Franziska zu Reventlow
Ellen Olestjerne
Franziska zu Reventlow

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Es war die Nacht auf den ersten April, Ellen lag halb angezogen auf dem Bett und daneben brannte die Kerze. Jede Stunde hörte sie schlagen, dazwischen schlief sie halb ein und fuhr erschrocken wieder in die Höhe – Mitternacht – eins – halb zwei – Sie kämpfte mit der Versuchung, sich in die Kissen hineinzuwühlen und fest zu schlafen – morgen war ja auch noch ein Tag, warum sollte es durchaus gerade heute sein? Nachtdunkel und Müdigkeit nahmen ihr den Mut: wenn nun alles fehlschlug, sie eingeholt, festgehalten und mit Gewalt zurückgeschleppt wurde?

Wieder schlief sie eine halbe Stunde und richtete sich erschrocken wieder auf, die Lider wurden immer schwerer – ihre Kerze war halb heruntergebrannt – halb drei Uhr. Wie ein wahnsinniger, undurchführbarer Entschluß kam es ihr plötzlich vor, aufzustehen und fortzulaufen – es war kalt und dunkel, sie dachte an ihre Eltern, ihr schien, als ob die ganze Welt da draußen so sein müßte, wie diese finstere Nacht, und da sollte sie nun allein ihren Weg suchen. – Ah – nur noch etwas schlafen, da schlug die Uhr wieder –, nein, nein, wenn sie sich nicht aufraffte, war es zu spät – jetzt oder nie. So riß sie sich mit Gewalt empor und kleidete sich an – das kalte Wasser verscheuchte den Schlaf und all die zögernden Gedanken. Draußen über den Bäumen schien der Mond, und durch die Zweige fuhr ein rascher Morgenwind. Frühling, dachte sie, und draußen wartet das Leben. Am Tisch vor dem Fenster schrieb sie rasch ein paar Zeilen an den Pfarrer, und bei jedem Wort durchrieselte es sie wie ein Schluck starker Wein. Wie oft hatte sie von dem Augenblick geträumt, wo sie solche Worte sagen konnte: »Ich gehe jetzt. Ihr seid die Besiegten. Macht, was ihr wollt, ich gehe.«

Dann machte sie das Fenster auf und ließ ihren Koffer an einem Strick herunter. Mit Schrecken fühlte sie, wie schwer er war, ein paarmal wäre ihr fast der Strick aus der Hand geglitten, und der Koffer schlug gegen die Hauswand. Gerade unter ihr lag das Krankenzimmer, wo jetzt eine Pflegerin bei der langsam Sterbenden wachte. Gott im Himmel, da schlug er wieder an. Wenn nun plötzlich da unten jemand das Fenster aufmachte und fragte –. Und nun konnte sie ihre Schuhe nicht finden. – Alles war wie verhext heute morgen. Natürlich lagen sie unten in der Küche zum Putzen, sie war ja gestern in Hausschuhen heraufgekommen. Sie blies das Licht aus, schloß die Tür hinter sich zu und warf den Schlüssel in eine Ecke – ihr Zimmer lag oben auf dem Speicher. Dann tappte sie die Treppe hinunter, die Stufen knarrten wie noch nie. Und jetzt in der dunklen Küche aus dem Haufen von Stiefeln die ihren heraussuchen. Der große Haushund lag auf dem Flur, er erkannte sie nicht gleich und fing an zu knurren, dann wedelte er und wollte mit, als Ellen zum Küchenfenster hinaussprang. Sie faßte ihn am Halsband und schob ihn zurück, horchte noch einmal, ob alles still wäre, dann schlich sie leise um das Haus und band den Koffer los. Im Krankenzimmer war Licht, und man hörte gedämpfte Stimmen.

Auf dem Kirchhof blieb Ellen stehen und sah auf das stille, weiße Haus zurück, und dann strebte sie so rasch wie möglich über die Felder der Stadt zu. Hier und da setzte sie sich auf den Koffer und ruhte aus, er war entsetzlich schwer. Im Notfall laß ich ihn im Stich, dachte sie, aber es war alles darin, was sie besaß – Briefe und Bücher, die sie nicht preisgeben wollte. Endlich kamen die ersten Häuser der Stadt, und dort drunten lag der Bahnhof. Es war höchste Zeit – Ellen warf ihre Last mit einem heftigen Ruck auf die Schulter und fing an, Trab zu laufen, ihre Schritte hallten laut durch die stillen Straßen, und dicke Tropfen rannen ihr von der Stirn. Im letzten Moment kam sie an, konnte gerade noch das Gepäck hineinwerfen und nachspringen, ehe der Zug sich in Bewegung setzte.

Über dem weiten Flachland wurde es immer heller. Ellen war allein im Kupee und sang laut in den Morgen hinein. Sie konnte nicht stillsitzen und nicht stillschweigen, ihr war, als ob sie sonst zerspringen müßte: frei bin ich, frei bin ich, frei – frei! An dem Wort berauschte sie sich, taumelte fast, lief hin und her, von einem Fenster zum andern und sang wieder hinaus: frei bin ich, frei – setzte sich einen Augenblick hin und lachte, daß ihr die Tränen kamen.

Als der Schaffner kam, hielt sie ihm ihr Billett hin, als wäre es ein Königreich – und für sie war es auch eines. – Gott, wenn er nur etwas sagte, der erste Mensch, der ihr heute begegnete – er mußte etwas sagen, sich mit ihr freuen, ihr Glück wünschen. Sie gab ihm alles Kleingeld, das sie noch in der Tasche hatte, und nun grinste er endlich, und Ellen lachte.

»Na, Sie sind aber vergnügt am frühen Morgen, Fräulein.«

Ellen warf sich in die Ecke und lachte – lachte. Es war klar, daß der Mann sie für verrückt hielt.

