Wilhelm Heinrich Riehl
Meister Martin Hildebrand
Wilhelm Heinrich Riehl

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Hohe Flut.

Nach drei Tagen war der Ranzen gepackt.

Es war eine böse Zeit fürs Wandern. Der Rhein ging so hoch, daß kein Wagen mehr auf der Landstraße längs dem Ufer fahren konnte, und die Eisschollen trieben so wild in der übermächtigen Flut, daß sich auch kein Schiff auf den Strom wagte. Im Kölner Hafen stand das Wasser drei Fuß hoch in den Warenschuppen und war so plötzlich über Nacht zu der verderblichen Höhe gestiegen, daß ganze Schiffsladungen Oel und reiche Vorräte anderer Waren in den offenen Hallen vernichtet worden waren.

Alle Freunde drangen in mich, doch nur ein paar Tage noch auszuhalten, bis die hohe Flut sich verlaufen habe. Ich aber hatte einmal meinen Kopf darauf gesetzt, auf den 28. Februar zu gehen, und also ging ich, und wenn es Pflastersteine geregnet hätte.

O wie mächtig sehnte ich mich nach unserem öden, neblichten und doch so trauten Westerwald! Keinen Tag länger würde ich's in Köln ausgehalten haben. Sechs Jahre lang war ich unterwegs und wußte niemals was vom Heimweh, und in den letzten drei Tagen kommt mir's, daß ich hätte greinen mögen wie ein Kind, wenn ich an die Westerwälder Nebel dachte!

Am Nachmittag zog ich aus und wanderte selbigen Abend noch bis Bonn. Das ging ganz gut. Das hohe Wasser hatte mich wenig angefochten, und schon dachte ich ebenso leicht des anderen Tages bis Koblenz marschieren zu können.

Aber weiter stromaufwärts sah es anders aus. Schon am Rolandseck, wo sich die Felsen eng zusammendrängen, war keine Uferstraße mehr gangbar. Da galt es, bergauf und bergab zu klettern, hier durch die Weinberge sich zu winden, dort durch wildverwachsenes Dorngestrüpp auf immer neuen Umwegen, je nachdem die gewaltige Ueberschwemmung sich tiefer in das Land hineinreckte oder eng gepackt in jähen Strudeln dahinschoß.

Hei! das war mir eine Lust, so mit dem Weg und dem Sturm zu kämpfen und die gierige Flut zu betrügen, wenn sie mir da und dort den Weg vertrat! Da brauste mein Wandermut auf wie ein junger Wein, und wie ich so ein Hemmnis um das andere zu nichte machte, fühlte sich auch mein inwendiger Mensch mächtig stark, und es ward mir wie einem Genesenden, und ich spottete meiner selbst, daß ich mich so gemartert um die Zigeunerdirne. Aber wie? War es nicht auch derselbe junge Wein der Wanderlust, den mir die Zigeunerin verheißen hatte? Was anders fühlte ich denn jetzt, als die Seligkeit, die sie mir verkündet, durch Wald und Heide zu ziehen, frei und flüchtig wie der Wind, der mit uns über die Heide braust? Zum Wanderer sei ich geboren – so hatte sie gesagt, ja, und ich fühlte es jetzt, und alte, böse Gedanken überkamen mich, auch eine Hochflut, und ich gedachte wieder, wie ich mich den hannöverschen Werbern hatte verkaufen wollen, um bequemer aus der Haut zu fahren. Wahrlich, es war mir wiederum ergangen wie mit den Gesichtszügen meiner Braut, wie mit dem Traum von unserer stummen Liebe: mit meinem Wandermut hatte ich den Teufel bannen wollen, und mit meinem Wandermut hatte ich ihn erst recht beschworen. Und wäre die Dirne mir in dem Augenblick in den Weg gekommen, ich wäre mit ihr bis zur Hölle gelaufen, rein um der Seligkeit des Laufens willen.

