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Neuntes Kapitel

Der Abend war geradezu abscheulich; es fiel ein feiner, dichter Regen, der einen bis auf die Haut durchnäßte, so daß Zenon vor Kälte zitterte. Die stickige Luft raubte ihm beinahe den Atem und bedeckte sein Gesicht mit einer klebrigen, widerlichen Schicht. Es war schon ziemlich spät, die Fenster sahen aus wie faulende Augenhöhlen, alle Läden waren geschlossen, und nur die vom Nebel verhüllten, rauchgeschwärzten, wassertriefenden Häuser und die Laternen warfen ihr gelblich-schmutziges Licht auf die aufgeweichten Wege. Das Wetter wurde immer schlimmer, so daß nur selten jemand unter einem Regenschirme gebückt in den beinahe ganz verödeten Straßen vorüberglitt. Das unaufhörliche Gedröhn der Traufen und das Rauschen des Regens verursachten Zenon geradezu Schmerz. Ada hatte ihn in einer dringenden und wichtigen Angelegenheit zu sich gebeten, so ging er also, oder schleppte sich vielmehr hin, blieb aber oft an den Straßenecken stehen und starrte voll Furcht auf die öden Plätze und die verlassenen Straßen. Die unzähligen Laternen leuchteten von allen Seiten, vom Nebel verhüllt wie geheimnisvolle Augen, und hier und dort standen Schutzleute in langen Mänteln unbeweglich da, wie schwarze Säulen, an denen Wasserbäche herabflossen. Er hatte Ada schon mehrere Tage nicht mehr gesehen, denn er hatte seit der Seance das Haus kaum noch verlassen. Er fühlte sich nicht wohl; es hatte sich seiner eine unerklärliche Unruhe bemächtigt, gegenstandslose Träumereien, Trägheit und eine so plötzliche Willenlosigkeit, daß er stundenlang im Reading Room saß und gedankenlos ins Feuer starrte, taub und unempfindlich gegen alles.

Seit jenem Tag hatte er auch Daisy nicht mehr gesehen, man hatte ihm gesagt, sie fühle sich schwach und gehe nicht aus, und er hatte sich damit zufrieden gegeben. Eine Art lähmender Apathie hatte ihn gleichgültig gegen alles gemacht und ihm das Leben so verekelt, daß sogar seine eigenen Angelegenheiten nur Langeweile und Abscheu in ihm erregten. So lehnte er sich denn auch trotzig gegen die Notwendigkeit auf, die ihn an diesem schrecklichen Abend durch die verregnete, verödete Stadt zerrte.

Er sann gerade darüber nach, als ein Wagen an ihm vorüberrollte und eine Stimme ihn mit Namen rief. Durch das herabgelassene Fenster schaute Daisy heraus.

»Wohin wollen Sie?« fragte sie und machte ihm Platz an ihrer Seite.

Er rief dem Kutscher den Namen des Hotels zu und stieg schnell ein.

»Meine Verwandten haben mich rufen lassen, – irgendeine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet.«

»Sind es die reizende Kleine und jene schöne Dame, mit denen ich Sie im Greenpark gesehen habe?«

»Ja. Aber was haben Sie seit Sonnabend getrieben?«

»Ich war in einem Zustand, in dem man nicht einmal von sich selbst etwas weiß! Es ist eine Schwäche, die mich oft befällt, und gegen die kein Mittel hilft,« flüsterte sie traurig.

»Ja, auch an mir haben in dieser Zeit Langeweile und Apathie genagt. Ich ging nicht aus, habe niemanden gesehen und auch nicht gearbeitet. Ich war ganz zerrüttet, ich zitterte fortwährend vor Unruhe und war jeden Augenblick auf irgendein Unglück gefaßt. Ähnliches müssen Bäume empfinden, ehe sie ein Blitzstrahl trifft. Ein scheußlicher Zustand!«

»Und geht es Ihnen jetzt besser?« Sie preßte seine Hand und schaute ihm so tief und so nah in die Augen, daß er unwillkürlich zurückwich.

»Nein, nein!« verneinte er lebhaft. »Vielleicht ist das Klima schuld daran? Es regnet doch fortwährend, es ist kalt, neblig, zum Verzweifeln! Ja, vielleicht ist die Sonne erloschen, und ich werde nie mehr Helligkeit sehen, nie mehr Wärme empfinden, nie mehr ...«

»Die Sehnsucht nach der Sonne.«

»Ich werde aufs Festland reisen, ich muß, denn länger kann ich diesen Zustand nicht ertragen. Ich will weiß Gott wohin fliehen.« Er brach plötzlich ab, er schämte sich seiner Gereiztheit.

»Im Süden ist's schon längst Frühling ...«

»Was geht es uns an!« rief er mürrisch, denn er hatte nicht empfunden, wie einschmeichelnd und sehnsüchtig ihre Stimme klang.

»Und schon sehe ich Orangenhaine, schon leuchtet das blaue Meer ...«

Er neigte sich plötzlich zu ihr, ihre Augen schauten in die Ferne und hatten das Leuchten jenes so heißersehnten Meeres, um ihre Lippen spielte ein zartes, träumerisches Lächeln. Da verstand er alles.

»Ich warte! Ich warte, warte!« flüsterte er immer leiser, in seiner Stimme zitterten Freude, Hoffnung und Glück.

»Denkst du noch daran?« Ihre Lippen bewegten sich leise, es wehte ein süßer, berauschender Ton an sein Ohr.

»Ich bin bereit! Und wäre es auch in diesem Augenblick.«

Der Wagen hielt vor dem Hotel.

»Morgen!« rief sie ihm beim Abschied mit einem Lächeln zu, das voll von Verheißungen war.

Lange lauschte er dem Rollen des sich entfernenden Wagens. »Morgen!« wiederholte er, er fühlte, wie die Apathie von seiner Seele herabglitt gleich düsteren Schleiern, wie in seinem Herzen die wundersame Glut der Kraft, der Verzückung zu glimmen begann. Er benutzte den Fahrstuhl nicht, sondern flog die Treppen hinauf, wie im Freudensturm! Er blieb zuweilen an den Biegungen stehen und rief triumphierend gleichsam der ganzen Welt zu:

»Also morgen, morgen!«

Ada, die ihn begrüßte, sah blaß und elend aus.

»Die kleine Wanda ist krank!«

»Wanda?« Diese unerwartete Kunde machte ihn traurig.

»Sie fühlte sich am Sonnabend, gleich nach unserer Rückkehr aus dem Park, schon nicht mehr wohl. Die Ärzte können die Krankheit noch nicht erkennen. Sie hat keinerlei Schmerzen, sie klagt nur, daß, wenn sie einschlafen wolle, neben ihr jene rothaarige Dame erscheine, der wir damals begegnet sind, und sie so furchtbar anschaue, daß die Kleine schreiend im Bett aufspringt und fortlaufen will.«

»Das sind Fieberphantasien,« sagte er schnell.

»Gerade das ist merkwürdig, daß ihre Temperatur normal ist. Aber ich kenne die Quelle ihrer Krankheit,« flüsterte Ada mit der Kraft tiefster Überzeugung.

Voll scheuer Ratlosigkeit schaute er in ihr bekümmertes Gesicht.

»Sie hat sie verhext!«

»Wer?« Unwillkürlich sah er sich um.

»Dieser rothaarige Vampir! Diese furchtbare Unbekannte!«

»Daisy!« Er wich entsetzt zurück, ein furchtbarer Gedanke war ihm gekommen. »Das ist unmöglich, die Furcht hindert dich, klar zu sehen. – Das ist ja geradezu undenkbar,« sprach er hastig, als wollte er den Klang des Namens ersticken, den er so unbedacht ausgesprochen hatte.

»Ich bin davon aufs tiefste überzeugt! Ich weiß nur nicht, warum und wofür? Doch verflucht sei jene böse, nichtswürdige Gewalt! Sie sei verflucht!« sagte Ada drohend, ihre Augen schossen Blitze eines gewaltigen Hasses. »Ich werde mein Kind verteidigen, auch wenn ich selbst dabei zum Opfer fallen sollte. Was hat das Kind jemandem zuleide getan? Das quält mich so, daß ich nicht einen Augenblick Ruhe habe. Ja, und dann habe ich auch dich schon so lange nicht mehr gesehen,« klagte sie, in ihren Augen standen Tränen.

»Ich war ebenfalls krank! Heute bin ich zum erstenmal seit Sonnabend ausgegangen.«

»Es ist wahr, du siehst blaß und elend aus. Das wird so einen geheimen Zusammenhang mit Wandas Krankheit haben! Lache nicht über meine Vermutungen. Die Furcht ist oft hellseherisch! Vielleicht hat sie auch dich verhext ...?«

Ein eisiger Schauer schüttelte ihn, in seinem Hirn formten sich immer merkwürdigere Assoziationen.

»Komm! Auch Betsy ist hier. Sie kommt jeden Tag, um an Wandas Bett zu wachen. Ein goldiges, herziges Mädchen!«

Er schwieg, mit der dumpfen Unruhe ringend, die ihre Vermutungen in ihm erweckt hatten.

»Hast du sehr gelitten?« Sie sah ihn unsagbar zärtlich an.

