Franziska Gräfin zu Reventlow
Der Selbstmordverein
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Ein halbes Jahr war seitdem hingegangen, ein Frühling, ein Sommer, und man war wieder mitten im Herbst. Von den beiden Toten wurde öfters noch gesprochen, aber ihre Gestalten verblaßten immer mehr und rückten schattenhaft in die Ferne, wie alle, die nicht mehr da sind.

Henning hatte angefangen, sich um seine Karriere, die ihn im Grunde so wenig interessierte, zu bekümmern, er kultivierte die Beziehungen, die sein Vater ihm angeraten, und arbeitete sich bei einem Rechtsanwalt ein. Es war dies ein Bekannter von ihm, der begriff, um was es sich handelte, und ihn mit ungläubigem Staunen wochenlang regelmäßig im Bureau erscheinen sah. Henning selbst wunderte sich vielleicht noch mehr darüber, war aber im Grunde nicht sehr überzeugt, daß er nun wirklich eine Bahn beschritten habe, die ihn über kurz oder lang an ein wünschenswertes Ziel bringen würde. Im Gegenteil, je mehr die anderen erst schüchtern, dann immer zuversichtlicher auf die beginnende Wandlung seines Lebens blickten, um so unwahrscheinlicher erschien sie ihm selbst.

Sorgfältig verbarg er den Widerwillen, mit dem er von seinem Tagewerk nach Hause zurückkam und sich wieder in den eigentlichen Erasmus Henning mit der geordneten Behaglichkeit und der tropischen Indolenz zurückverwandelte. Die letztere hatte ihn auch trotz aller großen Entschlüsse veranlaßt, seine bisherige Wohnung und den damit verbundenen Lebensapparat beizubehalten.

«Schilt mich nur pathologisch, soviel du willst», sagte er gelegentlich zu Burmann, «ich erkenne es vollkommen an, wie ein Schuldkonto, das man mir schwarz auf weiß oder lila auf weiß vorlegt. Wie, ob und wann ich es einmal arrangieren werde, weiß ich noch nicht. Siehst du, wenn die sattsam bekannten Stränge reißen... erschießen kann ich mich immer noch als außerordentliches Mitglied des Selbstmordvereins... aber unpathologisch existieren, das bringe ich nun einmal nicht fertig.»

Er bekam daraufhin einen der Burmannschen Blicke und eine der Burmannschen Bemerkungen: «Du bist schon ein ganz schwerer Fall... wenn du nur selbst wüßtest, was für Unsinn du wieder daherredest.»

«Du verstehst es aber doch? Man nehme mir das Beiwerk meines Lebens, an dem ich nun einmal hänge wie ein Sammler an seinen Raritäten, so bin ich entwurzelt und tauge zu nichts mehr, es gibt mich überhaupt nicht mehr. Ich brauche das Haus hier, die Straße, die ich gewöhnt bin, dich und Käthe, so wie ihr hier seid, nicht wie ihr in irgendeiner beliebigen Dreizimmerwohnung kommen und gehen würdet. Last not least Josias und unser Morgenzeremoniell.»

«Und wenn nun der Alte eines schönen Tages eingeht?»

«Das tut er nicht – solange alles bleibt, wie es ist, bin ich überzeugt, er lebt weiter wie der Ewige Jude. Wären wir dagegen umgezogen, so würde er sicher sofort in Staub zerfallen.»

«Das könnte ich mir ganz gut vorstellen. Übrigens spricht da viel die Belastung der Herkunft mit. Ihr seid, Herr und Knecht, auf der eigenen Scholle geboren und lebt dann in ewigem Heimweh wenigstens nach einer unveränderten Wohnstätte, nach den Leuten, die euch schon als Kinder auf dem Arm getragen haben, und so weiter. Ich kenne so etwas nicht – ich bin einfach da, wo ich bin. Es würde mich nicht im geringsten berühren, wenn ich von morgen an am entgegengesetzten Ende der Stadt oder der Welt leben sollte.»

«Ganz richtig, von der Scholle weg bleibt man immer heimatlos und sucht etwas Ähnliches oder ein Surrogat dafür. Oder man kann nur gleich ganz weit fortgehen, in die Tropen zum Beispiel.»

«Ach, das ist wieder so echt», sagte Burmann, «in die Tropen gehen. Eine andere Wohnung suchen ist unmöglich, seine Lebensgewohnheiten ändern ausgeschlossen, aber nach Afrika oder Australien oder auf den Mond auswandern – Bagatelle.»

«Gewiß, das ist auch viel einfacher», antwortete Henning in tiefstem Ernst.

«Warum hast du denn nie daran gedacht?»

«Mein Gott», sagte Erasmus langsam, «was sollte ich dort, solange ich mich hier wohl fühle. Aber die Käuze haben mir neulich einmal lang und breit davon gesprochen. Sie meinten, ich passe so gut dorthin, Du weißt ja, wie sie sind, sie betrachten alles von künstlerischen oder ähnlichen Gesichtspunkten. In meinem Fall stellen sie sich zum Beispiel ein sonnenheißes Land vor, mitten darin ein komfortables Klubhaus, und davor sitze ich im weißen Anzug, von Niggerboys umgeben, die mir mit ungeheuren Palmblättern Kühlung zufächeln. Wenn weiter nichts dabei zu tun wäre, möchte mir das auch ganz gut gefallen. Die Käuze treiben es wie einen angenehmen Sport, Menschen und Verhältnisse ausfindig zu machen, die zueinander stimmen. Sie können sich dann auch wirklich ins Zeug legen, um diese und jene zusammenzubringen. Käthe nennt Augustin deswegen den Impresario des Schicksals, und er hört das gar nicht ungern.»

