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Dem alten Josias lag es ob, seinen Herrn allmorgendlich mit Behutsamkeit zu wecken, nicht zu früh, nicht zu spät, immerhin so, daß man noch zu einer möglichen Zeit frühstücken konnte. Aus langjähriger Erfahrung wußte er, eine wie schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe es ist, Menschen, die spät, mit von Alkohol und Amüsements belasteten Nerven, schlafen gehen, auf erträgliche Weise in den neuen Tag hinüberzubalancieren, und es war ein ganzes Kunstwerk, wie das täglich in Szene gesetzt wurde. Zuerst begab er sich in das anstoßende Ankleidezimmer, dessen Tür offenstand, legte dies und jenes zurecht und verursachte diskrete Geräusche, die dem Schläfer allmählich die Wirklichkeit näherbrachte, ohne ihn brutal aufzustören. Dann entzündete er den Gaskocher, setzte den kleinen, blanken Messingkessel mit dem Rasierwasser auf und spähte vorsichtig durch die Tür. Jetzt wußte Henning, der alle diese Manipulationen gewohnheitsmäßig im Halbschlaf verfolgte: Aha, es ist Morgen, man wird aufwachen müssen, und das leise Summen der Gasflamme rief ein angenehmes Gefühl von geregelter Häuslichkeit und wohligem Bedientsein hervor. Worauf der Alte in die Küche ging und mit einem Tablett zurückkehrte – ein Glas Tee und die Post waren die Dinge, mit denen nunmehr das eigentliche Wecken eingeleitet wurde und mit denen Henning sich mehr oder minder eilig beschäftigte, während Josias die Vorhänge zurückzog und außer dem «Guten Morgen, Herr Baron» eine Bemerkung über das Wetter machte. Diese Bemerkung wurde stets optimistisch gehalten, bei schlechtem Wetter die Aussichten auf besseres betont und bei gutem einfach die erfreuliche Tatsache festgestellt.
Burmann, bei dem Josias nur einmal, und zwar erheblich früher, anzuklopfen hatte, mokierte sich des öfteren über dieses Zeremoniell. Henning lachte dann, der alte Diener aber fühlte sich verletzt und sprach sich gelegentlich in der Küche gegen die Haushälterin, Frau Lohr, darüber aus.
Ein Baron war seiner Meinung nach in erster Linie zum Bedientwerden auf der Welt, das aber konnten die bürgerlichen Herrschaften nicht begreifen. Übrigens den Doktor in allen Ehren, so tüchtig wie der war und gewiß auch ein feiner Herr, aber dennoch war es etwas anderes. Frau Lohr stimmte ihm durchaus bei, sie fühlte sich sehr geehrt, mit einem richtigen Herrschaftsdiener zusammen tätig zu sein, der wohlwollend mit ihr verkehrte und dessen abgeschliffene Manieren und feudale Ansichten ihr imponierten. Für den jungen Baron schwärmte sie, es waren Glanzpunkte in ihrem Leben, wenn er manchmal selbst in die Küche kam und ernsthafte kulinarische Gespräche mit ihr führte.
«Josias, morgen kommt mein Vater», sagte Henning eines Morgens kurz nach dem Ausflug mit Hedy und Georg.
«Der alte Herr Baron... ah.»
Josias war grade mit den Vorhängen beschäftigt und erläuterte, es sei Tauwetter eingetreten. Henning wandte den Kopf nach dem Fenster, draußen war es grau und neblig, die Vögel zwitscherten mit besonderer Lebhaftigkeit, und man spürte schon etwas den herannahenden Frühling. Der Alte stand da mit seinem langen weißen Bart und sah aus wie ein entthronter Fürst.
Es stimmt eigentlich ganz gut, dachte Henning, wir werden wohl beide eines Tages unseren Palast verlassen müssen und in irgendein trübes Exil auswandern. –
«Nun, was sagst du dazu?»
Josias zitterte ein wenig vor Aufregung.
«Ja, Herr Baron, was soll ich wohl dazu sagen... wird die gnädige Frau denn auch mitkommen?» Er hielt es durchaus mit dem jungen und fand die Ereignisse, mit denen der Vater inzwischen sein Leben ausstaffiert hatte, wenig lobenswert.
«Nein, die gnädige Frau bleibt daheim und hütet ihre Babys... zwei kleine Stiefbrüder haben wir jetzt schon, Josias, und wer weiß, wie viele es noch werden mögen.»
«Ich meine, wenn ich mir das erlauben darf, der Herr Baron hätten lieber der einzige Sohn bleiben sollen.»
«Da hast du recht, mein Freund, aber wir können es nicht mehr ändern. Die Buben sind jetzt da und brauchen, weil sie zwei sind, doppelt soviel Platz wie ich. Deshalb werden wir unsere Gewohnheiten ein wenig verändern müssen, Josias. Das kommt davon, wenn man einen lebenslustigen Papa hat.»
«Ja, der Herr Baron war immer sehr munter», bemerkte Josias unzufrieden, «aber jetzt haben wir ihn schon lange nicht mehr gesehen. Und bei uns ist alles umgekehrt, wenn ich so sagen darf. Sonst sind es die Herren Söhne, die den Unfug anrichten, und der gnädige Herr Papa hat den Ärger.»
«Wir wollen nicht ungerecht sein, Alter, andere Väter sind in der Regel auch viel strenger und unbequemer. Meiner ließ mich wenigstens tun, was ich Lust hatte, und niemals hat es böse Worte gegeben. Überhaupt ist da nichts zu machen, wir müssen die Sachen nehmen, wie sie nun einmal sind... Tu jetzt das Tablett da weg... ist das Bad fertig? Ich will aufstehen.»
«Ja, gewiß ist es fertig, Herr Baron.» Josias nahm das Tablett, schob sorgsam die Briefe und Zeitungen, die neben dem Teeglas lagen, auf den Nachttisch und schickte sich an zu gehen.
«Was willst du denn noch? Oh, sieh mich nur nicht so bekümmert an.»
Der Alte stand mitten im Zimmer und sah wirklich recht verzweiflungsvoll drein.
«Wenn ich noch etwas fragen darf, Herr Baron... Das Gut – – das Gut wenigstens bleibt doch Ihnen?»
«Na ja, als Ältester bin ich natürlich der Erbe. Aber ich will es nicht. Was tu ich damit ohne das nötige Geld? Besser, man zahlt mich aus. Ich mag ja schon jetzt nicht mehr hin. Wenn du etwa Heimweh hast, bleibt es dir immer frei, wieder zu meinem Vater zu gehen.»
«Ich bleibe lieber beim Herrn Baron.»
«Und wenn alle Stränge reißen, kannst du auch bei der gnädigen Frau eintreten. Denke dir, Josias, eine schöne Frau bedienen!»
Dafür aber hatte Josias keinen Sinn. Er schüttelte seinen weißbärtigen Fürstenkopf und ging in die Küche hinaus, um sich mit Frau Lohr weiter über den Fall auszusprechen.
Der vielfach besprochene und viel kritisierte Vater kam an. Er war vornehm, aufrecht und jugendlich wie immer, mit einem diplomatischen, unnahbaren Zug um den Mund. Der war ihm von jeher eigen gewesen, hatte sich in den letzten Jahren noch verschärft und wirkte äußerst suggestiv. Wer diesen Mann nach seinem Äußeren beurteilte, kam gewiß nie auf den Gedanken, es könne etwas in seinem Leben nicht in Ordnung sein oder gar Angriffspunkte bieten.