»Es hatte sich meiner eine bittere, lähmende Apathie bemächtigt, ich wand mich einige Tage hindurch in ohnmächtiger Qual. Ich hatte nicht einmal so viel Kraft, um zu dir zu flüchten.«

»Warum kann ich nicht immer bei dir sein ...?«

»Ich dachte daran. Ich weiß, du würdest mich schützen vor den Qualen, die ich mir selbst bereite. Nur du allein,« sagte er erregt, doch sofort unterdrückte er das Bekenntnis, das auf seinen Lippen schwebte, denn es tauchte das drohende Gesicht Daisys vor ihm auf.

»Was quält dich? Du weißt doch, ich bin für dich zu allem bereit.«

»Ich werde es dir einmal sagen! Ich werde es dir sagen, ich werde zu dir flüchten, und du wirst mich beschützen, mich von meinen Sünden freisprechen. Ich muß mich jetzt endgültig entscheiden!«

»Du erschreckst mich!« Seine düsteren Augen beunruhigten sie.

»Ada, wir warten!« erscholl Heinrichs Stimme aus dem anderen Zimmer.

Sie gingen in den Salon, Heinrich saß vor dem Kamin, und Betsy kam ihnen entgegen.

»Die kleine Wanda verlangt nach Ihnen.« Sie begrüßte ihn kühl und zurückhaltend.

Das Kind lag im Bett, wie eine welkende Blume, und streckte die kleinen, abgemagerten Händchen nach ihm aus.

»Mamachen wartet, Papachen wartet, Miß Betsy wartet, und wir alle warten, und du, Onkelchen, kommst nicht,« flüsterte es vorwurfsvoll.

Die süße, klagende Stimme und das blasse Gesichtchen rührten ihn so, daß er nur mit Mühe die Tränen unterdrückte. Er streichelte ihr zerzaustes helles Haar und begann heiter zu erzählen, warum er nicht gekommen wäre.

Sie hörte es ernst an und sagte sehr entschlossen:

»Nun gut, Onkelchen, aber jetzt mußt du schon für immer bei uns bleiben. Mamachen hat gesagt, daß wir, wenn ich wieder gesund bin, heimfahren, und du, Onkelchen, mit uns.«

»Ja, ja, ich werde mit euch fahren,« bestätigte er, durch ihr Geplauder gerührt.

»Ja, und dann aber gleich nach Hause. Aber ich muß dir etwas sagen, du darfst es nicht weiter sagen, niemandem, nicht wahr, kein Wort ...!«

Er versprach es feierlich, sie umhalste ihn und flüsterte ernst:

»Wenn du nicht kommst, Onkelchen, dann weint Mama. Ich habe es schon oft gesehen.«

Sie sank auf das Kissen zurück, nahm seine Hand und sprach ganz ernst:

»Mama ist ganz allein. Papa ist immer krank, und ich kann doch auch nicht helfen! Die Mama hat's sehr schwer! Verstehst du, Onkelchen!« fügte sie hinzu.

Wie teuer wurden ihm in diesem Augenblick das goldene Köpfchen und diese blauen, klugen Augen! Die Vaterliebe war plötzlich in ihm erwacht, auf seine Lippen drängten sich Worte einer wundersamen Zärtlichkeit, der Liebe und der herzlichsten Besorgtheit um sie. Er legte seinen Arm um sie und küßte sie mit tiefster Zärtlichkeit, und das Mädchen, dem dies alles unerwartet kam, streichelte sein Gesicht und flüsterte bezaubert und glücklich:

»Onkelchen, du bist so gut, so lieb, so furchtbar mein ... wie Papa.«

»Wie Papa,« wiederholte er gleich einem Echo und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Wirklich, Onkelchen, wirklich!« flüsterte sie, ohne seine Hand loszulassen.

Er hörte dies freudig an, doch gleichzeitig begann der düstere Gedanke ihn zu quälen, daß er nie das Recht haben werde, sie sein eignes Kind zu nennen.

Sie dämpfte ihre Stimme und begann geheimnisvoll:

»Weißt du, Onkelchen, der ›Schwips‹ kommt jede Nacht zu mir!«

Er sah sie fragend an, er wußte nicht, wen sie meinte.

»Es ist mein Spitz! Mama sagt, ich träume das nur ... Aber, Onkelchen, er kommt wirklich; er springt aufs Bett und schleckt meine Hände, daß ich ihn streicheln muß, dann rollt er sich zusammen wie ein weißes Knäuel und schläft ein. Und manchmal spielt er mit mir, er nimmt mir die Schuhe fort, springt über Stühle, versteckt sich und macht Männchen. Nur das kommt mir sonderbar vor, daß er niemals bellt oder winselt. Na und dann weiß ich auch nicht, wo er sich am Tage versteckt. Ich habe ihn überall gesucht. Vielleicht läßt Mama ihn absichtlich verstecken. Heute Nacht ... wie die Rothaarige gekommen ist, habe ich ihn auf sie gehetzt ... Ich habe es der Mama nicht gesagt, denn ich weiß, man soll nie mit Hunden hetzen ... Aber ich fürchte mich so schrecklich vor ihr, daß ich es nicht mehr ertragen konnte ... Ich zeigte sie ›Schwips‹ mit den Augen und sagte ganz leise: Faß zu! Er sprang auf sie zu und jagte sie so im Zimmer umher, jagte und biß sie so, daß sie mir drohte und fortlief ...!«

»Vielleicht kommt sie nicht mehr ...!« stotterte er, entsetzt über diese Erzählung, denn die Kleine schien völlig bei Bewußtsein zu sein.

»Ich werde ihn jetzt immer auf sie hetzen, wenn sie so schlecht ist!« rief sie böse. »Denn siehst du, Onkelchen, sie kommt, setzt sich hierhin, wo du jetzt sitzst, und sieht mich so furchtbar an, und wenn ich auch die Augen zumache und den Kopf in den Kissen verstecke, so sehe ich doch immer, wie sie mich anschaut; dann wird mir so angst, und es geht etwas so Schreckliches mit mir vor, daß ich es dir gar nicht erzählen kann ... Ich kann mich dann weder rühren, noch Mama rufen, gar nichts ... Und warum erschreckt sie mich so?« jammerte sie, sich an ihn schmiegend, als fürchte sie sich.

»Fürchte dich nicht, sie wird nicht mehr kommen ... Du mußt nicht mehr daran denken ...!«

Ada kam herein und bat Zenon zum Tee.

»Mama, Onkelchen wird jetzt jeden Tag kommen!«

Als er sie zum Abschied küßte, flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Denn sonst würde ich dich nicht lieb haben, Onkelchen!«

Er ging hinaus, mit Sorgen im Herzen, und ließ seine leeren Augen lange umherschweifen.

»Miß Betsy ist nach Hause gegangen. Sie wollte Sie nicht stören mit Abschiednehmen, und dann hatte sie es sehr eilig, denn Mr. Bartelet hat heute wieder einen Anfall gehabt, und Yoe ist irgendwohin verreist.«

Er hatte es nicht einmal bemerkt, daß sie nicht mehr da war, er war ganz in Gedanken über den Zustand des Kindes versunken. Es herrschte eine peinigende Stimmung, aller Augen waren unruhig; Ada schaute jeden Augenblick bei der Kleinen nach, und Heinrich, vergrämt und geschwächt, seufzte nur, seine erschrockenen Augen glitten von einem zum anderen.

»Wanda hat mir alles erzählt, sogar das von ihrem Spitz! Ich kann nicht klug daraus werden. Sie ist bei Bewußtsein, klar, sich ihres Zustandes völlig bewußt, und erzählt mit tiefstem Glauben unmögliche Dinge ... Ja, vielleicht ist das eine Art Autosuggestion. Ich verstehe nichts davon.«

»Mir ist es ganz klar. Ich sagte es Ihnen ja ...«

»Ja, aber die rothaarige Unbekannte und ihre bösen, verhexenden Augen sind keine Tatsachen, sondern nur Vermutungen von Ihnen.«

»Es kann sein. Und doch lastet etwas Geheimnisvolles auf uns ... Ich fühle ihren bösen Einfluß ... Aber von wo naht das Unglück? Wen stört unser stilles Dasein? Das quält mich furchtbar.«

»Wenn es so ist, wie Sie denken, dann muß es unenträtselt bleiben.«

»Vor allem muß man diese böse, nichtswürdige Gewalt überwinden.«

»Ich werde morgen einen Arzt mitbringen, der sich mit Hypnotismus beschäftigt.«

»Für Wanda wäre es das beste, wenn wir nach Hause zurückkehrten,« bemerkte Heinrich schüchtern.

»Auch ich fühle mich hier bedeutend schlechter, London bekommt uns nicht gut.«

»Der Arzt riet zu einer Reise nach dem Süden. Mir schrieb gestern eine Bekannte aus Sorrent, daß es dort schon Frühling und warm sei. Wie denken Sie darüber?«

Zenon wiederholte völlig unwillkürlich die Worte Daisys, die er erst vorhin gehört hatte:

»Und schon sehe ich Orangenhaine, schon leuchtet das blaue Meer.«

Ada wunderte sich über den fremden, sehnsüchtigen Tonfall seiner Stimme.

