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Die Skizze »Totenfeier«, bisher nicht publiziert, wurde wahrscheinlich 1893/1894 geschrieben.
Wir hatten uns einmal heiß und leidenschaftlich geliebt. Damals waren wir beide jung und traurig und litten am Leben wie an einer Krankheit. –
Einer ließ den andern in sein Leid hineinblicken und dann kam es allmählich zu dem gewöhnlichen Ende der idealen Jugendfreundschaften zwischen Mann und Weib. Wir träumten von Seelenharmonie, aber in Wirklichkeit redeten nur unsere Sinne miteinander.
Dunkle Naturstürme erwachten und trieben ihr Spiel mit uns. Jeder Blick, jeder Ton, jede leiseste Berührung schauerte ein neues, heißeres Begehren in uns hinein. –
Wir lasen damals die »Kreutzersonate« und redeten und schwärmten eine Zeitlang von Reinheit und platonischer Liebe, und dabei fühlte jeder, wenn er den andern ansah, daß das törichte Lügen waren, die vor dem Leben in Nichts zerfielen.
Die Reaktion der Natur kam in plötzlicher Erkenntnis, und mit der vollen Vehemenz unserer ungehemmten Jugendkraft warfen wir uns einem rasenden Sinnenrausch in die Arme. – –
Und dann, als der Rausch ausgebraust und das Gefühl der matten Ernüchterung kam, da hatten wir den richtigen Zeitpunkt des Auseinandergehens versäumt.
Darüber kam es alles.
Wir konnten nicht mehr zusammenbleiben. Die äußeren Verhältnisse trennten uns. Da begingen wir den großen Fehler. Wir verlobten uns, das heißt: wir wollten aneinander festhalten, uns treu sein und uns später heiraten.
Wir schrieben uns. Lange, öde Briefe. Pflichtschuldig verhandelten wir alles miteinander, was wir lebten und dachten – aber unser Interesse berührte sich nicht in allen diesen Dingen. Nur am Schluß des Briefes – da kamen Worte, aufregende Liebesworte, die brannten wie heiße Umarmungen und brachten wollüstige Träume ins Gehirn und in die Glieder. –
Zwischendurch sahen wir uns wieder. Aber dann waren die Hindernisse – die anderen Menschen, die uns für verlobt hielten und von unserm wahren Verhältnis nichts ahnten.
Nur für Augenblicke konnten wir uns dann die Einsamkeit zu zweien stehlen, die unserer brennenden Sehnsucht not tat.
Das waren Zeiten qualvoller und befriedigungslos aufreizender Erregungen. Einmal waren wir nach langer Trennung wieder allein zusammen. – Im Mai, an einem fremden Ort, wo wir uns sicher wußten.
Kurz vorher waren Mißverständnisse zwischen uns gewesen. Peinliche, schriftliche Auseinandersetzungen.
Auf beiden Seiten war erst ein unangenehmes Gefühl zu überwinden. Es war eben etwas zwischen uns getreten. – Dann Aussprache und es war alles wieder gut.
Und wieder erlagen wir unseren Sinnen. – Aber die Schönheit war davon.
Wir wohnten im Hotel – als Ehepaar – unter falschem Namen.
Tagsüber machten wir Ausflüge. Und nachts versuchten wir, unsere sterbende Liebe wieder aufzuwecken.
Es war anders wie früher.
Eine quälende Nervosität überfiel uns mitten in den glühendsten Umarmungen, und unter den wildesten Küssen riß es uns plötzlich aus den nachtschwülen Betten empor und jach auseinander.
Dann suchte jeder für sich für den Rest der Nacht sein Lager auf, und wir schliefen bis tief in den Morgen hinein.
Der Mißklang zitterte den Tag über in uns nach – und die nächste Nacht kam es wieder.
In dieser Qual schien uns beiden die kurze Zeit unseres Beisammenseins zu einer Ewigkeit ausgerenkt.
Nach einer Woche mußten wir uns wieder trennen. Jeder kehrte zu seinem gewöhnlichen Leben zurück.
Mit einem gereizten, fast feindlichen Gefühl sah ich ihn fortfahren und mir noch lange zurückwinken. Dann kam der Zug nach Norden und ich stieg ein.
»Der Herr war wohl Ihr Bräutigam?« fragte ein ältlicher Reisegefährte in wohlwollendem Ton.
»Ja«, sagte ich und machte ein glückliches Gesicht, versank dann in meine Fensterecke und träumte mich durch die vergangenen Tage und Nächte zurück.
Dabei ging eine Veränderung in mir vor . . .
