Gabriele Reuter
Frauenseelen
Gabriele Reuter

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Kinder

Gertie war zwölf Jahre alt und »liebte« zum erstenmal.

Das heißt – wenn sie es recht überlegte – war es eigentlich das erstemal? Vergangenen Sommer auf der Vogelwiese, im Zirkus der eine Reiter –! der furchtbar lustige, der wie toll im Kreise herumjagte, seinen Jockeianzug von sich warf und als Matrose erschien, zuletzt sogar als Indianer! Auf ungesatteltem Pferde – was das heißen wollte!

Und wenn er an Gertie vorübersauste, die vor Vergnügen hoch von ihrem Stuhl in die Höhe hüpfte, riß er immer die Kopfbedeckung, die er gerade trug, von seinen wunderschönen, schwarzen Locken, schwenkte sie grüßend und stieß einen hellen Juchzer aus. Heinz behauptete zwar, sie hätte sich das nur eingebildet – der dumme Heinz wußte es auch gerade!

Aber damals war es ja nur Spaß gewesen; denn Papa würde Gertie wohl niemals erlaubt haben, daß sie den Reiter mit den vielen Kleidern heiratete. Jetzt war es schon eine ganz andere, ernsthafte Geschichte.

Zwar trug Fritz nur eine graue Joppe und besaß keine schwarzen Locken, sondern einen rattenkahl geschorenen Kopf. Und sehr große Ohren hatte er – leider – sie standen sogar ein bißchen ab. Gertie hatte sie erst komisch gefunden – aber schließlich, wenn man größer wird, gibt man nicht mehr so viel auf Äußerlichkeiten. Er konnte auch mit den Ohren wackeln, und das war doch wieder sehr fein.

Es war zu nett von Papa, daß er Fräulein Wächter erlaubt hatte, ihren Neffen Fritz für die Sommerferien einzuladen. Sie schwärmten alle für ihn – Heinz und die kleine Erna auch. Er hatte so etwas Großstädtisches an sich. Und dann schrieb er auch immer die besten Extemporalien – wenigstens erzählte er es. Und Verse konnte er machen, die sich manchmal sogar ordentlich reimten.

Sie wären alle so gern mit ihm verwandt gewesen. Auf einem Spaziergang in den Wald überlegten sie miteinander, ob sie nicht irgendwo in der Familie einen Onkel entdecken könnten, der ein Vetter von Fritzens Tante gewesen wäre. Aber sie fanden keinen. Da machte Gertie einfach den Vorschlag, sie könne ja Fritz heiraten, dann wären sie gleich verwandt. Fritz war einverstanden. Heinz und Erna lachten und sagten, das sollten sie nur tun.

Später kletterte Fritz zum Bach herunter, machte sich die Stiefel sehr naß, pflückte Vergißmeinnicht und überreichte sie Gertie – wie ein richtiger Herr.

Und beim Abendessen, als sie unter den hohen Buchenkronen lagerten, müde und glücklich vom Springen und Laufen und Schreien im Sonnenschein, zeigte es sich, daß Fräulein Wächter zu wenig Biergläser mitgenommen hatte. Da rief Fritz so laut, daß alle es hören konnten: »Ich brauche kein Glas, ich trinke mit meiner Braut aus einem Glase!«

Gertie quiekte und kicherte vor Vergnügen. Sie war also wirklich und wahrhaftig seine Braut! Ach entzückend! Ach, wonnig! Der liebe, süße Junge!

– Ob sie sich wohl küßten? Die Frage beunruhigte Heinz ganz außerordentlich. Sie taten es sicher, die Racker – sie wurde ja so rot, wenn man Witze darüber machte. Aber wo und wann? Heinz entwarf die schönsten Schlachtpläne, um das Pärchen zu überraschen. Auf Strümpfen schlich er durchs Haus und erschreckte Fräulein Wächter und die Köchin fast zu Tode, wenn er plötzlich lautlos und immer unerwartet aus dunklen Ecken hervorsprang. Zuletzt versuchte er sogar, die kleine Erna auszuforschen. Aber Erna lachte nur, als sei sie närrisch geworden.

