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Das Zimmer war grau und traurig. Denn der Tag war regnerisch, und der Nebel drang wie Rauchschwaden in die Wohnung und überzog die Wände und Möbel mit einer aschgrauen, klebrigen und kalten Hülle; der Regen schlug an die triefenden Scheiben und verursachte das einzige Geräusch, das in dieser toten Stille unaufhörlich zu hören war. Yoe saß an dem Bette Zenons mit dem Arzte, der jeden Augenblick nach dem Puls des Schlafenden fühlte und ungeduldig auf die Uhr schaute.
Das Schweigen wurde unsagbar langweilig und einschläfernd.
»Ich bin neugierig, wie lange dieser Schlaf noch dauern wird?« flüsterte der Arzt.
»Höchstens eine halbe Stunde.«
»Drei Tage und drei Nächte, das ist ein geradezu unbegreiflicher Schlaf.«
»Ja, für die Medizin!«
»Für jeden,« entgegnete der Arzt mit Nachdruck und hob stolz den Kopf.
Yoe lächelte mit sanfter, aber vernichtender Nachsicht.
Und wieder herrschte Schweigen und eine mühsam unterdrückte Ungeduld; der Arzt schaute durchs Fenster, auf das durchsichtige, schräge Gewebe des Regens, der auf die schwarzen, gebeugten Bäume niederfiel, Yoe saß unbeweglich da, mit geschlossenen Augenlidern, und der im Nebenzimmer umhergehende Mr. Smith schaute jeden Augenblick durch die Portiere, bis er sich endlich leise hineinschob und ängstlich sagte:
»Er muß vor allem vergessen, – das wird ihn am ehesten heilen ...«
»Was soll ich vergessen?« fragte plötzlich Zenon und schlug die Augen auf.
»Die ... eigene Krankheit!« beeilte sich Yoe zu entgegnen, während er seine Hand faßte.
»Was, ich bin krank?« Zenon war ganz erstaunt.
»Es ist schon alles vorüber, bemühe dich nicht, dich daran zu erinnern, – es war nichts Gefährliches.«
»Aber ich kann mich an nichts erinnern.«
»Sie sind offenbar infolge von Überarbeitung ohnmächtig geworden,« flüsterte Mr. Smith.
»Nein, nein, Mr. Smith scherzt,« widersprach Yoe energisch.
»Ich bin in Ohnmacht gefallen, wann?« Zenon versuchte die Fetzen von Erinnerung, die in seinem Hirne herumschwirrten, zusammenzuleimen, doch er fühlte sich plötzlich völlig im Dunkeln, die schwachen Funken entglitten seinem Bewußtsein, wie das Rettungsseil den Händen des Ertrinkenden, er schaute Yoe an und erbebte ... Er bemühte sich aufzustehen ... Er wollte schreien ... Er wollte etwas sagen und blieb steif liegen, mit ausgestreckter Hand ... mit einem stummen Laute auf den erbleichten Lippen ... mit verdrehten Augen ... Doch plötzlich weckte er sich, gebannt von dem stahlharten, hypnotisierenden Blicke Yoes, und verfiel wieder in Schlaf.
»Du wirst bis zum Morgen fest und ruhig schlafen und wirst gesund erwachen, – du erinnerst dich an nichts mehr, an nichts!« suggerierte ihm sein Freund mit aller Kraft, während er lange einschläfernde Handbewegungen über ihm machte.
Der Arzt wollte protestieren, aber es war schon zu spät. Zenon war in einen steinernen Schlaf verfallen, taub gegen alle Zurufe und Versuche, ihn zu wecken.
»Du hörst mich allein, verstehst nur mich und antwortest nur mir,« flüsterte ihm Yoe zu und preßte mit den Fingern seine Augen und Schläfen.
»Ich wünschte, daß er ein wenig ausruhte und Nahrung zu sich nähme; er ist fürchterlich erschöpft,« rechtfertigte sich der Arzt.
»Ich wartete auf sein Erwachen, um ihn sofort einzuschläfern, ehe das Bewußtsein in ihm erwachte, – später wäre es zu spät, niemand wäre dann imstande, die erwachten Gedanken zu bändigen.«
»Kann man denn den Gedanken so einschläfern, daß er, wenn er aufwacht, sich an nichts mehr erinnert?«
»Aber man kann ihn herausreißen und im Vergessen ertränken.«
»Ein interessantes Experiment, doch scheint mir der Erfolg zweifelhaft.«
»Es ist durchaus notwendig für seine Rettung und das Sicherste!« sagte Yoe hart.