»Es fiel mir ein altes Gedicht ein!« sagte er schnell, da er ihre mißtrauischen Augen sah; er nahm einen anderen Ton an und begann sie heiß zu einer Reise nach dem Süden zu überreden.

»Aber auch Sie fahren mit!« so drängte sie ihn an die Wand.

Er versprach es ohne Zögern, denn in diesem Augenblicke wünschte er es mit aller Kraft.

»Betsy sagte heute, sie verzichteten völlig auf eine Reise nach dem Festland. Sie erklärte diesen plötzlichen Umschlag mit der Krankheit des Vaters, aber es muß etwas vorgekommen sein bei ihnen. Sie ist jeden Tag trauriger! Sie tut mir sehr leid.«

»Sie hat ein schweres Leben. Die Tanten sind kaum zu ertragen.«

»Sie grämt sich jetzt über den Zustand ihres Bruders. Aus dem, was sie andeutet, entnehme ich, daß sie befürchten, er könnte den Verstand verlieren. Ist das möglich? Sie kennen ihn doch gut ...«

»Es ist schwer, etwas vorauszusehen, aber er befaßt sich mit Dingen, die oft genug zum Wahnsinn führen ...«

»Betsy erwähnte, daß auch Sie an spiritistischen Sitzungen teilnehmen.«

»Mich interessiert diese Form von Wahnideen. Ich war bei einigen Sitzungen und habe so außergewöhnliche Erscheinungen gesehen, daß mein Verstand und mein Wissen damit nicht in Einklang zu bringen sind, aber trotzdem sind es Tatsachen und Wahrheit. Ich untersuche es übrigens nicht näher und sammle diese phantastischen Erscheinungen nur als Material, das mir einmal sehr zustatten kommen kann.«

»Ich würde mich vor diesen Seancen und den Wundern fürchten, die dort geschehen. Ich bin überzeugt, daß sich in den Tiefen dieser unsauberen Sachen der Satan verbirgt und die menschliche Seele mit Wunderdingen versucht und sie mit dem Versprechen, sie würde die Schwelle des Unerforschten übertreten, hypnotisiert und in den Abgrund hinabzieht ...«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Und wäre es auch nur ein Wahn. Ich fürchte diese dunklen Gewalten! Vielleicht ist die Hölle kein Produkt von Aberglauben und Furcht? Mir ist es, als ob jenseits unseres Bewußtseins sich ein furchtbarer Abgrund öffne, in dem es von entsetzlichen Ungeheuern wimmelt, von geheimnisvollen Daseinsformen und unfaßbaren Fratzen. Und wer einmal, von Neugier verleitet, in diese Tiefen hinunterschaut, der muß verloren sein! Ich glaube tief an Gott, ich liebe die Sonne und den hellen Tag, ich liebe das Leben und habe große Furcht vor allem, was nicht von dieser Welt ist!«

»Und Sie haben recht,« bestätigte er; er wünschte keine weiteren Erörterungen über diesen Gegenstand.

»Meine Lieben, aber es ist schon sehr spät!« bemerkte Heinrich.

»Zwei Uhr! Verzeihen Sie, ich gehe sofort!«

»Also werden wir Sie nicht mehr vergeblich erwarten?«

»Sicher nicht! Und den Arzt bringe ich morgen Nachmittag mit!« rief Zenon schon auf der Schwelle.

Er blieb vor dem Hotel stehen und schaute sich in der leeren, verregneten Straße um, als ein Wagen vorfuhr und die Scheibe geräuschvoll heruntergelassen wurde.

»Bitte, schneller, es ist kalt!« Die Stimme kam ihm sehr bekannt vor.

»Sie hier!« rief er plötzlich, als er die Silhouette Daisys erkannte.

»Ich habe auf Sie gewartet!«

»Auf mich! Auf mich!« Er konnte es nicht glauben, und sein Erstaunen wurde plötzlich zur Furcht; er wich wie vor einer Halluzination zurück, aber eine weiße Hand zog ihn ins Innere des Wagens, die Tür schlug zu, und der Wagen rollte so leise fort, als flöge er durch die Luft.

»Miß Daisy?« fragte er, nachdem er sich von seinem Staunen etwas erholt hatte.

»Das ›morgen‹ ist bereits der heutige Tag!« hörte er ihre leise Stimme.

»Und Sie haben auf mich gewartet?«

Sie war so sorgfältig in einen Pelz gehüllt, daß er nur hin und wieder, wenn sie an Laternen vorbeifuhren, ihre brennenden, großen Augen sah.

»Also heute!« Seine eigene Stimme kam ihm sonderbar fremd vor.

Er neigte sich zu ihr hinunter, sie strömte eine solche Glut aus, daß er zusammenzuckte und kühn nach ihren Händen suchte; er rückte immer näher heran, er versuchte sogar, sie zu umfangen, doch es wollte ihm nicht gelingen, – es war, als trenne sie fortwährend ein unermeßlicher Abgrund. Doch vielleicht träumte er nur, daß er dies tue? Er sagte etwas. Hatte er nach etwas gefragt? Und was sagte sie? Es zuckten Blitze, es dröhnte der Donner, als spräche Gott selbst. Was für ein Geheimnis kettete sie für immer aneinander? Nein, nie würde er sich dessen erinnern, niemals.

Hatte sich denn der Himmel plötzlich geöffnet, daß eine so freudige Stille sein Herz umfangen hielt. Alle Fetzen des Daseins waren von ihnen herabgeglitten, und der Strudel der Sonne riß ihre Seelen fort auf die Pfade der Ewigkeit!

Waren es ihre Lippen, von denen er diesen Wahn getrunken hatte? Waren es ihre nackten Arme, die ihn mit flammenden Fesseln umgürteten?

Es war, als wiege ihn der Tod in den sehnsüchtigen Armen des Vergessens.

Zu sein, und doch die Fesseln des Daseins nicht zu spüren! Zu fühlen, ohne zu wissen, daß man ist. Immer wieder in die Tiefen zu versinken und, von der Welt der Glückseligkeit emporgetragen, wieder aufzutauchen!

Noch einen Kuß! Noch einen Händedruck! Noch einen Blick!

Die Wonne trinken mit dem ganzen Sein, zum Glücke selbst werden! Die stumme Hymne der siegreichen Freude singen! Wer ist mächtiger, du König der Furcht und des Todes?

Ist dies die Liebe?

Es ist der hochzeitliche Ausbruch von Sonnen, die in sich versinken im geheimnisvollen Augenblick ihrer Vereinigung. Das Werden von Sternen in der Unendlichkeit.

Daisy! Daisy!

Es gibt nichts mehr als das einzig vollkommene Glück.

Sie! Ich! Und du, Rächer! O allerheiligste Dreifaltigkeit! O unsterbliche Einheit!

Die von Liebesglut geblendeten Blicke säen Flammen, und aus ihnen entstehen die Milchstraßen, der Staub des Weltalls, aus ihnen unendliche Ketten von Welten.

Aus den Augen Baphomets wird die Seele geboren und flieht wie ein Blitzstrahl durch Zeiten dahin, um einst wieder in »Ihm« zu versinken. Sie ist aus »Ihm« entstanden und wird »Er«.

Ihr Kreislauf ist geheimnisvoll, und sie kehrt zurück zur ewigen Quelle.

O Daisy! O Daisy!

Wir hatten uns gesucht mit den ersten Tagen der Schöpfung! Wir sehnten uns zueinander schon einst am Anfang, noch da wir in »Ihm« waren ...

Ist es nur ein Traum? Dann möge er währen, mögen wir träumen, ewig, ewig ...

Stürme von Erinnerungen rasen durch das Hirn, es erkennt, es versteht, und die Seele wird von Verachtung erfüllt.

Das war ich? Dieser widerliche Menschenfetzen, das war ich?

Daisy! Daisy!

*

Er schloß schnell die Augen, das Morgenlicht berührte ihn unangenehm.

Der Gedanke erhebt sich wie aus einem tiefen Abgrund, er arbeitet schwer, sucht in der Finsternis, windet sich in Qualen, zerschlägt sich an den Nebelwänden der Einbildungen, dringt hindurch und steht da, in scheuer, trauriger Helligkeit ... Das Herz beginnt wieder, sich zu ängstigen, und das Bewußtsein erhebt seine hoffnungslos traurigen Augen und fragt:

Was war das eigentlich?

Der Klang seiner eigenen Stimme brachte ihn zur Besinnung, und wieder öffnete er die Augen. Ein grauer, nebliger Morgen überflutet das Zimmer und die Straßen rauschen die alte Melodie des Alltags. Ein Tag wie gestern! Regen, Kälte und Langeweile!

Und das andre? In seinem Gedächtnis huschten neblige, zerrissene Fetzen vorüber, doch sie wurden immer blässer, immer ungreifbarer.

Er sprang aus dem Bett und bemühte sich nur noch, sich daran zu erinnern, wann und wie er nach Hause gekommen wäre.

»Ich fuhr mit Daisy!« so suchte er sein Gedanken zu sammeln. – Doch was dann? Was ging später mit ihm vor? Eine undurchdringliche Mauer von nebelhaften, ungreifbaren Erinnerungen hatte sich in seinem Hirn aufgebaut. Er erinnerte sich seines Gesprächs mit Ada, der Erzählung der kleinen Wanda, an alles bis zu dem Augenblicke, wo er in den Wagen gestiegen war; weiter war alles dunkel, – Nacht und Unruhe, mit Furcht vermischt.