Am Rolandseck stand ein schwer bepackter Frachtwagen mitten im Wasser, wohl fünfzig Schritt weit in der Flut; die Pferde waren längst ausgespannt und gerettet; aber die hohen Wogen steigen bereits über die Räder, und wenn ein tüchtiger Trieb Eisschollen kommt, dann schwankt die ungeheure Last des Wagens rechts und links auf ihren Achsen. Ich hatte eine Minute den Blick abgewandt von dem Wagen, denn der schlüpfrige Pfad unter meinen Füßen forderte ein wachsames Auge. Als ich wieder zurückblickte – war der mächtige Frachtwagen spurlos in den Fluten versunken.

Bei Remagen hatten sich die größten Schiffe mitten auf der Koblenzer Landstraße vor Anker gelegt und ihre Taue an den Alleebäumen zu beiden Seiten befestigt, und doch mochten sie sicher noch ein paar Fuß Wasser über Not unter dem Kiel haben. Die wilden Wogen brandeten aller Orten zerstörerisch in den Baumpflanzungen und Gärten. Bei Linz, wo die Ufer weit und flach sich hinlagern, sah ich einen kleinen Kahn, der über das überflutete Ackerland hinausfuhr. Aber auch da noch waren die Strudel so wild, daß der Kahn bald rund im Kreise herumgerissen, bald pfeilschnell ein Stück stromabwärts gestoßen wurde, während sich die rastlos Rudernden vergebens müheten, das Ufer zu erreichen.

So woget das Herz des Gottlosen stets ungestüm und kann nicht stille sein, gleich der hohen Flut – wie die Schrift sagt. Hörst du's, wanderlustige Zigeunerdirne! und die Diebe zählen auch zu den Gottlosen! Aber sie weiß ja nicht, daß Stehlen Sünde ist – wie sollte sie eine Gottlose sein?

In der Brohl hatte ich ein kleines Kind gesehen, wie es, fest in die Wiege gebunden, vom Strom angespült wurde. Das Kind war tot, unversehrt, kaum merklich blaß und lächelte wie im Schlaf. Selbst die umstehenden Schiffer, steinharte Männer, vom Wetter und der Sonne braun geglüht, wurden weich bei diesem Anblick.

Wo ich in ein Wirtshaus trat, da saßen die Leute zusammen und fragten mich aus, wie es weiter unten stehe, und kaum wollten sie mir's glauben, daß ich den bösen Weg habe überwinden können, und prophezeiten mir immer, ich komme gewiß keine halbe Stunde mehr über das Dorf hinaus, und doch bin ich mit Gottes Hilfe stets weiter gedrungen.

Wo ich einsprach, da hatte ein jeder von seinem Unglück zu erzählen. Dem einen war die Flut so jählings in den Keller gedrungen, daß sie ihm alle Fässer an die Decke drückte und zersprengte, und nun der ganze Keller gleichsam ein großer Kübel war voll Rheinwein mit Rheinwasser gemischt. Der andere hatte seine Kühe auf den Speicher schleppen müssen; den dritten hatte das Wasser ganz aus dem Hause vertrieben, und in der That war ich an manchem sonst stattlichen Bau vorbeigegangen, der jetzt nur noch mit der Dachfirst einen Fuß hoch über die Wellen ragte.

Eine Stunde Wegs unter Andernach waren alle tieferen Pfade überschwemmt, daß ich bis zum Kamm des steilen Bergzuges hinansteigen mußte, so hoch, daß mir zuletzt selbst der hohe Hammerstein auf der anderen Seite tief unter den Füßen lag. Der Sturm da oben auf der kahlen, felsigen Höhe faßte brausend meinen flatternden Kittel und zerrte und wütete, ihn mir zu entreißen; ich selbst aber, mit dem schweren Ranzen beladen, vermochte kaum den Windstößen standzuhalten und fest auf den Beinen zu bleiben.

Als ich den Gipfel der jähen Steige erklomm, rastete ich eine Weile und blickte noch einmal in die Tiefe hinunter. Da sah ich ein Weib hinter mir den Pfad heraufsteigen; – sie winkte mir, – rief mir zu, – aber ihre Worte verschlang der Sturm.