Sie gingen in das andere Zimmer hinüber. Der Arzt fühlte Zenon nach dem Puls, maß die Temperatur und ging hinaus.
Mr. Smith flüsterte, nachdem er die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ängstlich:
»Was ist ihm zugestoßen? Ist das der Einfluß Daisys?«
»Ich weiß nicht ... Ich fürchte, es ist so ... Die Sache ist völlig rätselhaft ... Ich weiß selbst nichts und verstehe nichts ... Aber ich werde mit ganzer Kraft über ihm wachen ... Ich werde bis zum Morgen bei ihm sitzen.«
Mr. Smith machte sich im Zimmer zu schaffen, sah mit seinem hungrigen Schätzerblicke alle Bilder an, streichelte mit wollüstigen Fingern die Bronzefiguren und fragte, mit einer katzenartigen Bewegung heranschleichend, demütig:
»Trittst du wirklich aus unserer Gemeinde aus?«
»Ich habe es Euch doch deutlich und entschieden genug mitgeteilt.«
»Brichst du für immer mit uns?«
»Nein, ich gehe nur von nun an meinen eigenen Weg.«
»Ich bitte dich im Namen der ganzen Brüderschaft, geh mit uns!«
»Wozu, wohin?« entgegnete Yoe ungeduldig, beinahe ärgerlich.
»Du weißt, du hast zusammen mit uns den Tempel errichtet.«
»Ja, aber ich bin sehend geworden und gehe dem Lichte entgegen.«
»Er wird zusammenstürzen, wenn du ihn nicht mehr stützest.«
»Möge alles zusammenstürzen, was nicht von selbst steht, was nicht von der Macht des eigenen Inhalts gestützt wird. Ihr wart mir eine Etappe auf dem mühseligen Weg zur Wahrheit, ich bin Euch dankbar dafür, aber ich muß weiter gehen auf der Bahn meiner Bestimmung.«
»Ich fühle es, aus dir spricht Verachtung,« flüsterte Smith traurig.
»Nein, ich habe nur genug von diesen tanzenden Tischen, diesem Klopfen, diesem Gestammel aus dem Grabe und diesem Herumtappen im Staube dummer Tatsachen! Euer Spiritismus ist nur ein vulgärer und wilder Fetischismus von zufälligen Kräften und halluzinären Erscheinungen, ist nur der Glaube von Blinden und Schwachen. Ihr habt eine Kirche gegründet, in der ein Medium regiert, das mehr oder minder betrügerisch ist; eine Kirche, die zu nichts führt, nichts erhellt und niemand erlöst!«
»Warst du denn nicht ihr Apostel?« stöhnte Mr. Smith.
»Das ›gestern‹ ist nur ein Schatten im Lichte des ›heute‹, das vom ›morgen‹ träumt ...«
»Arbeiten wir denn nicht für das ›morgen‹?«
»Nein, die Welt verfault in Schande und Verbrechen, und Ihr bettelt um Mitleid bei toten Schatten und verlangt nach Wundern, nur um Eure erhitzte Einbildungskraft zu befriedigen. Das von Millionen heiß ersehnte ›morgen‹ wird nicht daraus erstehen, denn das alles ist nur erniedrigende Furcht vor dem Unbekannten. Man erlöst keinen mit Jammern und Tränen ... Die schlechte Welt muß man zermalmen und bis auf die Fundamente zerstören, damit sie neu auf den Ruinen erstehe, man muß sie schaffen durch eine Tat, durch eine Tat des Willens, dem Gnade Kraft verleiht. Wer ihrer nicht teilhaftig wird, ist nur Dünger für die kommenden Geschlechter ... Wer sein will, muß seinen eigenen Leichnam töten; damit er werden kann, muß er das Leben und sich selbst bezwingen. Die Unsterblichkeit durchfließt alles in endlosem Strome, doch unsterblich ist der Wille allein, von der Gnade und der wiederkehrenden Sehnsucht nach ›Ihm‹ erleuchtet. Ich sage zu viel und zu wenig zugleich, verzeih, ich will mich kurz fassen: unsere Wege gehen an diesem Scheidewege auseinander, dort am Baume mögen die Furchtsamen und Schwachen stehen bleiben, mögen sie auf Erbarmen warten, wir werden in den Abgrund hinuntersteigen!«
»Überhebung ist dein Glaube,« sagte Mr. Smith bebend und ging hinaus.
»Nein ... nein ...« flüsterte Yoe, in Nachdenken verfallend.
Die Dämmerung begann zu sinken, das Geräusch in den Straßen verstummte, entfernte sich, Lichter begannen im Nebel durch unbewegliche, grauumwobene Bäume zu schimmern.