Der Diener kam herein und brachte mit dem Tee eine Nota der Firma Th. Cook, in der die Stunde der Abfahrt des Zuges nach Dover, der Name des Schiffes und die Nummer der Kabine angegeben waren.

»Ist Miß Daisy zu Hause?« fragte er, nachdem er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte.

»Soeben sind Mrs. Blawatska und Mr. Smith zu ihr gekommen.«

»Und ist Mr. Yoe noch nicht ausgegangen?«

»O, Mr. Yoe ist sehr krank, Mrs. Tracy sagte, er ...«

»Sie können gehen!« rief Zenon heftig, denn er hatte den Blick des Dieners bemerkt, der mit einem vielsagenden Lächeln auf einen Schal gerichtet war, welcher auf dem Sofa lag. Es war ein indischer Schal, schillernd in allen möglichen Farben, von Veilchenduft durchtränkt, und daneben lagen weiße, ein wenig zerknüllte Handschuhe.

»Daisy! Ja, er gehört ihr!« Voll Wonne sog Zenon den wunderbaren Duft ein. – Irgendeine Verwechslung! – Er wickelte ihn in Papier und schickte ihn mit einigen erklärenden Worten durch das Zimmermädchen hinüber. Er telephonierte noch wegen der kleinen Wanda einen bekannten Arzt und Hypnotiseur an und wollte eben fortgehen, als seine Augen wieder auf die Nota von Cook fielen.

»Abfahrt des Zuges erfolgt um zehn Uhr. Dover. Caliban.«

Er las langsam, als wollte er es seinem widerspänstigen Gedächtnis einprägen, doch er konnte es zunächst nicht verstehen, wohin und warum er eigentlich fahren solle, – er warf das Papier unwillig hin und ging fort.

Im Flur vertrat ihm das Zimmermädchen mit einem Briefe von Daisy den Weg.

»Ist die Dame schon ausgegangen?«

»Sie fühlt sich nicht wohl und geht seit einigen Tagen überhaupt nicht mehr aus.«

Er lächelte nachsichtig über diese Lüge.

Daisy lud ihn zum Tee ein und dankte ihm in einer Nachschrift für die Rückgabe des Schals.

»Um fünf Uhr Daisy; um sieben – mit dem Arzte bei der kleinen Wanda, und um zehn Uhr geht der Zug!« ging es ihm plötzlich durch den Kopf, und er ging zu Yoe.

»Caliban! Ein sonderbarer Name für ein Schiff!« dachte er plötzlich.

Der Malaie öffnete ihm und verschwand sofort wieder.

Die Wohnung war beinahe finster, die Vorhänge waren heruntergelassen, und in der grauen, düsteren Dämmerung irrte Yoe wie ein Gespenst umher. Er ging mühselig und gebückt, blieb zuweilen stehen und starrte angestrengt auf einen Punkt, flüsterte etwas Unverständliches und wanderte wieder von Zimmer zu Zimmer.

»Yoe! Yoe!«

Doch es war, als höre er ihn gar nicht, er unterbrach seine Wanderung nicht einen Augenblick.

Zenon preßte ihm heftig die Hand und schrie ihm ins Ohr:

»Yoe! So erwache doch um Gottes willen!«

Yoe kam nahe an ihn heran und fragte wie automatisch:

»Sage mir, wo bin ich denn eigentlich?« Und er bohrte seine Augen in sein Gesicht.

Zenon wich vor diesem wahnsinnigen Blick zurück.

»Wo bin ich?« wiederholte Yoe leiser und ängstlicher.

»Hier bei mir. Wir stehen nebeneinander! Fühlst du denn meine Hand nicht?«

»Ja ... aber ... Stehen wir mitten im Zimmer oder dort gegenüber, an der Wand ...?«

»Mitten im Zimmer.«

»Und an der Wand siehst du nichts?«

»Ich gebe dir mein Wort, im Zimmer ist außer uns zweien niemand mehr.«

»Sonderbar ... Jetzt ist's leer ... Und vor einem Augenblick ... Und du weißt, daß du mit mir sprichst?«

Zenon schlug schnell die Vorhänge zurück, ein breiter Lichtstreifen fiel ins Zimmer, Yoe wandte den Kopf vor der Helligkeit ab, doch nach einer Weile fing er an, sich mißtrauisch umzusehen, als hätte er etwas Furchtbares erblickt, er krümmte sich, er erkaltete für einen Augenblick, seine Augäpfel wichen in den Schädel zurück und funkelten unheilverkündend wie im Wahnsinn.

»Yoe!« Inniges Mitleid bebte in Zenons Stimme.

»Das bist du, Zen. Ich weiß!« sprach Yoe, als erwache er aus einer Lethargie.

»Was ist dir? Du bist krank?«

»Und nur wir beide sind hier?« Er erhob die irren Augen zu Zenon.

»Ich will alle Fenster öffnen, dann kannst du dich selbst davon überzeugen.«

Nach einer Weile war die ganze Wohnung hell und mit einer kühlen, feuchten Luft erfüllt, die Dachtraufen trommelten, und der Regen flüsterte eintönig. Yoe hüllte sich in einen Plaid, schaute durchs Fenster, streckte sogar seinen Kopf in den Regen hinaus und setzte sich dann ein wenig beruhigt neben Zenon, welcher sagte:

»Du bist furchtbar nervös!«

»Es ist schon möglich. Ich bin einige Tage nicht ausgegangen, und die Zentralheizungsluft bekommt mir niemals gut.«

»Man nahm an, du wärest krank.«

»Ich war sehr beschäftigt.«

»Und zu Hause ist man deinetwegen in Unruhe ...« bemerkte Zenon vorsichtig.

»Wer?« fragte Yoe kurz und scharf.

»Der Vater, Betsy, die Tanten und schließlich auch deine Freunde.«

Während dieser Aufzählung hatte Yoe sich erhoben, sein Gesicht verfinsterte sich, und schließlich sagte er verbittert:

»Ich erinnere mich an niemand und kenne niemand!«

»Ich sprach von deinen Angehörigen!« fügte Zenon hinzu, in der Meinung, Yoe hätte ihn falsch verstanden.

»Ich besitze keine Angehörigen! Ich bin diesen Vampir losgeworden! Ich habe alle Bande zerrissen. Nichts mehr fesselt mich an das Leben! In diesen Tagen verlasse ich Europa für immer! Ich bin frei, ich brauche keine Heimat, weder Familie, noch Freunde! Ich werde meinen Leib in dem heiligen Wasser des Ganges waschen und meine Seele in Betrachtungen versenken! Dort wird mich das Geblök der Menschenherde nicht mehr erreichen. Ich habe hier so furchtbar gelitten. Ich habe den gemeinen Lebensinstinkt überwunden, ich werde auch das Leben selbst überwinden. Ich habe für eure Sünden gelitten, habe gebetet, habe mich kasteit! Doch jetzt weiß ich, daß euch nichts mehr erlösen wird. Ihr seid verdammt! Ihr Gottesmörder, ihr Anbeter des Bösen! Verflucht seid ihr, verflucht! Verflucht!« schrie er in der wahnsinnigen Ekstase des Schmerzes, des Grauens und des Hasses.

»Du bist gekommen, mir Angst zu machen?« wendete er sich an Zenon. »Bist gekommen, mich zu versuchen? Fort, du Abgesandter des Luzifer! Fort von mir!« rief er und ging auf ihn zu, seine Augen schleuderten Blitze, so daß Zenon, über seinen Zustand verzweifelt, unbewußt zurückwich, – er wußte nicht, was er beginnen sollte. Doch plötzlich blieb Yoe stehen, tödliche Blässe überzog sein Gesicht, er schien wie versteinert.

Zenon stürzte auf ihn zu, doch trotz übermenschlicher Kraftanstrengung gelang es ihm nicht, ihn von der Stelle zu rühren, er war ganz erstarrt, gleichsam mit dem Boden verwachsen. Er stand gebeugt wie ein gefällter Baum, taub und stumm gegen alles, die glühenden Augen fingen an langsam zu erlöschen, sie leuchteten nur noch leblos wie Moderholz, sein Gesicht nahm den Ausdruck einer unaussprechlichen ekstatischen Glückseligkeit an.

»Man darf ihn nicht unterbrechen!« sagte der Malaie, den Zenon gerufen hatte, und schloß schnell die Fenster und zog die schweren Vorhänge zu.

Zenon war so entsetzt, daß er seine Worte nicht verstand.

»Er wird von selbst zu sich kommen, vielleicht erst in einigen Stunden, vielleicht erst morgen! Er spricht jetzt mit den Göttern! Und würde man ihn stören, dann könnte er einen mit seinem Blicke töten ... Manchmal schwebt er in der Luft, und dann hört man Musik und Gesang!« flüsterte er fromm, stellte ein Räucherbecken vor Yoe hin und zündete es an; eine weißliche Rauchsäule erhob sich und erfüllte das Zimmer langsam mit duftenden Wolken. Der Malaie führte Zenon in das gelbe Zimmer hinaus und sagte, auf die herumliegenden Gegenstände und die geöffneten Koffer deutend:

»Der Herr befahl mir, ich solle seinem Vater alle Sachen und alles Geld zurückschicken.«

»Also verreist ihr?« sagte Zenon endlich, da er ein wenig sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte.