Bei der nächsten Station tat sie eine schwarze Brille und einen dichten Schleier an, es ging ja mitten durch das Land der zahllosen Verwandten, überall konnte sie bekannte Gesichter treffen. Und dann wußte sie nicht, wie ihre Fassung behaupten, als andre Leute einstiegen mit einem Kind, das sich vor ihr fürchtete und zu schreien begann – und der Schaffner wieder hereinkam und sie immer verdutzter ansah.

Nicht einmal Lisa und Detlev erkannten sie, als Ellen über den Perron auf sie zustürzte. Der Bruder war heimlich gekommen, um diesen Tag mitzuerleben, sie flogen sich in die Arme und lachten bis zu Tränen. Durch das stürmische Frühlingswetter gingen sie alle drei zu Lisas Wohnung. Es war wie der Wahrheit gewordene Traum all ihrer Jugendjahre, daß Ellen jetzt ihre Ketten gebrochen hatte, und tagelang war mit den beiden Geschwistern kein vernünftiges Wort zu reden. Sie sprangen über Tische und Stühle, erfüllten das ganze Haus mit Lärm und Lachen, gingen Arm in Arm durch die Stadt, verkauften Ellens Schmucksachen, um Rheinwein zu trinken, und kamen abends singend nach Hause, um das fröhliche Gelage fortzusetzen.

»Jetzt wollen wir doch endlich ein ernstes Wort über Ellens Zukunft reden«, sagte dann Detlev, während er die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch stellte – und gleich darauf klangen die Gläser und sie lachten. Selbst die Freundin schüttelte manchmal den Kopf – sie hatte ein warmes Interesse für diese beiden jungen Menschen und ihr Schicksal lag ihr sehr am Herzen. Aber was sollte wohl einmal aus ihnen werden, besonders aus Ellen, wenn das Leben sie hart anfaßte?

Dazwischen erwarteten sie jeden Augenblick, daß plötzlich irgendein Abgesandter der Familie erscheinen, Ellen zurückfordern und gewaltige Szenen und Stürme mit sich bringen würde. Aber es geschah nichts von alledem, es kam nur ein kurzer Brief von Ellens Vater an ihre Freundin; er sähe jetzt, daß er seine Tochter nicht mehr zurückhalten könnte, sich ins Verderben zu stürzen.

Als der Bruder fort war, kam Ellen wieder etwas mehr zur Besinnung und fing an, Stellung zu suchen – fuhr hierhin und dorthin, meldete sich auf alle Annoncen oder bei Schulvorsteherinnen und Schulräten. Aber es vergingen Wochen, ohne daß sich irgendeine Aussicht bot. Ellen machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck mit ihrem adligen Namen und ihren etwas abgetragenen Kleidern: einmal fand man, sie sähe viel zu jung aus, ein andermal erkundigte man sich nach ihren Familienverhältnissen. Endlich kam Antwort auf eine Annonce, in der sie sich als Reisebegleitung oder Gesellschafterin angeboten hatte: sie sollte ihre Photographie einschicken und mitteilen, über welche Sprachen und Kenntnisse sie verfügte. Der Brief kam aus Straßburg und war mit »Louis Michel« unterzeichnet. In einem zweiten Schreiben wurde sie aufgefordert, zu einer persönlichen Vorstellung nach Köln zu kommen.

Lisa und Ellen ergingen sich in Vermutungen – vielleicht war es ein kränklicher, älterer Herr oder ein Witwer mit Kindern.

Am Abend vor der Abreise war Ellen allein zu Hause, und es kam ein Bekannter von Lisa – Doktor Laurenz. Sie hatte ihn während dieser Wochen oft gesehen, denn er wußte von ihrer Lage und nahm französische Stunden bei ihr. Als sie mit ihren Büchern auf dem Balkon saßen, erzählte Ellen ihm, daß sie jetzt Aussicht auf eine Stellung habe und morgen nach Köln fahren werde.

Doktor Laurenz war ein hochgewachsener Mann mit raschen, jugendlichen Bewegungen und klugen blauen Augen, die etwas Forschendes im Blick hatten, und Ellen fühlte etwas wie Respekt vor ihm, weil er so überlegen lächeln konnte.

»Ich finde das ziemlich bedenklich für Sie«, meinte er, »so aufs Geratewohl hinzufahren.«

»Aber das ist ja gerade schön – ich habe keine Ahnung, was für Leute das sein mögen und wozu sie mich engagieren wollen – am Ende werde ich noch Kindermädchen.«

»Und was sagt Herr Allersen dazu?«

»Den habe ich gar nicht gefragt, nur geschrieben, daß ich nach Köln fahre.«

Ihm kam das Verhältnis überhaupt etwas merkwürdig vor, es schien sie immer zu bedrücken, wenn sie davon sprach. Es wurde dunkel, und das Mädchen kam mit der Lampe – Doktor Laurenz nahm den Klemmer herunter und sah Ellen an.

»Ich glaube, Sie lassen sich überhaupt nicht gern dreinreden – aber wollen Sie mich nicht ein wenig als älteren Bruder betrachten, der hier und da raten darf? – Nehmen Sie wenigstens einen Revolver mit auf die Reise.«

Ellen versprach es und lachte über seine Bedenklichkeit.

Am nächsten Morgen kam er an die Bahn und brachte ihr Rosen.

»Haben Sie den Revolver?«

»Ja.«

Lisa fand es auch etwas übertrieben. Sie gingen zusammen zurück, als der Zug fort war und sprachen über Ellen.