Zenon schlief einen gleichmäßigen und festen Schlaf, das gedämpfte Licht neben seinem Bett leuchtete in der Dunkelheit wie ein goldener Schimmer, sonst war die Wohnung in undurchdringliche Dämmerung gehüllt.
Yoe schloß die Türen, ließ die Vorhänge an den Fenstern herunter und stand lange im tiefsten Nachdenken, in ein stummes Gebet versunken, wie er es immer vor einer Seance verrichtete, endlich ging er in das erste Zimmer, setzte sich auf den Boden neben den Kamin und lehnte seinen Rücken an die Wand; durch die geöffneten Türen und geteilten Portieren konnte man in der Ferne die schwachen Umrisse des Schlafenden sehen. Yoe saß auf gekreuzten Beinen, um in sich selbst zu versinken und sich zu spalten, um als sein eigener Doppelgänger nach außen in Erscheinung zu treten und sich selbst vor sich zu sehen, ohne die Einheit zu zerstören, sich zu spalten und zwei Identitäten dieser Einheit zu sein, sich in dieser Spaltung zu verdoppeln, ohne aufzuhören, er selbst zu sein; dies waren die einleitenden Übungen Yoes, die er mit eiserner Konsequenz unter dem Einfluß und der Anleitung des Mahatma durchführte.
Bald wurde er unbeweglich und erkaltete gleichsam; trotz der Qual dieser krampfhaften Stellung bewegte er sich nicht ein einziges Mal, zuckte er auch nicht vor Schmerz, er überwand langsam den Körper, tötete die Empfindlichkeit, und während er sich an diesen ohne Zucken ertragenen Schmerzen labte, konzentrierte er die zerstreuten Gedanken auf einen Punkt, er verschloß sie alle in das eine in seiner Gewalt entsetzliche Verlangen: sich selbst zu erblicken.
Vergebens erwachten in der Tiefe seines Hirns lebendige, zuckende Erinnerungen; vergebens drangen lange Reihen von Ereignissen, bekannte Gesichtszüge und Stimmen geräuschvoll in das Feld seines Bewußtseins und erfüllten seine Seele mit beinahe sichtbaren Visionen, er tötete sie und stieß sie hinab auf den tiefsten Grund des Vergessens, immer gewaltiger nahm er Besitz von sich selbst, erstarrte er und verfiel er in eine bewußt hervorgerufene Katalepsie.
Die weit geöffneten Augen schauten unbeweglich, gläsern und wachsam vor sich hin, in der schrecklichen Erwartung des Wunders.
Er drängte sich langsam aus sich heraus, befreite sich von den Fesseln des Körpers, schälte mit den Krallen des Willens die eigene Seele aus sich heraus, indem er aus ihr sein zweites, eigenes und nur von ihm selbst gesehenes und gefühltes Dasein schuf.
Die Stunden flossen langsam, leise und unbemerkt dahin, sie glitten vorüber wie die Bilder eines nächtlichen Traumes, sie wurden, ohne zu sein, sie kamen aus unbekannten Tiefen und erstarben vergessen, die Uhr kündete sie an, als sie nicht mehr da waren und noch nicht nahten, sie schufen alles selbst und wurden nichts, sie zeichneten ihre blassen Spuren mit Sehnsucht und Träumerei, manchmal mit Tränen und zuweilen mit dem Tode.
Die Stadt schlief den schweren Schlaf arbeitsmüder Steine, in beunruhigende Träume versunken, die stille Nacht schaute mit blindem Gesichte auf die erkaltete Welt.
Zenon schlief ununterbrochen, über die Wohnung breitete sich ein starres, schlafendes Schweigen aus, nur dann und wann flüsterten längst erstorbene Klänge und Farben ... Irgendein ängstlich verborgenes Leben begann zu erstehen ... Totes schien zu leben ... Die Wände flüsterten ... Die Bronzestatuen sangen traurig, – wie stöhnende Seelen, die um ihre körperlichen Awatare irren ... Die harten Mahagonimöbel erhoben ihre sehnsüchtige Stimme ... Und aus den auf dem Kamine liegenden Muscheln klang leise das sehnsüchtig traurige Rauschen ferner Meere, die sich in der Sonne badeten ... Ein anderes Leben, das Leben jedweden Dinges, bebte in der Dunkelheit.
Im Schatten verbergen sich furchtbare Erscheinungen, die Nacht hat ihr ewiges Geheimnis.
Die Einsamkeit und die Stille enthüllen manchmal ihren unbekannten Schoß, alte Spiegel fangen zu plaudern an und zeigen, was sich einst in ihnen widerspiegelte.