»Wir haben schon Zwischendeckplätze nach Bombay gekauft, und von dort wird uns Buddha auf den großen Weg führen!«

»Wohin fahrt ihr? Wohin?« Zenon konnte noch nicht klug daraus werden, konnte es nicht glauben.

»Ich bin nur sein Schatten, ich gehe, wohin er geht,« sprach der Malaie so ernst, daß Zenon seinen Worten glauben mußte, und seine Unruhe wurde um so größer.

»Man muß ihn retten!« beschloß er und läutete energisch nach dem Diener.

Er schickte ein langes Telegramm nach Bartelet-Court und ließ Mr. Smith, der zum Glück noch zu Hause war, heraufbitten; und der kam sofort. Er hörte Zenons Erzählung mit innigster Teilnahme an, konnte aber seinen Sektierertriumph nicht unterdrücken.

»Er hat uns verlassen, und das sind jetzt die traurigen Folgen! ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen‹. Da sehen Sie, wohin diese Teufelin ihre Anbeter führt ...!«

»Wen meinen Sie damit?«

»Miß Daisy! Ich war mit der Blawatska bei ihr, sie hat sich offen dazu bekannt, daß sie ›Ihm‹ dient!« Er schlenkerte abergläubisch mit den Fingern.

»Viel wichtiger ist für mich der Zustand des Kranken,« sagte Zenon gequält.

»Ich möchte ihn gern sehen, vielleicht ist er schon aufgewacht ...«

Sie gingen zu ihm, er stand auf dem alten Platze, unbeweglich, in dem Opferrauche kaum sichtbar, ganz von einem leuchtenden Tau bedeckt.

Mr. Smith zitterte vor Angst.

»Und erlöse uns von dem Übel,« flüsterte er, während er sich eiligst in das gelbe Zimmer zurückzog. »Er befindet sich in völliger Katalepsie! Man muß warten, bis er von selbst erwacht.«

»Ich glaube, man darf ihn nicht allein lassen.«

»Ich erwarte gerade seine Angehörigen. Aber vielleicht sollte man ihn ins Krankenhaus schaffen?«

»Dies ist etwas Schlimmeres als Krankheit!«

Zenon sank auf einen Stuhl, immer schmerzlichere Ahnungen peinigten ihn. Mr. Smith spazierte in Gedanken versunken im Zimmer umher, doch seine Augen flogen abschätzend von einem Gegenstand zum anderen. Seine trockenen, knöchernen Finger glitten voll Wohlbehagen über die seidenen Bezüge und berührten die Bronzen.

»An allen Wegen des Lebens lauert der Wahnsinn!« sprach Zenon halblaut, als antworte er seinen eigenen Gedanken.

»Aber auf dem Weg, den Yoe gegangen ist, erfaßt er jeden. Ich bin ihn schon einmal gegangen, nur ein Wunder hat mich vor dem Abgrund gerettet.«

»Also sind Sie aus der Bruderschaft ausgetreten?«

»Ich sprach von den Wegen, die Yoe gegangen ist! Das sind die Wege der Verleugnung und teuflischer Überhebung. Die Wege der Empörer! Wir gehen diametral auseinander. Wir glauben an Gott, er verleugnet ihn. Wir lieben die Menschheit und arbeiten an ihrer Erlösung, – sie empfinden nur Haß und Abscheu gegen die Menschen. Sie verfluchen das Leben und wünschen seine Vernichtung. Ihr erhabenes ›Ich‹ stellen sie der ganzen Welt gegenüber. Ich muß vor allen Dingen noch betonen, daß der Spiritismus ein Glaube ist, der sich auf dem Wissen von der Unsterblichkeit jeglichen Geschöpfes aufbaut. Die Welt ist Gottes Traum von sich selbst!« dozierte Smith begeistert und setzte die verworrenen Theorien der sieben Sphären, der sieben Erkennungskreise und die ganze Geheimwissenschaft der Theosophie auseinander.

Zenon schwieg, von allerhand Sorgen geplagt.

»Aber kehren wir zu Yoe zurück,« so wechselte der andere plötzlich das Thema, als er das gelangweilte Gesicht Zenons sah. »Ich behaupte, daß Miß Daisy ihn zugrunde gerichtet hat.«

»Schließlich werden Sie noch beweisen wollen, sie wäre eine Reinkarnation des Baphomet.«

»Ich habe das von Anfang an behauptet!« Mr. Smith schlenkerte wieder mit den Fingern, setzte sich nahe an Zenon heran und flüsterte ihm wieder ins Ohr: »Sie nimmt doch jede Gestalt an, die sie will! Sie denken, Bagh wäre nur ein Panther? Oder sie spaltet sich in zwei Gestalten! Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf die Seance zu Yoe gekommen ist, ich habe mit ihr gesprochen, und als ich früher fortgegangen, sah ich sie mit Mrs. Tracy zusammensitzen, mit der sie wahrend der ganzen Dauer der Seance zusammengewesen war! – Bestätigt das denn meine Behauptung nicht? Derartige Tatsachen könnte ich viele anführen. Zum Beispiel, in den letzten Tagen hieß es, sie wäre krank, und wir wissen ganz sicher, daß sie ihre Wohnung nicht verlassen hat; gleichzeitig hat man sie aber in verschiedenen Gegenden der Stadt gesehen. Ich sage Ihnen da etwas absolut Sicheres, eine erwiesene Tatsache.«

Zenons Augen klammerten sich plötzlich an ihm fest, er hörte aufmerksam zu.

»Sie ist ein Vampir!« erklärte Mr. Smith mit geheimnisvoll feierlicher Miene. »Denn sie nimmt jede beliebige Gestalt an, um ungehindert Seelen rauben zu können ... Ja, vielleicht existiert sie als Mensch überhaupt nicht. Vielleicht ist sie nur eine augenblickliche Fleischwerdung ›Seines Willens‹. Ja, mein Herr, sie ist vielleicht nur sein Schatten, der unsterbliche Schatten des Bösen und der Sünde! ... Einsam in der Unendlichkeit, hinabgestoßen auf den Grund ewiger Finsternis, ungebeugt, voll Haß gegen das höchste Licht, streckt er seine Geierkrallen aus nach der Macht über die Welt und schart verirrte, aufrührerische Seelen um sich, um einst an der Spitze dieser Verdammten noch einen, den letzten Kampf mit Gott zu kämpfen! Ich glaube, wenn diese Zeit gekommen ist, wird die ganze Welt in ihren Grundfesten erzittern, die Sterne werden erlöschen, Sonnen und Planeten in Staub zerfallen, und ein unerbittlicher Kampf wird von Ende zu Ende toben! Aber auch daran glaube ich, daß Satan und seine Überhebung zu Staub zermalmt werden! Gott wird eine neue Welt aus dem Chaos schaffen! Die Erde wird zu einem neuen hochzeitlichen Jerusalem werden, und die von der Sünde erlöste Menschheit wird singen: Hosianna! Reine, unsterbliche Geister werden das Weltall füllen, und der ganze Himmel wird widerhallen von dem glückseligen Jubel des Vereintseins in Gott! Ja, daran glaube ich so heiß, wie ich genau weiß, daß Daisy ›seine‹ Abgesandte ist. Und ich bin sicher, daß hier jemand sterben, jemand wahnsinnig werden, jemand sich verlieren wird auf Ewigkeit durch ›Sie‹ und für ›Ihn‹.«

Zenon schien die Warnung nicht zu verstehen, er war völlig unter dem Einfluß dessen, was er von dem Doppeldasein Daisys gehört hatte. Ihn langweilten die spiritistischen Theorien des Mr. Smith, aber diese unerwartete Bestätigung seiner Vermutungen, die er sogar tief vor sich selbst verborgen hatte, erschütterte ihn heftig.

»Und man hat sie gleichzeitig an verschiedenen Orten gesehen?« Er wünschte es noch einmal zu hören.

»Ja, mit aller Sicherheit!« Mr. Smith begann peinlich neue Tatsachen anzuführen.

Zenon hörte nicht mehr zu, er war ganz in Erinnerungen versunken, die plötzlich vor ihm auftauchten. Er erinnerte sich in diesem Augenblick an jede analoge Tatsache: an jene seine erste erschütternde Verblüffung, als er Daisy bei der Seance zurückgelassen und ihr dann begegnete, wie sie ihm im Flur entgegenkam. Und jene Geißlungsszene? Diese vielen unfaßbaren Dinge. Und vor allem die gestrige Begegnung. Er hatte sie doch zweimal gesehen, mit ihr gesprochen, neben ihr gesessen, sie neben sich gefühlt, – und sie hatte in derselben Zeit in ihrer Wohnung sein können?

»Was soll das bedeuten? Wie läßt sich das vereinbaren? Ist das möglich?« Er wich jedoch ängstlich von einer endgültigen Feststellung zurück, die zu einer unzerreißbaren Kette tiefster Überzeugung zu werden drohte. Er zündete eine Zigarette an, sah nach Yoe, wechselte einige Worte mit Smith, gab sich Mühe, ruhig nachzudenken, und vertiefte sich wieder in seine Erinnerungen.