Ja, ich erkannte es gleich, das feuerfarbene Tuch, welches um ihren Kopf flatterte – – es erfaßte mich eine gräßliche Angst. Als eine Hexe fährt sie daher im Sturm und hat dir's angethan, daß dir ihr Landstreicherleben jetzt so herrlich dünkt, und eine Diebin so schön, daß du sie vor Gott entschuldigen willst und sagen, sie habe gestohlen und sei doch nicht gottlos. Darum, weil sie eine Hexe ist, erblaßte sie, als sie das Herz mit den Buchstaben A. E. S., das Zeichen einer treuen und frommen Liebe, auf deinem Arme eingeätzt sah.

Und ob mir' s gleich bleischwer in die Beine fiel, und der buckligte Pfad in den Klippen jeden Augenblick einen Sturz bringen konnte, und bald da, bald dort ein Dornstrauch mich am Rocke zurückhielt, rannte ich doch davon, als sei mir ein Mörder auf den Fersen. Sie lief mir eine Weile nach, winkte und rief immer lauter – es klang mir wie eine Warnung – aber wer konnte die Worte verstehen in dem rasenden Sturmgeheul? Nicht bloß dem Mädchen wollte ich durch das Laufen entrinnen, mehr noch der Versuchung, die mir im eigenen Herzen entgegenwinkte und entgegenrief. Zu Boden wollte ich sie laufen: zu Boden laufen meine grauenhafte, ziellose Wanderlust, Gift mit Gift vertreiben, und ich flog die Felsenpfade hinauf, hinunter wie der lüftige Teufel. Endlich mußte ich einen Augenblick verschnaufen. Ich schaute zurück. Das Mädchen war verschwunden.

Als ich da oben ging, sah ich tief unten auf dem übermächtigen Strome ein einziges Schiff, schwer beladen, pfeilschnell dahinfahren. Wer mochten die Waghälse sein, jetzt, wo die kecksten Schiffer sich nicht aufs Wasser getrauten? Ich erkannte die rote Flagge und sah eine bunte Menschenmenge auf dem Verdeck – es war ein Schiff mit Werbesoldaten. Und wenn ihnen die Kerls auch alle krepierten, die Seelenverkäufer können's nicht abwarten, bis sich die hohe Flut verlaufen hat, und müssen in jedem Frühjahr die Schiffahrt eröffnen. So wie der Sturm eine Sekunde schwieg, hörte ich den Gesang dieser verzweiflungsmutigen Verkauften gedämpft heraufklingen. Es war ein Soldatenlied eigener Art, ein Spott- und Klagelied, sie aber sangen's mit lautem Jubel:

»Ach ich armer Werbsoldat,
Der nur den Tag drei Kreuzer hat
Und anderthalb Pfund Brot,
Wie leid' ich schwere Not!

Für's Geld laß ich mir waschen
Mein Hemd und die Gamaschen,
Und wenn ich das nicht thu',
Krieg' ich noch Schläg' dazu.«

Ein solches Lied, von solchen Leuten mit toller Lust gesungen, denen die gegenwärtige Stunde jeden Augenblick zur Todesstunde werden konnte, war grausig anzuhören. Und es war mir, als zögen hinter dem Schiffe her wie ein Gespensterschwarm die Klagen und Verwünschungen der verlassenen Eltern, Weiber, Kinder, Bräute, denen die meisten dieser Gesellen, gleichfalls in toller Wanderlust, freventlich fortgelaufen waren, und wann die Wellen so hoch an dem Schiffe aufschlugen und die drängenden Eisschollen es oft mitten im Laufe quer schoben, dann wußte ich da droben nicht mehr, ob der Sturm im Augenblicke nur den Gesang verschlungen hatte oder das Wasser und der Hölle Abgrund auch die Sänger! Aber jetzt haben sie wieder gutes Fahrwasser gewonnen. Horch! man hört sie auch wieder singen –

»Und wenn ich das nicht thu',
Krieg' ich noch Schläg' dazu.«

Da kam mir die volle Besinnung wieder, und ich gelobte mir fester als jemals, als ein ehrlicher Schlossermeister auf dem Westerwalde leben und sterben zu wollen.