Alles, was da ist, hat seine eigene Seele, dem Schweigen und dem Geheimnis angetraut.
Yoe saß immer noch da, in der äußersten, beinahe versteinerten Anspannung des Willens, er war nur noch ein Traum, der ihn außerhalb seiner selbst gebar ...
Ihn hüllte das Schweigen langsam sterbender Stunden ein, er wußte von nichts, starr in die Tiefen des furchtbaren Verlangens schauend, seine zusammengekauerte Gestalt begann wie ein phosphoreszierendes Bild aus der Nacht emporzutauchen, er leuchtete, wie von einem bläulichen Schimmer übergossen, seine Augen glänzten wie erstarrte bläuliche Lichtstreifen ... Und seine gekrümmten Finger, seine Haare, alle seine Gelenke strahlten einen leuchtenden Staub aus, er war ganz darin gebadet! Plötzlich erbebte er in sich selbst, als hätte er sein Sehnen noch mehr angespannt ... Denn siehe, vor ihm dämmerte ein Schatten ... In dem schwarzen Abgrunde vor ihm wirbelte ein nebliger, verwehter Umriß ... der erzitterte leuchtend ... Er wurde langsam, nahm menschliche Gestalt an und wurde unbeweglich ... Er begann einen zu sehen, der ihm gegenübersaß und vor sich hinstarrte ...
Yoe verstand, daß jenes ersehnte Wunder geschehen war, er sah sich schon auf gekreuzten Beinen sitzend und unbeweglich, sich gleich und er selbst, er schaute in seine eigenen Augen, in sein eigenes Gesicht, als hätte sich sein Spiegelbild losgelöst und ihm gegenübergesetzt.
Er wankte plötzlich, für einen Moment wurde sein Bewußtsein umnebelt ... Als er sich wieder erhob, konnte er nicht verstehen, wo er sei, welche von diesen beiden Spaltungen er wäre.
Er erhob sich plötzlich von der Erde, in der heiligen Freude über das Wunder, das zweite Ich erhob sich gleichfalls, sie standen einander gegenüber, mit demselben glückseligen Lächeln, mit demselben gegenseitigen Sichfühlen.
Jede Regung der Seele, jeder Gedanke, jede Gefühlsaufwallung war doppelt und zugleich dieselbe, geteilt und doch eins.
»Das dort bin ich, ich!« dachte er, fühlte er vielmehr, sich vorwärts neigend, – sein Doppelgänger tat dasselbe, und mit demselben Gefühl der Verblüffung.
Er rückte um einen Schritt näher an sich heran, jener gleichfalls, sie schauten sich in die Augen, sie schauten lange fest in ihre tiefsten Tiefen, mit jenem Gefühl furchtsamen Staunens, mit dem der Mensch manchmal in sich selbst hineinschaut, denn es gibt nichts Furchtbareres, als bewußt in die Abgründe des eigenen Ichs hinabzugleiten.
»Und wo bin ich denn?« Er bemerkte mit seinen ewig wachen Gedanken, daß er das ganze Zimmer gleichzeitig von zwei einander entgegengesetzten Punkten sah ... Und doch empfand er sich in beiden Erscheinungen mit der gleichen Macht und Vollkommenheit.
Er schloß die Augen, um stiller und freudiger diesen wunderbaren Traum von sich selbst zu träumen, er vertiefte sich in einen nicht mehr zu beschreibenden Traum, in den Traum vom Traume.
Zuweilen kehrte er aus dem unsterblichen Lande der Sehnsucht zurück, wie ein vom einsamen Fluge im grenzenlosen Raum ermüdeter Vogel, er umkreiste das Leben und enteilte erschrocken in neue Abgründe der Träume von Träumen.
Zuweilen öffnete er die Augen, schaute sich mit einem Lächeln unsagbarer Rührung an, mit einem Lächeln übermenschlichen Glückes, und wieder träumte er die Unsterblichkeit.
Zuweilen aber kehrte er mit der ganzen Gedächtniskraft des Körpers auf die Erde zurück, er erinnerte sich an das Leben und umfing alles, und dann erhob sich jenes zweite Ich vor ihm, bewegte sich langsam und unaufhörlich in der Wohnung umher und beschäftigte sich mit etwas, was ihm nicht ganz verständlich war, mit etwas Nichtigem, sicher Irdischem, denn er flüsterte, als er dies sein Lebens Awatar sah, beinahe befehlend:
»Gehe, du mein Gedanke, werde Leben ... erfülle deine Bestimmung ... Gehe ... ich kehre zu Ihm zurück ...«
Und er neigte sich voller Sehnsucht in die Arme der Unendlichkeit und fiel langsam in das geheimnisvolle, einsam thronende Schweigen.