«So laß dich nur von ihm in das komfortable Klubhaus verpflanzen, er hat damit nicht so unrecht.»

«Er unterhandelt auch schon mit dem Kommerzienrat, der soll irgendeine wunderbare Position für mich ausfindig machen. Ich nähme sie zwar lieber aus einer anderen Hand entgegen.»

«Du verkehrst in letzter Zeit viel mit ihnen, wie mir scheint.»

«Ja, das Café, wo die Käuze tagen und Schicksale lenken, liegt an meinem Weg zum Bureau, so mache ich dort fast regelmäßig noch eine letzte Rast und lasse mich mit milder Zukunftsmusik und schönen Bildern trösten.»

Käthe kam in das Zimmer, mit einer weißen Schürze angetan, sie hatte die Aufsicht geführt, während Josias und Frau Lohr Burmanns Konsultationszimmer der allwöchentlichen großen Reinigung unterzogen.

«Fertig, Hans, es glänzt alles nur so, und Josias ist aufs neue überzeugt, daß wir uns doch noch heiraten, weil ich mich so um deine Sachen kümmere. Er ist sehr dafür, ich glaube zum Teil aus Besorgnis, daß sonst Erasmus eine Mesalliance mit mir eingehen möchte. Einer von euch muß es ja schließlich sein.»

«Liebste, einzige Käthe, legen Sie die Schürze weg, die Ihnen nicht steht, und dann auch das leidige Thema, wer von uns dreien sich verheiraten soll», bat Henning, «die Sache ist noch lange nicht spruchreif.»

Sie war aber eigensinnig, behielt die Schürze an und beanspruchte den Schaukelstuhl, den er ihr nicht ganz bereitwillig abtrat.

«Es ist so selten geworden, daß wir alle drei beisammen sind», sagte sie fast traurig, «alles hat sich verändert. Haben eigentlich die beiden Kinder eine so große Rolle bei uns gespielt, oder ist es, weil wir den Schrecken noch nicht verwinden können. Gerade heute habe ich wieder so viel daran gedacht, und mir ist, als hätten wir uns alle seitdem verändert, etwas von unserer Spannkraft eingebüßt.» Keiner antwortete, während sie langsam schaukelte und in die Luft sah.

«Wovon habt ihr denn gesprochen, als ich hereinkam?»

«Von den Käuzen», antwortete Henning erleichtert. «Ich erzählte Hans, wie ich mich alle Nachmittage von ihnen aufrichten lasse. Sie haben tiefes Verständnis dafür, daß mein Bureau und ich eine unglückliche Zusammenstellung ergeben, und spintisieren darüber, während ihr anderen mit eurem gesunden Menschenverstand das nicht einsehen wollt und stumm an meinen Leiden vorübergeht.»

«Ja, Sie sind so etwas wie ein unverstandner Mann.»

«Pfui», sagte Erasmus, «und überhaupt hat es etwas Aufreibendes, wenn fortwährend festgestellt wird, wie jemand ist und was er ist. Wozu, es weiß ja doch keiner etwas vom anderen. Erinnerst du dich noch, Hans, wie du damals mit meinem Vater über Georg gesprochen hast? Du meintest noch, er habe das Zeug dazu, etwas Besonderes zu werden. Tags darauf hat er sich mir nichts, dir nichts erschossen. Ebenso Hedy, die wir alle für einen netten, aber oberflächlichen Backfisch hielten. So viel weiß man voneinander.»

«Aber nach dem, was Sie erzählen, machen die Käuze es auch nicht viel anders, und da finden Sie es wohltuend.»

«Nein, die eben nicht. Sie gehen einige Schritte weiter. Sie stellen wohl erst fest, wie ein Mensch ist und wie die Verhältnisse sind, seine, die nicht für ihn passen, und andere, die vielleicht für ihn passen würden. Und dann machen sie sozusagen Arrangierproben: Der da steht nicht gut, bewegt sich nicht richtig, nimmt sich in dieser Beleuchtung ungünstig aus... stellen wir ihn anderswo hin. Zum Beispiel, der jugendliche Liebhaber Henning eignet sich nicht für Heldenrollen, auch als Schreiber bei einem Advokaten macht er schlechte Figur, lassen wir ihn lieber nur in Salonszenen auftreten oder als Afrikareisenden. Versteht ihr, sie wissen wenigstens so etwas wie Hoffnung zu erwecken, daß die schlechte Inszenierung des Lebens hier und da abgeändert werden könnte...»

«Ich verstehe schon», warf Burmann ein, «und für Leute, die immer eine Regie brauchen wie du, ist das gewiß ein wünschenswerter Verkehr. Mir dagegen würden solche Gespräche auf die Nerven fallen, wenn ich sie oft mit anhören müßte.»

«Du hast auch Pech gehabt, die beiden Male, als du mit warst, wurde nur über französische Küche im vorigen Jahrhundert oder über die talentvolle Nichte gesprochen.»

«Und mir scheint, es wurde beides etwas zu wichtig genommen.»

«Wie man es nehmen will, sie halten eben die französische Küche für einen wichtigen Lebensfaktor, und die Nichte macht ihnen viel zu schaffen.»

«Kennst du sie?»

«Nein, ich habe sie noch nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube, sie halten mich für gefährlich. Das Mädchen kommt irgendwo aus dem Wildwest und soll nun gesellschaftlich zugestutzt werden. Sie haben sozusagen Mutterstelle an ihr zu vertreten.»

«Wessen Nichte ist sie denn eigentlich?» fragte Burmann. «Ihr sprecht immer von den drei Herren, als ob sie ein Sammelbegriff wären.»

«Ich muß allerdings sagen, daß sie sich damals auch so benahmen. Augustin führte beständig das Wort, und die beiden anderen sind mir ganz unklar geblieben.»

