Rheiner, Walther
Kokain
Rheiner, Walther

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V

Hier, im Schatten des Gebüschs, nahm er sein Jackett ab, legte es auf das Pflaster an einen Baumstamm, krempelte den Hemdsärmel auf, der große dunkle Blutlachen zeigte und den eigentümlichen Geruch vergossenen Blutes ausströmte, und nahm, mit knirschend zusammengebissenen Zähnen, in aller Sorgfalt und mit betonter Langsamkeit, zwei Injektionen vor.

Er hielt die Flasche gegen das ferne Laternenlicht. Sie war noch zu zwei Dritteln voll. Befriedigt schob er sie in die Hosentasche, zog die andere Flasche hervor und wusch den Oberarm mit Äther ab. Auch Stirn und Hals netzte er damit.

Die Büsche in den Vorgärten flüsterten. In der Ferne nahte eine der letzten Straßenbahnen.

Rasch zog Tobias sich wieder an.

Oh, nun wünschte er zu Hause zu sein, um die Verderbnis, hinter verriegelten und verhangenen Schlössern, ganz auszukosten. Nach seinem möblierten Zimmer aber, das wußte er, konnte er nicht gehen. Die Wirtin würde seine Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel fortgesteckt haben, so daß er nicht hinein können wird.

Wohin, wohin, mein Gott, in seiner Not! Barhäuptig stand er unter den Sternen.

Sollte er wiederum, wie öfter schon, die ganze Nacht herumirren, um schließlich den grauen Morgen am Spreekanal zu finden oder an der Gasanstalt, die dann wie eine Faust aus den Nebeln stiege?

Der Äther mußte irgendwie die rasende Erregung gemindert haben, die ihn gefangenhielt. Sein Puls, das fühlte er, ging noch fliegend, hoch, schnell. Oder war es das Alleinsein, die Abwesenheit von Menschen, die ihm diese relative Ruhe gab?

Er setzte sich in Marsch, mit der Zähigkeit des Gift-Fanatikers, die ihn nicht Muskeln noch Sehnen spüren ließ. Die lange Kaiserallee hinab bis zum Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau. Hier schwenkte er seitlich ab und stand bald vor dem großen Mietshaus.

Hier wohnte Marion, die goldene Freundin aus dem Café, in einem großen Atelier.

Die Haustür war verschlossen. Er pfiff einige Male und rief: »Marion, Marion!«

Vergeblich. Sicherlich schlief sie schon.

Während er wartend auf und ab ging und die Nachtluft aus dem freien Vorstadtgelände ihn umwehte, begann aufs neue der schwarze Himmel auf ihm zu lasten. Die Sterne tropften schwer und klebrig. Die hohen Häuser bedrückten ihn. Der Wind sang in den schwingenden Bogenlampen, die ein irres und grelles Licht umherwarfen.

Die Angst befiel ihn aufs neue. Er sah sich furchtsam um, schlich in einen dunklen Winkel und verabreichte sich zwei neue Spritzen.

Ha, da schoß das Fieber, gäle Flamme, wieder in ihm auf! Die Stirn knisterte, die Augen wurden weit und paralytisch aufgezerrt. Ruhelos trat er von einem Bein aufs andere.

Fast hatte er schon vergessen, was er hier wollte, als sich Schritte dem Hause näherten.

Ein Herr blieb vor der Haustür stehen und rasselte mit seinen Schlüsseln.

Tobias trat schüchtern hinzu und grüßte.

»Es öffnet niemand«, sagte er stockend, »ich soll eine Dame zu ihrer kranken Verwandten holen.«

Der Herr ließ ihn schweigend durch die geöffnete Tür und schloß wieder ab.

Tobias schaltete das Minutenlicht ein und rannte in großer Eile die Treppen hinauf.

Plötzlich fiel ihm ein, daß es besser sei, den Herrn erst in seine Wohnung gehen zu lassen. Er wartete. Schon im ersten Stock öffnete der Angekommene eine Flurtür und trat ein.

Die Tür fiel zu. Das Licht erlosch. Durch die bunten Glasfenster des Treppenhauses drang phantastisch das zitternde Licht der Laternen von unten herauf.

Tobias schlich zagend zum vierten Stock empor, mit tödlicher Angst vor jedem Treppenabsatz, der ihn an einer Wohnung vorbeiführte.

Oben, im vierten Stock, führte erst eine angelehnte Tür in einen korridorartigen Vorraum mit Lichtschachtfenster. Im Hintergrunde war eine schwere Eisentür, die zu Marions Atelier ging.

Wieder schaltete Tobias das Licht ein. Auf das Fensterbrett des Lichtschachtes stellte er seine Flasche und das Etui mit seiner Injektionsspritze. Er rieb wieder die blutigen Arme mit Äther ab und genoß eine neue Einspritzung.

Da begannen mit Macht neue Halluzinationen.

Er fuhr herum. Unten im Treppenhaus, im Erdgeschoß, erhoben sich Stimmen, Stimmen vieler Menschen, die sich anschickten emporzusteigen. Ein wirres, halblautes Geflüster. Tobias unterschied einzelne Perioden: »Das muß endlich aufhören... Es ist ein Skandal... Das Schwein ruiniert sich und seine Angehörigen ... Ins Irrenhaus mit dem Subjekt!... Wir werden ihn ins Automobil schaffen... Packen Sie ihn nur gleich! ... Und daß er nicht die Flasche austrinkt, das bringt der Kerl fertig ...«

Tobias zitterte. Schweiß rann ihm (... oder war es Blut?). Er hörte die Stimme seiner Mutter, während das Licht wieder erlosch: »Tobias, mein Sohn! Tobias, ich flehe dich an! ... Tobias, Tobias!... Tobias ... !«

Die Stimme verhallte klagend. Tapp, tapp, tapp! Man stieg die Treppen herauf, regelmäßig, immer näher. Das Geflüster zwischendurch verstummte keinen Augenblick.

Sollte er es wagen, das Licht wieder anzuzünden? ... Er tat's.

... Da lag vor ihm, vor seinen Füßen, leise sich noch windend, der Körper der sterbenden Mutter. Daneben hockte schwarz gekleidet, das Gesicht in schwarze Schleier gehüllt, die Schwester und weinte leise, gesenkten Hauptes.

Tobias fuhr zurück. Er wandte sich ab und preßte das heiße Gesicht an die Wand.


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