Die Nacht nahte bereits ihrem Ende, das Zimmer wurde langsam von grauer Dämmerung erfüllt, wie von dem aschgrauen Schimmer in Staub aufgelöster, in der Stille gestorbener Stunden ... Aus der Dämmerung tauchten langsam und träge die Umrisse der Möbel hervor.
Der Alltag erwachte aus tiefem Schlaf der Ruhe ... Die ersten schüchternen Stimmen des Tages wurden laut ... Der Morgenwind schüttelte rauschend den kalten Tau von den gekrümmten Bäumen, die Straßen begannen dumpf zu stammeln, der Tag stürzte sich auf die Erwachenden wie ein hungriger Wolf und packte sie mit den reißenden Klauen blutiger Mühsal.
Nur Zenon schlief immer noch, und Yoe saß unter der Wand auf gekreuzten Beinen wie erstarrt, mit weitgeöffneten Augen, doch in völliger Katalepsie.
Erst ein schrilles, heftiges Läuten an der Eingangstür riß ihn plötzlich aus der Erstarrung; er sprang auf.
Der Malaie stand auf der Schwelle, sichtlich befangen.
»Was willst du? Ich habe dir doch gesagt, du solltest zu Hause auf mich warten.«
»Miß Daisy hieß mich Sie wecken und Ihnen sagen, Mr. Zenon hätte genug geschlafen, und man müßte ihn allein lassen.«
»Bist du ihr auf der Treppe begegnet?« Yoe war erstaunt über dieses merkwürdige Geheiß.
»Sie kam nach oben ... befahl mir zu gehen,« entschuldigte der Malaie sich ängstlich.
»Es ist gut, richte das Bad, ich komme sofort.«
Yoe war noch verblüffter, als er Zenon erblickte, der im Bette saß und mit den Fingern auf der Decke verstreute Veilchen zusammenraffte.
»Schläfst du schon lange nicht mehr?«
»Vor einem Augenblick bin ich erwacht ... Wer hat das gebracht und hergestreut?«
»Gerade wollte ich dich danach fragen.«
»Ich träumte, Daisy hätte einen Strauß Blumen auf mich geworfen, ich träumte es vor einem Augenblick; als ich erwacht war, dachte ich, es wäre nur ein Traum, – diese Blumen.«
»Nein, das sind wirkliche Blumen, irgendein geheimnisvoller Apport!« flüsterte Yoe, während er ihm half, die Veilchen aufzulesen; sie bedeckten das ganze Bett, sie waren frisch und dufteten und glänzten noch vom Tau, so daß sie die ganze Wohnung mit Frühlingsduft erfüllten.
»Wie fühlst du dich?« fragte er dann.
»Völlig wohl, doch was ist mit mir eigentlich vorgegangen? Ich erinnere mich an nichts.«
»Ach, es ist nicht der Rede wert, du bist auf der Straße ohnmächtig geworden, das ist alles ...«
»Ich bin ohnmächtig geworden? ... Merkwürdig, ich kann mich an nichts mehr erinnern ... Ich habe zwar eine Spur von Erinnerung, aber die ist so nebelhaft, daß ich gar nicht klug daraus werden kann ... Ich fühle nur eine Art Unruhe, es ist, als wäre ich im Nebel ... Und jetzt diese Veilchen ...«
»Sie sind von ihr!«
»Sie war hier, war bei mir?« rief er erstaunt.
»Ein gewöhnlicher Apport, sie brauchte nicht erst hierherzukommen, um sie dir auf die Brust zu werfen.«
»Es kann sein, aber ich kann an diese wundersamen Apporte nicht recht glauben.«
»Wunder geschehen mit dir, geschehen um dich herum, du aber bemerkst nichts, bist blind gegen das Licht,« sagte Yoe mit einer gewissen Bitterkeit.
»Es ist wahr, es gehen außergewöhnliche, unerklärliche Dinge mit mir vor ...«
Er erinnerte sich plötzlich an zerstreute Trümmer von Geschehnissen und Gefühlen.
»Hast du heute Nacht bei mir gewacht? Ich entsinne mich dessen unklar.«
»Ich war bei dir, ich war ...« Yoe zuckte plötzlich zusammen und warf sich heftig nach hinten, denn wieder erblickte er sich gegenüber – sich selbst.
»Was hast du denn?«
»Nichts ... nichts ... sage mir, wo ich bin,« flüsterte Yoe ängstlich, indem er mit den Blicken sein zweites Ich verfolgte, das sich gleichfalls über Zenon neigte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
»Nun, hier, bei mir, ich verstehe nichts.« Die Erregung Joes beunruhigte Zenon.