Wie er mit Daisy bekannt geworden war, was er über sie gehört hatte, was er mit ihr gesprochen, was er selbst durch sie erlebt hatte, sogar das, was kaum durch sein Hirn geglitten war, tauchte jetzt vor ihm auf, als erlebe er es langsam zum zweiten Male. Eine Art hellseherische Kraft kam über ihn, so daß er sich beinahe eines jeden Augenblickes mit unerbittlicher Genauigkeit erinnerte. Er sah dies alles gleichsam wie auf einem unendlichen Filmstreifen.

»Ich sehe es, ich erinnere mich daran und verstehe doch nichts davon!« dachte er. »Ich sehe doch nur Tatsachen, die Oberflächen von zufälligen Gestaltungen, die blendenden Trugbilder von etwas Unbekanntem! Aber was liegt da auf dem Grunde? Wer ist eigentlich Daisy? Welche Rolle spiele ich in alledem?« Er zerrte an den unzerreißbaren Maschen des Geheimnisses, die ihn gefesselt in die Tiefen der Qual vergeblicher Fragen hinabzogen.

»Wissen Sie,« wendete er sich nach einiger Zeit an Mr. Smith, »ich würde mich jetzt nicht einmal wundern, wenn plötzlich diese Bäume hinter den Fenstern zu sprechen anfangen würden, oder jene mittelalterlichen Ritter aus den Bildern herabsteigen und sich zu uns setzen würden ...«

Mr. Smith entgegnete mit der salbungsvollen Stimme eines Predigers:

»Alles liegt in den Grenzen der Möglichkeit! Denn jede Wirklichkeit hat ihren Anfang in uns. Der Gedanke ist auch eine Gestaltung, die jenseits von uns weiterlebt. Wir sind ein Traum Gottes, die Welt aber ist unser Traum. Es gibt keinen Dualismus, es gibt nur eine vollkommene Einheit, die ewig zwischen den beiden Polen: ›Tod – Leben‹ oder: ›ich weiß – ich bin‹ pendelt! Es gibt in der Natur keine ...«

»Es ist möglich, daß dies alles wahr ist!« unterbrach ihn Zenon ungeduldig, es hatte sich seiner plötzlich das heftige Verlangen bemächtigt, vor dem allen zu fliehen. Er wartete die Ankunft Betsys nicht mehr ab, sondern eilte auf die Straße und war froh, in dem Gedränge untertauchen zu können.

»Also ich bin noch da!« Er stellte sein Dasein körperlich fest, während er sich durch die Menge hindurchdrängte. »Ich kann doch nicht mehr länger so leben, ich kann nicht! Ich will nicht wahnsinnig werden!« schrie in ihm plötzlich der Selbsterhaltungstrieb auf. – »Ich werde mit Ada in die Heimat zurückkehren und alles vergessen!« träumte er und ließ sich von der Menge tragen, wohin sie wollte. Und er fühlte sich immer ruhiger, es wich langsam alle Furcht von ihm und die Erinnerung an jene schrecklichen Dinge. Doch gleichzeitig bemerkte er an den Menschen eine unverständliche Veränderung, die ihn beunruhigte. Die Gesichter schienen ihm nur Masken zu sein, durch die fremde rätselhafte Gesichter hindurchschimmerten. Und sie hatten so leuchtende, strahlende Blicke, daß sich über ihren Köpfen unaufhörlich Lichtscheine woben. Und alle bewegten sich anders, sie flossen gleichsam über der Erde hin. Das Geräusch der Stadt aber wurde zu einer wogenden unendlichen Melodie ... Jede Stimme tönte einzeln heraus, und zusammen bildeten sie einen Chor von himmlischen Klängen. Sogar die Mauern nahmen Azurfarbe an und reckten sich hoch zum Himmel. Alles, worauf er blickte, hatte denselben rätselhaften Ausdruck, überall verbarg sich ein anderes Leben, ein fremdes, nicht enträtselbares, und überall lugte das beunruhigende Geheimnis hervor ...

Er wunderte sich über nichts mehr, er dachte nur ängstlich:

»Und vielleicht ist's auch so, wie es mir vorkommt!«

Als er durch den Park ging, rauschten die Bäume, er blieb stehen.

»Was reden sie?« Ein brüderlicher Blick umfing die wirren Zweige.

Der Park wogte und rauschte das stille, geheimnisvolle Lied der Abenddämmerung.

»Was? Was?« fragte er gerührt, denn es war ihm, als kämen diese schwarzen Riesen auf ihn zu und reichten ihm ihre knorrigen Äste.

»Nie, nie werden wir uns verständigen können!« seufzte er klagend.

Ein Vogelschwarm zog seine Kreise immer tiefer über dem Park, so daß er den Flügelschlag im Gesicht spürte und die geöffneten Schnäbel und die funkelnden Augen sehen konnte. Sie ließen sich neben ihm nieder, und einige setzten sich auf seine Arme und krächzten lange und unerschrocken. Er lauschte diesen Stimmen, streichelte die schwarzen, glänzenden Federn und flüsterte traurig:

»Wieder diese Scheidewand! Wir werden uns fremd bleiben für immer!«

Sie erhoben sich plötzlich, schlugen mit den Flügeln und flogen in mächtigem Flug hoch in die Lüfte, über die Stadt, immer höher, und er verfolgte sie mit sehnsüchtigen Augen, bis sie im grauen Nebel verschwanden.

Eine Turmuhr versetzte ihn mit ihrem langsamen, festen Ton wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Fünf Uhr!« Er erinnerte sich sofort an die Einladung Daisys.

Aber er ging langsam, und während er den letzten Rest von Träumerei von sich abschüttelte, bemerkte er mit Bitterkeit, daß alles wieder den gewohnten Ausdruck hatte. Zerflossen war der bläuliche Nebel, ringsherum brauste das Leben, schäumte es und spritzte mit schmutzigen Wellen hoch. Er schüttelte sich voll Ekel.

»Vielleicht ist's auch so, wie es mir jetzt vorkommt,« sann er und starrte auf die vergrämten Gesichter, die des Elends Last zur Erde beugte. Und überall sah er nur von Leidenschaften durchfurchte Gesichter, unruhige, wilde Blicke, schmerzverzerrte Lippen, und in allen den Ausdruck grausamer Unbarmherzigkeit, der Habgier und der Selbstsucht. Und dieser gewaltige Verkehr! Diese Tausende und Abertausende, die im Kreise jagten, wie vom Wahnsinn gepeitscht! Dieser wilde Kampf aller gegen alle! Diese unzähligen Horden, die ewig Beute witterten! Elend, Laster und Verbrechen! Wie ungeheuerlich kam ihm dies plötzlich in seiner Sinn- und Ziellosigkeit vor! Und alles dies war einander würdig, dies unsagbare Elend und diese unermeßlichen Reichtümer! Sogar diese schmutzigen Häuser, die aussahen wie verfaulte Särge, in denen es von menschlichem Gewürm wimmelte, sogar jener schwer herabhängende Himmel, wie von Kot und Eiter durchtränkt! Gemein und verflucht ist solch ein Leben, solch ein Geschick!

»Fliehen, so schnell und so weit wie nur möglich!« drängte ihn ein froher, befreiender Gedanke. Er fühlte sich wieder stark, rücksichtslos und auf alles gefaßt. Er kehrte schnell heim und erfuhr gleich beim Eintreten, von oben hätten Damen nach ihm geschickt.

Er ging ziemlich ungern hin, denn er sah neue, peinliche Verwicklungen voraus.

Yoe war noch nicht erwacht, aber der Malaie flüsterte:

»Er ist schon ganz kalt, so ist er immer vor dem Erwachen. Auch die Ausstrahlung ist verschwunden. Er muß jeden Augenblick zum Bewußtsein kommen.«

Im gelben Zimmer sprach Miß Dolly mit ihrem Hausarzt.

»Habe ich nicht gesagt, daß das ein schlimmes Ende nehmen muß?« rief sie Zenon als Gruß zu.

»Aber das wird ihn nicht heilen!« entgegnete er ungeduldig, wobei er in das andere Zimmer hineinschaute.

»Mr. Smith ist Sie suchen gegangen bei einer Miß ... Ich habe den Namen vergessen.«

Ihn reizte diese Anspielung, doch er fragte ziemlich höflich nach Betsy.

»Sie sitzt bei ihm. Sie hat darauf bestanden und verläßt ihn auch nicht einen Augenblick.«

Er fand sie auch in dem dämmrigen Zimmer, das von Opferrauch ganz verhüllt war; sie saß verweint da, wie abwesend, und starrte ihren Bruder an, der noch ebenso gebückt stand, mit demselben erstarrten Lächeln auf den Lippen.

»Das ist furchtbar! Er schaut mich an und sieht mich nicht. Ich sprach zu ihm, doch er hörte es nicht. Ich berührte seine Hände, sie waren kalt und steif wie bei einer Leiche! Gott, mein Gott!« jammerte sie leise.

Er führte sie in das runde Zimmer hinaus, das hell erleuchtet war.