»Ich wollte ihr wünschen, daß sie endlich was fände«, sagte die Freundin. »Das arme Kind, sie hat wirklich keine frohen Jahre hinter sich und gehört so sehr zu denen, die das Leben mit Jubel genießen möchten.«

»Glauben Sie eigentlich, daß sie diesen Allersen liebt?«

»Ach«, Lisa machte ein Gesicht, »lieben – Ellen tut mit ihm, was sie will, und das ist ihr ganz bequem. Er hat gar kein Rückgrat – ich glaube auch nicht, daß die Geschichte noch lange dauert. Ich habe schon oft beobachtet, daß sie ganz ungeduldig wird, wenn ein Brief von ihm kommt.« Dann trennten sie sich.

 

Ellen machte ihre ernsthafte Gouvernantenmiene – sie hatte sich ihr Benehmen für solche Fälle mit vieler Mühe einstudiert – zurückhaltend, liebenswürdig, bescheiden – und möglichst weltgewandt. Jede Bewegung mußte sagen: ich bin allem gewachsen, verlangt, was ihr wollt.

Innerlich kämpfte sie mit einer fast unbezähmbaren Lachlust – ihr zukünftiger Brotherr hatte sie am Bahnhof abgeholt.

»Wo wünschen Sie abzusteigen?«

Das wußte sie nicht, da sie hier ganz unbekannt war.

»Dann haben Sie wohl nichts dagegen, mit in mein Hotel zu gehen?«

»O nein, gewiß nicht.«

Als sie im Wagen saßen, fragte er rasch: »Es ist Ihnen doch nicht unangenehm, wenn ich Sie als meine Frau einschreibe – nur um alles Auffallende zu vermeiden.«

Es kam ihr etwas seltsam vor, aber sie fand es ganz lustig und dachte, es sei am besten zu tun, als ob alles ganz selbstverständlich wäre. Dann hatte er ein Zimmer mit Salon genommen und ließ das Abendessen heraufbringen, und jetzt saß sie mit dem wildfremden Mann, der etwas gebrochen deutsch sprach, beim Souper. Er war groß und brünett, sehr elegant und sehr aufmerksam. Als was mochte er sie wohl engagieren wollen? – Er fragte nach allem, was sie gelesen hätte, wofür sie sich interessierte, sprach über Kunst und Bücher. Als der Kellner wieder hereinkam, duzte er sie – sie galt ja für seine Frau – und darüber fiel Ellen plötzlich aus ihrer Würde und fing an zu lachen.

»Gott sei Dank«, sagte er, als sie wieder allein waren, »Sie können also doch lachen. Mir war schon angst, daß Sie immer so ein feierliches Gesicht machten.«

Darauf ließ er Sekt und Zigaretten bringen, sie unterhielten sich immer lebhafter, und es wurde ziemlich spät. Ellen saß in einem bequemen Liegestuhl und fühlte sich sehr wohl. Dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie hier war, und sie entschloß sich jetzt endlich nach ihrer künftigen Stellung zu fragen.

»Ach, davon können wir morgen noch sprechen.«

Louis Michel ging im Zimmer herum und dann ans Fenster. »Kommen Sie einmal her.« Da lag der Rhein im Mondlicht, die alten Häuser am Ufer im tiefblauen Schatten, aus dem viele einzelne Lichter funkelten. Es war Festtag – drunten in der Straße zogen Trupps von lärmenden Menschen vorbei. Ellen setzte sich auf die Fensterbank, er stand vor ihr und sah sie an. »Wollen Sie mit mir auf Reisen gehen?« fragte er plötzlich. »Bitte, lassen Sie mich ruhig ausreden. – Ich habe Ihnen erzählt, was für ein Leben ich führe, heute in Paris, morgen in Monte Carlo, und dann spiele ich wie toll, das ist meine einzige Leidenschaft, und weil ich nicht weiß, was ich anfangen soll. Irgendeinen Reiz muß das Leben haben. Dann hab ich einmal gedacht, wenn ich einen Menschen mit mir hätte, eine Frau, die alles mit mir teilt, nicht verheiratet, nur als guter Kamerad – und sah zufällig Ihre Annonce. Warum können Sie nicht ebensogut mit mir reisen, wie mit einer unangenehmen alten Dame? – Ihr Bild gefiel mir – dann hab' ich mit Ihnen selbst gesprochen –«

In Ellen wogte und wirbelte es – reisen, wohin man will – was konnte sich da alles vor ihr auftun! Aber mit diesem Menschen – irgend etwas in ihr widersprach gegen ihn. Dann dachte sie an Allersen.

»Ich bin an jemand gebunden«, sagte sie.

»So machen Sie sich los – oder wollen Sie etwa heiraten?«

»Das weiß ich noch nicht – vor allem will ich malen, sowie ich die Mittel dazu habe. Das bindet mich auch.«

»Aber ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wünschen – lasse Sie ausbilden.«

Ellen war so verwirrt von all den Gedanken, die auf sie einstürmten, daß sie schwieg. Als er sie dann anrühren wollte, wehrte sie sich.