Erasmus, der Sohn, stellte das mit Befriedigung fest, als er ihn an der Bahn empfing und mit Herzlichkeit begrüßte. Sie hatten sich über zwei Jahre nicht gesehen, aber da war nichts verändert, als sei man vorgestern zum letztenmal zusammen gewesen. Während sie dann zum Hotel fuhren und man des Rasselns halber auf eine Unterhaltung verzichtete, musterte er den Vater im stillen, und das Resultat der Musterung war im ganzen günstig. Dann fiel ihm plötzlich ein Grabdenkmal ein, das er auf einem italienischen Friedhof gesehen hatte und das trotz seiner Geschmacklosigkeit sehr bewundert wurde. Es stellte eine Wand dar mit einer Tür, in der Tür stand der verstorbene Vater und einen Schritt zurück der Sohn, beide in moderner Kleidung mit steifem Hut. Der Vater mit einer abschließenden Geste schien etwas zu sagen: Adieu, ich begebe mich nun in die Ewigkeit, und der Sohn, der ihn bis an die Tür begleitet hat, lüftet ein wenig den Hut: Schön, Papa, laß es dir gut gehen.
Er lächelte unwillkürlich. als er an jene marmornen Gestalten mit den steifen Hüten dachte und daß sie ihm eben jetzt wieder einfallen mußten. Der ältere Herr – man konnte ihn noch nicht ganz mit Recht als den alten Herrn bezeichnen – beugte sich leicht vor und wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick hielt der Wagen, und man mußte sich vorläufig dem Hotelpersonal widmen.
Später saßen sie im Speisesaal, ein wenig abseits in einer behaglichen Ecke. Auf dem Tisch stand ein Strauß von gelben und bräunlichen Chrysanthemen. Erasmus bekümmerte sich um jede Einzelheit, er hatte nichts vergessen, was der Geschmacksrichtung seines Vaters entsprach, und wünschte diesem vor allem den Eindruck zu geben, daß er als willkommener Gast aufgefaßt werde. Auch sollte das Gespräch nicht gleich auf die Unannehmlichkeiten kommen. So fragte er nach hundert Dingen, nach dem Winterleben auf dem Gut, nach dem Befinden der Stiefmutter und der Kinder. Gott sei Dank, nervös war der Papa noch nicht geworden, er behielt seinen unnahbaren Ausdruck und antwortete mit ruhiger, gemessener Freundlichkeit, seine scharfen, grauen Augen gingen manchmal durch den Saal und ruhten dann wieder auf dem Sohn, der ihm gegenübersaß.
Das Gut... Ja, man hatte einen neuen Inspektor, der frühere hatte Summen von bedrückender Größe unterschlagen. «Ein großer Fehler, daß man nicht von vornherein mißtrauisch ist. Jahrelang läßt man sich die Bücher vorlegen, in den Büchern stimmt alles, in der Wirtschaft scheint alles zu stimmen, und dann schließlich ist es doch ganz anders», sagte Henning senior mit vollendeter Fassung, nur eine diskrete Falte zwischen den Brauen wurde sichtbar, aber sie glättete sich bald wieder.
«Erzähl mir jetzt lieber etwas von dir, Erasmus. Du siehst vorzüglich aus und scheinst bei guter Stimmung. Ich habe das, offen gesagt, kaum erwartet, daß du dich über meinen Besuch freust. Ich komme ja leider...», er suchte nach einem Ausdruck und lächelte, als ob er gerne eine ironische Bemerkung an seine eigene Adresse gerichtet hätte.
«Ach, Papa, du kommst wie ein gestürzter Minister, verzeih meine Respektlosigkeit, der immer noch erwarten darf, daß das Volk ihm zujubelt. Schließlich war doch nur diese oder jene ungünstige Konstellation daran schuld.»
«Aber jetzt sind wir fertig, denke ich. Trinken wir den Kaffee in der Halle.»
Sie schritten durch den Saal, und die anderen Gäste, die noch essend oder plaudernd herumsaßen, schauten ihnen mit mechanischer Hotelneugier nach. Die beiden nahmen sich sehr gut nebeneinander aus, und die Familienähnlichkeit war nicht zu verkennen. Nur war der Ältere größer und schmaler mit helleren Augen und ebenmäßig ergrautem Haar, während bei dem jungen alles gleichsam dunkel unterstrichen war. Seine Mutter war die Tochter eines exotischen Konsuls gewesen, übrigens war sie früh gestorben und für ihn nur mehr eine verschwommene, etwas phantastische Erinnerung an helle Kleider und lustige Kinderspiele.
«Ja, sei nur ruhig, Papa, das Volk jubelt dir immer noch zu», sagte Erasmus, nachdem sie sich wiederum niedergelassen und einen Augenblick dem stets bewegten Kommen und Gehen in der Halle zugesehen hatten.
«Ich habe mich wirklich gefreut, dich hier zu haben, und hoffe, du bleibst längere Zeit. Betrachten wir das jetzt als gemeinsame Reise und eine Art Ferienvergnügen. Ich denke, ein wenig Großstadt muß dir Spaß machen, nachdem du jetzt so selten mehr herauskommst.»
Der Papa rauchte seine Zigarette, sah den Sprechenden prüfend an und warf hier und da einen zerstreuten Blick auf die Kaffeemaschine, die vor ihnen stand und mit großer Munterkeit sprudelte und zischte.
«Du erinnerst mich heute ganz besonders an deine Mutter», sagte er dann nachdenklich. «Sie hatte dieselbe Art, mir zuzujubeln, wie du dich ausdrückst, immer gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich war leider schon damals kein glücklicher Spieler, nur fiel es noch nicht so ins Gewicht.»
«Macht nichts, Papa, man ist schließlich, wie man ist, und es mag ganz gut sein, daß ich von der Mama die tropische Indolenz mitbekommen habe, wie mein Freund Burmann das zu nennen pflegt. Er geht noch weiter und behauptet, ich habe zu wenig Rückgrat...»
«Ich fürchte auch, mein Junge, wir kommen nicht viel weiter, wenn wir uns da gemütlich gegenübersitzen und uns wohlwollend beurteilen.»
«Also Mut, Papa, trinke deinen Kaffee, und dann wollen wir die Lage ins Auge fassen, wie es sich für ernste Männer gehört. Reden wir nicht erst davon, was geschehen und nicht mehr zu ändern ist, sondern gehen wir gleich zur Zukunft über. Ich bin eine Perle von Sohn und werde niemals einen Vorwurf gegen dich erheben.»
Der Vater zuckte die Achseln und sah noch um eine Nuance vornehmer aus.
«Du weißt, es gibt Söhne und vielleicht auch Töchter», fuhr Erasmus unbeirrt fort, «die vor ihre Eltern hintreten und sich beklagen, man habe sie nicht richtig erzogen, nicht gut gelenkt oder sich nicht genügend um ihre Zukunft gekümmert... Davon stehe ich also ein für allemal ab. Im Gegenteil, ich habe es immer sehr angenehm empfunden, daß du mir soviel freie Hand ließest. Als einziger Akt väterlicher Strenge ist zu verzeichnen, daß ich meinen Doktor jur. machen mußte – sonderbar, warum Eltern das immer für unerläßlich halten. Damals fand ich es recht überflüssig und grausam.»
