und alsbald werden jene Bücher auf diesem Tische liegen. Der Altgeselle hat sie als Zauberbücher erkannt, wimmelnd von fremdartigen zauberischen Zeichen, und Zaubersprüche murmelst du vor dich hin, indes du die Bücher dem Glutschein des Ofens oder den Strahlen des Mondes entgegenhältst. Gesteh es ein; denn der Altgeselle ist ein unverwerflicher Zeuge.«
Da riß dem verkappten Magister Geduld und Selbstbeherrschung, und er rief: »Der Altgeselle ist ein Esel, so dumm, – so dumm –, wie ich es auf deutsch gar nicht ausdrücken kann: stultior Melitide! Griechische Verse sind es, die der Obskurant für Zauberzeichen angesehen hat.«
»Halt!« rief der Scholarch, »mir schwindelt der Kopf! Das ist wahrhaftige Zauberei! Wie kommst du zu dem lateinischen Spruch? Auf welchem Honigtopf, auf welchem Lebkuchenmodell hast du ihn gelesen? Steckt etwa auch ein magischer Doppelsinn in dem Spruch? Woher weißt du etwas von Melitides?«
»Aus dem Plutarch«, erwiderte Johannes ruhig und trocken; »denn dieser erzählt uns seine Schwänke und Dummheiten. Doch würde ich den Melitides schwerlich im Plutarch gefunden haben, wenn ihn nicht lange vorher ein größerer schon unsterblich gemacht hätte.«
»Was weißt du Näheres von Melitides?«
Mit der gemessenen Würde eines Mannes, der mit dem Degen umgürtet um den Doktorhut disputiert, entgegnete der Lehrjunge: »Melitides war der größte Esel des klassischen Altertums: wenn daher die Alten jemand als übermenschlich dumm bezeichnen wollten, so sagten sie: stultior Melitide, er ist noch dümmer als Melitides. Als Melitides eines Abends, während schon Licht angezündet war, heftig von den Flöhen gestochen war, löschte er rasch das Licht aus, weil er meinte, die Flöhe würden ihn nun im Dunkeln nicht mehr finden. Er wußte nicht, ob ihn sein Vater gezeugt und seine Mutter geboren oder ob ihn seine Mutter gezeugt und sein Vater geboren habe. Soll ich Euch auch die Geschichte von seiner Brautnacht erzählen?«
»Nein! Ich kenne sie schon. – Also griechische Verse sind es, die du nachts beim Lebkuchenbacken liesest?«
»Allerdings; homerische Verse. Die Bücher, welche man Euch bringen wird, sind eine kleine Auswahl ganz derselben Autoren, die ich hier Euern Schrein schmücken sehe: Homer, Virgil, Tacitus und Sallustius – das sind meine Zauberbücher.«
»Und verstehst du diese Bücher?«
»Gewiß! sonst würde ich sie nicht lesen.«
»Und durch welche teuflische Zauberei hast du Latein und Griechisch gelernt, während du Stiefel schmiertest und die Werkstatt fegtest?«
Piscator faßte sich rasch. »Die Lüge erzeugt das Lügen«, dachte er, »doch wenn ich mich nur erst aus meiner einzigen Hauptlüge herausgelogen habe, dann will ich gewiß zur Wahrheit halten mein Leben lang.« Er erzählte: »Ich bin, wie Ihr wißt, eines armen Schweinfurter Schulmeisters Sohn, der mir frühe schon einige lateinische Brocken zuwarf, von denen er selber jedoch nicht satt werden konnte und ich ebensowenig. Ich hatte noch nichts gelernt, als ich schon zu einem Küfermeister in die Lehre gegeben wurde. Doch den Ehrgeiz brachte ich von Hause mit, daß nur in den gelehrten Studien der höchste Ruhm zu gewinnen, daß nur ein lateinischer und griechischer Mann ein ganzer Mann sei. Da fiel mir die Grammatik Melanchthons in die Hände; schier lernte ich sie auswendig. Ich verkaufte meinen Sonntagsrock, um mir dieses kostbare Buch zu kaufen und andere Bücher dazu. Ich studierte so fleißig, daß mich der Küfer aus der Lehre jagte. Drauf tat man mich, wie Ihr wißt, zu einem Schlosser. Träge schwang ich meinen Hammer auf dem Amboß, aber auf die Alten hämmerte ich los wie ein Zyklope. So hatte ich lauter Lehrmeister, bei denen ich nichts lernte, und in dem einzigen Stück, worin ich etwas gelernt, keinen Lehrmeister. Nicht durch die weiße oder schwarze Magie kam mir Latein und Griechisch angeflogen; ich habe mir's sauer errungen, heimlich und ohne Unterweisung, in mondhellen Nächten, beim verglimmenden Lichtstümpfchen, weil ich so tun mußte, weil ich unglücklich gewesen wäre, hätte ich es Nicht getan. Est Deus in nobis, agitante calescimus illo!«
Man hatte inzwischen die angeblichen Zauberbücher des Lehrjungen dem Scholarchen übergeben. Während er dieselben durchblätterte und Johannes gleichzeitig erzählte, wuchs des Alten Staunen bald über das, was er hörte, bald über das, was er sah.