»Nein, nein, haben Sie nur keine Angst. Ich gehe fort, wenn Sie es verlangen. Aber Sie sind – sagen Sie mir, warum Sie nicht mit mir kommen wollen?«

Sie waren währenddem wieder an den Tisch gekommen, er lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Sehen Sie, ich wollte ganz ruhig mit Ihnen reden, aber das kann ich jetzt nicht mehr. – Zuerst war es natürlich nur ein Experiment, daß ich an Sie schrieb, Sie kommen ließ. Als wir hier beisammen saßen, habe ich mich immer mehr in Sie verliebt – und jetzt will ich, daß Sie mit mir gehen. Sie müssen.«

»Und wenn ich aber nicht will?«

»Warum wollen Sie denn nicht? Ist es denn ein so unmöglicher Gedanke, mit mir zu leben?«

»Ich könnte nur mit einem Mann leben, wenn ich ihn liebe oder wenigstens in ihn verliebt bin.«

»Lieben Sie denn den andern?«

»Das nicht, aber ich bin doch manchmal verliebt in ihn, und vor allem hängt er so an mir, daß ich ihm sein Leben ganz zerstören würde.«

»Gott, das ist alles so pathetisch, so echt deutsch. Treue bis in den Tod.«

Im Grunde fand Ellen das auch und schämte sich etwas – wie ein Schuljunge, der mit seiner Unschuld geneckt wird. »Wenn ich mich doch etwas in diesen Mann verlieben könnte«, dachte sie. Im Gespräch war er nicht unsympathisch, aber sowie er eine Annäherung versuchte, stieß er sie wieder ab. Und dann wurde er so geschmacklos, fing an zu schauspielern, warf sich vor ihr nieder und sprach davon, wie unglücklich er wäre, sie sollte Mitleid haben. Und Ellen mußte dabei immer auf seine roten Pantoffeln sehen – vorhin nach Tisch hatte er sie um Erlaubnis gebeten, die Schuhe zu wechseln. Die Pantoffeln zerstörten alle Illusion und reizten sie zum Lachen. Dann standen sie wieder am Fenster, er zog mit einemmal einen Revolver heraus und setzte ihn an die Stirn: »Ich erschieße mich hier vor Ihren Augen, wenn Sie nicht wollen. Nein, zuerst Sie und dann mich.«

»Schießen Sie nur.« Ihr wurde doch kalt, einen Augenblick – dann dachte sie an Laurenz, fuhr mit der Hand in die Tasche und umklammerte die kleine Waffe, die sie bei sich trug; – wenn er eine Bewegung machte, würde sie ihm zuvorkommen.

»Gott, Sie haben Mut«, sagte er, »aber Mitleid haben Sie nicht. Sie sind das kälteste Weib, dem ich jemals begegnet bin.«

Damit steckte er den Revolver wieder zu sich. »Nein, hier nicht – leben Sie wohl, ich gehe jetzt, und Sie sollen mich nie wiedersehen.«

Er nahm den Mantel vom Sofa, den Hut und ging hinaus. Ellen blieb einen Augenblick mitten im Zimmer stehen, er tat ihr plötzlich so leid. So lief sie ihm nach, er war schon unten an der Treppe.

»Nein, das will ich nicht, kommen Sie zurück.«

Er folgte ihr hinauf, dann schleuderte er Hut und Mantel in eine Ecke und stürzte auf sie zu.

»Dann hast du mich doch ein wenig lieb! Haben Sie keine Angst, ich will nichts, was Sie mir nicht freiwillig geben.« Wieder warf er sich vor ihr am Sofa nieder und legte den Kopf auf ihre Knie. – Bei all seinen Theaterphrasen war auch wieder etwas Kindliches darin, das sie rührte, wie er so vor ihr lag und bat, daß sie ihn nur auf die Stirn küssen sollte. Warum sollte sie das nicht tun? – Dabei sah sie wie hypnotisiert auf seine roten Schuhe. Er wollte sie mit Gewalt an sich reißen, und sie rangen miteinander. »Ich schreie um Hilfe, wenn Sie mich nicht loslassen.«

»Das hilft Ihnen gar nichts. Sie gelten hier für meine Frau, – aber ich habe Ihnen mein Wort gegeben, daß ich nichts erzwingen will.«

Ellen antwortete nicht, und er zog immer andre Saiten auf.

»Mein Gott, so gehören Sie mir wenigstens für diese eine Nacht – ein paar kurze Stunden – es soll Sie nicht reuen.« Und er nahm eine Brieftasche heraus, legte einen Schein nach dem andern auf den Tisch.

»Glauben Sie, daß ich mich verkaufe?« Es stieg heiß und kalt in ihr auf, erst der Zorn und dann die Versuchung, Ja zu sagen. Aber die Versuchung verflog, sobald sie ihn nur ansah.

»Wie Sie wollen – mein Gott, Sie sind ja so kalt, daß man selber zu Eis wird. – Gehen Sie nur schlafen, ich bleibe hier. Sie brauchen sich nicht einmal einzuschließen.«

Wieder tat er ihr leid, sie brachte ihm noch ein Kopfkissen aus dem Nebenzimmer, dann legte sie sich aufs Bett und hörte auf jede Bewegung – wie er sich hinlegte, herumwarf, wieder aufstand. Schließlich klopfte er an.

»Erschrecken Sie nicht, ich kann auf dem Sofa nicht schlafen. Wenn Sie mir erlauben, mich auf das andre Bett zu legen, verspreche ich Ihnen –«

Ellen lag fast die ganze Nacht durch wach – die Gedanken kamen und gingen, während der fremde Mensch da neben ihr lag und schlief. War sie es wirklich selbst, die dieses sonderbare Abenteuer erlebte? – Sollte sie es Allersen erzählen – alles, – daß sie ihn geküßt hatte, Bett an Bett mit ihm schlief und zuließ, daß er seinen Arm um sie legte? – Hätten das andre an ihrer Stelle getan?

Im Halbdunkel sah sie durch die offne Tür ins andre Zimmer – der Eiskübel stand auf dem Tisch und daneben lagen noch die Scheine. Noch war es nicht zu spät – und dann konnte sie nach München gehen. Nein, die Treue war es nicht, die sie hielt – der Versucher von damals fiel ihr wieder ein. – Hätte ich da wohl so lange widerstanden? – Dieser Mann hier hatte keinen Reiz für sie, das war die Wahrheit, ihre Sinne sagten nicht ja – sonst wäre sie mit ihm gegangen. Und dies physische Sträuben, das sie gegen ihn empfand, war ihre Treue und ihre Kraft, – der Instinkt, der redete oder schwieg, wie es ihm gerade einfiel – weiter nichts. Sie sah ihn an, wie er dalag und schlief. – Was war er eigentlich für ein Mensch? – Wie weit mochte doch vielleicht etwas Echtes an ihm sein, oder war alles nur Komödie? Brutal war er nicht gewesen, hatte sein Wort gehalten, denn was hätte es ihr geholfen, wenn sie Lärm schlug.