«Und jetzt?»
«Du schriebst mir ja schon darüber... du meintest, ich könnte als Jurist im Bankfach Karriere machen, natürlich auf Grund unserer Beziehungen und so weiter. Lieber Papa, wir wollen es doch etwas anders formulieren. Gewiß, man kann alles versuchen, ich denke sogar, die nötigen Schritte und Besuche schon in nächster Zeit zu unternehmen. Vielleicht bringe ich es soweit, mich als Jurist im Bankfach zu betätigen und so etwas wie ein Gehalt zu beziehen, aber bitte ergehe dich nicht in Illusionen. Karriere machen liegt nicht in meiner Linie.»
«In deinem Alter kann man die Linie noch verändern – – meine dagegen ist leider nicht mehr stark zu beeinflussen», und er beschrieb mit seiner schmalen Hand einen Bogen durch die Luft, welcher das Abwärtsgehen der Linie andeutete.
«Nun, abwärts geht es ja auch bei mir», erwiderte Erasmus, «sag mir lieber gleich, Papa, wieviel du mir noch geben kannst... wenn dein neuer Inspektor sich als ehrlich erweist und keine weiteren, unvorgesehenen Schrecknisse eintreten.»
Der Vater nannte nicht ohne Zögern eine Summe, und seine Augen wanderten währenddem zu einer Gesellschaft von Herren und Damen hinüber, die in Theatertoilette die Treppe hinabkamen. Pelze, Zylinder, ein grünes Chiffonkleid, zierliche Füße und lebhafte Stimmen.
Die Summe war noch niedriger, als Erasmus erwartet hatte, und er empfand jenen leisen frostigen Schrecken, mit dem man eine allmählich heranrückende Gefahr plötzlich dicht vor sich stehen sieht. Er schwieg und blickte ebenfalls zu der Gesellschaft hinüber, die jetzt unter Lachen und Sprechen in der Entreetür verschwand. Gleich darauf hörte man ein Auto fortsausen. Seine Gedanken folgten ihnen ganz mechanisch und kehrten erst wieder zurück, als er den Vater fragen hörte:
«Hast du Schulden?» Es klang, wie wenn ein Arzt teilnehmend und voller Verständnis fragt: «Haben Sie Schmerzen?»
«Schulden... o ja, ziemlich viele», und diesmal war es der Sohn, welcher einen Bogen in die Luft zeichnete, und dieser Bogen schien unbestimmt ins Unendliche zu verlaufen.
«Ja, lieber Erasmus, hättest du das nicht vermeiden können, indem du etwas früher anfingst, dich den veränderten Verhältnissen anzupassen?»
«Gewiß, Papa, man hätte, aber man hat nicht. Du hast meine Einkünfte schon im letzten Jahr bedeutend verkürzt und mich schonend vorbereitet, aber ich konnte mich noch nicht entschließen, das Gewohnte abzuändern. Mach dir deswegen keine düsteren Gedanken, wenn ich erst ein tüchtiger und arbeitsamer Bankmensch geworden bin, werde ich wohl auch mit den Schulden fertig... In drei Monaten läuft mein Mietskontrakt ab, da werde ich dann umziehen, mich vereinfachen und was sonst noch dazugehört.»
Er brachte das mit Entschlossenheit vor und dachte bei sich: Nein, das ist ja alles unmöglich... umziehen in eine kleine Wohnung... all das widerwärtige Detail und dann ein Bureau... man geht ins Bureau und kommt mittags und abends nach Hause. Man hat wenig Geld und muß auf alle Ausgaben schauen.
«Weißt du, Papa», sagte er dann und versuchte alle diese Gedanken in irgendeinen Abgrund seines Bewußtseins zu schieben, «wir haben jetzt genug von Geschäften geredet. Ich weiß, was ich wissen muß, und halte es für eine überflüssige Zugabe, daß du mir noch weitläufig auseinandersetzt, wie das alles gekommen ist. Du brauchst deshalb nicht zu denken, daß ich edel oder großzügig sein will. Ich bin nur bequem und möchte dir und mir alles Peinliche schenken... Schau doch einmal in den Spiegel dort, wie wir uns gegenübersitzen. Der – Pardon! – verkrachte Vater und sein Sohn am Scheidewege, Leute von Stande, die sich zu beherrschen wissen... Wir haben doch viel Ähnlichkeit miteinander, auch äußerlich. Du siehst etwas älter aus, was ganz in der Ordnung ist, und du hast Weltmannsfalten, ich habe bis jetzt nur Lebfalten, wie die Käthe das nennt.»
«Wer ist die Käthe?»
«Eine wohlhabende, schöne und noch ziemlich junge Witwe, mit der ich viel verkehre.»
Er sah im Spiegel, daß des Vaters Gesicht sich lächelnd aufhellte.
«Nein, Papa, mach dir keine Hoffnungen. Ich bin in eine andere verliebt und weiß noch nicht einmal, wer sie ist, wo sie ist, noch überhaupt, was mit ihr ist. – Geh jetzt schlafen, du mußt müde sein, das werde ich dir alles nach und nach erzählen.»
Henning senior ließ sich ohne viel Widerstand bereden, seinen Aufenthalt länger auszudehnen, als er ursprünglich beabsichtigt hatte, sah sich während dieser Zeit das Leben seines Sohnes näher an, lernte dessen Bekannte kennen und erwog skeptisch und ein wenig mutlos die Chancen, die sich für seine Zukunft aufstellen ließen. Daß er hier als Vater vor einer schwer lösbaren Aufgabe stand, war ihm von vornherein klar, man konnte dem Schicksal, wie es sich nun einmal entwickelt hatte, nicht in die Speichen fallen und weder die ungünstig gewordenen äußeren Verhältnisse ändern noch den Charakter des Sohnes nachträglich auf sie zuschneiden. Man hatte ihn zum Grandseigneur erzogen, und das war wohl der einzige Beruf, der sich mit seinen Neigungen und Anlagen deckte. Aber auch nur, solange er ihn lässig und dilettantisch ausüben konnte. Er war zu träge, um sich wie manche andere als Grandseigneur an sich durchzusetzen und auf diese Weise das Spiel in die Hand zu bekommen.
So blieb wohl nichts anderes übrig, als eine Stellung zu finden, für die seine Fähigkeiten hinreichten, und der Vater tat, was er konnte, um diesen Schritt wenigstens etwas vorzubereiten. Er holte halbvergessene Beziehungen zu einflußreichen oder nützlichen Persönlichkeiten wieder hervor, machte Besuche und ließ mit stoischer Haltung Einladungen über sich ergehen. Dabei hatte er zum erstenmal das Gefühl, daß er jetzt für die Zukunft seines Ältesten wirklich arbeitete und schaffte, wenn er sich leutselig und distinguiert unter Menschen bewegte, die ihn im Grunde unsäglich langweilten.
Erasmus ließ sich hier und da bewegen, ihn zu begleiten, den Einladungen aber wich er aus, wie er überhaupt zu allem ja und amen sagte, was man ihm vorschlug, sich jedoch mit innerem Schauder abwandte, sobald es ihm lästig wurde. Seine Lust zu geselligem Verkehr war in diesem Winter sehr eingeschlafen, und der Vater bemühte sich vergebens, sie wieder zu beleben.
So wurden aus einer Woche zwei, und dann verging auch noch die dritte, bis der alte Baron sich entschloß, allmählich wieder abzureisen.