»Was ist ihm geschehen?« fragte sie und ergriff bittend seine Hände.

»Ich weiß nicht! Hat Mr. Smith Ihnen nichts gesagt?« – Zenon befürchtete das.

»Er sprach von furchtbaren, furchtbaren Dingen.«

»Das ist spiritistisches Gewäsch, man darf daran nicht glauben. Betsy! Betsy!«

»Aber wenn das wahr ist? – Wenn sie schuld daran ist.«

Er verstand, wen sie damit meinte, doch er versuchte Daisy nicht in Schutz zu nehmen und fragte ausweichend:

»Was hat der Arzt gesagt?«

»Aber wenn sie auch die kleine Wanda verhext hat?« fuhr sie immer ängstlicher fort.

»Ich sehe, Ada hat Sie mit ihren abergläubischen Vermutungen nicht verschont.«

»Wenn das aber wahr ist? Wenn das alles wahr ist, was Mr. Smith gesagt hat?« schrie Betsy entsetzt auf. »Ich fürchte mich so, daß ich lieber gleich sterben möchte. Ich habe nie, nie geahnt ... Und ich fühle mich so wehrlos gegen das Unglück ...« Sie begann zu weinen, Tränenströme ergossen sich über ihre blassen, vergrämten Wangen.

Sie tat ihm furchtbar leid, aber er konnte sich nicht zu einem einzigen wärmeren Wort aufraffen. Er stand steif da und ließ seine glanzlosen Augen über die Wände gleiten.

»Und es war mir so wohl ... Ich träumte so schön ... Ich war so glücklich ... Und jetzt! Und jetzt!« schluchzte sie wieder, sie klammerte sich noch an diesen letzten Rest von Hoffnung, daß er vielleicht zu ihr sprechen würde, wie früher, daß er sie vielleicht stützen würde mit einem liebenden Arm, sie vor dem Unheil beschützen würde ... Doch er rührte sich nicht, er war in einem sonderbaren Zwiespalt, ihre Tränen zerrissen ihm das Herz, und er wußte, was in diesem Augenblicke seine Pflicht war, er wußte, daß dieses wehrlose Kind zu ihm um Hilfe gekommen war, und doch vermochte er nicht das dunkle Geheiß zu brechen, welches ihm auch den kleinsten Beweis von Teilnahme untersagte. Er konnte nicht einmal rein körperlich irgendeine begütigende Bewegung machen. Er fühlte, daß er gemein und verräterisch handelte, daß er sich an diesem edeln und ihm aufs innigste ergebenen Geschöpfe weidete, es tötete, aber er konnte sich nicht bezwingen. Und vergebens wand er sich in diesen erbarmungslosen Krallen, vergebens bemühte er sich, den Zustand seiner eigenen Seele zu verstehen ...

Und aus Betsy schien das Leben zugleich mit den Tränen herauszuströmen, denn sie fühlte, daß von diesem furchtbaren Augenblick ihr ganzes Glück abhing. Ein grenzenloser Kummer, eine tiefe Traurigkeit bemächtigten sich ihrer. Sie hatte keine Kraft mehr zu weinen noch zu klagen, nur ihre qualversengten Augen sprachen stumm von ihrem Schmerz.

Zenon war in einem Augenblick des erbitterten Kampfes mit sich selbst plötzlich aufgesprungen.

»Was geht mit mir vor! Betsy!« schrie er und versuchte etwas von sich zu stoßen. In seinen Augen war Angst und Wahnsinn. Sie stürzte auf ihn zu und begann ihn, trotzdem sie zu Tode erschrocken war, mit den zärtlichsten Beschwörungen zu beruhigen. Er sah sie mit grenzenloser Verachtung an und stieß sie von sich.

»Zen!« stöhnte sie auf, vor seinen wilden, wahnsinnigen Blicken zurückweichend. Doch zum Glück beruhigte er sich beinahe sofort wieder und setzte sich neben sie.

»Was war Ihnen denn?« Sie konnte die Frage nicht unterdrücken.

»Irgendein Trugbild verfolgte mich ... Etwas, was man nicht in Worte kleiden kann ...«

»War es so, wie damals bei uns?«

»Nein, nein ... Ich bin furchtbar nervös!« Er sah sich ängstlich um und begann schnell zu sprechen, als wolle er etwas in sich ersticken. Er wollte ungezwungen sein, er bemühte sich sogar, herzlich zu sein, doch er zerstreute ihre Befürchtungen nicht, noch belebte er die sterbende Hoffnung in ihr, denn seine Worte waren eisig, zufällig und blind hingeworfen. Es war ein merkwürdiges Gespräch, denn beide verbargen sie voreinander mit äußerster Anstrengung die tragische Zerrissenheit ihrer Seelen, ihre Angst umeinander. Betsy bebte wie ein zu Tode erschrockener Vogel, in ihrer Stimme zitterten Tränen und ein unterdrücktes Schluchzen der Verzweiflung. Sie erstickte jedoch den eigenen Schmerz und bekümmerte sich nur noch um seinen sonderbaren Zustand.

»Sie müßten auf einige Zeit verreisen,« riet sie ihm, wie eine Schwester.

»Ich werde verreisen, ausruhen und mit neuen Kräften zurückkehren,« entgegnete er.

Ein bleiches Lächeln des Leids huschte über ihre Lippen, als nähme sie Abschied von ihm für immer. Ein kurzer Krampf preßte ihr Herz zusammen, und in ihrem Hirn dröhnte es unheilverkündend: »Nie, nie werde ich dich wiedersehen!«

Der Malaie unterbrach ihr Gespräch, er rief Zenon zu Yoe. Der lag bewußtlos auf dem Bett, der Arzt machte sich in einer besonderen Art um ihn zu schaffen. Yoe öffnete bald darauf die Augen, erkannte jedoch niemand. Vergebens sprachen sie auf ihn ein, er antwortete nicht, er schaute über alle hinweg weit in die Ferne.

Man beschloß, daß der Arzt zusammen mit der Pflegerin bei ihm wachen solle, und am Morgen, je nach seinem Zustande, sollte er ihn ins Krankenhaus schaffen oder nach Bartelet-Court.

Betsy fuhr in Verzweiflung heim. Beim Abschied bat sie Zenon mehrere Male flehentlich, er möchte Yoe doch nicht verlassen und über ihn wachen.

»Ich werde bei ihm bleiben bis zum Morgen,« versicherte er herzlich und vergaß sein Versprechen beinahe sofort wieder; denn gleich, nachdem sie fortgefahren war, ging er zu Daisy, trotzdem es schon ziemlich spät war. Als er aber schon an der Tür stand, wich er wieder zurück.

»Nein, nein!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, nachdem er sich in seine Wohnung eingeschlossen hatte. Er begann die Papiere durchzusehen, die auf dem Schreibtisch angehäuft lagen, und seine Augen blieben wieder auf dem Zettel von Cook haften: ›Abfahrt des Zuges um zehn Uhr. Dover. Caliban.‹ Er las es einige Male, und da er nicht begreifen konnte, was die Worte bedeuteten, zog er sich mechanisch an und fuhr zu Ada. Er wollte schon schellen, da hörte er an der Tür das Lachen der kleinen Wanda, er schüttelte sich heftig und floh schnell auf die Straße. Er war nur noch wie ein Ball, der im Nebel dahinrollt, von unsichtbarer Hand gestoßen. Er fühlte, daß er irgendwohin gehen müsse. Er ging ganz willenlos und wich wieder zurück, gleichfalls ohne zu wissen, warum. Er schaute in verschiedenen Klublokalen nach, begrüßte Bekannte, aber überall sah es nur aus, als suche er jemand, und da er ihn nicht fand, ging er sofort weg. Schließlich ging er in ein Varietee. Die Vorstellung hatte bereits begonnen; die Musik dröhnte mit der ganzen Kraft der verstimmten Instrumente, und auf der Bühne wiegte sich die Ballettherde, Clowns prügelten sich, jemand sprang unter einer Kuppel hervor ins Wasser, das den Zuschauerraum von der Bühne trennte, und das Publikum klatschte Beifall und lachte. Zenon schaute ungemein gespannt zu, nur konnte er nicht ergründen, wo dies alles geschähe: in ihm oder irgendwo außerhalb seiner Augen? Doch ehe er es hatte feststellen können, stand er auf und drängte heftig dem Ausgang zu, ohne auf die Flüche der Gestoßenen zu achten.

Er hatte nämlich den kategorischen Befehl vernommen, er solle den Saal verlassen. Er stand eine Zeitlang auf dem Trottoir, wobei er sich ängstlich umsah, er schaute sogar in den Torwegen und Kellern nach und fuhr endlich, da er nicht mehr wußte, was er anfangen solle, eilig wieder nach Hause.

Mr. Smith kam ihm entgegen und sagte merkwürdig düster:

»Ich dachte schon, Sie würden nicht mehr kommen.«

»So haben Sie mich also gerufen, nicht wahr?«

»Ich rief nicht, aber ich habe sehr gewünscht, daß Sie so schnell wie möglich kämen.«

»Also Sie waren's nicht! Haben Sie bei Yoe nachgeschaut? Ist er schon erwacht?«

»Ich komme eben von ihm! Vor einigen Minuten hat man ihn ins Irrenhaus gebracht! Ich gebe Ihnen mein Wort!« fügte er hinzu, da er Zenons Erstaunen sah.