In dem monotonen Hinfahren durch die stille Lüneburger Heide ebneten sich die widerstreitenden Empfindungen. Die Nerven wurden wieder ruhig. Die Gereiztheit verlor sich. Ein lässig wohliges Gefühl, eine genußträumende Ruhe schmeichelte mir durch die Glieder.
Ein paar Tage blieb das so, ein paar Tage.
Dann kam die Zeit, wo zerstörende Kräfte in mein Leben eingriffen und es von Grund auf durchwühlten. Ich mußte das alles allein durchmachen. Was ich bisher meine Liebe genannt hatte, schlich nur wie ein ohnmächtiger Schatten neben den mich bewegenden Ereignissen her.
In dem furchtbaren Anstemmen gegen das Schicksal und in dem Kampf mit den Menschen, die sich mir gegenüber als seine Werkzeuge aufwarfen, wäre meine einsame Kraft fast gebrochen.
Da, wo ich einer zweiten, vollen Kraft bedurft hätte, war meine Liebe mir nichts gewesen. Ich hatte sie in jener Zeit fast vergessen.
Und als ich dann dem Leben wieder ins Auge sehen konnte, wußte ich, daß ich allein war, ganz allein. Toteinsam – und totmüde.
Aus der Stadt, wo mein Leben Schiffbruch gelitten hatte, ging ich fort in die Einsamkeit – an einen weltfernen Ort zwischen Meer und Heide. – Von da schrieb ich den Brief, der uns trennen sollte.
Zwischen den Zeilen des Briefes starb meine Liebe. Nur die letzten heißen Schmerzen, die während des Schreibens in mir auszuckten, ließen mich fühlen, daß sie einmal gelebt hatte.
Er schrieb nicht wieder. Er kam selbst. Er stand eines Tages vor meiner Tür.
Der Nachmittag lag in schweren grauen Wolken über der Marsch. Die Kühe brüllten dumpf gegen den Himmel und einzelne Seevögel schossen kreischend an uns vorbei. Wir gingen nebeneinander auf dem breiten Marschwege durch den Koog.
Er fragte mich vieles, und durch seine hastig nervösen, abgerissenen Fragen vibrierte eine wahnsinnige Aufregung.
Ich brachte jede Antwort nur in stumpfem, trocknem Ton heraus. Mir war die Kehle wie zugeschnürt, und wo sonst das Herz gewesen war, fühlte ich nur einen schweren Druck.
Es war tot und schwieg dadrinnen – aber um seinetwillen sehnte ich mich, daß es noch einmal reden möchte.
Über uns am Himmel brach das Gewitter los, der strömende Regen sauste und peitschte und goß um uns her. Wir fanden ein kleines Wirtshaus an der Innenseite des Deiches und sahen von der niedrigen Gaststube in das Wetter hinaus.
Dann kam es, als ob die Spannung, die auf uns lag, sich allmählich löste. Ein elementares Empfinden, über das ich mir keine Rechenschaft geben konnte, trieb mich, riß mich in seine Arme und löste mir die Sprache.
Er hörte schweigend zu und zog nur meinen Kopf näher an seine Brust heran, wo er so oft geruht hatte.
Ich fühlte, wie er auf mich niedersah und fühlte seine heißen Tränen auf meiner Stirn. Es schnitt mir stechend durchs Herz.
Er war glücklicher als ich – in dem Augenblick –, er litt – er konnte noch leiden.
In mir war alles starre, leblose Dunkelheit.
Mir tat nur noch weh, daß es in ihm noch zuckte und leben wollte, was ich getötet hatte.
Die Flut ging wieder ins Meer hinaus, und das Gewitter ging mit hinab.
Vor den Fenstern wurde es klar, und die Natur lachte erfrischt auf.
Bis in den Abend hinein hatten wir so, traurig umschlungen, in der dumpfen Stube dagesessen mit unserer toten Liebe.
Als wir ins Freie hinaustraten, lag es wie Kirchhofsfrieden um uns her. Das letzte rote Abendlicht lag weit hinaus auf dem Meer, das sich wie ein matter Spiegel in großen, blaugrünen Flächen hindehnte.
Langsam gingen wir am Strande entlang, dem Dorf zu.
Eine dunkle, schweigende Mauer lag der Deich hinter uns. Gegen den fahlen Abendhimmel zeichnete sich die gespensterhafte Silhouette eines Pferdes ab, das den einen, mit schwerer Kette belasteten Fuß klirrend nachschleppte.
Als wir an den Hafen kamen, lag er im Mondschein da. Dann zogen Wolken über den Mond und alles ging in Nacht unter. –
Und wir hatten unsere tote Liebe begraben. –