Dann stand Heinz, den Mund ein wenig offen, den Blick der hellen Augen ins Leere gerichtet, wie geistesabwesend da und grübelte und sann über die Liebe, die so interessant und so geheimnisvoll war.

Abends, nachdem Fräulein die Lampe ausgelöscht und die Mädchen in ihrer Schlafkammer allein gelassen hatte, erfuhr die kleine Erna alles. Aber sie mußte die Finger in die Höhe heben und bei Gott schwören, sie wolle Heinz nichts sagen. Und sie verriet auch nichts; denn sie war schrecklich neugierig und hörte zu gern auf alles, was Gertie mit leiser Stimme aus ihrem weißen Kopfkissen heraus erzählte.

»Du, Erna – schläfst du schon? Heut hat er mich viermal geküßt – aber er muß jedesmal vorher mit den Ohren wackeln, sonst geb' ich ihm keinen! Einmal war's in der Speisekammer – Fräulein kam gerade herein – ach, ich war so erschrocken! Er faßte gleich in die Tüte mit den gebackenen Pflaumen – er wollte so tun, als hätte er genascht, der himmlische Junge!«

Erna kicherte. Gertie lag ein Weilchen still und dachte, wie süß die Küsse gewesen: wie wenn man ein Cremeschnittchen auf ein Stück Apfelkuchen legt und beides miteinander verspeist.

»Es ist nur gut, daß Fritz noch keinen Bart hat«, begann Erna.

»Ach, ich wollte, er hätte schon einen«, flüsterte Gertie.

»Ja – aber,« meinte Erna, »Fräulein sagt doch immer, wenn kleine Mädchen einen Herrn küssen, bekommen sie 'nen Bart. Denk' mal Gertie, wenn du . . . ach wie komisch – Gertie mit'n Schnurrbart – Gertie mit'n Schnurrbart!«

Das Kichern ließ sich jetzt durch die über die Köpfe gezogenen Bettdecken nicht mehr ersticken. Es drang bis ins Nebenzimmer, wo die Jungen ihre Ferienarbeiten machten. Man hörte Fritzens dünne Stimme: »Was haben sie nur?«

»Worüber lacht ihr denn?« schrie Heinz.

Die kleinen Mädchen starben beinahe.

»Wenn er's gehört hätte! Hihihi – hi – hi! Nein wie schrecklich! Er wird doch nicht?«

»Ich sag's ihm, ich sag's ihm«, neckte Erna.

Gertie fuhr wie ein Wirbelwind aus ihrem Bett und über die Schwester her. »Pfui, Erna! Das tust du nicht! Pfui, schäme dich.«

»Schenk' mir deinen Badeengel!« kam's noch ganz atemlos aus der erstickten Kehle der Kleinen. Gertie versprach alles. Erna hatte schon ein blaues Seidenläppchen zu einer Puppenschürze und einen Ball auf diese Weise an sich gebracht. Sie wollte doch auch etwas Vergnügen aus der Situation ziehen. Gertie legte jetzt nicht mehr so viel Wert auf ihr Spielzeug. Wenn man Braut ist, bietet das Leben so viel andere Interessen.

Nebenan verglichen Fritz und Heinz ihre griechischen Aufgaben.

»Weißt du, ich finde unser Gymnasium so ent–setz–lich langweilig – besonders die Lehrer!« sagte Heinz mit einem tiefen Seufzer.

»Ja – man muß aber das Abiturium machen«, sagte Fritz und blickte in sein Vokabelheft.

»Wie es nur einmal sein wird, wenn ich auch liebe!« sagte Heinz und träumte ins Unbestimmte.