»Nimm meine Hand ... halte sie fest ... fester,« stöhnte Yoe kläglich und sank auf den Stuhl; mit geschlossenen Augen, nur halb bei Bewußtsein, saß er lange da, ohne sich zu bewegen, in der furchtbarsten Angst, er würde, sobald er die Augen öffnete, sich wieder erblicken.
»Sind wir allein?« fragte er kaum hörbar.
»Aber vollkommen allein, niemand ist hereingekommen.«
»Schau nach, schau nach, ich bitte dich ...« Angst zitterte in Yoes Stimme.
»Ich versichere dir, außer uns ist niemand hier.«
Da öffnete Yoe die Augen und schaute sich ängstlich spähend um.
»Ich fühle mich furchtbar ermüdet und schläfrig,« sagte er nach einer Weile.
»Was war dir?«
»Es schien mir einen Augenblick, als ob jemand hier hereingekommen sei.« Yoe schüttelte sich nervös und sah sich im Zimmer um. »Aber wenn es dir möglich ist, fahre heute nach Bartelet-Court, dort erwartet man dich mit Sehnsucht.«
»Ich werde sicher hinfahren, gestern mit dir konnte ich nicht hin, es war spät und ...«
»Gestern? Vor drei Tagen war ich dort, erinnere dich nur, erinnere dich,« wiederholte Yoe und bohrte seine Stahlaugen in ihn.
»Drei Tage ... Also war ich die ganze Zeit nicht bei Bewußtsein ... Ich konnte damals nicht zu Betsy fahren, weil ... Ja, ich weiß schon ... Ich erinnere mich ...«
Er sprang auf, von Erinnerungen geblendet, der Schleier in ihm zerriß, so daß er plötzlich alles sah, was er erlebt und gesehen hatte.
»Erinnerst du dich jetzt,« fragte Yoe leise, – er wollte ihm sein Geheimnis entlocken.
»An alles, an alles ...«
»Erzähle es der Reihe nach, das wird dich weniger ermüden ...« flüsterte der andre ihm hinterlistig zu, ohne die hypnotisierenden Augen von ihm abzuwenden.
»Nein, ich kann nicht, nein!« Zenon wehrte sich heftig, denn plötzlich erklang es in seinen Ohren: »Sei ohne Furcht, schweige!«
»Wenn es ein Geheimnis ist, dann behalte es für dich, aber noch einmal sage ich dir: hüte dich vor Daisy, sie wird dein Unglück werden,« flüsterte Yoe drohend.
»Es wird sein, was kommen wird ... Möge geschehen, was geschehen soll, – es liegt nicht in meiner Macht, die Bestimmung abzuwenden,« antwortete Zenon mit unerwarteter Sicherheit.
»Vergib, doch ich mußte meine Pflicht als Freund erfüllen.«
»Deine Warnungen sind mir nicht unangenehm; im Gegenteil, sie erfüllen mich mit Dankbarkeit gegen dich ...«
»Und du fürchtest nichts?« fragte Yoe.
»Ich weiß nicht, mir ist, als wäre sogar die Möglichkeit, Furcht zu fühlen, in mir erstorben.«
Yoe drückte ihm die Hand und entfernte sich schweigend.
»Möge geschehen, was geschehen soll,« flüsterte Zenon sich selbst zu, mit einer stillen und vollkommenen Entschlossenheit. Er wehrte sich nicht mehr und versuchte nicht, sich seinen Bestimmungen zu entwinden, er fühlte plötzlich in den Tiefen seines Wesens, gleichsam im Urkeim seiner Seele, daß er gehorsam sein müsse, – so neigte er sich denn demütig vor dem Unbekannten und erwartete sein Urteil ohne Beben.
Er erinnerte sich jetzt an alles, auch in den kleinsten Einzelheiten, doch er wunderte sich über nichts mehr, war über nichts entsetzt, noch wollte er die ihn umgebenden Geheimnisse verstehen ... Es kam ihm nicht einmal der Gedanke: Warum? Wer? Es war ihm, als wäre er in einer Schlacht gefallen und würde von den gedrängten Reihen der Kämpfenden zusammengepreßt, im Sturmschritt fortgerissen, als ginge er zusammen mit allen, als sähe und täte er etwas unbewußt, als denke er sogar automatisch; doch wenn sich die Reihen auflösten, müßte er leblos hinsinken. Er fühlte sich nur körperlich merkwürdig schwach und so gerührt, daß er, als er Betsys Briefe las, über ihre Besorgnisse in Tränen ausbrach.
