Wilhelm Heinrich Riehl
Meister Martin Hildebrand
Wilhelm Heinrich Riehl

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I. In der Herberge.

Ich, Martin Hildebrand, habe mir auf den linken Arm drei Buchstaben eingeritzt – A. E. S. – und um die Buchstaben ein Herz als Rahmen gezeichnet. Das that ich in meinem zwanzigsten Jahre, da ich von Hause weg auf die Wanderschaft ging. Die Buchstaben heißen Anna Elisabeth Schaufflerin, und alle Linien waren mit Pulver ausgeätzt, daß sie nicht zuwüchsen, und ich den lieben Schatz in der Fremde niemals vergessen möchte.

Sechs Jahre lang bin ich umhergezogen und bis ins Ungarland, Mähren und Böhmen gekommen; durch Sachsen und Thüringen aber zurückmarschiert. Von der ganzen großen Wanderschaft hab' ich weiter nichts mitgebracht, als das rechte Gerück und Geschick in der Werkstatt, was den Meister macht, und beinahe einen Schnurrbart, den ich mir bei den Ungarn wachsen ließ: ein solcher war damals in deutschen Landen noch eine große Rarität.

Bei all dem Wandel und Wechsel in der Fremde ist mir nichts treu geblieben als mein lustig Gemüt und der schwere Knotenstock, den ich mir vor dem Ausmarsch in unseren Westerwälder Bergen von einer Eiche geschnitten und, wie's einem Schlossergesellen zukommt, mit fingerslanger eiserner Zwinge selbst beschlagen habe.

Ich will dir aber jetzt eine Geschichte erzählen, die mir im letzten Jahre vor der Heimkehr begegnet ist. Wenn ich daran denke, wird mir's zu Mut, wie wenn man auf dem Kirchhof umhergeht und auf den Kreuzen liest und nach einem bekannten Namen sucht.

Als Sinnspruch will ich dieser Geschichte die Bitte aus dem Vaterunser vorsetzen: »Führ uns nicht in Versuchung!«

So mir's recht gedenkt, war es im August 1779, als ich mit einem guten Kameraden, einem Schreinergesellen aus Holstein, die Werra hinab gen Münden zog. Der Fluß hat gar friedliche, liebliche Ufer; niedrige Berge, aber hier ein Wäldchen, dort eine Wiese, eine Burg, ein Dorf. In einem schönen Land ist der Wandersmann leicht guter Dinge. Darum plauderten wir recht vergnüglich, sangen, pfiffen und schritten im Takte drauf los, als wir am schönsten Sommermorgen das Städtchen Witzenhausen erreichten.

Es sieht etwas altmodisch aus, und gerade deshalb um so traulicher. Auf den Hügeln jenseits der Brücke wächst der bekannte Wein, mit dem man in ganz Hessenland den Kindern droht, wenn sie nicht zur Schule wollen. Als wir durch den Thorturm schritten, ließen die Sträflinge, die oben hinter den Gittern saßen, eine abgeschnittene Strumpfferse an einer langen Schnur vor uns herunter, um von unserer Mildthätigkeit ein paar Pfennige zu angeln. Die Thorwache saß daneben, den Pfeifenstummel im Mund und schaute gemütlich dem Fischzuge zu. Es war damals noch kein so gestrenges Regiment wie heute, und die Welt stand fest, so wie so.

Die Schlosserherberge in Witzenhausen führt als Zeichen einen großen Schlüssel über der Hausthür. Sankt Peter könnte ihn zum Himmelschlüssel brauchen.

Drinnen in der Schenkstube hängt ein seltenes Kunststück am Deckbalken, das vor langen Jahren ein wandernder Schlossergesell gestiftet hat, der seine Zeche nicht bezahlen konnte. Es ist eine wunderliche Verschlingung von geraden und krummen Linien, die Kreuz und die Quer, alles in Eisen gearbeitet. Sieht man den Knäuel nur obenhin, dann wird man nirgends Gesetz und Sinn entdecken, wonach die Linien geführt seien; verfolgt man aber den Linienzug vom Mittelpunkte aus, dann kann man die Frakturbuchstaben des ganzen ABCs entziffern, die der Reihe nach in eine Figur gelegt sind.