»Junge!« rief er wie toll: »Von wem sind die schriftlichen Randglossen hier zum Homer?«
»Sie sind von mir.«
»Und die lateinischen Verse vor dem Titelblatt?«
»Es sind meine Verse.«
Da ließ er das Buch starr vor Verwunderung auf den Tisch fallen. »Ein Lebzelterjunge, der nichts gelernt hat und von allen Lehrmeistern fortgejagt ist, macht seinen lateinischen Gelegenheitsvers so glatt wie Cobanus Hessus und kommentiert seinen Autor wie Lipsius und Scaliger!« Dann aber faßte den gewiegten Schulmann wieder plötzliches Mißtrauen. Er fuhr jäh auf. »Höre, Bursche! betrügen sollst du mich nicht! Ich will dich ins Gebet nehmen über deine selbsterrungene Weisheit. Setze dich neben mich. Aus dem richterlichen Examen wollen wir ein wenig ins gelehrte übergehen.«
Und nun ging es in der Tat an ein scharfes Turnier. Mancher Magister und Doktor wäre von dem Scholarchen aus dem Sattel gehoben worden; allein Johannes saß so fest, daß sein Gegenmann beim Anrennen zuweilen selbst die Bügel verlor.
Erschöpft warf sich der alte Herr zuletzt in den Sessel zurück, reichte dem Lehrjungen die Hand und sprach: »Gehe still nach Hause. Sprich zu niemand ein Wort über das, was zwischen uns vorgefallen. Sage übrigens dem Meister, ich hätte weder an deinen Büchern noch an dir etwas Schlimmes erfunden. Ich bin dein Handwerksbürge; ich will auch dein Bürge in der Gelehrtenzunft werden. Laß mich einsam sinnen, was hier zu tun ist.« Und als Johannes das Zimmer verlassen, rief der Scholarch mit erhobenen Händen: »Welch ein Wunder hat Gott an diesem Menschen getan! Ein Lebzelterlehrling, den niemand kennt, der ohne Schule aufgewachsen, ist einer der ersten Sprachgelehrten und Philosophen, einer der größten Humanisten Deutschlands!«
Dann sprach er leise vor sich hin, im Zimmer auf und nieder gehend: »Giotto von Vondone war ein Hirtenknabe. Indes er seine Herden werdet, zeichnet er mit dem Stabe ein Agnus Dei in den Sand. Da kommt Cimabue zur Stelle und siehet, daß ein ungelernter Hirtenjunge leichthin in den Sand zeichnet, was ihm, dem größten Meister, kaum in reifer Arbeit gelingen mag. Cimabue aber nimmt den Knaben mit nach Florenz, daß er alle Maler und ihn selbst überflügle. Ein Giotto ist dieser Lebzelterjunge, und bin ich auch nicht Cimabue, so bin ich doch sein Bürge, sein Handwerkstaufpate: – jetzt will ich ihn zum zweitenmal aus der Taufe heben. Der Junge hat mich verzaubert. Bei Gott! er soll mir nicht länger Lebkuchen backen.«
»Melancholie steigt auf aus dickem Geblüt. Da hilft kein Purgieren und Aderlassen. Auf ein Jahr bei einem Lebzelter in die Lehre zu gehen, ist ein probateres Mittel. Alle Kräfte Himmels und der Erden wirken zusammen, um einen einzigen Menschen so zu machen, wie er ist; dennoch macht sich ein Magister, der Lehrjunge wird und Stiefel schmiert und Wasser trägt, zu einem anderen Menschen, als er gewesen, trotz Himmel und Erden.