«Ich habe mich sehr wohl gefühlt als dein Gast», sagte er an einem der letzten Abende, «deine Bekannten sind reizende Leute, euer Interieur sehr gemütlich... ich muß hinzufügen, es peinigt mich gradezu, daß du es aufgeben sollst. Es ließen sich doch vielleicht noch Mittel und Wege finden...»
Sie saßen zusammen im Hotel auf demselben Platz in der Halle wie am Ankunftstage, dem Spiegel gegenüber, der das Bild «Vater und Sohn» gleichgültig wiedergab, sooft man es ihm vorführte. Beide waren zum Ausgehen gerüstet, den Hut auf dem Kopf und den Überzieher geöffnet, da es hier drinnen reichlich warm war. Man machte eine Pause zwischen verschiedenen Unternehmungen, hatte nach angekommenen Briefen gefragt und einen Kognak getrunken.
«Dein Optimismus, Papa, vermöchte noch eine Welt aus den Angeln zu heben, wozu doch nicht einmal wir Jüngeren mehr die Schneid haben. Ich selbst am allerwenigsten.»
«Das ist kein Optimismus, sondern nur nüchterne Berechnungen, aber leider liegen dir ja auch die allzu fern, als daß man irgendwelche Hoffnungen darauf gründen könnte.»
«Bitte, werde nicht aggressiv, du darfst nicht Eigenschaften von mir erwarten, die sonst bei niemandem in unserer Familie nachzuweisen sind... Was sollte ich denn nach deiner Meinung für Berechnungen anstellen, um mein Interieur zu retten?»
Der Senior drehte mit vielsagender Geste seinen Ehering vom Finger und steckte ihn dann wieder an.
«Da läge das Heil für dich – am ersten Abend schon hatte ich rein instinktiv diesen Gedanken, als du mir nur zufällig den Namen nanntest. Und nachdem ich diese ungewöhnlich sympathische Frau näher kennengelernt habe, die doch zum mindesten eine freundschaftliche Neigung für dich fühlt und du ebenfalls für sie, will es mir nicht aus dem Sinn, daß hier dein Glück zu finden wäre. Ganz abgesehen von der materiellen Seite der Sache. Vielleicht kein romantisches, überschwengliches Glück, aber das, was eigentlich besser und brauchbarer ist... du weißt schon, was ich meine...»
«Ja, das weiß ich... aber du zwingst mich beständig zu respektlosen Äußerungen. Auf deinen Ehering darfst du nun schon gar nicht hinweisen, wenn du mich in dieser Richtung beeinflussen willst, weder auf den ersten noch auf den zweiten.»
Es war das erstemal, daß Erasmus diesen Punkt direkt berührte, und auf seine Bemerkung entstand eine plötzliche Stille zwischen ihnen. Das Gesicht des Vaters war undurchdringlich, und er dachte an seine beiden Frauen. Erasmus' tropische Mama, die er aus unvernünftiger Leidenschaft geheiratet und, solange sie lebte, mit Juwelen und Kostbarkeiten behängt hatte wie ein heidnisches Götterbild. Den Gefühlsluxus durfte er sich immerhin leisten, der andere ging damals schon über seine Verhältnisse. Er ertappte sich bei wunderlichen Gefühlsregungen, vielleicht weil er Erasmus jetzt täglich um sich hatte und dieser stark an sie erinnerte, er hatte dieselben stumpfschwarzen Augen mit schweren Lidern. Wenn sie noch lebte, säße sie jetzt wohl hier zwischen ihnen, heiter und indolent, und scherzte mit ihrem großen Sohn. Es war hübsch und melancholisch, sich das auszumalen. Aber das Familienbild hatte sich verschoben, jetzt war die andere da, und auch hier hatte die Berechnung keine Rolle gespielt. Im Gegenteil, man war sehr verliebt ineinander gewesen. Sie war bedeutend jünger als er, und wenn sie auch nicht wie die andere beständig auf einem Ruhebett lag und sich mit Geschmeiden behängen ließ, so machte sie doch ihre Ansprüche, und die beiden Kinder, für die so vieles zu geschehen hatte, schienen ihm manchmal eine etwas überflüssige Zugabe.
«Überhaupt», sagte jetzt Erasmus, «die Käthe ist doch kein Tauschobjekt wie eine Perlenkette, um die man unter Indianern schachert. Ich schlage Burmann vor, er soll sie heiraten – du mir, ich soll sie heiraten, und wärest du noch Witwer, so würde ich sie dir wiederum anbieten.»
«Sehr richtig», die Antwort klang etwas zerstreut, der Baron kehrte erst allmählich wieder von seiner Gedankenwanderung zurück. «Nein, gewiß, Frau Käthe ist keine Perlenkette, um die man Schacher treibt, sondern eine sehr anmutige Frau, und mehr als das... Wovon ich aber eigentlich sprechen wollte, das war etwas anderes... die ganze Atmosphäre, in der ihr lebt... Aber wir sind zu weit abgeschweift...»
«Es ist Zeit, daß wir gehen, Papa, das Theater fängt um halb neun an, und Käthe liebt es gar nicht, wenn man sie warten läßt.»
«Schön, gehen wir.» Sie standen auf, verließen das Hotel und gingen über einen weiten, erleuchteten Platz dem Theater zu. Man fröstelte nach dem Stillsitzen im warmen Raum.
«Nachher», sagte der Vater und schlug den Kragen in die Höhe, «nachher habe ich eine Verabredung mit dem Kommerzienrat Schönlank. Kommst du mit?»
«Nein, Gott soll mich schützen. Ich habe ihm meinen Besuch gemacht, und das genügt vorläufig. Wir gehen in die Bar Rouge, wenn es dir Spaß macht, kannst du ja später nachkommen.»
«Gerade dieser Mann könnte dir sehr nützlich sein, wenn du seinen Kreis etwas kultivieren wolltest. Ich schwärme gewiß nicht für Finanzkreise, aber» – er unterdrückte die Begründung, man konnte doch nicht bei jedem Gespräch wieder auf den wunden Punkt zurückkommen. Man ging ins Theater.
«Schönlank ist noch keiner von den Schlimmsten. Er ist belesen, gebildet, gereist, man unterhält sich nicht schlecht mit ihm. Auch im Hause, ich war einmal zum Five o'clock dort, es gab eine ganz angeregte Unterhaltung und ein gutes Niveau.»
«Mag sein, Papa. Ich habe eine Privatantipathie gegen den Mann. Schon weil er unsere kleine Hedy sekkiert.»
«Wer ist das nun wieder», sagte der Vater nachdenklich und resigniert. «Ja, die Hedy... die Käthe! Das war's, worüber ich vorhin sprechen wollte. Immer nur Vornamen. Wenn man euch zuhört, kennt man sich nie aus, um was es da sich eigentlich handelt. Das hat so einen Anstrich von Künstlerleben. Künstlerleben mag sehr nett sein, aber es taugt nicht, wenn man sich eine Position zu machen hat. Wenn ich an meine eigene Jugend zurückdenke... was man mit Vornamen nannte, das gehörte auf ein ganz anderes Blatt. Damit wäre man wohl auch in die Bar gegangen – mit einer Dame gewiß nicht. Ich will deshalb gar nichts auf euren Ton sagen, ich finde an eurem Ton gar nichts auszusetzen, er ist weder lax noch zweideutig. Ich sehe höchstens, wie soll ich sagen, einen Hang zum Gehenlassen darin, eine nicht ganz unbedenkliche Bequemlichkeit, ihr tut eben, was euch Spaß macht... Gott, was haben wir dagegen uns als junge Offiziere anstrengen müssen, um das immer auseinanderzuhalten, die Nächte durchgebummelt und dann wieder frisch sein, um den Damen der Gesellschaft den Hof zu machen.»