Nur wer rechtschaffen gewandert ist, weiß, wie süß die Einkehr schmeckt; – wenn man vor der Hausthür zuerst forschend in die Tasche fühlt, ob da auch noch Kreuzer genug beisammen sind, einen guten Trunk zu zahlen, dann mit stolzer Zuversicht eintritt, den schweren Tornister abwirft und auf der Ofenbank die müden Glieder dehnt – es geht nichts über dies erkämpfte Behagen!

Das sollten wir hier nicht lange schmecken.

In der Herberge war eine seltsame Bewegung.

Der Herbergsvater und seine Frau gingen in der Stube auf und ab, ratlos, wie es schien, zuweilen halblaut miteinander streitend. Dabei warfen sie häufig bald zornige, bald ängstliche Blicke auf zwei Frauenspersonen, die in dem hintersten Winkel der Stube saßen, von allen Gästen gemieden, von allen argwöhnisch beobachtet.

Dort aber gewahrte ich ein echtes braunes Zigeunermädchen, schöner, als ich je eines bei diesen verfluchten Heiden gesehen. Um das pechschwarze Haar hatte sie ein feuerfarbenes Tuch wie einen Turban geschlungen, während arme Lumpen ihren Körper deckten. Ein älteres Weib ihres Stammes saß neben ihr.

Daheim in unseren Bergen kann man die Kinder dieses Volkes alle Tage sehen. Halbe Dörfer sind von Zigeunern bewohnt; sie reden freilich nicht mehr so welsch und sind nicht mehr so diebisch wie die Wanderhorden. Aber wie diese seßhaften Zigeuner früher gewandert sind gleich den anderen, so müssen sie dereinst auch wieder von ihren Sitzen fort, wann ihre Zeit erfüllet ist; denn das Wandern ist den Zigeunern als Gottes Fluch auferlegt, und so gab er dem Volke den Namen Zigeuner, indem er zu ihm sprach: Zieh einher! Wo aber in meinen jungen Tagen eine Wanderhorde der Zigeuner in ein offenes Dorf kam, da läutete man Sturm und die Bauern standen auf, als sei der Feind da, und bewehrten sich, um Hab und Gut zu schützen.

Wir hatten kaum Platz genommen, da erhob sich das alte Zigeunerweib. »Kocht uns eine Suppe!« rief sie befehlend. Man kehrte sich nicht an ihren Ruf.

»Ich gebe euch einen guten Rat fürs Vieh!« fügte sie nach einer Pause einschmeichelnd bei.

Aber die Wirtsleute blinzelten gegeneinander und thaten, als ob sie nichts gehört hätten.

Das alte Weib merkte das und mochte leicht den Sinn erraten. »Wir haben Geld,« rief sie hastig, »wir bezahlen so gut wie andere Leute.« Und bei diesen Worten zog sie ein ledernes Beutelchen und ließ der Reihe nach wohl zehn blanke Thaler durch die knochigen Finger gleiten.

Aber die Wirtin faßte sich ein Herz und sagte: »Ihr könnt hier ausruhen und, wenn ihr wollt, auch in unserem Stalle schlafen, aber Essen und Trinken haben wir nicht für euch.

»Das sind böse Leute,« sprach die Zigeunerin zu uns herüber, »und uns hungert gar sehr, junger Bursche.« Hierauf begann die Alte mit dem Mädchen rasch und heftig in ihrem Rotwelsch zu reden, welches der Teufel besser versteht als ich.

Ich ging zur Wirtin und fragte sie, warum sie denn den Weibern fürs Geld nichts zu essen geben wolle, da sie ihnen doch, was viel mehr sei, eine Schlafstätte angeboten habe?