«Gewiß, sie sind nur Begleiterscheinungen, Nebenkäuze. Weintrapp und Leidhecker... es gehört unbedingt zu ihnen, daß sie so wunderliche Namen haben.»

«Die Namen sind lustig, sie klingen wie erfunden.»

«Und die Nichte ist natürlich Augustins Nichte», erläuterte Henning weiter. «Weintrapp und Leidhecker partizipieren nur an den Freuden und Sorgen, die sie um sich verbreitet... aber was mich weit mehr interessiert – es scheint, daß sie etwas darüber erfahren haben, wer Lucy ist. Woher, wollten sie mir nicht sagen. Sie tun immer gern etwas geheimnisvoll, und das Vergnügen kann man ihnen ja lassen. So sind wir auch noch nicht ganz sicher, ob die Personalien stimmen.»

Nun fuhr Käthe auf, wie von einer Tarantel gestochen: «Und das sagen Sie erst jetzt? Mein Gott, was sind Sie für ein Mensch!»

Sie hatte ihm die Morgenstunde bei Schönlank immer noch nicht vergessen, und dies schien ihr wieder ein neuer Verrat.

Burmann beobachtete die beiden wie aus einem Hinterhalt und sagte dann, wie in schmerzlicher Resignation: «So wird also dieses Spiel von neuem beginnen. Aber erzähl uns doch.»

«Sie soll eine schwedische Sängerin oder Tänzerin sein und wollte hier auftreten. Das hat sich dann aus irgendeinem Grunde zerschlagen, es sei aber nicht ausgeschlossen, daß sie diesen Winter wiederkommt. Und der verdammte Schwede ist wahrscheinlich Pianist, begleitet sie auf dem Klavier und auch durchs Leben.» Henning schwieg, dachte an den vergangenen Winter und fügte dann hinzu: «Wenn es wirklich dieselbe ist, man kann sich ja auch irren. Und wer weiß, ob sie mich jetzt noch interessiert.»

Dann zog er sich in seine Gemächer zurück, um, wie er sagte, noch einen Prozeß zu bearbeiten, und die beiden anderen blieben allein.

Burmann trat zu Käthe heran, die regungslos im Schaukelstuhl lag, immer noch mit der weißen Hausfrauenschürze, und mit ihren schönen, klaren Augen zu ihm aufsah. In ihrem Ausdruck war einen Moment lang etwas Hilfesuchendes. Er legte ganz vorsichtig die Hand auf ihre Schulter und fragte: «Käthe, liebst du ihn eigentlich?»

«Nein», antwortete sie, «ich kann ihn nicht ausstehen, und er mag seine Lucy nur alleine suchen.»

Es schien, daß Hennings Interesse für Lucy noch nicht gänzlich erloschen war, denn er nahm seine abendlichen Irrfahrten wieder auf, und die anderen bekamen ihn wenig mehr zu Gesicht, da er spät nach Hause kam, die Vormittage wieder wie früher verschlief und dann gleich nach Tisch mit seiner Aktenmappe verschwand. Einmal hatte er Käthe aufgefordert mitzukommen, sie zeigte sich aber launisch und wollte einstweilen von keinem gemeinsamen Spleen mehr wissen. Er kam dann auch nicht wieder darauf zurück und ging mehr und mehr seine eigenen Wege.

So war der Herbst verstrichen, und die Wintersaison hatte längst mit ihrem üblichen Getriebe eingesetzt, als er und Käthe sich zufällig auf einem Ball trafen. Keiner hatte gewußt, daß der andere da sein würde. Als Erasmus eintrat, stand sie in einer Saalecke, vielfach umringt und in lebhafter Unterhaltung. Sie sah ihn mit der Frau des Hauses kommen, mit verschiedenen anderen sprechen, man begrüßte sich vorläufig nur mit einem Blick, während er allmählich der Gruppe näher kam.

«Da kommt der Baron Henning», bemerkte einer der Herren, «um die Schar Ihrer Freier vollständig zu machen oder aber, wie ich fürchte, um uns andere auszustechen – er hat doch wohl immer noch die meiste Chance», fügte er leiser hinzu.

Käthe befand sich in guter Stimmung und war ihm fast dankbar für die Bemerkung. Sie sah es nicht ungern, wenn man ihre Beziehung zu Henning überschätzte, und doch gab es ihr manchmal einen leisen Stich, weil so gar nichts dahinter war.

Dann schüttelten sie sich die Hand, mit betonter Herzlichkeit, da es vor anderen geschah, und empfanden es beide mit Vergnügen, sich in dieser fremden Umgebung wiederzusehen. Die Verstimmung, die in letzter Zeit eingerissen war, mußte wohl oder übel vor der Umgebung ignoriert werden. So konnte man sich wieder freundlich begegnen, ohne erst eine langweilige und vielleicht mißglückte Aussprache zu veranstalten.

Es hatte sich gerade ein Wettstreit entspannen, wer Käthe zum Souper führen sollte, und sie hatte die Entscheidung mutwillig bis zum letzten Moment hinausgeschoben.

«Sehen Sie», sagte sie nun zu Henning, «ich übte mich gerade darin, kapriziöse Schlange zu spielen – die Herren sind ja immer begeistert, wenn sie einen für kapriziös halten dürfen –, und habe noch keinem mein Jawort gegeben. Natürlich bekommen es jetzt Sie, der es am wenigsten verdient und sich nicht einmal drum beworben hat.»