Er gähnte leise und diskret und gab sich einen leisen Ruck, während sie die Stufen zum Theatergebäude hinaufstiegen und durch den menschenleeren Korridor zur Garderobe gingen. Die Vorstellung hatte schon angefangen, und Käthe erwartete sie in der Loge, munter und etwas ungnädig.
Das Stück war langweilig, und man bekümmerte sich nicht viel darum, was da auf der Bühne getan wurde. Erasmus entschuldigte sich oberflächlich, daß er nicht besser gewählt habe. Im Grunde fühlte er sich nur verpflichtet, den Papa auch einmal ins Theater zu führen, und es war ja schließlich dasselbe, ob man hier saß oder in einem Restaurant. Man sah Leute und Toiletten, und dann ging man wieder fort...
Er rückte etwas abseits und nahm das Publikum mit dem Opernglas durch, wie ein in sich versunkener Gelehrter den Sternenhimmel absucht. Käthe warf hin und wieder einen Blick auf ihn und dachte: Er sucht Lucy. Sie war beinah eifersüchtig, wenn er allein suchte, und fühlte eine Art Heimweh nach der ersten Zeit ihrer gemeinsamen Unternehmungen. Das war alles durch den Besuch des Vaters ins Stocken geraten und abgeschwächt worden.
Nach einer Weile gab Erasmus es auf, legte das Glas fort und schaute mit aufgestützten Armen vor sich hin, über die Brüstung oder nach der Bühne und hörte dem Gespräch der anderen zu.
Der Vater war ganz auf der Höhe, charmierte mit Käthe und plauderte alles mögliche. Er strengt sich an wie in seiner Jugend, dachte Erasmus, aber man merkt es nicht. Das geht so ganz wie von selbst.
Jetzt erzählt er von früheren Bekannten, die er ganz unvermutet wiedergetroffen, nachmittags im Café, in demselben Café, wo sie schon vor zehn Jahren ihren Schwarzen tranken.
«Alle drei sind Junggesellen geblieben», erzählte Baron Henning, und seine Stimme war genau auf die Tonlage eingestellt, die eine Unterhaltung im Theater erfordert. Es klang fast, als vertrauten er und Käthe einander Geheimnisse an.
«Alte Junggesellen?»
«Sie müssen wohl so um vierzig herum sein, also bedeutend jünger als ich.»
«Käuze?» fragte dann Käthe, als ob man von amüsanten Haustieren spräche. «Ich habe ein großes Faible für Käuze, und sie werden immer seltener.»
«Ja und nein. Sie haben wohl ihre Schrullen, sind aber sorgfältig auf alle Äußerlichkeiten bedacht. Sie pflegen die Geselligkeit in jeder Form, sind beständig eingeladen, zu Tees, Abend- und Mittagsgesellschaften, Routs, Frühstücks und dergleichen mehr... Ein bißchen moderner Tick... im Café sitzen sie dann zusammen und sprechen von Lebensharmonie. Ich, Frau Käthe, bin ja leider zu wenig modern und beherrsche diesen Jargon nicht besonders. Man sprach wohl früher über dieselben Sachen, aber man drückte sich anders aus, nur das Resultat war natürlich ganz das gleiche.»
Käthe erwiderte etwas, was man nicht verstand.
«Außerdem sind sie Gourmands, richtige, echte Gourmands, und betreiben das wie eine edle Passion. Mit der Feierlichkeit einer Gerichtskommission begutachten sie die Küche der verschiedenen Häuser, wo sie verkehren, und sind deshalb natürlich bei den Hausfrauen etwas gefürchtet.»
«Ich finde Ihre Käuze gar nicht übel... üben sie sonst noch einen bürgerlichen Beruf aus?»
«Nein, sie sind alle drei wohlsituiert, haben nur Interessen und dieses oder jenes Steckenpferd, zum Beispiel ein warmes Herz für die Jugend, die sie gerne in ihrem Sinne, nämlich in dem einer harmonischen Lebensführung, beeinflussen möchten.»
«Und Sie, Baron, sitzen daneben und mokieren sich im stillen?»
«Ja, ich mokiere mich vielleicht. Ich glaube, daß man nichts und niemand wirklich beeinflussen kann, vor allem keine jungen Menschen. Das besorgt alles das Leben selbst.»
«Meinst du mich, Papa?» fragte Erasmus mit apathischer, wie aus der Ferne herüberklingender Stimme... Er hatte sich bis dahin sozusagen unsichtbar gemacht, und der Vater wandte sich fast erstaunt nach ihm um und ging über seine Zwischenfrage hinweg.
«Du kennst ja die Herren, von denen wir sprechen. Augustin sagte mir, daß ihr euch öfters in Gesellschaft getroffen...»
«Ja, natürlich kenne ich sie, und sicher sind sie schon damit beschäftigt, beim schwarzen Kaffee auch mein Schicksal zu stilisieren, falls sie über die dunklen Geschicke unseres Hauses unterrichtet sind. Ich will sie doch einmal wieder aufsuchen und verspreche mir mehr von ihnen als von deinen Kommerzienräten.»
«Momentan stilisieren sie das Schicksal einer talentvollen und unbemittelten Nichte, die auf die Malerei versessen ist.»
«Vielleicht ist das Lucy... ach nein, Lucy wird doch, so Gott will, keine Malerin sein.»
Der Vater machte eine unschuldige Bewegung.
«Haben Sie denn gar nichts für Lucy übrig?» fragte Käthe, «unsern Traum, unser Phantom...»
«Unseren Spleen», ergänzte Erasmus und sah nach der Bühne, wo jetzt der Vorhang fiel. Die Darsteller wurden gerufen, zweimal, dreimal, und machten ihre Verneigungen mit beglücktem Lächeln.
«Unser Spleen, Käthe», wiederholte der junge Henning noch einmal, als sie nach einer schweigsamen Autofahrt in der Bar saßen, «der bleibt vielleicht das Beste an der ganzen Geschichte, wenn der Papa fort ist, wollen wir ihn weiter kultivieren.»
Er stürzte einen Drink nach dem anderen hinunter, und sie sah ihm verwundert zu. Es war ihr schon seit einiger Zeit aufgefallen, daß er gegen seine frühere Gewohnheit viel trank.
«Oder es könnte auch eine große Albernheit sein. Wir laufen da herum, vermachen die Nächte und bilden uns ein, nach diesem Weib zu suchen, das am Ende, wenn es wirklich existiert, eine ganz üble Nummer oder eine dumme Gans ist.»
«Aber wir haben uns ganz wohl dabei befunden.»
«Ja, es ist sehr hübsch, zur Abwechslung Bruder und Schwester zu spielen, ich habe das noch nie gekannt. Wenn wir uns nun statt dessen ineinander verliebt hätten, Käthe, wie andere normale Menschen – vielleicht wären wir dabei noch viel glücklicher gewesen... wer kann das wissen.»