Mit eigener Willensstärke soll ich mich erlösen aus meinem Trübsinn. Aber Wille ist ja nur bewußte Lebenskraft. Ich suche die verlorene Lebenskraft wieder; wie kann ich sie durch den Willen gewinnen, der nur aufkeimt aus der Lebenskraft, der in ihr enthalten ist und eins mit ihr. – So schrieb ich vor einem Jahre. Jetzt füge ich hinzu: Als der Meister vor mir stand und drohte, die Gesellen mir zur Seite und mich vexierten, der Scholarch hinter mir und ermahnte, Judith vorüberschwebte und grüßend lächelte, – da machten sie mir die Willensstärke, die ich aus mir selber nicht zu schöpfen vermochte. Das Leben außer uns zeugt die neue Lebenskraft in uns, daß wir dann erst aus uns selber einen neuen Willen gebären können. Paracelsus hat recht, wenn er schreibt, des Menschen Wille könne so stark werden, daß einer durch den Geist allein, durch bloßes inbrünstiges Wollen, ohne Schwert einen anderen steche. Ich habe es vorgeschmeckt, als der Blick des bösen Gesellen aus Franken mein Blut stocken machte.
Aber auch durch die bloße Willenlosigkeit können wir uns selber leiblich töten. Ich war krank, weil ich nicht mehr wagte, gesund sein zu wollen. Mein Blut ward dick und träge, weil ich mich nicht ermannen konnte, ihm rascheren Fluß zu gebieten. In Jahresfrist wäre ich gestorben an Willenlosigkeit wie ein anderer am Fieber.
Ein fünfzigjähriger Mann, der Leib und Geist schlaff hängen läßt, ist binnen zwei Jahren siebzig alt; ein Siebziger, der immer in Kraft und Arbeit jung hat bleiben wollen, ist ein Mann in seinen besten Jahren.
Indem ich aber meinen Leib errettete von dem Siechtum der Willenlosigkeit, ist meine Seele darin gefangen geblieben. Aus Willensschwäche verdingte ich mich zur Pilgerfahrt, bereute den Pakt aus Willensschwäche, brach ihn und betrog die edeln Ritter aus Willensschwäche; ich belog den Lehrherrn, den Bürgen, die Gesellen, die ganze ehrsame Lebzelterzunft; eine Lüge gab die andere; um nicht als Lügner erfunden zu werden, log ich, daß ich, Magister Johannes Piscator, der als Jünger zu den Füßen der größten Gelehrten gesessen, als ein Autochthone des Wissens unterrichtslos in den Werkstätten großgewachsen sei; ich belüge heute noch die ganze Stadt, ganz Schwabenland, da ich mich als ein Wunderspiel der Natur anstaunen lasse, als den echten Lehrjungen, der aus sich selber ein großer Humanist geworden, – alles aus Willensschwäche! Noch kurze Frist, und mir droht bei gesundem Leibe abermals der Tod an dem Fieber der Willenlosigkeit –«
So schrieb Johannes Piscator, der hypochondrische Philosoph, am 1. März 1562, das Selbstgespräch parodierend, mit welchem er an demselben entscheidenden Tage vor einem Jahre seine schriftlichen Meditationen abgebrochen hatte.
Er führte jedoch, wie wir sehen, diesmal die Betrachtungen nicht zu Ende; denn es war ihm zu qualvoll, seine ganze Beichte schriftlich zu machen. Er warf die Feder weg und versteckte das Papier – aus Willensschwäche. Da trat Judith ins Zimmer. Es war eben an einem der friedlichen Sonntagnachmittage; das ganze Haus war ausgeflogen, die beiden jungen Leute fanden sich allein.