«Sie sind bezaubernd und ungerecht wie das Schicksal selbst», sagte Doktor Augustin, der Kauz, der ihr zunächst stand, während die anderen ein unwilliges Gemurmel erhoben. Henning sah sie unter schweren Augenlidern hervor forschend an und versuchte um der vielen beobachtenden Blicke willen einen triumphierenden Ausdruck über seine ermüdeten Züge zu verbreiten. Dann entführte er Käthe zum Souperwalzer, während die enttäuschten Freier noch einen Augenblick stehenblieben, ihnen nachsahen und sich dann zerstreuten.

Das Souper ging in zwei kleineren, an den Tanzsaal grenzenden Räumen vor sich. Es waren dort wie in einem Restaurant einzelne Tische aufgestellt, an denen je nachdem ein, zwei oder mehrere Paare saßen. Henning hatte rasch, als ob es so sein müßte, ein Tischchen ausfindig gemacht, das sich nur zum Tête-à-tête eignete. Dicht daneben war ein Kamin, in dem nur des hübschen Effekts halber ein Holzfeuer brannte, und er wußte von früheren Gelegenheiten, daß der Platz nicht sehr beliebt war, weil man ihn zu heiß fand.

«So geht's», sagte er heiter, als sie sich gegenübersaßen. «Ich hatte gar keine Lust herzukommen. Hätte mir nicht Josias den Frack so verführerisch hingelegt, so wäre ich weggeblieben. Und nun bin ich wirklich froh, hier zu sein. Ist es nicht beinah, als ob wir ein junges Paar auf der Hochzeitsreise wären und diese ganze Sache nur arrangiert, um einen hübschen Rahmen für uns abzugeben.»

Dabei schenkte er ihr ein, legte ihr vor und bediente sie wirklich wie ein junger Ehemann. Das helle Kaminfeuer, die weißen Tische mit Blumenschmuck und festlichen Menschen, das Lachen und Sprechen ringsum, das alles gab eine Note von intensiver Behaglichkeit.

Käthe musterte ihren Tischherrn, er hatte nur etwas Unruhiges im Ausdruck, aber wenn er sprach, legte er eine ungewohnte Wärme in seinen Ton.

«Was haben Sie heute – Ihnen ist irgend etwas begegnet. Oder sind Sie jetzt immer so? Wir haben uns wenig gesehen. Sie verändern sich, ich weiß nur noch nicht, in welche Richtung.»

«Nein, bitte, liebste Käthe, lassen Sie uns vorläufig plaudern, ausschließlich plaudern. – Mir ist etwas begegnet, jawohl, aber ich muß noch überlegen, ob ich es Ihnen erzählen soll... Jedenfalls erst später, nicht so zwischen zwei Gängen, mit Gabel und Messer in der Hand.»

Sie aßen also weiter und sprachen von gleichgültigen Dingen, von den verschiedenen Bekannten oder kritisierten die Gesellschaft, die ringsumher saß. Endlich kam man beim Dessert an. Käthe hatte großes Vergnügen an all den zierlichen süßen Dingen, die da herumgereicht wurden, und Henning sah ihr zu wie bei einem Spiel. Um sie her ging es jetzt ziemlich unruhig zu, ein Teil der Gäste war schon aufgestanden und verteilte sich wieder in den anstoßenden Salons. Die Jugend drängte sich im Tanzsaal um einen Amerikaner, der einen neuen Tanz vormachte und erklärte. Dazwischen schoben sich still und eilig die Diener und servierten kleine Kaffeetassen auf schweren silbernen Tabletts. Andere waren noch sitzen geblieben, sahen schläfrig dem Treiben zu oder unterhielten sich.

Zwischen Henning und Käthe war das Gespräch immer einsilbiger geworden, da beide sich bemühten, dem auszuweichen, was der eine fragen und der andere antworten konnte.

Dann aber sagte sie ohne jeden Übergang: «Jetzt erzählen Sie mir, Erasmus, ob Sie Lust haben oder nicht. Ich will alles wissen, was Sie in diesen Wochen gemacht haben, seit wir» – sie dachte nach und zog die Augenbrauen fragend und vorwurfsvoll in die Höhe –, «ich muß wohl leider sagen, verstimmt aufeinander sind, oder vielmehr waren. Sie haben jetzt eine Chance, es wieder auszugleichen. Außerdem sind wir fertig, Messer und Gabel brauchen Sie nicht mehr zu stören.»

«Es war eine schlechte Zeit», sagte er, «und Sie haben mir sehr gefehlt. Wenn Sie mich jetzt wieder beim Vornamen nennen, bin ich ja zu jeder Buße bereit. Obgleich es Ihre Schuld war.»

«Sie denken wieder an etwas anderes, es war doch nicht meine Schuld...»

Erasmus unterbrach sie: «Sehen Sie das junge Mädchen, das dort mit einem älteren Herrn spricht?»

Käthe wandte sich um: «Ja... und?»

«Das ist die Freundin von Hedy, mit der ich damals gesprochen habe. Wir verabredeten uns nachmittags in eine Konditorei, wohin sie mir Nachricht bringen sollte, ob Hedy zu Hause sei, und ich bin dann nicht hingegangen. Ich hatte es vollkommen vergessen, und es fiel mir erst viel später wieder ein.»

Das Mädchen legte den Arm auf den des älteren Herrn, der vermutlich ihr Vater war, und kam an ihnen vorbei. Henning stützte den Arm auf den Tisch und begegnete ihrem Blick, als wünschte er, sie möchte ihn erkennen. Schon in der Tür sah sie sich denn auch neugierig nach ihm um.

«Diesen Winter wäre wohl auch Hedy zum erstenmal ausgegangen», meinte Käthe, «wir hätten sie hier und da getroffen, so wie sie den Abend in der Bar aussah, damenhaft und ein bißchen fremd. Erinnerungen bleiben immer so melancholisch, selbst wenn man sich an das Geschehene gewöhnt hat. Und Sie», fuhr sie dann fort, während er noch völlig abwesend der hellen Gestalt nachsah, «Sie haben wieder den Blick, als ob Sie Gespenster sähen.»