Oben in den Schluchten des Bergzuges hatte ich mich verlaufen. Ich war entsetzlich müde, aber ich eilte unaufhaltsam vorwärts, die pfadlosen Steigen auf und ab; nur manchmal, wenn mich Hunger und Müdigkeit gar zu arg überwältigten, kniete ich auf die Erde nieder und raffte mir eine Handvoll halbgetauten Schnee zusammen, den ich gierig aufsog.

Endlich konnte ich wieder ins Thal hinabsteigen.

Da sah es traurig aus. In dem engen Wiesengrunde hatte mir die Flut nur einen schmalen und gefährlichen Weg übrig gelassen, aber das Wasser stand hier ganz ruhig wie ein Landsee in dem geschlossenen Becken. Im Vordergrund lag ein rings umspültes altes Kirchlein, dichtes Weidengebüsch umgab den daran grenzenden Kirchhof, dessen Kreuze und Steine nur noch halb aus dem stillen Wasserspiegel ragten. Der Wind schwieg, und Schneegewölk und molkige Nebelmassen hatten sich wie mit einem Schlag von den Bergen niedergesenkt; sie wandelten den Tag in Dämmerlicht und hüllten das ganze Land in ein unabsehbares Grau, so daß ich, obgleich mir die Berge fast auf der Nase lagen, in ein weites Meer hinauszuschauen glaubte.

Ich konnte nicht vorwärts, nicht zurück und stand da wie von Gott und der Welt verlassen, wie mir's niemals auf der ganzen Wanderschaft begegnet war.

Da holte mich das Zigeunermädchen ein.

»Warum habt Ihr auf mein Rufen nicht gehört? Ich wußte wohl, daß Ihr den Weg verfehlen würdet!«

Ich biß die Zähne zusammen und erwiderte kein Wort. Denn je mehr ich mich der Heimat näherte, um so fester ward mir der Sinn, um so reiner die Gedanken. Es war der Segen der Heimkehr, der jetzt schon halb auf mir ruhte.

Furchtbar wehe that es mir, also zu schweigen, und dem Heidenkind hat es wohl viel weher gethan, das las ich auf ihrem verstörten Gesichte.

Schweigend führte sie mich nun den schmalen Pfad mitten durch die Flut, und manchmal dünkte sie mir wieder wie ein rettender Engel, vor dem die Wasser auseinander wichen. Bei einbrechender Nacht kamen wir nach Andernach.

Ich vermochte nicht in glatten Worten den Dank auszusprechen. War sie mir nicht wieder gefolgt mit der Treue und Dankbarkeit eines Hundes, den wir fortjagen und der immer wiederkommt, um uns freundlich anzuwedeln, mit seinem großen, rätselvollen Auge anzuschauen und unsere Hand zu lecken? Für solche herzbewegende Hundetreue fand ich keinen gangbaren Spruch des Dankes. Ich drückte ihr nur die Hand, wie man den Hund zum Danke streichelt.

Nun wir uns aber trennten, ging ihr noch einmal der Mund auf, und sie beschwor mich, um meiner eigenen Sicherheit willen heute abend nicht weiter zu wandern. Ich sagte dies, glaub' ich, gedankenlos zu, allein im stillen Sinne nahm ich mir dennoch vor, trotz der Dunkelheit bis zum nächsten Dorfe stromaufwärts zu gehen, denn in den Städten ist teuere Herberge.

Vor Andernach kamen mir ein paar Bauersleute entgegen. »Ihr kommt keine Viertelstunde mehr vorwärts vor dem Wasser,« riefen sie, »kehrt doch um!« Ich aber war trotzig und dachte: Hab' ich heute schon so oft die Flut betrogen, dann werde ich es jetzt auch zum letztenmal können, und schritt mutig in die Nacht hinein.