Es wurde Morgen, ringsum von allen Kirchen läuteten die Glocken, Ellen ging ins andre Zimmer hinüber, bis er kam. Jetzt war er unliebenswürdig und verstimmt, sah übernächtigt aus – die Unordnung rings umher – alles stieß sie ab. Und draußen der frische helle Sommermorgen. Sie wollte gleich zu Allersen fahren, ihn wiedersehen, zur Besinnung kommen aus all dem wüsten Durcheinander, das ihr im Kopf wogte.

Da standen sie am Bahnhof: »Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen für Ihr späteres Leben« – damit war er verschwunden. Ellen hatte nicht darauf gerechnet, wieder zurückzukommen, und ihr Geld reichte nur gerade noch so weit, daß sie an Allersen telegraphieren konnte, und für ein Billett vierter Klasse nach dem Ort, wo er sie treffen sollte. Und Ernst Allersen war etwas verwundert, als Ellen ausgehungert und zerschlagen ankam, aber in ausgelassenster Stimmung, und ihm nach und nach ihr ganzes Erlebnis erzählte. Er war unzufrieden, machte ihr alle die Vorwürfe, die sie schon kannte, und Ellen hörte ungeduldig zu, ohne viel zu antworten. Mit jedem Tage fühlte sie mehr, daß sie dies nicht weiter ertragen könne, und fand doch nicht den Mut, ein Ende zu machen. Und jetzt wußte sie auch, daß sie in seinen Armen nie etwas von den geträumten Seligkeiten finden würde, – die Zeit war vorbei. Sollte sie immer wieder all die verlockenden Möglichkeiten an sich vorübergehen sehen, um jedesmal dieselbe Ernüchterung zu fühlen? Es begann sie zu reuen, daß sie den andern hatte gehen lassen mit allem, was er ihr bot.

Als sie dann zu ihrer Freundin Lisa zurückkam, hatte die inzwischen etwas für sie gefunden, bei Bekannten, die für den Sommer eine Gesellschafterin suchten. Ellen sagte ja, aber in der ersten einsamen Stunde setzte sie sich hin und schrieb an Louis Michel, sie sei jetzt bereit zu kommen, er möchte ihr nur eine neue Zusammenkunft vorschlagen. Aber es kam nie eine Antwort.

Während der kurzen Zeit, die sie noch bei Lisa blieb, kam Doktor Laurenz fast jeden Abend und holte Ellen zum Spaziergang ab. Sie sprach jetzt offen mit ihm über Allersen, und wie sie es nur von Tag zu Tag hinausschob, das letzte Wort zu sagen. Er konnte das alles so gut verstehen, auch ihr Zögern, etwas so Jahrelanges abzubrechen, das doch eine Art fester Punkt war, während alles andre hin und herschwankte.

 

Eines Abends trafen sie sich vor seinem Büro, und da es regnete, gingen sie in ein nahes Weinrestaurant.

»Mein Gott, Ellen, warum strahlen Sie denn heute so?« fragte er, als sie am Tisch saßen.

»Ja, es geschehen wirklich noch Wunder – denken Sie nur, ein Freund von Detlev will mir bis zum Herbst eine Summe verschaffen, mit der ich nach München gehen und anfangen kann zu malen. Ich kann mich noch kaum besinnen, so unerwartet ist das gekommen.«

Er hob das Glas und sie stießen an. »Glück auf, Ellen«, sagte Laurenz und sah sie froh an. »Wenn Sie wüßten, wie mich das freut. Es kränkt mich schon so, daß ich selbst nicht in der Lage bin, Ihnen zu helfen.«

Ellen war zerstreut, sie konnte heute abend nichts andres denken, als daß ihr brennendster Wunsch in Erfüllung gehen sollte.

»Ich fand es auch zu schrecklich, daß Sie in Stellung gehen wollten.«

»Ja, vorläufig muß ich das wohl noch«, sagte Ellen, »aber nur für die paar Monate, bis ich das Geld bekomme. Es ist so viel, daß ich ungefähr ein halbes Jahr davon leben kann; und um das Weitere ist mir nicht bange. Wenn ich nur erst in München bin. Ob Sie sich denken können, Reinhard, was für mich davon abhängt? Ich könnte alles einschlagen und niedertreten, wenn ich nur malen darf.«

»Ich glaube, dazu neigen Sie überhaupt, wenn sich Ihnen etwas entgegenstellt.«

»Ja, sehen Sie, es ist eine ganz dumme Redensart: man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand. Ich schwöre darauf, daß man doch durchkann, und wenn ich wüßte, hinter der Wand ist das, was ich haben will, würde ich immer dagegen rennen. Entweder komme ich durch, oder mein Kopf geht kaputt. Darauf kommt es nicht an.«

Reinhard Laurenz lachte, aber im Grunde kam es ihm ernst vor. In Ellen sah er immer noch ein halbes Kind, von dem man nicht weiß, wie es sich entwickeln wird, und manchmal wachte in ihm der Wunsch auf, ihr Leben in die Hand zu nehmen und es ihr zu gestalten.

Spät abends brachte er sie nach Hause und sie küßten sich zum Abschied vor der Tür.