«Dasselbe sagten Sie damals, als Schönlank mit meinem Vater hereinkam. Es ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es das letzte Wort war, ehe sich die fatale Szene entwickelte, und weil es so zutreffend war... Bleiben wir noch ein wenig sitzen, es wird nicht weiter auffallen. Die stürmische Jugend tanzt, und die ältere Generation kann sich, wie Sie sehen, noch nicht zum Aufstehen und zu weiteren Strapazen entschließen. So können wir ruhig noch eine Weile abseits bleiben.»

Sie saßen und blickten auf das dekorative Kaminfeuer, beide in Anspruch genommen durch die unerwartet wieder aufgewachten Erinnerungen.

«Hat der Gespensterblick Sie beunruhigt?» fragte Erasmus mit gezwungenem Lächeln, «Sie sehen mich so besorgt an.»

«Nein, diesmal nicht, weil er der Vergangenheit gilt... Ich wüßte nicht, was er jetzt und hier Schlimmes voraussehen könnte. Aber ich mag ihn nicht – Sie sehen dann aus, als ob Sie willenlos und ohne Widerstand dem ersten, besten Gespenst verfallen würden, das Ihnen begegnet.»

«So ist es auch, Käthe, Sie haben eine unheimliche Divinationsgabe. Übrigens handelt es sich nicht um dies kleine Mädchen, das da eben vorüberging und gewissermaßen Hedy wieder mitbrachte. Das ist ein harmloses Gespenstchen, ich werde nachher mit ihm tanzen und mich entschuldigen, daß ich es damals umsonst habe warten lassen... Aber ich habe vor einigen Tagen ein anderes getroffen...»

«Lucy?» fragte sie wider Willen. Sie hatte überhaupt nichts mehr fragen wollen, denn es reizte sie im stillen, daß er immer neue Überraschungen bei der Hand hatte und sie ausspielte oder für sich behielt, wie es ihm grade gefiel.

Ihm schien es aber diesmal nicht auf den Effekt anzukommen, er verlangte nur danach, sie wieder teilnehmen zu lassen, und er hatte seine anfänglichen Bedenken längst wieder vergessen.

«Ja, hören Sie nur zu. Aber erst noch eine Vorbemerkung. Es steht ziemlich schlecht um mich, liebe Käthe. Ich habe in dieser Zeit ein dummes Leben geführt... ich habe angefangen zu spielen und viel verloren. Notabene, ich verliere natürlich, was ich eigentlich gar nicht besitze. Und abends habe ich dann allein oder mit Ihrem Ungarn – der übrigens beständig nach Ihnen fragt – viele, viele Gläser getrunken. An dem Abend, auf den es ankommt, war ich zufällig allein und trank wieder viele Gläser, fühlte mich, wie ich leider gestehen muß, schon etwas unklar und dachte darüber nach, wie ich mich aus alledem wieder herausreißen könnte. Es war ein ziemliches Gedränge in der Bar, ich sah zu, wie sie tanzten, und sah ein dunkles Mädchen mit einem langen blonden Herrn, den ich schon einmal gesehen haben mußte.»

«Der verdammte Schwede», sagte Käthe halblaut und ergriffen.

«Richtig, der verdammte Schwede – ich wußte es auch, aber es erregte mich nicht besonders. Sie müssen entschuldigen, wenn ich noch einmal betone, daß mein Bewußtsein etwas umfangen war, es gehört leider zur Geschichte und beeinflußt sie... Ich sah also den verdammten Schweden, sah ihn mit Lucy tanzen und empfand es mit friedlicher Heiterkeit, daß die beiden wieder da waren. Sie tanzte auch wieder auffallend stürmisch, war aber nicht so schick angezogen wie damals, im Gegenteil, sie sah einigermaßen reduziert aus, und das freute mich beinah. Ich dachte, dir ist es anscheinend auch nicht besonders gut gegangen seit damals.» Henning stockte und sah eine Zeitlang in das Feuer. Käthe beobachtete sein schön gebildetes Profil und die breite Stirn und sann darüber nach, welchen Eindruck er wohl auf Lucy gemacht habe.

«Es blieb auf die Länge nicht so idyllisch», fuhr er in seiner Erzählung fort. «Ich trank einen schwarzen Kaffee, wurde wieder munterer und fing Händel mit dem Schweden an, nannte ihn einen verdammten Schweden und suchte ihm klarzumachen, daß ich mindestens ebensoviel Anrecht an Lucy habe wie er. Kurzum, es war eine Szene, wie sie manchmal gegen Morgen in solchen Lokalen stattfindet. Schließlich endete sie damit, daß Lucy mit mir am Tisch saß und der Schwede verschwunden war. Sie hatte sich die ganze Zeit halb totgelacht und schien großen Spaß daran zu haben.»

«Und dann?» wollte Käthe wissen. Sie war sehr gespannt, aber leicht enttäuscht. Man hatte sich dereinst zuviel von Lucy versprochen, als daß sie jetzt als banales Barabenteuer enden durfte

«Soll ich auch noch den Rest erzählen?», und als Käthe nickte: «Ich will ihn kurz andeuten. Sie kam mit mir in ein Hotel, war aber morgens verschwunden. Ich habe sie also nur im Rausch und im Dunkel gesehen, von Licht wollte sie durchaus nichts wissen. Keine Verabredung, keine Adresse – nichts. Folglich – und dies ist die Pointe – ist sie ein Phantom geblieben und muß selbst wissen, daß sie eines ist, warum hätte sie sich sonst so mysteriös benommen. Eine Frau, die den ganzen Abend lacht und tanzt, ihren Schweden, der sie durchs Leben begleitet, mir nichts, dir nichts verabschiedet, um sich zu einem völlig Fremden zu gesellen, diesen aber wieder absichtlich im Dunkel über sich läßt – sagen Sie selbst, Käthe, ist es etwa mit mir nicht richtig, oder begegnen mir tatsächlich Gespenster?»