«Ja, wer kann das wissen – aber ich bitte Sie, lieber Erasmus», und sie rückte ihm das Glas weg. «Machen Sie jetzt eine Pause. Sie entwickeln neuerdings Anlagen zum stillen Trinker.»
«Also die Kinder kommen auch hierher», sagte er in verändertem Ton, «wann waren sie bei Ihnen?»
«Am Nachmittag – nur Georg. Er hatte mir viel zu erzählen. Die Schulgeschichte ist beigelegt, das heißt, die Buben sind verwarnt worden; wenn sie sich noch das Geringste zuschulden kommen ließen, ginge es ihnen an den Kragen. Nach dem, was er so sprach, ist immer noch große Erregung unter ihnen über den Tod des Kameraden und die Art, wie man sie dann behandelt hat, halb wie ungezogene Kinder und halb wie angehende Verbrecher. Die fünf, welche den Selbstmordverein bildeten, der sechste ist ja tot, haben sich verschworen, in allem zusammenzuhalten, was ihnen auch immer passieren könnte. Anfangs sei gar kein Pathos dabei gewesen, sagte er mir, aber jetzt ist es eine ganz pathetische Sache geworden zwischen ihnen. Mit Erziehung wird ja immer nur das Gegenteil erreicht. Jetzt sitzen sie beständig zusammen und debattieren mit erhitzten Gemütern. Ich finde den Jungen sehr verändert. Ach, was seid ihr alles für Menschen, jede Erschütterung wirft euch aus dem Geleise.»
«Ich war nie darin», antwortete Henning. Seine Stimme klang fremd, und sie begriff, daß er nicht mehr nüchtern war. Ein paar Sekunden kämpfte sie mit einer ärgerlichen Nervosität, die plötzlich in ihr emporsteigen wollte. Das Leben konnte ganz vernünftig, gut und angenehm sein, und so hatte man es auch bisher in ihrem engeren Kreise damit gehalten. Aber jetzt war es beständig, als ob eine unbestimmbare Spannung in der Luft läge und die Nerven aller vibrieren machte... Käthe sann darüber nach, um sich wieder zu beruhigen, gewöhnlich wurde sie rasch mit solchen Stimmungen fertig. Sie pflegte nachzudenken, wie man aufräumt; das kommt hierher, das dorthin, das da muß repariert werden und jenes wirft man lieber gleich ganz weg... Heute gelang es ihr nicht, die Umgebung war zu ungeeignet, so schob sie entschlossen alles von sich weg, nahm sich vor: ein anderes Mal und zwang sich zu ihrer offiziellen Munterkeit.
Das Lokal füllte sich indessen immer mehr, Leute kamen und gingen, tranken, standen herum oder ließen sich nieder und tanzten in dem freien Raum vor dem Büfett. Das Nachtleben kam in Gang.
Henning entschuldigte sich, daß er dummes Zeug geredet habe, der allzu unfehlbar weltmännische Papa rufe bei ihm eine Reaktion hervor, meinte er und wurde dann sehr lustig, ließ sich sogar mit Käthes Barkavalier, der unweigerlich auftauchte und um einen Tanz bat, auf ein Wortgefecht über den Tisch herüber ein.
Um Mitternacht erschienen Georg und Hedy. Gott mochte wissen, wie sie das wieder möglich gemacht hatten... Käthe hatte am Nachmittag, als Georg ihr den Plan mitteilte, gedankenlos zugestimmt, jetzt war es ihr wie Henning etwas bedrückend, die beiden hier in dem zweifelhaften Durcheinander zu sehen. Sie waren aber weniger denn je gesonnen, sich bevormunden zu lassen, benahmen sich verwegen, rebellisch und überlegen. Hedy trug ein helles Kleid mit halblangen Ärmeln und eine erwachsene Frisur, die aussah, als sei sie eben, auf Reklame frisiert, vom Coiffeur gekommen. Das Kindliche an ihr schien absichtlich unterdrückt, und als Henning bemerkte, sie komme ihm ganz fremd vor wie eine Dame, der man sich erst vorstellen lasse, sagte sie herausfordernd:
«Das ist recht, jetzt will ich endlich einmal erwachsen sein. Von jetzt an kümmere ich mich um nichts und niemand mehr und tue, was ich will.»
Gleich darauf zog sie ihn in eine Ecke, lehnte sich beinah zärtlich an ihn und bat: «Tanzen Sie heute wieder einen Konversationswalzer mit mir wie damals im Waldrestaurant. Und morgen bringe ich Ihnen den Schuh, wissen Sie, den ausgetretenen, den ich Ihnen versprochen habe.» Dabei blinzelte sie wie immer, wenn sie ins Licht sah, ihre hellbraunen Augen, die manchmal ins Grünliche spielten, kniffen sich zusammen, und die Pupillen wurden ganz klein.
«Sie haben Katzenaugen, Hedy», sagte Henning, «und wie steht's mit den Krallen? Die wachsen Ihnen wohl noch.»
«Der Kuß und dann die Kralle... so sind sie alle», sagte der Barkavalier, der in der Nähe stand. Er wunderte sich, daß der sonst so unzugängliche Baron, der nie von Käthes Seite wich, sich mit einem Mädchen beschäftigte. Er fand es ungehörig, übrigens hielt er Henning für keinen echten Baron.
Hedy sah ihn ablehnend an und zog Henning mit sich fort.
«Für Sie habe ich keine Krallen», versicherte sie, «aber auch keinen Kuß.»
«Ich will ja auch keinen, Kind, Georg würde es wahrscheinlich nicht gerne sehen.»
«Doch nein, ich werde Ihnen noch einmal einen Kuß geben. Ich habe Sie sehr gerne und will Georg schon erklären, wie das ist. Ich weiß schon, Sie gelten für einen Mädchenjäger», fuhr sie altklug und nachsichtig fort, «aber mit mir ist es anders.»
«Nun ja, gewiß, für Sie bin ich so etwas wie ein älterer Freund. Kommen Sie nur immer zu mir, wenn Sie einen solchen brauchen.»
Sie hatte auf einmal Tränen in den Augen und kam, nun der Kuß genügend erörtert war, auf die Kralle zurück.
«Ja, es gibt schon Leute, denen ich auch die Krallen zeigen möchte.»
«Wem denn?»
«Oh, diesem alten Hund von Kommerzienrat», und sie erzählte, daß der sie nun doch verraten habe. Er hatte ihre Mutter warnend darauf aufmerksam gemacht, daß sie sich mit einem jungen Menschen herumtreibe. Die war außer sich und wollte wissen, wer es sei. Hedy aber wollte es auf keinen Fall sagen. Die Mutter machte ihr nun Szenen, drohte auch den Vater einzuweihen, jammerte, daß sie leichtsinnig sei und sich ihre Zukunft verderben würde. Sie sollte eben durchaus eine glänzende Partie machen.
«Es fällt mir ja nicht ein», sagte sie, nein, sie wisse ganz genau, was sie wolle, und sprach so, als ob nur ihre Eltern unvernünftig seien und keine Ahnung von der Welt hätten. Sie selbst hingegen war sich vollkommen klar, wo hier das Richtige lag.
Henning bemühte sich, ihr vermittelnd zuzureden. Sie konnte doch die Mutter beruhigen, die Sache mit Georg als einen Schulflirt hinstellen, wie er bei allen einmal vorkomme, und dann vorsichtiger sein. «Ihr treibt es selbst für unsere Begriffe zu arg», meinte er, «zum Beispiel hierherzukommen.»