»Vergiß nicht, daß ich dein Freund bin«, sagte er leise; »und wenn –. Ich möchte jetzt nicht noch mehr Verwirrung in Ihr Leben bringen, Ellen, aber wir wollen uns wiedersehen.«

 

»Papa liegt im Sterben – Detlev.«

Ellen war kaum acht Tage in ihrer neuen Stellung und lag frühmorgens noch im Bett, als man ihr das Telegramm brachte. – Alle andern Gedanken loschen aus wie von einem dumpfen, schweren Schlag, sie starrte nur auf das Papier hin, und erst als jemand an die Tür klopfte, begriff sie: ihr Vater lag im Sterben, und sie war weit fort.

Gegen Mittag saß sie in der Bahn, um heimzufahren. Alles, was zwischen ihr und den Jahren lag, schien ihr wie weggewischt und vergessen, und das Heimweh hämmerte in ihr wie schmerzende Herzschläge. Es wurde Nachmittag, dann sank die Julisonne langsam nieder, und der Abend kam, die Nacht. Ellen lehnte die Stirn gegen die kühlen Fensterscheiben: ob er noch leben würde, wenn sie kam? Nun war es zehn Uhr, noch eine halbe Stunde, sie kannte jede kleine Station, ihr war, als ob ein innerer Krampf sich löste und die Wirklichkeit wieder zurückkam in langsamen Wellen.

Der Zug fuhr in die Halle – er war fast leer, nur wenige Menschen stiegen aus. Ellen sah ihren jüngsten Bruder auf dem Perron stehen neben Anita Allersen – die beiden wußten, daß sie kam. Dann kam jemand auf sie zu, ein breitschulteriger Mann mit dunklem Bart. Es war ein Freund ihrer Eltern – Pastor Bern – den sie früher immer den Hauskaplan genannt hatten.

Er vertrat Detlev den Weg mit einer abwehrenden Handbewegung: »Hier habe ich das erste Wort zu reden, lassen Sie mich mit Ihrer Schwester allein.«

Ellen war ganz verwirrt. »Wie geht es Papa?« fragte sie rasch.

»Ihr Vater lebt noch, aber es ist keine Hoffnung mehr – und ich bin hier, um Sie zu fragen, weshalb Sie gekommen sind?«

»Weil ich meinen Vater noch einmal sehen will.«

»Ich komme im Auftrag Ihrer Familie, die Ihnen sagen läßt, daß Sie hier nichts mehr zu suchen haben.«

Ellen faßte sich mühsam: »Dann will ich zu meiner Mutter gehen und mit ihr sprechen.«

»Das werden Sie nicht tun – Ihre Mutter will Sie nicht sehen. Sie haben genug Schmerz und Schande über Ihre Eltern gebracht, treiben Sie es nicht noch weiter. Oder wollen Sie auch noch das Totenbett Ihres Vaters und den Schmerz der andern entweihen?«

»Weiß er, daß ich hier bin?«

»Nein, und er wird es auch nicht erfahren. Man ist ängstlich bemüht, ihm jede Aufregung fern zu halten, und verlangt deshalb von Ihnen, daß Sie gleich wieder abreisen. Es geht heute noch ein Nachtzug nach Hamburg.«

»Nein, ich bleibe hier, solange mein Vater noch lebt, und wenn er mich rufen läßt –«

»Ich wiederhole Ihnen, Sie dürfen das Haus Ihrer Mutter nicht betreten.« Der Geistliche erhob mahnend die Hand. »Und ich will Ihnen nur noch das eine sagen: Sie werden Ihren Vater nicht mehr sehen – und wenn ich mich selbst vor die Tür stellen müßte.«

Ellen wandte ihm den Rücken und ging auf die beiden zu, die langsam auf und ab wanderten; dann nahm Anita Allersen sie mit in ihr Haus.

Die ersten Tage kam Detlev und brachte ihr Nachricht; der Vater lag im Krankenhaus, und sie waren alle von Morgen bis Abend dort.

Dann blieb er aus. Als er bis Nachmittag nicht gekommen war, suchte Ellen den Arzt auf, der ihren Vater behandelte und den sie von früher her kannte.

»Sie sollten doch mit Ihrer Mutter sprechen«, sagte dieser. »Es ist wohl kaum zu hoffen, daß er den Abend überlebt.«

Ellen ging durch die ganze Stadt und weit hinaus bis in den Wald, da lag sie eine Stunde nach der andern im Gras. – Nun würde er sterben und sie ihn nie wiedersehen, und was mochte er gelitten haben um sie! Ihr ganzes Zuhauseleben zog wieder an ihr vorüber – was war es anderes gewesen, als Feindseligkeit und Erbitterung. Man war hart verfahren mit ihrer Jugend, die nach Freude und Sonne verlangte. Aber sie wußte doch auch, daß ihr Vater viel Liebe und Weichheit in sich trug, bei aller Schroffheit gegen das, was er nicht anerkennen und nicht dulden wollte. Eine namenlose Sehnsucht erwachte in ihr nach all der Liebe, die sie einander nie gegeben hatten. Hätte sie ihm das nur einmal noch sagen dürfen, aber er wußte nicht, daß sie hier war. Und sie dachte an ihre Mutter – war sie jemals eine Mutter gewesen, diese kalte, fremde Frau, die ihr sagen ließ: geh, woher du gekommen bist? Als Ellen gegen Abend wieder zurückkam, wartete ihr älterer Bruder auf sie: der Vater war gestorben, und nun durfte sie kommen, um ihn noch einmal zu sehen. Wortlos gingen sie nebeneinander her bis zu dem großen, fahlgelben Gebäude und die stille Treppe hinauf. Erik ließ sie allein im Zimmer – da drüben auf dem weißen Bett lag er kalt und starr – eingefallen und verändert –. Das war nicht mehr ihr Vater, es war etwas Furchtbares, Unheimliches, das ihr einen eisigen Schauer nach dem andern durch die Seele trieb. Sie kniete vor ihm nieder, versuchte ihn anzusehen, etwas von ihm wiederzufinden – immer wieder stieg das eine Bild vor ihr auf, wie sie ihm zum letztenmal gegenübergestanden hatte im Kampf um ihre Jugend und ihre Freiheit. Jetzt hatte sie gesiegt, und er lag tot. – Allmählich kam ein hilfloser Schmerz über sie, sie legte den Kopf auf sein Bett und weinte.