Er schüttelte sich, und seine letzten Worte klangen wie ein halb verzweifelter Appell an ihren Wirklichkeitssinn, der ihm zu Hilfe kommen sollte. Sie wußte, daß alle den an ihr liebten, immer war es ihre Rolle, die frohe, sichere Frau darzustellen, die mit allem fertig wurde, aber sie war das müde und wollte nichts mehr davon wissen. Seit sie Henning im Lauf des letzten Jahres, durch alles, was sie zusammen erlebt hatten, nähergekommen war, reizte es sie grade, ihre Sicherheit aufzugeben und lieber dunkle und verworrene Erlebnisse mit ihm zu teilen. Seine Erzählung hatte ihr anfangs wenig gefallen, jetzt gewann sie wieder an Charme, aber zugleich empfand sie doch gegen ihren Willen eine quälende Eifersucht.

«Ihre Geschichte ist jedenfalls ziemlich sonderbar», sagte sie, und es irritierte sie, hier im Ballkleid zu sitzen, schön und begehrenswert auszusehen, alles das nur, um seine zweifelhaften Bekenntnisse entgegenzunehmen. «Aber wie soll ich wissen, wie es um Sie steht? Seit dem Tode der beiden Kinder sind wir wohl alle etwas nervös geblieben und leicht zu erschrecken... Und wie war sie denn – Lucy meine ich? Solange sie greifbar vorhanden war.»

«Ach, ich weiß nicht», gab er zerstreut zurück. «Der verdammte Schwede dagegen ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Übrigens hat er mich gefordert oder ich ihn. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie es war. Er saß eine Weile neben mir, sehr lang und sehr blond, und setzte mir sanftmütig auseinander, daß es wohl ein Nonsens wäre, sich wegen eines Mädchens zu schlagen, die sich bald mit dem einen, bald mit dem anderen amüsiere. Am nächsten Morgen müsse er verreisen, käme aber in einiger Zeit zurück, und dann könne das Duell stattfinden. Ich dachte erst, ich hätte die ganze Unterredung geträumt, fand aber nachher seine Visitenkarte in meiner Westentasche und werde ihm wohl auch die meine gegeben haben. Er heißt natürlich Axel – Pallström oder Hallström oder so ähnlich – und hat mit Bleistift unter den Namen geschrieben: Pistolen, spätestens am 15. Februar. Dies Nachspiel fügt sich dem ganzen Spuk nicht übel an.»

Käthens widersprechende Empfindungen lösten sich plötzlich, sie war selbst ganz beglückt, daß sie wieder weich und freundschaftlich für ihn fühlen konnte, und brach in ein helles Gelächter über den verdammten Schweden aus. Henning war verwundert, dann aber stimmte er mit ein, und sie lachten beide noch, als Doktor Augustin zu ihnen trat.

«Sie vergnügen sich anscheinend besser als ich», sagte er. Sein Erscheinen kam nicht grade erwünscht, aber man konnte nicht gut nein sagen, und er rückte sich einen Stuhl an den Kamin. Die drei waren jetzt fast die einzigen im Raum.

«Ich irre hier herum», fuhr Augustin in seiner etwas umständlichen Sprechweise fort, «und kann diesen Festen keinen Geschmack abgewinnen. Es sollte eine Kunst sein, sich zu vergnügen, den in Frage kommenden Sinnen einen feinen, allmählich an- und wieder abklingenden Anreiz zu bieten – statt dessen... die jungen Leute da drüben tanzen nur, um zu tanzen, um sich Bewegung zu machen, die älteren langweilen sich. Dazwischen steht man herum, soupiert eilig und gedankenlos...»

«Das ist wohl der springende Punkt», warf Henning ein, «aber als berufsmäßiger Gourmand – oder Gourmet, wie Sie mich zu verbessern pflegen – sollte man eben nicht auf Bälle gehen.»

«Recht, mein junger Freund, wenn nicht auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen als notwendige Tugend gepflegt werden müßten. Ein gutes Diner oder Souper als Selbstzweck ist mir lieber, aber wer gibt denn heute noch Diners an sich?»

Erasmus lächelte konventionell, wie sein Vater manchmal lächelte, wenn ihm eine Situation nicht ganz recht war. Doktor Augustin betrachtete ihn aufmerksam mit seinen runden, genußfrohen Augen und fühlte, daß da etwas nicht in Ordnung war.

«Ich habe gewiß ein anregendes Gespräch unterbrochen?» fragte er, «darf ich bitten, daß Sie es fortsetzen, ohne meine Anwesenheit in Betracht zu ziehen. Ich will dann auch gestehen, daß mich Ihr Lachen herbeilockte. Meine Tischdame wurde abgerufen, weil ihr Baby sich erkältet hatte, und ich fand keine andere Gesellschaft als einen morosen älteren Herren, der ebenfalls allein war. Kurz, gnädige Frau, meine innere Harmonie wird heute beständig beeinträchtigt, und ich hoffe, Sie gestatten mir, mich an der Ihrigen zu erbauen.»

«Gerne», erwiderte Käthe spöttisch.