Sie grüßte mit besonderer Wärme; Piscator war verlegen. »Ihr seid mir böse«, begann sie, »denn seit vielen Wochen redet Ihr kaum mehr ein Wort mit mir. Das Lebzelterkind ist Euch wohl zu gering geworden und zu einfältig in ihrem Gespräch, jetzt, wo täglich vornehme Leute kommen, um den Lehrjungen zu bewundern, der über Nacht als ein Gelehrter aus dem Boden aufgewachsen ist. Sonst nanntet Ihr mich Eure Beschützerin und gabt mir manchmal ein Wort der Dankbarkeit; jetzt habt Ihr freilich größere Gönner.«
»Ihr tut mir schweres Unrecht, Judith«, entgegnete Johannes. »Sonst dachte ich, wenn es einmal offenkundig werde, daß ich doch noch mehr sei und Besseres wisse und könne als ein ungeschickter, verspotteter Lehrjunge, dann wolle ich Euch erst recht gut werden und vor Euch treten in gerechtem Selbstgefühl, Euch danken für alle Güte in begeistertem Wort, Euch sagen, was ich nie bis dahin Euch zu sagen gewagt, – – und jetzt, wo ich Anerkennung über das Maß täglich finde und meinem Ehrgeiz eine stolze Zukunft aufgeht, jetzt stehe ich beschämt vor Euch und kann nicht reden; ich kann Euch nicht mehr ins Auge sehen. Der ungelehrte Lehrjunge war heiter und fand sein Wort, der gelehrte Lehrjunge ist in Trübsinn verstummt.«
»Und warum waret Ihr heiter, da es Euch schlecht erging, und seid traurig, da Euer Glück aufgeht?«
»Das werde ich seiner Zeit enthüllen – nur jetzt nicht, Judith. Allein warum waret Ihr so still betrübt, als ich ins Haus kam, und wurdet insgeheim immer betrübter – ich merkte es wohl, da es sonst keiner merkte; – und seit einem Monat seid Ihr heiter und werdet immer heiterer?«
»Das werde ich Euch seiner Zeit enthüllen, Freund, – nur jetzt nicht.«
Meister Furtenbacher trat in die Stube. »Dein Vater ist hier in Augsburg angekommen«, rief er unserem Johannes entgegen. »Die Kunde von der Gelehrsamkeit, welche Vetter Notthaft bei dir aufgedeckt, ist auch nach Schweinfurt gedrungen. Da ließ es dem alten Manne nicht länger Ruhe, und er hat sich auf den weiten Weg gemacht, um die Wunderdinge, die man sich von seinem ohne erzählt, mit eigenen Augen zu schauen. Judith, richte ein gutes Abendessen in der oberen Stube, der Schulmeister von Schweinfurt wird unser Gast sein.«
Der Meister hatte kaum seine Freudenbotschaft beendet – dem armen Piscator klang sie fürchterlich ins Ohr, – als die Türe abermals aufging, und der Scholarch eintrat, glühend vor Eifer und in fliegender Hast.
»Jetzt habe ich meine Schuldigkeit getan als Bürge und kann mein Patronat in Ehren niederlegen«, rief er. »Seit länger als zwei Monaten kenne ich kein anderes Geschäft, als wegen dieses Burschen« – er deutete auf Piscator – »den Leuten einzuheizen. Wahre Brandsignale habe ich für dich, Freund, über das ganze gelehrte Deutschland hin ertönen lassen, – an drei Universitäten habe ich deine philosophische Abhandlung de fato eingesandt und dein Gedicht Neptunus triumphians. Von der Untersuchung ›über das Schicksal‹ sind die Wittenberger so tief ergriffen worden, daß sie dir hiermit das Ehrendiplom eines Doktors der Philosophie senden. Meister Furtenbacher! einen Lehrjungen, der Doktor ist, habt Ihr doch in Eurer ganzen Zunft noch nicht gehabt. Ihr müßt den Piscator jetzt wahrlich aus der Lehre lassen, sonst heißt er binnen acht Tagen in der ganzen Stadt der Lebkuchendoktor. – Der Neptunus triumphans hat in Heidelberg triumphiert, und besonders hat die Schilderung des Seesturms« – Piscator lächelte – »einen solchen Sturm der Bewunderung erregt, daß Kurfürst Friedrich den Lebzelterjungen einladen läßt, nach Heidelberg zu kommen, um seinem Gelehrtenkreise einen neuen Edelstein einzufügen – einen rotglühenden Rubin vom Backofen, einen Rauchtopas vom Feuerherde