Aus vergangenen Kindertagen tauchte eine Erinnerung in ihm auf. Tief in der Nacht war es gewesen, als er von einem Lichtschein erwachte. Mama kam vom Ball und beugte sich über ihn. In ihren dunklen Haaren funkelten Brillanten, an ihrem weißen, schlanken Halse, an ihren zarten Armen trug sie goldenen Schmuck, ein köstlicher Duft ging von ihr aus, und die lichtblaue Schleppe rauschte und rieselte, sobald sie sich bewegte. Er hatte entzückt die Arme um ihren Hals geschlungen und schlaftrunken gemurmelt: »Ach Mama, wie schön bist du!«

Mama lag nun schon viele Jahre in ihrem umgitterten Grabe auf dem Friedhof. Doch wenn Heinz an ihre Erscheinung in jener Nacht zurückdachte, schlich eine Sehnsucht nach etwas unaussprechlich Schönem, Süßem durch sein Herz. Seine Frau mußte auch Brillanten in ihrem Haar tragen und lichte Seide, die geheimnisvoll rieselte und rauschte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sollte sie so wunderschön gekleidet gehen. Und sie mußte aussehen wie Mama.

Fritz lächelte mit einem altklugen Aug auf dem blassen, scharfen Knabengesicht. Er bedachte, während er seine Arbeit niederschrieb, daß die Ecke zwischen dem Buffet und der Portiere ein ganz guter Platz wäre, um Gertie einen Kuß zu geben, auf ihre sonnverbrannte, kleine, runde Wange – für morgen. Aber er bemerkte dabei einen Fehler in seinem Heft und verbesserte ihn.

 

Fritz sollte zu Weihnachten wiederkommen. Gertie hatte einen Brief von ihrem jungen Freunde erhalten. Er war mit einem Vergißmeinnicht geziert und begann: »Du Maid meines Herzens« – dann folgten drei Ausrufungszeichen.

Das war wie in einem Märchen. Gertie konnte ihr Glück unmöglich für sich behalten. »Du Maid meines Herzens!« Sie zeigte Erna ein Stückchen von der Überschrift und dann auch Heinz. Nur das »Du« und das große »M«. Aber dann waren die beiden zu neugierig, und das Fingerchen rückte immer weiter, bis sie das Ganze lesen konnten.

Weiter rechnete Fritz ihr vor: »Jetzt bin ich in Obertertia, zwei Jahr Sekunda, zwei Jahr Prima, drei Jahr Studieren, dann bekomme ich eine Stelle als Lehrer am Gymnasium. Und dann heiraten wir uns. Ich werde übrigens Direktor. Ja – das habe ich mir fest vorgenommen, und was ich mir vorgenommen habe, das führe ich auch aus.«

War er nicht ein wundervoller Junge?

Heinz konnte sich nicht im entferntesten mit ihm messen. Philosophisch bemerkte er zu Fräulein Wächter: »Es gibt eben Menschen, die Sinn fürs Griechische haben.« Daß die Menschen ohne Sinn fürs Griechische eine minderwertige Klasse bilden – davon war er trübselig überzeugt. Er freute sich nicht auf das Fest, nicht auf den Besuch von Fritz. Er fürchtete sich vor der schlechten Zensur, die er sicher bekommen mußte. Und Fritz würde ihn höhnen und Gertie viel lieber haben als ihn, das würde ihm weh tun, und er fürchtete den Schmerz.

Er konnte über sich selbst fast verzweifeln. Oft betete er zum lieben Gott um Hilfe, und dabei mußte er denken: Wenn Gott so außerordentliche Freude an fleißigen Schülern hatte, so war's doch unbegreiflich, daß der Allmächtige sich die Freude nicht verschaffte und ihm den Fleiß endlich schenkte, ohne daß er sich selbst besonders anzustrengen brauchte. Alle Augenblicke machte er Beobachtungen, die im Widerspruch mit dem standen, was ihm eben in der Schule, von seinem Vater oder von Fräulein Wächter – den drei Gewalten, die sein Leben beherrschten – gepredigt worden war. Und diese erhabenen Gewalten bemerkten den Widerspruch nicht, der doch ihm, dem zurückgebliebenen Tertianer, auffiel. Waren sie also – er wagte es kaum zu denken – waren sie dumm? Oder hatten sie ihre besonderen Gründe, ihn nicht beachten zu wollen? So saß er stundenlang träumend bei den Büchern, mit den toten Regeln und Wortformen, die ihm kein Rätsel lösten, die er haßte, weil sie sich wie ein hohes, kunstvolles Gitter, das er nicht zu erklimmen vermochte, vor seinem Geist erhoben und ihm die Welt verschlossen. Die Tränen tropften auf sein Heft, und er wischte sie eilig fort. So ein großer Junge und noch zu weinen – pfui, wie erbärmlich!