Ich hatte aber nicht bedacht, daß ein gar wildes Eifelwasser, die Nette, eine halbe Stunde über Andernach in den Rhein fällt, und so stand ich auf einmal wieder vor der Flut, und hätte ich sie umgehen wollen, dann hätte ich wohl bis in die Eifel hinaufgehen können, denn die Nette ist das schlimmste Weib, wenn sie wild wird, wirft alle Brücken ab und füllt das ganze weite Thal aus.

Wie ich nun sehe, daß ich in eine Sackgasse gerannt bin, und ganz verblüfft vor dem endlosen Wasser stehe, – es war schon schwarze Nacht geworden – höre ich drüben eine Männerstimme meinen Rufen antworten: »Wartet eine Weile, ich komme mit dem Nachen und hole Euch über die Nette!«

Also fasse ich mich in Geduld, lehne mich an eine niedere Gartenmauer – etwas abseits stand ein alter Nußbaum – und sehe ruhig zu, wie das Wasser von Minute zu Minute mächtiger aufschwillt und schon vor meinen Füßen zu plätschern beginnt.

Der Mann mit dem Nachen kam nicht.

Ich rufe, er antwortet nicht. Ich warte und warte, aber kein Nachen läßt sich hören. So mochten zwei, drei Stunden vergangen, es mochte gewiß zehn Uhr geworden sein.

Da sehe ich erst, daß das Wasser rings um mich her alles überströmt hatte, und auch unter den Füßen begann mir' s naß zu werden. Jetzt wäre ich gerne zurückgegangen; aber wie sollte ich den Weg finden? Konnte ich in der Nacht erraten, wo hier das Wasser zu durchwaten war, oder wo es mannstief stand?

Ich schwang mich auf die Gartenmauer. Hier war ich vorerst in Sicherheit. Meine Lebtage werde ich 's nicht vergessen, wie grauenhaft schön die unendliche Wasserfläche in dem weiten dunklen Thale aussah. Dem stürmischen Tag war eine ganz stille Nacht gefolgt. Fern dort drüben erglänzte eine Reihe von Lichtern mitten in der Flut, so friedlich glitzernd in dem dunklen, regungslosen Wasserspiegel, wie droben die Sterne im Himmelsraum. Es war das Städtchen Neuwied, welches ganz unter Wasser stand. Dazwischen hörte ich immerfort das leise unheimliche Geplätscher der ganz sacht, aber sicher andringenden Wogen. Wie oft mühte sich mein Ohr, den rettenden Ruderschlag in dem Plätschern zu erkennen! Aber es war und blieb immer nur das eintönige, emsige Geräusch der öden Wassermasse.

Da überlief es mich wie Todesangst, denn schon stieg mir das Wasser selbst auf der Mauer bis an die Füße heran. Ich begann eine Art Zwiesprache mit dem lieben Gott, worin ich ihm in Demut vorhielt, wie wenig geeignet gerade der gegenwärtige Zeitpunkt sei, mich von der Welt zu rufen. Und wenn er, der liebe Gott, mich so wunderbar bis zur Nette geführt, dann könne er mich doch wohl auch noch ein paar Stunden Wegs weiter auf den Westerwald führen, da es nicht abzusehen sei, warum ich gleichsam vor der Hausthür nun noch im Hochwasser ersaufen solle.

Endlich raffte ich mich zusammen und schwang mich keck zu einem dicken Aste des Nußbaumes hinüber, der hinter der Mauer stand. Da saß ich nun in den Zweigen, für die Nacht geborgen, und obgleich ich noch jezuweilen meinen Ruf erneuerte, verfiel ich doch allmählich in einen fieberhaften Schlaf. Gottes Engel haben mich gehalten, daß ich nicht herabgestürzt bin.

War mir's doch im Traume, als ob meine zeitweilig erneuerten Rufe erst fernher, dann immer näher erwidert würden. Aber es klang wie von einer Frauenstimme. Und dann deuchte mir's, als komme das Zigeunermädchen als ein Meerweibchen, wie man sie auf den Stadtbrunnen sieht, zu mir herübergeschwommen und locke mich mit ihrem Gesang zu sich hinab in die Tiefe.