der Crescenz. Endlich suchen die Ulmer einen Gelehrten für ihr Gymnasium. Die Proben deiner Leistungen, der Ruhm deines Namens ist auch nach Ulm gedrungen. Hier übergebe ich dir den Bestallungsbrief, den du nur zu unterschreiben brauchst. Es ist diese Berufung freilich die minder glänzende, und die Ulmer mögen wohl geahnt haben, daß auch andere Leute das Licht meines neu entdeckten Sternes über sich leuchten lassen möchten. Es sind daher drei achtbare Bürger persönlich herübergekommen, um dich im Namen des Rates nach Ulm einzuladen und dir die Vorzüge eines gelehrten Amtes in ihrer Vaterstadt mit recht grüner Farbe zu malen. Was nun die Wahl zwischen Heidelberg und Ulm betrifft –«
»Die Wahl ist entschieden!« rief Piscator. »Ich gehe nach Ulm. Jetzt will ich den verfluchten Ulmer Geldsäcken erst recht zeigen, wer ich bin! Vor einem Jahre haben sie mich verhungern lassen, jetzt holen sie mich im Triumph zurück! Laßt ihre Deputation nur vorkommen. Zäh soll sie mich finden wie Lappleder, aber zuletzt werde ich dennoch nachgeben und mitgehen nach Ulm.«
»Der Junge ist vor Freude übergeschnappt«, rief der Scholarch. »Was phantasierst du von Ulm? Was haben dir die ehrenwerten Ulmer Bürger Leids getan, daß du so auf sie schiltst? Gib mir die Hand, Freund, – sein Puls ist fieberfrei! trinke einen Becher kalten Wassers, und dann laß uns die Sache schrittweise und bedächtig durchsprechen. Als alter Hausfreund und zwanzigjähriger Sonntagsgast, Vetter Furtenbacher, habe ich mir herausgenommen, die Ulmer Deputation auf heute abend in Euer Haus zu laden. Ich hoffe, Ihr werdet ihnen ein Glas Wein nicht versagen.«
Der Alte nickte seine Zustimmung.
Nun aber erhob sich Johannes Piscator: »Ich will die Stricke des Betruges zerreißen. Ich bin nicht Gerhard Piscator von Schweinfurt: der Gesell aus Franken hat recht gehabt, da er mich der Namensfälschung bezichtigte. Ich bin Johannes Piscator aus Beutelsbach, und Herr Kaspar Notthaft entsinnt sich vielleicht noch, daß ich vor zehn Jahren schon wegen meines frühreifen Wissens bekannt wurde. Man fütterte mich auf mit Schmeicheleien, um mich, da ich ernstlicher Arbeit mich hingab, schier verhungern zu lassen. In dieser Not verschrieb ich mich zur Löwensteinischen Pilgerfahrt, und als mich das Ding gereute, tauschte ich mein Schreiben mit einem abenteuernden Lebzelterjungen, dem echten Gerhard Piscator. Dieser ist nach Jerusalem gegangen, ich ging nach Augsburg. Hier habe ich den Segen des Hauses erkannt, die Heilkraft der strengen Zucht und Ordnung meines werten Meisters. Nicht Lebkuchen backen, aber leben habe ich gelernt. Bei aller Weisheit war ich vordem ein scheuer, geängsteter Mensch gewesen. Hier habe ich erfahren, daß die Ergebung in den Willen Gottes und ein christlicher Wandel uns alle gemeinsam hinaufhebt über irdische Bekümmernis. Ich habe noch nicht ganz ergründet, warum man gerade beten und in die Kirche gehen muß: aber ich sehe, es ist doch gut, zu beten und in die Kirche zu gehen. Mein ehrwürdiger Bürge hat mir gezeigt, wie man ein Humanist und ein Christ zugleich sein kann. Verzeiht mir alle meine Lügen, – ich hatte nichts Böses im Schilde, und in Reue, Scham und Verlegenheit tat ich Buße fort und fort. Doch wer kann immer widerstehen, die Leute anzuführen, wo sie danach dürsten, angeführt zu werden? Da ich noch als Magister lehrte, verschmähten sie meine Gelehrsamkeit; ich bin ein Lebzelterjunge geworden, und nun will man meine Weisheit mit Gold aufwägen. Und die Ulmer gar, die den Magister haben fortlaufen lassen, schicken nun eine Deputation, um den Lebzelterjungen zurückzuholen. Dennoch haben diese Schwernöter nicht unrecht: der Lehrjunge ist mehr wert als der Magister.