Die Wirtin gab zur Antwort: »Man weiß nicht, ist es schlimmer grob sein oder freundlich sein gegen dieses Volk, das einem der Satan ins Haus schickt. Sind wir ihnen grob, dann verhexen sie uns das Vieh, sind wir ihnen freundlich, dann stehlen sie uns die Herberge aus. Wo aber ein Zigeuner schläft, da stiehlt er nie; dagegen wo er ißt oder trinkt, beraubt er den Wirt. Wäret Ihr nicht von heute, junger Freund, dann wüßtet Ihr wohl, daß auf weit und breit kein Mensch diesem Volke etwas zu essen geben mag, und zeigte die Hexe gleich ebensoviel Goldstücke, als sie vorhin gestohlene Thaler gezeigt hat.«

Ein Handwerksbursche, der schon oft Hunger gelitten, weiß, daß der Hunger auf der Wanderschaft ein doppelt bitteres Kraut ist. Darum, als die Wirtin mir und meinem Kameraden den Tisch deckte, konnte ich's doch nicht übers Herz bringen und winkte den Zigeunerinnen herbei, daß sie mit uns essen sollten.

Sie waren auch nicht träg', die Einladung anzunehmen.

Aber nun hättest du die Wirtin sehen müssen! Wütend kam sie herbeigesprungen und riß uns samt den heidnischen Weibern die Schüssel weg und rief: »Ihr seid so wenig wert, daß Ihr etwas zu essen kriegt, wie das Zigeunervolk; denn Ihr wollt sie zum Diebstahl in meinem Hause verleiten.« Und zu gleicher Zeit faßte mich der Herbergsvater bei der Halsbinde. Da aber sprang mein Kamerad auf, wie der gehörnte Siegfried im Heldenbuch und brüllte den uralten Kriegsruf der Handwerksbursche, wenn's zum Prügeln geht: »Auf ihn, er ist von Ulm!« und hobelte als der tapferste Schreinergesell den Herbergsvater mit seinen beiden Fäusten weidlich ab. Die anderen Leute aus der Schenkstube aber sprangen dem Wirt zu Hilfe. Hei, wie schlugen wir da drein und zeigten dem Gesindel, daß ein deutscher Handwerksbursche nicht bloß mit dem Hut in der Hand, sondern auch mit den Fäusten fechten kann! Aber bald war ich Hammer und Amboß zugleich, allmählich mehr Amboß als Hammer, und nach acht Minuten standen wir beide unter Sankt Peters Himmelsschlüssel vor der Hausthür und die Zigeunerweiber mit uns, und auf meinen zerrissenen Rock deutend, von dem die Fetzen abfielen und auf meine blutende Nase, rief mir der Herbergsvater höhnend aus dem Fenster nach: »Wo man haut, da fallen Späne.«

So zogen wir fürbaß, und schon kam mir die Reue, daß ich den Burgfrieden der Herberge meines eigenen Zeichens gebrochen hatte.

Die Alte bot uns zum Danke, gleichsam als Feldzulage nach bestandener Schlacht, ein Stück Geld an. Wir nahmen's aber nicht, obgleich es eine gar verlockend glitzernde funkelneue Münze war.

Da trat das braune Mädchen zu mir, drückte mir die Hand, schaute mich mit den großen schwarzen Augen durchdringend an und flüsterte mir ein paar Worte ins Ohr.

Die hab' ich nicht verstanden. –

Aber ihren Blick habe ich verstanden und den Druck der Hand. Solch ein Zigeunermädchen war mir wahrhaftig noch nicht vorgekommen.

Die Alte fragte, wohin wir unseren Weg zu nehmen gedächten. Der Holsteiner aber sprach: »Ich will Euch mit einem Zigeunerspruch antworten: Wir gehen, wohin uns unsere große Zeh' weist. Euch aber bitte ich, lasset die Eurige nach einer anderen Weltgegend schauen. Denn prügeln ließen wir uns wohl für Euch, aber Kameradschaft mit Euch machen, mögen wir nicht.«

So trennten wir uns.

Mein Kamerad aber rieb sich im Marschieren noch lange den Rücken, den ihm die wuchtigen Fäuste der Witzenhäuser braun und blau geschlagen, und wir schritten aus im Takte der Verse, die er dazu sang:

»Können wir uns nicht vertragen,
So thun wir uns brav schlagen
Und alles mit der Hand
– Das ist der Handwerksstand.«

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