»Das arme Kind!« dachte er mitleidig, ohne zu wissen, warum er Mitleid mit ihr empfand.
Doch das dauerte nicht lange, dagegen bemächtigte sich seiner eine unerklärliche Unruhe und Erregung; er war nicht imstande, an etwas zu denken, noch sich mit etwas zu beschäftigen; er sprang alle Augenblicke auf, denn es schien ihm, daß ihn weit in der Ferne jemand rufe, daß er irgendwohin eilen müsse, etwas tun, mit jemand zusammentreffen müsse ... Er erinnerte sich einer dringenden Angelegenheit und vergaß wieder alles, denn diese rufende Stimme tönte immer vernehmbarer in ihm. Aber wer riefe und wo, – das konnte er nicht verstehen. Er war ratlos und lauschte angespannt.
Ja, er war schon ganz sicher, daß ihn irgendeine gedämpfte, ferne Stimme rufe, daß ihn jemand erwarte, an ihn denke ... Tausendmal stürzte er sich mit angespannten, suchenden Gedanken in die Leere des Enträtselns, und tausendmal sank er wieder zusammen, von vergeblicher Anstrengung erschöpft.
»Wer ruft mich?« fragte er laut, in höchster Ungeduld.
Es wurde ihm keine Antwort, doch auch dies dumpfe Rufen hörte nicht einen Augenblick auf, es zitterte in seinem Herzen wie ein ferner, ferner Schrei der Sehnsucht.
Und zuweilen hörte er es so deutlich, als riefe ihn jemand hinter dem Fenster, durch die Wand, oder draußen im Flur, doch hinter den Fenstern rauschten nur die Bäume und zwitscherten die frierenden Vögel, und im Flur war es leer.
Er kehrte in seine Wohnung zurück, immer erregter und so ermüdet von der vergeblichen Anstrengung, etwas zu enträtseln, daß er sich schließlich auf die Ottomane legte und einschlief. Mittag war vorüber, schon sank die Dämmerung, als er erwachte.
»Komm!« so erscholl eine Stimme über ihm.
Er erhob sich eiligst und schaute sich mit bewußtlosen Augen im Zimmer um. Es war niemand da, schon breitete sich dichtere Dämmerung aus, graue, trübe Wolken verhüllten alles, die Möbel waren kaum in ihren Umrissen zu sehn, die Spiegel schimmerten grau wie trübe Eisblöcke.
Noch lauschte er diesen in der Stille ersterbenden Tönen, als der Spiegel plötzlich von einem Blitze erhellt wurde; in den Tiefen des Spiegels schien etwas zu werden, Gruppen von Bäumen und Blumen tauchten hervor wie aus sonnendurchleuchtetem Nebel.
Er blickte sich ängstlich um, das Zimmer wurde langsam dunkel und versank in Nacht, doch dort hinter der Spiegelfläche, in einer wundersam aufleuchtenden Helle, tauchte gleichsam die Vision eines Tropenwaldes auf, ein hoher Palmenwald überdachte einen unendlich langen Weg, – wie ein grüner Tunnel. Er näherte sich, er konnte die Augen nicht losreißen, denn aus jenen Tiefen kam ihm Daisy entgegen.
»Komm!«
Er sah die Bewegung ihrer Lippen, ihre rufenden, glühenden Augen. Er erbebte in den tiefsten Tiefen, er hatte die Stimme erkannt und ging zu ihr, ging gleichsam in jene Spiegeltiefen hinein; er hatte das Bewußtsein davon verloren, was mit ihm geschehe, doch ging er mit einem freudigen Beben, weil er die Gesuchte endlich gefunden hatte. Er schritt durch das dunkle Speisezimmer, immer auf Daisy starrend, die auf ihn zukam.
Er kam plötzlich zur Besinnung: er befand sich in der Orangerie.
Ja, Daisy erwartete ihn dort am Springbrunnen mit einer Magnolienblüte in der Hand; Bagh schmiegte sich zärtlich an ihre Kniee und schaute ihr in die Augen.
»Da bin ich,« flüsterte er, vor ihr stehenbleibend.
»Sie haben eine widerspänstige Seele.«
Er schaute sie verständnislos an.
»Längst schon sehnte ich mich danach, Sie zu sehen, schon lange habe ich Sie herbeigesehnt!«
»Ich hörte es, ohne zu wissen, wer mich riefe.«
Der Springbrunnen flüsterte leise und übersäete die Mandelblüten, die wie eine rosige Wolke aus dem grünen Strauchwerk emporragten, mit feinem Wasserstaub; ein starker, betäubender Blumenduft erfüllte die Orangerie.