«Es gibt ja doch über kurz oder lang einen Krach», sagte sie leichtsinnig, «und da, finde ich, soll man sich vorher noch so viel wie möglich amüsieren. Georg wollte ja auch nicht, ich habe ihn mit vieler Mühe überredet, weil Sie und Frau Käthe auch hier sind...», sie nickte Georg zu, der drüben beim Büfett stand, und sagte: «Übrigens will ich jetzt mit ihm tanzen. Nachher kommen wir dann an den Tisch.»
Erasmus kehrte zu Käthe zurück, die sich schlagfertig und amüsiert gegen einige neuaufgetauchte Courmacher verteidigte. Als er kam, zogen sie sich höflich, in Anerkennung seiner älteren Rechte, zurück. Nur der Ungar blieb in der Nähe, man war an ihn gewöhnt und bewilligte ihm Privilegien. Er durfte am Nebentisch sitzen und manchmal herübersprechen. Um Käthe aufzureizen, erzählte er, daß er den Baron mit einem feschen kleinen Mädel ertappt habe.
Käthe fächelte sich gleichmütig, und nun ging die Tür auf, eine Gruppe von Gästen drängte hinaus, und zwei Neuankommende blieben wartend stehen, bis sie vorbei waren. Es waren der alte Baron und der Kommerzienrat Schönlank.
«Sehen Sie Gespenster?» fragte Käthe. «Sie machen ein Gesicht wie ein erschrockener Schuljunge, wenn der Papa kommt.»
Erasmus fühlte tatsächlich ein eisiges Unbehagen.
«Nicht wegen dem Papa», sagte er leise, «aber der andere ist Schönlank, der Unglücksrabe. Hätte ich eine Ahnung gehabt, daß er den mitbringt! Wir müssen sehen, Hedy so schnell wie möglich noch unbemerkt abzuschieben.»
Die beiden Herren standen schon vor ihnen, man begrüßte sich, und sie nahmen Platz. Henning, der ältere liebte diese Art von Lokalen nicht, besonders in Damengesellschaft, er sah sich kühl und prüfend um und bestellte einen Whisky, wie jemand, der sich in Unvermeidliches ergibt. Außerdem war er müde. Schönlank dagegen – er war ein gutaussehender Mann mit beweglichen Allüren – zeigte sich aufgeräumt und schlug einen scherzenden Mitternachtston an. «Schöne Frau», sagte er zu Käthe und schlug ihr vor, eine Flasche Sekt mit ihm zu trinken. Sie ging darauf ein und überdachte rasch, was zu tun sei. Hedy und Georg tanzten in einiger Entfernung mit solcher Hingabe, daß sie nichts anderes mehr sahen und hörten... Der Kommerzienrat saß mit dem Rücken gegen das Lokal. Wenn sie oder Erasmus aufstanden, drehte er sich vielleicht um, um ihnen nachzusehen. Sie flüsterte dem Ungarn, der sie mit Glutaugen betrachtete und die neuen Ankömmlinge mißtrauisch musterte, einen Auftrag an Hedy zu. «Sie wollen mich nur lossein», flüsterte er zurück, «was sind das für neue Verehrer?»
«Nein, Sie dürfen gleich wiederkommen, und ich tanze mit Ihnen, soviel Sie wollen. Sagen Sie dem Mädchen nur, sie möchte heimgehen, durch die Hintertür, und nicht mehr hierherkommen.»
«Schönste Frau», sagte der Kommerzienrat, schenkte ihr ein und lachte schallend: «Sie haben ja den Teufel im Leibe. Wer hätte das gedacht, daß wir uns einmal zu solcher Stunde und an solchem Ort treffen würden? Ich habe ja diesen Winter schon allerhand von Ihrer Vergnügungssucht gehört, und es freut mich ungemein, Sie einmal in flagranti zu erwischen. Auf Ihr Wohl.» Käthe stieß lächelnd mit ihm an:
«Oh, da sind Sie auf falscher Fährte. Das hat gar nichts mit Vergnügungssucht zu tun. Ich verfolge ganz andere Zwecke.»
Der Ungar erhob sich, zögerte noch und warf flammende Blicke auf die Tischgesellschaft. Dann ging er langsam und verschwand im Hintergrund bei den tanzenden Paaren. Käthe folgte ihm mit den Augen und verwickelte Schönlank in eine muntere Neckerei, während Erasmus mit seinem Vater über die Abreise sprach und ungeduldig die Füße im Takt der Musik bewegte. Drüben trat Käthes Kavalier an das tanzende Pärchen heran.
«Kleine Katze», sagte er, «die gnädige Frau läßt Ihnen sagen, Sie möchten so rasch wie möglich verschwinden, durch die Hintertür, sich nicht mehr blicken lassen. Geschwind, kleine Katze.»
Sie blieben stehen, Georg ließ sie los und betrachtete den Sprecher. Was wünschte er? Er hatte nicht recht verstanden und meinte, es handle sich um eine Frechheit gegen Hedy. Nun stellte der andere sich vor und wiederholte seinen Auftrag. Hedy aber stürmte ohne ein Wort zu sagen und ohne zu überlegen auf den Tisch zu, wo die anderen saßen. Was sollte das heißen, was wollte man von ihr, und weshalb schickte man diesen Menschen, anstatt selbst mit ihr zu sprechen? Dann war ihr vorübergehend zumut wie in einem bösen Traum, Henning und Käthe sahen sie betroffen an, da saß ein älterer Herr mit strengem Gesicht, den sie nicht kannte, aber ihr fiel ein, daß es wohl Hennings Vater sein müsse, und noch einer, der laut lachte, sich nach ihr umwandte und den sie recht gut kannte.
«Ah, das ist ja eine reizende Überraschung», sagte Schönlank immer aufgeräumter, faßte ihre Hand und wollte sie heranziehen. Sie machte keinen Versuch, sich zu befreien, schlug ihn aber mit der freien Hand ganz mechanisch und zornig zweimal nacheinander ins Gesicht. Damit war das Traumgefühl zu Ende, sie begriff, daß sie eine ungeheure Dummheit gemacht hatte, und sah nun alles ganz deutlich vor sich, wie Henning aufsprang und zu ihr herüberkam und gleichzeitig Georg neben ihr stand, während Käthe sie sprachlos anstarrte und der alte Baron ungemein reserviert blieb. Der Kommerzienrat hatte eine Grimasse geschnitten, und seine Stimme klang nicht mehr so munter, als er sagte:
«Aber was fällt Ihnen denn ein, Fräulein Hedy? Es wird doch wohl Zeit, daß ich mal ein ernstes Wort mit Ihrem Papa rede, die Mama nimmt es anscheinend nicht ernst genug. Dann ist es aber aus mit Ihren Amüsements.»
«Ja, dann ist es aus», sagte sie verzweifelt und gedankenlos.
Keiner sagte ein Wort, nur der Kommerzienrat sprach weiter: «Aha, das ist also Georg.»
«Burmann ist mein Name», stellte Georg sich mit einer zornerfüllten Verbeugung vor und besann sich, was er jetzt tun sollte.