Die weibliche Stimme tönt immer lauter. Nein, es war kein bloßer Traum. Ich wache auf. Da sehe ich ziemlich weit von mir ganz vorn im Strome das Mädchen auf dem äußersten Endpunkte der Mauer sitzen. Sie schrie bald aus Leibeskräften um Hilfe, bald rief sie mir zu, mich aufrecht zu halten, denn sie mochte sehen, wie ich, vom Schlaf auftaumelnd, auf meinem gefährlichen Sitze wankte und fast herabgefallen wäre.

Rasch erkannte ich ihre Lage.

»Komm zu mir auf den Baum! Nicht eine Viertelstunde mehr wirst du auf der Mauer sitzen können. Das Wasser reißt dich weg, die Mauer stürzt ein!«

»Ich komme nicht!« rief sie. »Wolf und Lamm werden Freunde auf dem schmalen Stückchen Rettungsland, wenn der Tod ringsum nach ihnen den Rachen aufsperrt, nicht aber Menschen, die sich fliehen. Dich zu retten bin ich hier, nicht mich!« Und sie verdoppelte ihren Hilferuf in die schwarze Nacht hinein.

»Ich fliehe dich nicht,« entgegnete ich, »ich bin dir gut, nur her zu mir!«

Da sprach sie, und es klang mir wieder beim Geplätscher der Wasser wie ein Gesang des Meerweibes in meinem Traume: »Meine Horde hat mich jetzt ausgestoßen um deinetwillen. Die Gottlose, die Verfluchte, die du mich genannt, bin ich jetzt ganz geworden um deinetwillen. Es gibt nur eine Erlösung für mich. Sei du mein! Laß uns selb zwei frei die Erde durchwandern. In Norwegen, in Spanien finden wir Stämme, die uns aufnehmen. Nur so du mir dies versprichst, komme ich zu dir auf den Baum. Schwur und Siegel unserer Verlöbnis sei es, daß ich in dieser Stunde der Todesnot zu dir auf den Baum komme!«

Da erzitterte mir das Herz. Und es ward mir einen Augenblick fast zu Mut wie in jener Nacht in der Wildhüterhütte. Aber ich gedachte auch wie in jener Nacht an das Herz mit den Buchstaben A. E. S., welches ich auf dem linken Arme trage, und gedachte, daß ich Martin Hildebrand heiße. Und es war mir, als ob die zwei mannhaften Streiter dieses Namens jetzt leibhaftig mir zur Seite träten. Zur Linken stand Doktor Martin Luther, der geistliche Ritter, und hielt seine große Bibel vor mich gleichwie einen Schild; zur Rechten stand der alte Hildebrand, der weltliche Rittersmann, und erhub wie zum Angriff seinen mächtig großen Ritterspieß – –

– – Und da kam die Hilfe, der Seele zumal und dem Leib!

In einer Mühle, die weiter aufwärts an der Nette liegt, hatte man des Mädchens Ruf vernommen. Der Ruderschlag nahete. Ich sah, wie der Nachen, mit den Wirbeln kämpfend, mählich dem Baume zufuhr. Aber ich konnte meine Blicke nicht mehr rechts oder links schweifen lassen; denn zur Rechten und Linken standen wie Männer aus Erz die Gestalten der beiden tapferen Streiter; immer mußte ich das Auge geradeaus auf die Spitze des rettenden Nachens heften.

Ich hörte ein dumpfes Rollen – – wer gibt auf alle unheimlichen Töne acht in dieser schrecklichen Stunde.

Jetzt hat der Kahn den Baum erreicht. Ich springe hinein, der Schiffer stößt ab.

»Halt,« rufe ich. »Erst dort hinüber an die Mauerecke, dort sitzt noch ein Weib, das wir retten müssen!«

»Ich sehe nichts!«

Auch ich konnte nirgends mehr das feuerfarbene Tuch erblicken.

»Aber steuert nur auf die äußerste Mauerecke zu!« rufe ich verzweiflungsvoll.

Der Schiffer blickte scharf hinüber nach der Stelle.

