Rheiner, Walther
Kokain
Rheiner, Walther

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I

Nacht hing groß in den Bäumen der Allee und tropfte auf seine Schultern nieder, da Tobias unter den flüsternden Ästen dahinschritt. Er ging und ging, die Allee hinauf und hinab, fast schon zwei Stunden lang.

Die Normaluhr (ehernes Gespenst an der Straßenkreuzung) zeigte schon halb elf. Im Sterben dieses Sommerabends, der in unzähligen allerzartesten Tinten hinter dem Riesenrumpf der ewigen grauen Gedächtniskirche zerfloß, war Tobias aufgebrochen – ergriffen von jener düsteren Unruhe, die immer wiederkam und ihn desto mehr quälte, je mehr er ihr zu entfliehen oder sie zu betäuben suchte im Trubel des klirrenden Cafés, jener armseligen Stube mit den roten Plüschsesseln und den grinsenden Fratzen kaltblütiger Gäste, die dort ein unwirkliches Leben führten – ein Dasein von bunten Abziehbildchen, wie sie uns als Kindern geschenkt werden. Wie oft, so auch diesmal war er dort hingeflohen vor dem Zergehen der sommerlichen Sonne, das weich über den nahen Himmel rann und seine Unruhe zum Irrsinn zu steigern drohte.

Und doch siegte immer diese Unruhe, die, wenn sie kam, ihm alle Räume verhaßt machte – sein chambre garnie so gut wie das Café oder den großen Raum der Straßen und Plätze. Aufgescheucht war er gegangen, als der Abend schon (dunkler Strom) blau über die Häupter der Passanten ausgegossen war. Jetzt war die Nacht da. Flimmernd strahlte der Asphalt auf, wenn ein Automobil surrend an Tobias vorbeistob. Aus den Café-Vorgärten schwemmte eine süße Musik über ihn hin. Gesprächsfetzen wehten, ungehört von ihm, vorüber. Es war ein stetes Wandeln bunter, vornehmer Damen, diskreter Herren da, ein unaufhörlicher Verkehr lachender Equipagen und Autos, der melancholisch-heitere Abendgesang der großen düsteren Stadt, die auf ihre Art zu leben verstand.

... Und er? Verstand er zu leben? Wie lebte er denn?

Geblendet stand er an der Schwelle des Platzes, und eine Fontäne von Licht und Lauten umsprang ihn. Er sann nach, kurz, abrupt.

Gewiß kein Leben dieser Art, das ebenso Schein ist wie die bunten Roben, die strahlenden Autos, die lächelnden Masken, die ihm vorüberzogen. Wie lebte er? Was war dies: das Aufstehen morgens um zehn oder elf Uhr, manchmal auch mittags; dies Aufstehen mit dem tiefen Ekel vor seinem Zimmer, vor seinen Büchern, seinen Kleidern, seiner eigenen Person? Die tägliche Konstatierung, dass er kein Geld habe, und dies Überlegen, woher er es bekommen könne, von welchem Bekannten oder Unbekannten und durch welche Mittel. Dieser tägliche Hunger gleich morgens, den er verachtete. Die tägliche Abwehr gegen die alte Zimmerwirtin, die ihre Miete verlangte. Dann dies lustlose Verlassen des Hauses, das ihm ebenso zuwider war wie die unendlich lange Straße, in der es stand und die den höhnischen Namen des großen Philosophen führte, dessen Werke er einst gelesen hatte und der ihm wie ein Vater erschien, der mit dem Krückstock drohte. Das schlechte Gewissen, mit dem er um Geld bat im Café oder vor den Sesseln der Redakteure, die ihm erstaunt den Zigarrenrauch ins Gesicht bliesen und ihn verdrießlich abschüttelten. Diese Leere des Hirns, das ekelhafte Ressentiment, das er spürte und das ihn ungerecht machte gegen alle Leute mit anständigen Anzügen, zufriedenem Antlitz und ruhigem Schritt. Und dann: – dann kam der große Fluch, der Abend, der ihn einspann und die dämonische Unruhe brachte, die ihn wie einen Kreisel sich um sich selbst drehen ließ. Die Vöglein pfiffen – und unentrinnbar stand er seinem Schicksal gegenüber, das sich vor ihm aufbaute und ihm mit mächtiger Hand seinen Weg wies: Geh!

So ging er. Er ging alle Tage, vorgestern und gestern und heute. Entrinnen gab es nicht. Den Tod später oder vielleicht, hoffentlich, gelegentlich als zufällige Konsequenz. Er ging. Und richtig: da war die Stelle! Er war, wie immer, richtig stehengeblieben.

»Nachtglocke zur Apotheke.« Also geschellt und warten.

Da wurde das Licht entzündet, das Klapptürchen ging auf. Der Apotheker streckte den kahlen Kopf heraus.

»Herr Doktor ...«

»Na, schon wieder da? ... Können Sie denn nicht eher kommen?«

»Bitte um Entschuldigung, ich hatte...«

Aber die Glatze war schon fort.

Ja, was hatte er? Er hatte gekämpft wie fast jeden Abend und war, wie immer, unterlegen. Ein großes Achselzucken über die ganze Welt!

Der Apotheker erschien wieder: »Drei Mark fünfzig.«

Tobias murmelte: »So viel habe ich nicht.«

»Na, gut«, sagte der Apotheker, »ich werd's noch mal aufschreiben, aber wehe, wenn Sie nicht zahlen: Sie wissen ja!«

»Danke schön«, flüsterte Tobias. »Guten Abend.«

Nun war kein Sinnen mehr und keine Gedanken, keine Sorge und keine Frage, da er das ewige Gift in den Händen hielt, die sich wie zum Gebet um die kleine sechseckige Flasche falteten. Er selbst war jetzt das Leben, und sein Herz übertönte die Welt!

Im Café, auf der Toilette, gab er sich drei Injektionen hintereinander, verschloß Flasche und Injektionsspritze wieder sorgfältig und steckte alles in die Hosentasche.

Nun fühlte er sich frei und leicht, spielerisch, ein junger Gott! Strahlend betrat er das Café und lächelte den jungen Frauen, rümpfte die Nase über die eleganten Kavaliere. Ein Wink von ihm, und er würde, Ikarus, dem göttlichen Jüngling gleich, lächelnd an die Decke schweben, singend über den Baldachin des Vorgartens gleiten und auf zu den knisternden Sternen kreisen.


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