Dann stand der Bruder plötzlich hinter ihr, und der Geistliche war auch wieder da und redete mit schriller Stimme von Vergebung und von dem Herzen, das da ausgeschlagen hatte. Erik zog sie aus dem Zimmer hinaus und begleitete sie durch die stillen dunklen Straßen zurück.

Am nächsten Abend stand Ellen zu später Stunde vor dem Gartengitter ihres Elternhauses, es hatte sie hergetrieben, ob sie wollte oder nicht, noch einmal Abschied zu nehmen von den letzten Heimatgedanken.

Durch die offenen Fenster, vor denen leichte, weiße Vorhänge hin und her wehten, sah sie alle bei der Lampe sitzen und hörte die Stimmen.

»Wenn Sie umkehren in aufrichtiger Reue, sich willig in alles ergeben, was zu Ihrem Heil beschlossen wird – dann, aber nur dann wird Ihre Mutter Sie wieder als ihr Kind aufnehmen«, so hatte der Hauskaplan heute noch einmal zu ihr gesprochen. – Wie schneidender Hohn kam es ihr vor, daß diese Mutter jetzt da drinnen unter ihren Kindern saß, mit ihrer gewohnten Stimme sprach – hier und da klang ein Wort zu ihr herüber. Und sie stand hier draußen und konnte nicht umkehren. – Aber die ganze Welt schien ihr so weit und leer und tot – wo gehörte sie denn hin, wohin würde sie treiben?

Jetzt standen sie da drinnen auf, Stühle wurden gerückt, die Stimmen gingen durcheinander, dann wurde es dunkel, die Fenster verloschen.

Ellen stand immer noch unbeweglich und sah starr darauf hin. Nun ging ein Lichtschein durch die oberen Zimmer und allmählich erlosch auch der. Im Hof schlug der Hund an, als ein paar Menschen vorüberkamen – ihr alter Nero.

Langsam zog sie die Hände vom Gitter zurück, sie waren wie angefroren an dem feuchten, kalten Eisen, und schauerte zusammen in der Nachtkühle und der leeren Straßeneinsamkeit. –

Tags darauf kam Ellen unerwartet und unangemeldet bei ihrer Freundin Lisa an, und die erschrak beinahe über ihre völlige Teilnahmlosigkeit. Ellen lag tagelang oben in ihrem Zimmer und schlief, sie dachte nicht mehr daran, in ihre Stellung zurückzukehren, oder was sonst geschehen sollte. Wenn Briefe kamen, ließ sie dieselben ungelesen liegen, ihr war, als ob alles in das Grab ihres Vaters und ihrer Heimat versunken wäre.

Als Reinhard Laurenz dann hörte, daß sie wieder da war, kam er gleich. Fast mit Gewalt zog er sie mit hinaus in die Sommersonne, auf weite Spaziergänge und brachte sie allmählich wieder zum Erwachen. Immer wieder sprach er ihr von der Zukunft, die so licht und froh für sie werden sollte, daß alle dunklen Schatten weichen mußten. Sie sollte sich wieder auf ihre Jugend und ihre Ziele besinnen, sich auflehnen gegen den Schmerz, ihn abschütteln und nur an den neuen Morgen denken, der vor ihr lag. Und er ließ nicht nach, bis sie wieder froh wurde. Von sich selbst sprach er nicht, aber Ellen wußte seine Liebe wohl, es war nur noch ein leises Zögern in ihr und etwas wie Angst vor jeder innerlichen Erschütterung.

An einem Sonntagnachmittag waren sie beide mit Lisa hinausgefahren, um die Rennen anzusehen. Das Menschengewühl unter der brennenden Sonne, der Wein und das aufregende Spiel da drunten auf der weiten Sandfläche, wo die dunklen, schimmernden Tiere dahinrasten, brachte sie in seltsame Stimmung – in eine Art von stürmischer Erwartung, als ob jeden Augenblick etwas hereinbrechen, über alles hinfegen könnte.

Auf dem Programmzettel fanden sie heraus, daß eins von den Rennpferden Ellen hieß. Darüber lachten sie mit Lisa und wetteten untereinander; aber als die Freundin wieder ganz im Zuschauen versunken war und sich weit vorbog, um besser zu folgen, gingen ernste Blicke zwischen den beiden andern hin und her. Reinhard stand hinter Ellens Platz, sie sprachen leise zueinander, fast nur indem sie die Lippen bewegten, und mit den Augen. Er fühlte all das Schwanken in ihr, seit langem schon: »Zu mir kommen, Ellen, zu mir, – wir gehören zusammen.«

Dann mußten sie wieder laut sprechen – nun kam das Pferd, das Ellens Namen trug, ins Rennen – und Lisa drehte sich um:

»Was flüstert ihr denn?«

»Wir machten eine Privatwette ab, ob ›Ellen‹ siegen wird.«

Lisa versank wieder in aufmerksames Zuschauen, und über die beiden kam plötzlich ein gewitterschwüler Übermut.

»Es soll gelten«, sagte Ellen leise.