 

Die Kinder machten einen Winterspaziergang in den Wald. Es schneite zum erstenmal in diesem Jahr, und doch stand das Weihnachtsfest vor der Tür. Große, weiche Flocken sanken ganz ruhig in gleichförmigem Fluge auf die Erde nieder, hingen als weiße Federblüten in den hohen, dürren Herbstgräsern und hefteten sich an die Baumstämme, wo man die feinen Formen ihrer Kristallsterne auf dem grünen Rindenmoos flimmern sah. Dann kam eine Hast in das Schweben, eine Unruhe, als würden die Flocken heftig aus dem grauen Wolkenbett verjagt; immer eiliger flatterten und taumelten sie durcheinander, bis sie in tollem Wirbel alle Gegenstände einhüllten.

Heinz blickte entzückt sein Schwesterchen an. Wie ihre Augen und ihre kleinen, runden Bäckchen leuchteten unter dem weißen Flaum, der ihr Samtkäppchen, ihre Schultern und ihren Muff bedeckte! Welch ein reizender Schmuck das war! Sie stand wie eine kleine Winterkönigin unter den beschneiten Tannen. Konnte man sich etwas Hübscheres vorstellen? Und der Wald, der kahl, grau und langweilig öde dalag, als die Kinder auszogen, hatte binnen einer Stunde ein völlig anderes, geheimnisvoll prächtiges und doch trauliches Ansehen bekommen durch das schimmernde Weiß, das einen so kräftigen Gegensatz zu dem Grün der Fichten und dem dunklen Baumgeäst bildete.

Heinz schwelgte in dem Vergnügen an dieser jähen Verwandlung der Dinge ringsumher. Ohne sich darüber klar zu sein, litt der vierzehnjährige Knabe fortwährend unter dem Mangel an Schönheit in seinem Leben. Und er wußte – es war einmal anders gewesen. Er konnte verdrießlich gegen Fräulein Wächter sein und launenhaft und kindisch und boshaft, weil sie die Manie hatte, über die Möbel bunte Schutzdeckchen zu breiten und alles ein wenig anders zu rücken, bis die künstlerische Harmonie in den Zimmern seines Elternhauses gestört war. Er empfand, wie sie allmählich den Geist seiner Mutter, der unsichtbar noch in den Räumen schwebte, durch ihren eigenen Geist verdrängte und allem den Stempel einer praktischen Trivialität aufdrückte. Und dann litt er wieder unter den Gefühlen, die ihn weit von den Knaben seines Alters schieden, die er gar niemand hätte mitteilen können. Er fand sich so albern und verrückt; doch war er heimlich stolz auf sich selbst und seine wunderlichen Träume.

Er träumte, daß seine Mutter in den grauen Wolken lag und mit ihren weißen Händen die Schneeflocken herabwarf – immer mehr – immer mehr, um ihm die häßliche Erde zu verhüllen. Und endlich löste sie sich in seinen Empfindungen ganz zu Schneeflocken auf und schwebte lustig und feierlich im Reigentanz durch die Luft zu ihm nieder.

»Junge, starre nicht so,« schrie Fräulein Wächter, »mir wird ganz übel, wenn ich deinen dummen Ausdruck sehe!«

Da schlug seine Stimmung plötzlich um, er griff eine Hand voll Schnee, ballte sie und warf sie Gertie in den Nacken. Dann balgten sie sich gehörig, lachten und kreischten.