»Erinnern Sie sich?« fragte sie, seine Hand berührend.
»An alles ...«
»Wer mit mir dort war, gehört ›Ihm‹.«
»Ich bin dein, Herrin, dein,« wiederholte er, den Kopf vor ihr neigend.
Ein Lächeln, wie ein heiteres Wetterleuchten, erhellte ihr blasses Gesicht, ihre Augen flammten auf, und die purpurnen Lippen flüsterten:
»Soll es also geschehen, ja?«
»Das, was geschehen soll! Ja, ja, das dachte ich, das ersehne ich.«
»Und bist du bereit?«
»Und gälte es auch, zu sterben!« rief er leidenschaftlich, die ganze Welt vergessend. Er hatte seine ganze Seele in ihr ertränkt. Er blickte demütig zu ihr auf, mit sklavischen Augen der Hingebung und der Abhängigkeit, er fühlte, er war für immer an ihre Seele gefesselt; wenn sie sagen würde: Stirb! – er würde diesem Befehl mit Wonne gehorchen.
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn tief in das Dunkel der Bambusbüsche. Dort setzten sie sich. Der Panther schaute mit grünen, wachsamen Augen auf sie. »Ich habe dir einige Worte zu sagen, einige wichtige Worte.«
»Ich habe mit Sehnsucht darauf gewartet.«
»Wenn du willst, können wir zu jenem sonnigen Gestade fahren, von dem du einmal erzähltest ... Auf einige Wochen ... Wir werden für die Menschen verschollen sein ... Wir werden ein übermenschliches Glück träumen ...«
»So führte also der Weg, der damals auf der Karte bezeichnet war, dorthin?«
»Er führte zu dem Glück, das dem Leben gestohlen ist ...!« flüsterte sie.
»Ich kann nicht erwachen!« sagte er, seinen Kopf zwischen die Hände pressend.
»Wir werden auf einige Wochen verschwinden, – aber dann muß die Erinnerung an diese Zeit in uns sterben ... Wir werden einander so fremd und fern sein, wie je.«
»Wie kann die Erinnerung an das Glück in uns sterben!«
»Willst du ...?« fragte sie wieder und sah ihm ganz nah in die Augen.
Er erfaßte ihre Hände und preßte sie an seine Lippen.
»Sprich zu mir, erwecke mich, daß ich glauben kann, daß dies kein Traum ist, ich flehe dich an!« flüsterte er ohne Besinnung und wie im Fieber.
Sie zog sich fest an ihm, mit glühenden Augen, die einem flammenden Abgrunde glichen, sie wurde wie eine wunderbare Blume, die plötzlich ihre volle Blütenpracht entfaltet und erfüllt ist von betäubenden Düften; ihre Lippen bebten, sie neigte sich fast bis an seinen Mund und flüsterte:
»Nur einen Traum können wir zusammen träumen; das Leben – dürfen wir nicht.«
»Und wann soll das geschehen?« fragte er voller Furcht, daß alles bald entschwinden würde.
»Vielleicht heute noch ... Vielleicht morgen ... Ich weiß nicht; aber wenn der Augenblick gekommen ist, werde ich vor dir erscheinen, und du ...«
»Und ich werde dir folgen! O Daisy! O Daisy! Ich träume Unsagbares.«
»Wir werden voneinander träumen ... Wir werden unsere früheren Leben und Awatare noch einmal träumen.«
»Deine Worte erwecken mich, ich bin in dir auferstanden.«
»Denn ich bin du, wie eine Blume ihr Duft ist!«
»Ich muß dich schon früher geliebt haben, früher und immer ...«
»Denn immer war ich bei dir, und immer war ich deine Seele ...«
»Ich weiß ... vorzeiten ... vor dem Sein ... Ich muß eine Sonne gewesen sein und war erloschen und untergegangen in der Grenzenlosigkeit deines heiligen Auges.«
»Wirst du mit mir gehen? ...« Sie bohrte ihre Augen in die seinen, die unbeweglich waren.
»Und wäre es in den Tod! Liebst du mich?« Er erstarb in übermenschlicher Rührung.
Doch Daisy war von ihrem Platz aufgesprungen, denn der Panther hatte sich plötzlich erhoben und begann, sich mit den Pfoten auf das Bassin des Springbrunnens stützend, düster zu heulen ... Und Zenon war es, als ob hinter den Wassergarben das traurige, drohende Antlitz Baphomets auftauchte und seine blutigen Augen Blitze schleuderten.
»Ich gehe in den ewigen Traum von dir,« stammelte er wie im Fieber ...