Nun habe ich mit Euch noch ein Wort zu reden, Judith. Ihr fragtet vorhin, warum ich so ungesellig, so undankbar, so trübsinnig geworden in den letzten glücklichen Wochen. Ich versprach, seiner Zeit darauf zu antworten: diese Zeit ist da. Seht, als ich meinen werten Bürgen durch das Märchen von meiner Selbsterziehung doppelt belogen und betrogen hatte, kam ein solches Bewußtsein meiner eigenen Unwürdigkeit über mich, daß ich nicht mehr wagte, die Augen vor Euch zu erheben. Ich konnte auch nicht mehr mit Euch sprechen und scherzen; ich war krank am Geiste. Jetzt bin ich wieder gesund, denn ich bin wahr geworden und will es bleiben. Jetzt ist mir auch die Zunge gelöst, daß ich sagen kann, was ich bis dahin niemals über die Lippen zu bringen vermochte. Ich liebte Euch schon lange im stillen, Judith; der strenge, sittenreine Geist dieses Hauses schloß mir den Mund, daß ich, der ich als ein Lügner mich eingeschlichen, dir, der Wahrhaftigen und Reinen, meine Liebe nicht gestehen konnte. Jetzt bekenne ich sie wahr und frei, wie ich selber nun wieder wahr und frei bin.«
Judith senkte das Haupt. Man sah, sie war bewegt; das Weinen stand ihr nahe. Sie erwiderte: »Ihr habt meine Frage über Euren Trübsinn beantwortet. Ich will nun auch mein Versprechen lösen und Euch Rede stehen, weshalb ich, da Ihr hieher kamet, im stillen traurig war, in den letzten Wochen aber so fröhlich. Denn auch hierauf ist die Antwort jetzt an der Zeit. Vor zwei Jahren besuchte ich in Nürnberg meinen Oheim, den Lebzelter Sturm; dort lernte ich den Gerhard Piscator, den echten Piscator, kennen. Ich fand ein Gefallen an dem wilden Burschen, der lange nicht so weisheitsvoll ist wie Ihr, Johannes, aber doch eine treue, gute, edle Seele. Wir schieden mit dem stillen Gelöbnis der Liebe. Dem ungestümen Gerhard aber war die Werkstatt und fast die Welt zu eng und die vierjährige Lehrzeit nebst den daranhängenden Gesellenjahren eine Hölle in Ewigkeit. So zog er ziellos aus, sein Glück zu versuchen. Es war mir bitterer Kummer, denn ich hielt ihn nun für einen verlorenen Mann. Da traf er auf der Ulmer Landstraße mit Euch zusammen. Aus Trotz und Verzweiflung ging er statt Eurer nach Jerusalem. Der Brief, den Ihr an Crescenz überbrachtet, schloß einen anderen ein, worin Ihr als ein schwacher, gutmütiger Mensch meinem Schutze empfohlen waret. Ich bat den Vetter Notthaft, daß er sich aus Menschenfreundlichkeit Eurer annehme und Bürgschaft leiste. Gerhards Bitte, Euch zu beschützen, habe ich redlich erfüllt. Ich tat es um so eifriger und wärmer, weil es der einzige und letzte Wunsch war, den er mir ans Herz gelegt. So gefahrvoll Gerhards Pilgerfahrt sein konnte, war ich doch anfangs getröstet, denn ziellos, arbeitlos im Reiche auf gut Glück auszuziehen, schien mir für einen Mann von seiner Art noch viel gefahrvoller. In den ersten Wochen kamen Briefe. Die Maske des Gelehrten hatte nur für wenige Tage vorgehalten, allein die Ritter fanden Gefallen an dem lustigen Burschen. Plötzlich versiegte alle Kunde von den Pilgern. Da ward ich so betrübt im stillen. Doch mit dem neuen Jahre kam auch neue Nachricht von Alexandria, von Venedig. Mit furchtbaren Leiden, mit Hunger und Pest hatten die Wanderer zu kämpfen und auf dem Rückweg in Syrien und Ägypten den Angriff räuberischer Horden zu bestehen. Gerhard, der in Nürnberg allemal der letzte am Backofen, war immer der erste im Kampf. Der Bürgermeister von Kairo hatte die beiden Grafen von Löwenstein samt dem Erblandmarschall von Pappenheim festhalten und in den Turm werfen lassen, weil sie einen Kameltreiber geprügelt. Es wütete aber die Pest so gewaltig in der Stadt, daß ein Gefängnis so gut wie ein Grab war. Da gelang allein der Klugheit und