»Yoe? Nein, nein, nein!« schrie der, und sprang ärgerlich auf ihn zu.

»Er hat einen Tobsuchtsanfall bekommen, und wir mußten ihn fortschaffen,« bestätigte der gelbe Herr traurig. – »Nachdem die Damen fortgefahren waren, ging ich Sie suchen. Ich war sogar auch bei Miß Daisy, ich traf sie an, wie sie sich zur Reise rüstete. Sie fährt nach Indien zurück ...«

»Sie sprach davon.«

»Ich suchte Sie auch in unserem Klub, – und als ich zurückkehrte, war bei Yoe niemand mehr außer dem Arzt und der Pflegerin. Wir hatten uns gerade zum Tee gesetzt und unterhielten uns über den Kranken, da hörten wir plötzlich Schreien und das Krachen von an die Wand geschleuderten Möbeln. Wir laufen ins Schlafzimmer, da steht Yoe mitten im Zimmer, mit einem Stuhl in der Hand, und verteidigt sich gegen einen unsichtbaren Feind. Er schrie etwas ohne Zusammenhang, wurde immer wütender, stieß mit den Beinen, schlug um sich, womit er nur konnte. Erst mit Hilfe der gesamten Pensionsdienerschaft konnten wir ihn unschädlich machen. Er wehrte sich so verzweifelt, daß man ihm sogar die Zwangsjacke anlegen mußte ...«

»Furchtbar! Furchtbar!« stöhnte Zenon, er traute kaum seinen Ohren.

»Ich habe soeben den schwersten Augenblick in meinem Leben durchgemacht! Noch kann ich's nicht glauben ... Verzeihen Sie,« er schaute mißtrauisch auf den Flur hinaus. »Es schien mir, als hätte jemand geklopft.«

»Yoe ist verloren! Der Arzt gibt keine Hoffnung! Ein so tüchtiger Mensch! Ein so mächtiger Verstand und eine so erhabene Seele – im Irrenhaus ...«

»Dank eurem Spiritismus!« Zenon konnte seinen Ärger nicht mehr unterdrücken.

»Vielleicht sind auch wir ein wenig mit schuld daran!« flüsterte Mr. Smith demütig, in aufrichtiger Reue. »Aber vor allen Dingen haben es diese ungeheuerlichen Fakirexperimente gemacht, denen er sich schon seit langer Zeit gewidmet hatte. Er wollte unbedingt ein Yoghi werden, ein heiliger Wundertäter und reiner Geist. Er wünschte, das Unerkennbare zu erkennen ... Sein Wahn hat mich darin bekräftigt, daß derartige Experimente für Europäer verderblich sind! Wer nur daran gerührt hat, ist gestorben oder wahnsinnig geworden. Ich könnte viele bekannte Namen nennen!«

»Und trotzdem hören Sie nicht auf, Apostel dieser Wahrheiten zu sein!« flüsterte Zenon bitter.

»Von dem Augenblick an, wo ich sah, wie Yoe wahnsinnig wurde, habe ich mir zugeschworen, mich nicht mehr mit Spiritismus zu befassen. Ich bin nämlich sehend geworden, ich habe auf meinen Lippen die bittere Wahrheit verspürt, daß wir, wir Europäer, eine niedrigere Rasse sind, daß wir psychisch nur Tschandala sind ... Nur ein Hindu kann die Grenzen der Materie überschreiten, kann in das unsterbliche Antlitz des Lichtes schauen. Das sind die Auserwählten der Auserwählten! Das sind Seelen, die bereits im letzten Awatar sind! Herr, mein ganzer Glaube, die ganze Sehnsucht meines Daseins ist heute eines gewaltsamen Todes gestorben. Jetzt weiß ich, daß der Europäer vielleicht einmal unser ganzes Planetensystem erforschen, vielleicht sogar die Sonne zur Triebkraft seiner Fabriken machen und zu den Sternen fliegen wird, aber nie und nimmer wird er die Grenzen der Materie überschreiten, nie werden seine sündigen Hände den Vorhang lüften, seine blinden Augen werden die enthüllte Isis nicht schauen! Jetzt weiß ich, daß wir nur ein elendes Geschlecht von Parias sind, das durch seine Dummheit kühn geworden ist, ein Geschwür der Welt, das zu einem widerlichen, kriechenden Leben verdammt ist, wie jene Würmer, von denen es unter der Erdoberfläche wimmelt! Und wahrlich, wir sind eines besseren Geschicks nicht würdig, denn die Summe unserer Freveltaten ist größer sogar denn Gottes Barmherzigkeit. Drum wehe dem Tollkühnen, der mit lästerndem Gedanken die vorgezeichnete Grenze zu überschreiten wagt, tausendmal wehe! Wahnsinn und Tod stehen dort auf der Wacht!«

In seinen Worten lag so viel Grausiges, eine so grenzenlose Verzweiflung blickte aus seinen Augen, daß Zenon von abergläubischer Furcht erfaßt wurde. Smith schaute sich ratlos um, schleppte sich wie ein Greis zur Tür, wendete sich noch einmal um und wiederholte:

»Wahnsinn und Tod.«

Kaum waren seine Schritte im Flur verhallt, Zenon stand gerade mitten im Zimmer, er hatte sich vom Schreck noch nicht erholt, da meldete der Diener:

»Die Koffer sind hinuntergeschafft, der Wagen wartet! Es ist Zeit zur Abfahrt ...«

Zenon wunderte sich gar nicht darüber, er wußte in diesem Augenblicke bereits, wohin er reisen würde, und wessen Stimme ihn unaufhörlich rief. Er machte sich noch ein wenig zu schaffen, er wollte etwas zusammenpacken, suchte sehr geschäftig nach etwas, versuchte die Manuskriptblätter zu sammeln, doch alles entfiel seinen Händen, er vergaß wieder alles, von einer freudigen Erregung der Erwartung erfaßt.

»Heute also! Jetzt! Sofort!«

Eine vorübergehende Vision des Glücks versetzte seine Seele in unsagbare Verzückung. Er war ganz in Flammen, wie die Sonne, und die Kraft eines wahnsinnigen Verlangens riß ihn hoch empor zu in den Himmel ragenden Höhen, bis dort hinauf, von wo dieses gebieterische Geheiß kam.

»Daisy! Daisy!« rief er in Ekstase, schon hatte er sich selbst und das Leben vergessen, als hätte er sich in die Unendlichkeit gestürzt. »Ich harre der Erlösung! Ich harre ihrer in Sehnsucht und grenzenloser Liebe!« betete er mit der Glut eines Verehrers und Sklaven.

Plötzlich schien Ada so deutlich vor ihm aufzutauchen, daß er ein wenig zu sich kam; es durchzuckte ihn blitzartig und schüchtern der Gedanke:

»Was geht mit mir vor?«

Er hörte das klägliche Schluchzen Betsys. Unwillkürlich schaute er sich um und versuchte einen Augenblick lang, klar über sich zu werden. Doch unter seiner Hirnschale war ein Chaos und Strudel von zerfetzten Gedanken und Bildern.

»Onkelchen, du bist so gut, so lieb, so furchtbar mein, wie Papa ...«

Ja, wer plappert denn das? Wessen Händchen umfangen seinen Hals? Wessen Augen sind es denn, die ihn jetzt mit so grenzenloser Liebe anschauen? ... Er wankte erschreckt, eine zentnerschwere Last hatte sich auf seine Seele gewälzt und zog ihn hinab in lärmende, abscheuliche Tiefen.

Zurück? In die Fesseln jedes Tages, jedes Zufalls? In die Sklaverei ewiger Sorgen? In das gemeine Joch der Menge und der Pflichten? Und dann für immer? ... »Nein, nein, nein!« erhob sich in ihm die mächtige Stimme des Protestes. »Lieber den Tod als solch ein Leben, als dieses sklavische, kriechende Würmerdasein inmitten von Schmerzen, Furcht und Finsternis ...!«

»Wahnsinn oder Tod,« hörte er plötzlich die Stimme Smiths, sie tönte wie Grabgeläute in seinem Hirn.

»Was anfangen? Was tun?« Alle Gespenster des Lebens zerrten an seinem Herzen, durchtränkten ihn mit dem Gifte der Unruhe, der Furcht und der Unsicherheit.

Eine wahnsinnige Angst heulte ihm in die Ohren. Doch jene gebieterische Stimme erhob sich wieder, mit einem Klange, der stärker war als alles, stärker als Leben und Tod ... Er krümmte sich in dem letzten, verzweifelten Kampfe mit sich selbst.

Noch ein Augenblick instinktiven Zögerns. Noch ein Augenblick der Überwindung seiner letzten Erinnerungen, ein Augenblick des Wankens, wie bei einem angesägten Baume, und er stürzte hinunter, wohin ihn seine Bestimmung rief ...

»Und wäre es Wahnsinn und Tod! ... Auch dann! ...« rief er herausfordernd dem eigenen Willen zu.

*

... Und vor Morgengrauen verließ der »Caliban« den Hafen mit unbekanntem Ziel.


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