»Die Mauerecke ist verschwunden,« spricht er; »als ich herüberfuhr, habe ich etwas rollen hören: das muß die einstürzende Mauer gewesen sein.«

Wir suchten und riefen noch lange. – Wir erhielten keine Antwort. Nur das Wasser plätscherte und wirbelte etwas stärker über dem versunkenen Mauerstücke. – –

»So ist die Zigeunerin ertrunken!« sprach ich endlich halblaut und kaum vermochte ich das Wort über die Lippen zu bringen.

»Wie? nur eine Zigeunerin war's!« rief der Schiffer. »Und darum haben wir so lange gesucht? Das Gesindel kann ja gar nicht ersaufen. Werft eine Zigeunerin mitten in den Rhein, und wenn sie schon nicht schwimmen kann, ersäuft sie doch nicht. Daran erprobt man ja gerade die Hexen, daß das Wasser sie nicht verschlingen mag, damit es für sich nicht raube, was dem Feuer oder dem Strick gehört!«

Und rasch wandte er den Kahn dem Lande zu.

Das ist geschehen am 28. Februar 1781, und jedes Jahr hab' ich mir für diesen Tag ein Kreuzlein in den Kalender gemacht.

Am anderen Tage ging ich bei Koblenz über den Rhein und erreichte die heimatlichen Berge.

Da saß ich nun warm an meines Vaters Herd, und wo der Has geheckt ist, da sitzt er gern. Ich hatte einen neuen Menschen angezogen; an der Nette war es mir armem Sünder ergangen, wie einem größeren bei Damaskus. Aus dem unsteten, wilden Burschen war ich über Nacht ein gesetzter Mann geworden.

In Jahr und Tag hielt ich Hochzeit mit meiner lieben Anna Elisabeth, deren Gedächtnis ich so fest im Herzen getragen habe auf der ganzen langen Wanderschaft; zwar nicht ohne Anfechtung, aber der Herr ließ die Versuchung immer so ein Ende gewinnen, daß ich es konnte ertragen.

Wunderlich ging mir es aber nun mit den Buchstaben A. E. S. auf meinem linken Arm. Wenn ich sie betrachtete, dann mußte ich immer an die Zigeunerin denken (ganz ähnlich und doch anders wie vordem bei ihrer Nase an die Schaufflerin), an das braune Heidenkind, das mir soviel Treue und Dank erwies, das mir nachfolgte, dankbar wie ein Hund und von mir gestoßen, wie man nur einen Hund wegstößt. Ja, es ward mir bei der Geschichte noch manchmal wirr im Kopfe. Warum hat sie mir so viel Lieb's und Gut's erweisen wollen? Sieh, es war doch alles nur Liebe, hervorgeblüht aus Dankgefühl für eine einzige ganz kleine, arme Freundlichkeit, – ich sage noch einmal: recht wie bei dem edelsten Hunde!

Wenn Zigeuner durch unsere Stadt ziehen mit ihren kleinen langhaarigen Schimmeln, die Männer das Haar in lange Zöpfe geflochten, jedes Weib einen schreienden kleinen Balg auf dem Rücken, voran die bösen Bullenbeißer mit den struppigen Haaren: dann schaue ich allemal zum Fenster hinaus, aber mein Zigeunermädchen ist nicht unter ihnen.

Dann klang mir auch lange noch das dumpfe Geroll der einstürzenden Mauer in den Ohren. Es lautete fast, wie wenn man die Schollen auf einen Sarg rollen läßt.

Und nun fällt mir noch ein: – ich habe niemals erfahren, wie das braune Mädchen geheißen hat, weder mit ihrem Zigeunernamen, noch mit ihrem Namen, welchen sie bei den Christen führte.

Meine eigenen Namen aber hielt ich seitdem besonders hoch in Ehren und sah mich vor, sie nicht mit Schanden zu verunzieren, damit ich wohl bestehen könne vor meinen beiden Wächtern, dem Doktor Martinus mit seinem Glaubensschild, der großen Bibel, und dem alten Hildebrand mit seinem großmächtigen Ritterspieß.


 << zurück