Schmeichelkunst meines Gerhard, was vielleicht keinem Doktor und Magister gelungen wäre, daß er den Bürgermeister überredete, die Gefangenen freizulassen. Um solcher Taten willen ward Gerhard den Herren wert wie ein leiblicher Bruder. Die Grafen von Löwenstein nahmen ihn als Feldhauptmann in ihre Dienste, und mit Ehren reich geziert, ist der abenteuernde Lebzelterjunge als ein gestandener Mann zurückgekehrt. Auf der Pilgerfahrt fand er dasselbe, was der gelehrte Johannes Piscator im stillen Lebzelterhause gefunden hat. Um Euch aber die Fahrten und Abenteuer Gerhards vollständig zu erzählen, braucht es einen ganzen langen Abend. Seht, Johannes, seit Gerhard wieder in Venedig gelandet, ward ich heiter und immer heiterer; seit gestern ist er nun gar hier in der Stadt, – und da Ihr, lieber Vater, den Schulmeister von Schweinfurt zum Abendessen geladen habt, damit er seinen Sohn wiederfinde, so wird es doch wohl nötig sein, daß ich auch für Gerhard ein Gedeck in der oberen Stube auflege.«
»Der Alte wird ein kurioses Gesicht machen«, meinte Notthaft, »wenn er seinen verlorenen Sohn, der schon einmal Küfer-, Schlosser- und Lebzelterjunge gewesen, als großen Humanisten zu begrüßen glaubt und findet statt dessen einen Löwensteinischen Feldhauptmann, Kreuzfahrer und Türkenbezwinger, der sogar den Bürgermeister von Kairo überlistet hat.«
Dem Meister Furtenbacher begann es zu schwindeln. »Betrug überall«, rief er, »in Kairo und in Augsburg! So hat mich also der Lehrjunge mit Reden hintergangen und die Tochter mit Schweigen. Aber dieser ganze Lebkuchen voll bitterer Mandeln ist noch nicht ausgebacken. Judith! Lege immerhin auch für deinen Gerhard ein Gedeck auf. Ist die Gesellschaft beim Weine versammelt, dann sollen alle Parteien reden, und ich will morgen alle Glieder der Familie Furtenbacher einberufen, damit wir eine Entscheidung treffen.«
»Da wird wenig mehr zu entscheiden sein, wo zwei solche Helden wie Judith und dieser Pilger schon entschieden haben«, meinte der Scholarch und schlich zur Seite, indes er den Magister bei der Hand nahm. »Wir haben beide Lehrgeld bezahlt, Kollega«, sprach er leise.
Piscator lächelte. »Ich verstehe Euch. Als Ihr mich bei meinem ersten Besuch mustertet und so behaglich gelächelt habt über meine Erscheinung –«
»Da wollte ich sehen«, nahm ihm der Scholarch das Wort aus dem Munde, »ob Ihr mir niemals Eifersucht schaffen könntet. Denn bei Gott, wäret Ihr nicht so häßlich gewesen, ich hätte niemals Bürgschaft für Euch geleistet. Ich gestehe, ich selbst bin verliebt in das Teufelsmädchen; doch das ist nun vorbei. Wir zwei Schulmeister wollen zum Rückzug blasen vor dem palästinensischen Ritter.«
»Und ich blase morgen zu Felde gegen Ulm!« rief laut sich ermannend der Magister. »Jetzt, wo ich wahr geworden und frei und gesund, fühle ich mich erst als den rechten Ritter des Humanismus, der wahren und freien menschlichen Gesittung. Zuerst will ich jedoch heute abend noch einmal beim Wein in der oberen Stube die Ulmer Deputierten ärgern. Aus einem dicken Donaunebel wird mir Ulm als mein Ithaka aufsteigen. In Wehmut verlasse ich dieses Haus, von dem ich einst am Backofen träumte, es sei mir auf meinen Irrfahrten eine Insel der Phäaken. Es ist mir mehr gewesen. Aber ich werde scheiden von diesem gastlichen Dach wie damals im Traume mit dem heimlichen Gedanken des Wiedersehens und mit den Versen des göttlichen Sängers, wie ich sie vor mir hinsprach, als mich ein Rippenstoß des Altgesellen aus dem Schlummer weckte:
– – ›jungkräftig müss' ich den Meister
Wiederfinden im Haus und wohlbewahret die Tochter!
Lebt und waltet in Freude, und segnende Götter verleihn Euch
Tugend und Heil; und nie sei hier einheimisch das Unglück!‹«