»Juchhe – in drei Tagen kommt Fritz!« jubelte Gertie und machte einen Luftsprung.

Aber während der drei Tage und alle Nächte hindurch schneite es unaufhörlich. In den Straßen der Stadt ging man in ausgeschaufelten Hohlwegen zwischen weißen, kalten Wänden. Kein Mensch erinnerte sich, einen so ungeheuren Schneefall erlebt zu haben. Fortwährend liefen Nachrichten über Eisenbahnunfälle ein, die Beförderung der Briefpost war unterbrochen. Es herrschte eine große Aufregung in der Stadt; denn viele Leute wollten noch verreisen, unzählige Kinder befanden sich auf dem Weg zum Elternhaus.

»Wenn nur Fritz verständig in seiner Pension geblieben ist«, sagte Fräulein Wächter. Gertie sah sie bestürzt an. Umsonst sollte sie auf ihrem Wandkalender jeden verflossenen Tag mit einem dicken Strich ausgelöscht haben? Vor Enttäuschung weinte sie heiße Tränen in ihr kleines, blaugerändertes, tintenfleckiges Tüchlein.

Früh – im Dämmergrau des eisigen Wintermorgens klingelte es an der Haustür. Die Köchin sah eine klappernde, halb erstarrte Knabengestalt auf der Schwelle stehen.

»Fritz ist da! Fritz ist da!«

Mit lautem Freudengeschrei wurde der mutige Reisende von den Kindern empfangen. Gertie flog ihm vor aller Welt jauchzend an den Hals. Sie schauderte erschrocken zurück, eine große Kälte ging von ihm aus, und er blickte sie müde und gleichgültig an.

Der Zug war im Schnee stecken geblieben, berichtete Fritz verdrossen. Aber immer war man mit zwei Lokomotiven doch zuletzt wieder ein Stück weiter gekommen. Endlich, mitten in der Nacht, zwischen Höhenzügen – da ging's nicht länger. Man mußte dort den Tag erwarten. Aber sie waren alle schon halb erfroren; denn die Heizung versagte. Ein Trupp Reisender hatte sich den Beamten angeschlossen, welche Hilfe holen wollten und sich aufmachten, die nächste Station zu Fuß zu erreichen. Mit ihnen Fritz. Vier Stunden waren sie über die Felder gewandert, oft bis an die Knie im Schnee versunken.«

»Das hättest du nicht getan, Heinz – du Hasenfuß!« rief Gertie außer sich vor Bewunderung und strahlte ihren Fritz mit leuchtenden Augen an.

»Ich hatte es mir doch einmal vorgenommen«, sagte Fritz. »Was man sich vorgenommen hat, muß man auch ausführen!« Er sprach das gleichsam mechanisch, ein Zittern flog durch seine Glieder, die Zähne schlugen ihm leise klirrend gegeneinander.

Zwei Stunden darauf lauschte Heinz an der Tür seiner Schlafkammer, wo Fritz, nachdem er heißen Kaffee bekommen hatte, in ein durchwärmtes Bett gesteckt worden war. Heinz vernahm mit Erstaunen ein leises Sprechen dort drinnen. Er öffnete vorsichtig die Tür.

Fritz saß aufrecht in den Kissen, sein Gesicht glühte dunkelrot, seine Augen standen weit offen. Mit den Händen fuhr er unruhig auf der Decke umher, eifrig und hastig sprach er griechische Worte vor sich hin – mit einer sonderbar fremden Stimme. Dazwischen murmelte er: »Ich habe es mir vorgenommen – vorgenommen – vorgenommen . . .«

»Fritz!« rief ihn Heinz erschrocken an. Er erhielt keine Antwort und stürzte davon, um Fräulein Wächter zu holen.

 

Man hatte einen Schwerkranken im Haus.