«Ja, dieses hübsche Plätzchen am Feuer, das Sie sich ausgesucht haben und das einen wirkungsvollen Rahmen für Ihrer beider Erscheinung abgibt, regte, wenn ich so sagen darf, meinen künstlerischen Blick an. Sicher erzählte der Baron grade eine amüsante Geschichte.»

«Gewiß», sagte Henning, «schade, daß Sie nicht früher kamen. Übrigens haben Sie doch ein wenig daneben geraten, wir erzählten uns nämlich Spukgeschichten, die gnädige Frau und ich.»

«Beabsichtigen Sie das Gruseln zu lernen, Gnädigste? Mir will zwar scheinen, als sei trotz des Kamins und der späten Stunde hier nicht ganz die geeignete Umgebung dazu.»

«O doch..., ich kann es schon», meinte Käthe mit einem Versuch zu scherzen, obgleich ihr wirklich beklommen und wunderlich zumut war. Dies Gefühl steigerte sich noch, als Henning aufstand und die Absicht äußerte, das junge Mädchen von vorhin um einen Tanz zu bitten. Er würde nicht lange ausbleiben und dann wieder hierherkommen.

So blieb sie mit Augustin allein. Sie gab sich alle Mühe, eine unbefangene Unterhaltung mit ihm zu führen, aber sie konnte diese phantastische Stimmung, die sie sich sonst manchmal gewünscht hatte, nicht wieder loswerden... Vergebens sagte sie sich, daß ihre Nerven überreizt seien... ihr schien alles um sie her unwirklich und unsinnig, die Musik im Saal nebenan, die Paare, die sich immer lebhafter drehten, die ganze festliche Atmosphäre und Helle, welche Menschen und Räume einhüllte. Da tanzt er nun mit dem harmlosen Gespenstchen, dachte sie, zwischen den anderen, die sich wirklich amüsieren. Und wer weiß, was da nicht alles wieder emporsteigt, wenn sie von Hedy sprechen.

Sie fühlte auch, daß ihre Antworten bis zur Unhöflichkeit zerstreut waren und Augustin sie des öfteren erstaunt und verlegen ansah. Inzwischen betrachtete er die großen Sträuße von weißen Rosen, die auf dem Kaminsims standen. Wahrscheinlich stellte er ästhetische Betrachtungen an, und es beunruhigte ihn, daß eine schöne Frau neben Rosensträußen saß und nicht harmonisch aufgelegt war. Sie stellte dann ihrerseits fest, auch er nähme sich heute nicht ganz richtig aus, man war zu sehr gewöhnt, ihn von seinen beiden Nebenkäuzen ergänzt zu sehen, allein wirkte er inkomplett und seine Bemerkungen, die nicht durch ein doppeltes Echo variiert wurden, langweilig und gekünstelt.

«Wo haben Sie denn Ihre Trabanten gelassen?» fragte sie aus diesem Gedankengang heraus.

«Sie sind noch weniger Ballfreunde wie ich, und sie fanden einen Vorwand, die Einladung zu umgehen. Statt dessen sind sie mit meiner Nichte im Theater.»

«Ah, mit der gemeinsamen Nichte. Die hätten Sie doch auch mit hierhernehmen können.»

«Sie ist noch nicht eingeführt und hat noch nicht die nötigen Besuche gemacht. Das ist alles nicht so einfach. Das Mädchen kann auch wohl nicht gut mit uns ausgehen. Wenigstens meinten Weintrapp und Leidhecker, es nähme sich nicht gut aus, und man müsse einen anderen Modus finden.»

Käthe war froh, daß sich endlich ein ablenkendes Thema auftat, und fragte weiter: «Ja, überhaupt, was ist denn eigentlich mit dieser Nichte? Man hört hier und da von ihr sprechen, bekommt sie aber immer noch nicht zu sehen. Erzählen Sie mir doch etwas von ihr – wie alt ist sie – ist sie hübsch und wie heißt sie – sie muß doch außer ihrer Eigenschaft als Nichte auch irgendeinen Namen haben.»

«Elisabeth», sagte Augustin mit sorgenvoller Miene, «aber der Name paßt durchaus nicht zu ihr. Ein Mädchen, welches Elisabeth heißt, könnte zum Beispiel sanft und ein wenig überirdisch sein – meinetwegen auch etwas gewöhnlich und schwerfällig –, dann würde man sie eben Lisbeth oder Elise nennen. Aber eine Elisabeth darf nicht den Teufel im Leibe haben, das wirkt ungemein stillos. – Hübsch... Ja, sie ist knapp zwanzig Jahre alt und, soweit ich unparteiisch urteilen kann, recht hübsch zu nennen. Aber auch ihr Äußeres ist ungebärdig und entbehrt der Sorgfalt, zum mindesten immer eine oder die andere Haarsträhne, die ihr in die Augen fällt, oder sonst etwas, das nicht am richtigen Platz sitzt. Und so ist es bei ihr mit allem. Sie ist begabt, aber zu keiner stetigen Ausbildung ihrer tatsächlich vorhandenen Talente zu bewegen. Sie kam mit der Absicht, Malerei zu studieren, jetzt will sie Schauspielerin werden und deklamiert den ganzen Tag.»

«Wie sind Sie denn dazu gekommen, ausschließlich die Obhut über die junge Dame zu übernehmen?»

«Sie ist in Amerika geboren», erklärte Augustin, «und ihre Eltern starben kurz nacheinander, ohne irgend etwas zu hinterlassen. Ihre dortigen Bekannten haben ihr wohl den Rat gegeben, sich an ihre europäischen Verwandten zu halten, und sie einfach herübergeschickt. Da ich nun der einzige Verwandte war, erschien sie eines Tages bei mir, und ich konnte nicht gut umhin, mich ihrer anzunehmen. Ich muß auch sagen, gnädige Frau, daß ich in gewissem Sinne Freude daran habe, solch ein junges Menschenschicksal zu leiten... könnte man ihr nur den Wild-West etwas rascher abgewöhnen. Aber... ich langweile Sie gewiß? Wollen Sie nicht noch tanzen?»