«Das ist also Georg... sehr hübsch... man geht zusammen ins Chambre séparée, man tanzt in der Bar.» Er lachte herzlich und verständnisvoll und betrachtete den Jungen von oben bis unten. «Georg Burmann», wiederholte er dann, «ja, ja, ich weiß schon... einer der jungen Herren vom Selbstmordverein, einstweilen aber noch ganz lebenslustig. Oder sind Sie hier, um neue Anhänger zu werben?»
«Stimmt, Herr Kommerzienrat», sagte Georg mit zornsprühenden Augen, er fühlte sich in einer schwierigen Lage und fügte unbeholfen hinzu: «Ich bedaure nur, daß Sie nie mit Erfolg in unserem Verein tätig waren.»
«So? Was habe ich Ihnen denn getan, junger Mann?»
«Sie sind gemein», sagte Georg jetzt in sehr bestimmtem Ton.
«Jetzt aber ist Schluß», warf sich Erasmus plötzlich dazwischen und schob Hedy fort, der Garderobe zu. Dort wickelte er sie ohne weiteres in ihren Mantel. Georg folgte ihnen.
«Bringen Sie das Kind jetzt gleich nach Hause, Georg. Ich werde schon mit dem Mann reden. Gott, was macht ihr denn für Sachen. War das notwendig?»
Das Mädchen war aufgeregt und zitterte am ganzen Körper, dazwischen aber sagte sie triumphierend: «Sehen Sie, jetzt habe ich ihm doch einmal die Krallen gezeigt.»
Erasmus nahm ihre Hände und steckte sie in den Muff: «Ach Hedy, hätten Sie es lieber nicht getan. Ihr rennt euch nur hinein, und was nützt es euch. Diese Leute sind einem über. Jetzt geht, und morgen kommt ihr zu Hans hinauf, da reden wir weiter.»
Georg drückte ihm die Hand und sprach nichts mehr. Dann begleitete er sie an die Hintertür, die auf eine Nebenstraße hinausging, und sah ihnen nach, wie sie eng aneinandergeschmiegt davongingen.
Am Tisch, wo die Gesellschaft saß, herrschte unterdessen eine peinliche Stimmung. Schönlank versuchte dem Baron den Vorfall zu erklären. Der hörte wortkarg zu und dachte: Das also war Hedy, was sind das alles für Geschichten. Unangenehm und ungehörig. Man hätte nicht in dies Lokal gehen sollen.
Der Ungar hatte sich wieder an den Nebentisch in Käthes Nähe gesetzt. Er faßte lebhafte Sympathie für Hedy und Georg, auf den Zusammenhang kam es ihm nicht an, er war nur neugierig, wer das Mädchen sei.
«Ich bitte Sie, ich bin mit der Familie befreundet», sagte Schönlank, «das kann man doch nicht einfach mitansehen und als guter Onkel ein Auge zudrücken. Eine kleine Liebelei, schön, das gibt's immer zwischen Gymnasiasten und Mädchenschule, aber der Junge schleppt sie überall hin, wo junge Mädchen nicht hingehören. Er hat üble Anlagen, der Bengel...», und er begann vom Selbstmordverein zu erzählen. Der Baron hörte zu ohne besonderes Interesse und nickte nur hier und da: ja, ja, gewiß.
Dann kam Erasmus zurück, und es wurde dadurch noch schwieriger, da er ja anscheinend freundschaftliche Beziehungen zu den jugendlichen Sündern hatte und sie unter seinen Schutz nahm. Schönlank brach mitten im Satz ab und sah ihn gespannt an. Er war sehr neugierig und hätte gerne alles mögliche gewußt. Daneben fühlte er sehr wohl, daß der junge Baron ihm keine sympathischen Empfindungen entgegenbrachte, während er seinerseits sich schon seit längerer Zeit für ihn interessierte und ihn gerne in seinen Kreis gezogen hätte. Ein Baron, besonders wenn er ein schöner Mensch und etwas absonderlich war, nahm sich immer gut aus.
«Herr Kommerzienrat», sagte Erasmus und suchte seine Privatantipathie möglichst zu bezwingen, «ich bin dafür, daß wir dieses unfreundliche Intermezzo jetzt ruhen lassen. Nächster Tage komme ich einmal zu Ihnen, und dann sprechen wir darüber. Nur bitte ich Sie, bei den Eltern des jungen Mädchens bis dahin zu schweigen. Nichts für ungut, aber es kann Ihnen selbst doch nicht angenehm sein, einem Mädel gegenüber den Angeber zu spielen.» Ein degoutierter Zug legte sich um seinen Mund, und die Antipathie bekam wieder die Oberhand...
«Ich werde mich sehr freuen, Sie bei mir zu sehen», erwiderte der andere mit einem Unterton von Gereiztheit. «Es ist auch sehr liebenswürdig von Ihnen, mir Fingerzeige für mein Verhalten zu geben. Ich fürchte aber, das werden Sie mir selbst überlassen müssen. Ungezogenen Schulkindern gehört Strafe, anders ist ihnen nicht beizukommen. Oder soll man ihre Unarten einfach über sich ergehen lassen? Ich bitte Sie, wir sitzen in einem öffentlichen Lokal. Der Vater der Kleinen ist mein Geschäftsfreund. Soll ich riskieren, daß ihm gelegentlich erzählt wird, ich habe mich hier von seiner Tochter ohrfeigen lassen? Wie stehe ich dann da? Man könnte auf die seltsamsten Vermutungen kommen. Durch die Unverschämtheit dieser liebenswürdigen Jugend eventuell noch kompromittiert zu werden, kann ich mir wirklich nicht leisten. So leid es mir tut, sehe ich hier keinen anderen Weg, als die Eltern auf die Vergnügungen ihres Töchterchens aufmerksam zu machen, mit denen ich leider in Kollision geraten bin.»
Er hat von seinem Standpunkt aus natürlich recht, der Unglücksmensch, dachte Erasmus. Die Liebesgeschichte unserer Krabben ist natürlich eine ganz unerhörte und unmögliche Geschichte. Wir haben ja auch manchmal Moral gepredigt, aber es hat nichts genützt...
Nun legte der Kommerzienrat ihm auch noch die Hand auf den Arm: «Lieber Baron, Sie denken doch nicht etwa, daß ich mich für diese hübsche kleine Ohrfeige rächen wollte. Darüber lacht man, und fertig. Aber dem Mädel gehört eine strengere Erziehung, wo soll das sonst noch hinaus. Jugend hat keine Tugend, weil sie die Tragweite der Dinge noch nicht begreift. Da sind wir Älteren dazu da, Unglück zu verhüten. Die Kleine ist nicht so harmlos, wie es aussieht. Ich könnte ihr Großvater sein, erlaube ich mir aber einmal eine kleine Freundlichkeit, so macht sie viel Wesens daraus... ihre Phantasie ist eben schon auf Irrwegen.»
Henning senior wurde ungeduldig, er hatte genug davon, er war verstimmt und wollte schlafen.
«Sie haben Pech mit uns», sagte Käthe zu ihm, während die anderen noch sprachen und der Kellner zum Zahlen erschien. «Erst sind wir langweilig, wie heute im Theater, und dann gibt's noch unangenehme Zwischenfälle.»
«Ein bißchen Boheme, die ganze Geschichte, Frau Käthe», antwortete er, «und mir ist das ungewohnt und fremd. Ich fürchte manchmal, daß mein Sohn einige Anlage zum Bohemien hat, und das ist sicher kein Glück für ihn.»
Dann verließ man das Lokal und trennte sich.