»Sie wissen doch, daß ich abergläubisch bin, wenn Ellen siegt –«

»Dann geben Sie mir die Hand, und wir wollen sehen, was unser Schicksal für Sprünge macht.«

»Wer soll Sprünge machen?« fragte Lisa zerstreut, die zufällig das Wort aufgefangen hatte und etwas in Angst vor Ellens plötzlichen Extravaganzen lebte. Aber dann merkte sie es nicht einmal, daß keine Antwort kam – denn eben war eins von den Pferden in die Knie gestürzt.

Die andern lachten und sahen sich verwirrt an, darunter zitterte schwerer Ernst. Ellen hatte ihre Hand auf die Banklehne gelegt und Reinhard behielt sie fest in seiner, während sie jetzt wie gebannt das Rennen verfolgten und das Schicksalspferd ein Hindernis nach dem andern nahm, einen Augenblick zurückblieb, sich bäumte, zauderte und dann wieder allen vorankam.

Dann zitterten sie beide, als die »Ellen« Siegerin blieb, eine Welle von murmelnder Aufregung durch die Zuschauer lief und Lisa sich atemlos zurücklehnte. – Und nun folgte eine Zeit, wo sie nur von ihrer Liebe und von hellem Sommerjubel wußten, nur daran dachten, daß das Leben ihnen jetzt zusammen gehören sollte wie eine endlose Reihe von schimmernden Morgen ohne dumpfe Mittagsstunden und wehmütiges Abenddämmern. Ellen konnte es manchmal kaum begreifen, daß sie so rasch alles Schwere, was hinter ihr lag, überwinden konnte, aber es schien ihr, als wäre jahrelanges Vergessen dazwischen.

Auf Reinhards Wunsch sollte sie jetzt noch eine Zeitlang an die See gehen, damit sie in seiner Nähe bliebe.

»Ich kann dich doch nicht hergeben«, sagte er. »Nachher in München verschlingt dich die Arbeit, und wir sehen uns lange nicht wieder. So kannst du dich auch noch einmal ganz ausruhen.«

Sie lagen zusammen im Wald, die Sonne flimmerte durch das helle Unterholz, die Stadt und die Menschen schienen so weit fort.

»Ja, mit vollen Kräften möchte ich auch an die Arbeit kommen, wenn ich endlich komme. Was für Jahre habe ich schon verloren.«

»Hast du jetzt an Allersen geschrieben?« fragte Reinhard, und sie wurde etwas verlegen.

»Nein, aber in den nächsten Tagen – sowie ich dort draußen bin.«

»Es muß geschehen – Ellen, manchmal begreife ich dich nicht recht. Er muß doch erfahren, daß du ihm nicht mehr gehörst.«

»Ach – das weiß er schon lange – er hat die ganze Zeit nur hier und da ein paar flüchtige Worte von mir – und es ist so schwer.«

»Was ist schwer?«

»So über einen Menschen hinwegzugehen. Ihm plötzlich sagen: Alles ist aus. Das quält mich dann wieder, und ich möchte jetzt an nichts Quälendes denken.«

Reinhard richtete sich auf, und sie sah jetzt, daß er ernstlich unzufrieden war: »Nein, Ellen, darin mußt du noch anders werden, endlich einmal lernen, klar gegen dich selbst zu sein. Du hast diese sonderbare Neigung, alles Unangenehme von dir fortzuschicken, bis es von selbst über dich kommt, und dann würdest du am liebsten noch fortlaufen, um es los zu sein.«

»Das kommt von meinem ganzen bisherigen Leben. Denk dir einmal: wenn man durch Jahre immer in der Erwartung lebt: was wird morgen geschehen? Ich fahre heute noch zusammen, wenn die Post kommt oder die Haustür klingelt.«

»Armes Kind – ich weiß es ja auch. Und es soll meine Hauptsorge sein, daß dein Leben jetzt wirklich einmal aufblüht. Aber über dies Letzte mußt du jetzt noch weg – die letzten Hindernisse nehmen, Ellen –.« Dann sprach er davon, daß sie doch heiraten wollten, über kurz oder lang, denn wann es sein konnte, ließ sich nach seiner unsicheren Praxis noch nicht sagen.

Ellen wurde etwas unruhig dabei, ihr war, als schöbe sich wieder eine graue Wolke über ihren hellen Himmel hin. »Ach, Reinhard, warum müssen wir denn gleich wieder an Verloben und Heiraten denken? Ich habe einen förmlichen Schrecken vor dem bloßen Wort. Und dann muß ich auch jetzt erst einmal ganz ins Blaue hineinleben – ich muß wenigstens vier, fünf Jahre ganz für mein Studium haben, das geht allem andern vor.«

»Auch mir und unserm Glück?«

»Das darf dir nicht weh tun, und du darfst es nicht verkehrt verstehen. Wenn ich in der Kunst nicht zu dem komme, was ich will, kann ich dich auch nicht glücklich machen und nicht glücklich sein.«

»Ellen, du sollst ja deine Kunst haben und alles, was ich dir schaffen kann. Und ich werde nie verlangen, daß du sie aufgibst, um eine gute Hausfrau zu werden. Siehst du, ich habe mir das alles überlegt – vor dem nächsten Frühjahr können wir nicht an Heiraten denken, ich fasse es auch nicht so auf, daß man nun festgeschmiedet ist. Ich will damit zufrieden sein, wenn du immer ein halbes Jahr bei mir bist und die übrige Zeit dich in Berlin oder München weiterbildest. – Wie weit denkst du überhaupt mit deinen sechshundert Mark zu reichen, in diesem Jahr werde ich dir so gut wie gar nicht helfen können.«

»Ach, das findet sich alles, wenn ich nur erst dort bin – du bist so gut, Reinhard«, – ihr war immer noch etwas beklommen – »aber jetzt wollen wir das noch erst mal ruhen lassen, nicht wahr?«

 


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