Nein, sie hatte keine Lust mehr, es war schon spät, gegen zwei Uhr, und lohnte sich nicht, noch einmal anzufangen. Es tat ihr wohl, hier sitzen zu bleiben, sich von unbekannten Menschen, die einen nichts angingen, erzählen zu lassen, und sie war jetzt ganz bei der Sache. Die drei Käuze mit ihren Onkelsorgen waren ganz unterhaltend.

Henning war unterdessen in dem Getümmel des Balles untergetaucht und kam lange nicht wieder. Er suchte nach der jungen Dame, erfuhr, daß sie Wera Erler hieß und ihr Vater ebenfalls ein Geschäftsfreund von Schönlank war, worauf er sich ihr vorstellen ließ und um einen Tanz bat. Sie hatte den Namen nicht verstanden, sah ihn neugierig an, mit denselben vergnügten Augen wie damals vor der Schule, und schien sich zu besinnen, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen habe. Dann ließ sie sich wie ein gehorsames Kind stillschweigend und pflichtbewußt von ihm herumdrehen, sah ihn nochmals von der Seite an und erklärte bald, sie sei müde, sie habe heute schon so viel getanzt.

«So unterhalten wir uns ein bißchen», schlug Henning vor, «Sie erkennen mich wohl nicht wieder?»

«Doch, aber ich habe Ihren Namen nicht verstanden.»

«Der tut wenig dazu», meinte er ernsthaft, «aber ich habe mich einmal recht unhöflich gegen Sie benommen.»

«Sie?» sagte Wera ungläubig, «haben wir denn schon einmal mitsammen getanzt, diesen Winter?»

«Nein, es muß ja auch nicht beim Tanzen gewesen sein. Denken Sie einmal nach... wir haben vor längerer Zeit eine kleine Mittagspromenade zusammen gemacht. Sie waren damals noch ein Backfisch, es ist etwas über ein halbes Jahr her. Dann wollten wir uns am Nachmittag treffen, es passierten alle möglichen Sachen, und ich konnte nicht kommen.»

Jetzt entsann sich das Mädchen allerdings, wer er war. Sie sah erregt an ihm vorbei, ob auch niemand in der Nähe sei und zuhöre, und erzählte dann, daß auch sie damals nicht an den verabredeten Ort gekommen sei. Man hatte sie nicht fortgehen lassen. Ein Bruder von ihr gehörte ebenfalls zum Selbstmordverein, war mit Georg befreundet gewesen, und alle Eltern waren in furchtbarer Aufregung. Mit dem Bruder hatte sie dann den ganzen Nachmittag zusammengesessen und über die Geschichte gesprochen. Er wußte auch, wo Georg und Hedy sich verborgen gehalten, aber er würde nie etwas darüber sagen. Henning ließ ihn sich beschreiben, es war jener schwarzhaarige, soignierte Junge, dessen er sich noch sehr wohl erinnerte.

An der Art, wie sie sprach, fühlte er, daß das alles schon wie etwas Halbvergessenes war, was nur zufällig wieder aufgerührt wurde – Jugendfreundschaft, die im Moment wohl intensiv empfunden wird, aber nichts Unersetzliches ist. Das störte ihn keineswegs, sondern tat ihm eher wohl. Sie war wirklich nur ein harmloses Gespenst und stand auf einer ganz gesunden menschlichen Basis. Jetzt zupfte sie an einer Palme, die hinter ihnen die Ecke füllte, hätte gerne etwas Tiefempfundenes gesagt, fand aber nicht das Richtige. Dann sah Henning, daß nicht weit von ihnen entfernt die Frau des Gastgebers stand und neben ihr der Kommerzienrat Schönlank, der ihn beobachtete. Ihm fiel ein, daß jener Weras Vater kannte, und er verlor plötzlich die Lust, noch weiter mit ihr zu sprechen.

«Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das ist eine schlechte Ballunterhaltung», sagte er lächelnd, «und es schickt sich vielleicht auch nicht, daß wir so lange hier beisammenstehen. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Papa zurück... wenn der wüßte, daß wir einmal ein Rendezvous verabredet hatten.»

«Damals war ich ja noch ein Schulmädchen.»

«Und jetzt sind Sie erwachsen und würden nicht mehr darauf eingehen?»

«Wer weiß...» Sie war nicht ganz zufrieden, daß er sie schon wieder abliefern wollte. Die abgeschworene Backfischromantik regte sich... man könnte in einer Ecke sitzen und von Hedy sprechen.

«Und dann kommt zufällig Herr Schönlank herein... Nein, wir wollen uns die Sache wenigstens noch überlegen. Da Sie gewiß die Absicht haben, diesen Winter viel zu tanzen, und ich ebenfalls viel mitmachen werde, treffen wir uns sicher noch an manchem Ballabend... Man kann auch da von Hedy sprechen... sie hat noch den letzten oder vorletzten Abend vor ihrem Tode mit uns getanzt.»

Davon hatte Wera gehört, es hatte sich herumgesprochen, man wußte nicht, durch wen. Jetzt wurde ihr alles wieder lebendig, sie fühlte etwas von dem dunklen Reiz, der über Hedys kurzem, verwegenem Leben und ihrem jähen Ende lag. Ihr Blick war ganz verändert, als sie noch einmal zu ihrem Begleiter aufsah. Aber der Papa, der Geschäftsfreund, spähte schon besorgt nach ihr aus, und Henning zog sich nach einigen höflichen Worten zurück.


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