Ungeschmückt stand der Tannenbaum im Saal. Fräulein Wächter wich nicht von dem Lager ihres Neffen, und keines der Kinder durfte zu ihm. Nur Papa ging mit ernstem, traurigem Gesicht in die Krankenstube. Und der Arzt erschien zweimal täglich.

Die Nacht kam – die dritte Nacht, in der Fräulein Wächter bei Fritz blieb. Gertie saß in ihrem langen Nachtröckchen mit dem wirren, braunen Zopf auf ihrem Bett und lauschte ängstlich. Sie hörte, wie Papa die Haustür aufschloß, sie vernahm seine eiligen Schritte, die sich auf der Straße entfernten. Er holte den Doktor.

O – der schauerliche Ton, der nun schon seit vielen Stunden durch alle Räume der Wohnung drang, wo sie ihr friedliches Kinderdasein gelebt hatte – ein Wimmern und Winseln, wie die Klagelaute eines leidenden Tieres. Ab und zu steigerte es sich zu einem lauten, hilfeflehenden Ächzen, um dann wieder leiser zu werden und wieder anzuschwellen.

Vorsichtige Tritte näherten sich – ein Licht in der Hand kam Heinz zu seiner Schwester. Er sah bleich und ganz verstört aus.

»Gertie,« murmelte er, »darf ich hier bei euch bleiben? Mir ist so bange allein. Hörst du, Gertie? – Hörst du?«

Sie nickte nur statt der Antwort.

»Wir hatten uns so über den Schnee gefreut«, flüsterte sie nach einer Weile, als klage sie sich einer Schuld an.

Heinz starrte vor sich nieder.

Die zarten Schneeflocken – etwas so Lustiges, Reizendes, waren die Ursache zu diesem Jammer geworden. Wie seltsam – wie unbegreiflich!

»Heinz,« flüsterte Gertie, von Schluchzen fast erstickt, »glaubst du, daß – daß Fritz sterben muß?«

Heinz blickte sie schweigend an; auf seinem blonden, rosigen, noch so kindlichen Gesicht lagen Furcht und Erstaunen vor dem großen Geheimnis, das langsam und leise durch das Haus schlich – langsam und leise einen aus ihrer Mitte hinwegnahm.

Wohin?

Gertie träumte mit einer unbestimmten Traurigkeit von allem, was sie in ihrem Leben schon verloren hatte – ihre liebe Mama war gestorben, und sie konnte sich kaum noch auf sie besinnen. An ihre Stelle war Fräulein Wächter gekommen. Und die Großmutter war gestorben – und jetzt würde Fritz sterben – alles, was man lieb hatte, mußte man verlieren. Papa würde sterben – und Heinz – und Erna. Sie würde allein übrig bleiben – ganz allein auf der weiten Welt. Sie sah sich in einem schwarzen Kleidchen, mit einem blassen Gesicht und offnen Haaren auf der Straße stehen und um ein Stückchen Brot betteln. Aber die fremden Menschen gingen kalt an ihr vorüber.

Und ihre Tränen flossen, ihre Brust hob sich unter einem mitleidigen, kindischen Schluchzen.

Heinz grübelte, von wem die Macht ausging, die so grausam und so blind war – so ungerecht . . . Ein schweres Leiden peinigte ihn, wenn er daran dachte, wie tüchtig Fritz alles erfaßte und grade immer das tat, was im Augenblick notwendig war – während er selbst, beunruhigt und doch lässig, in seine Zukunft wie in ein dunkles Wirrsal hinausblickte – im voraus überzeugt, daß er nicht die Kraft haben würde, sich in der Welt eine gute Stellung zu erobern. Und dumpf gespannt wartete er, wie das Schicksal entscheiden würde. Er hatte eine unklare Empfindung, als müsse selbst der Tod Respekt vor einem Menschen zeigen, der so viel Sinn fürs Griechische besaß.

So kauerten Heinz und Gertie auf dem Bettrand, bei dem Schein der niederbrennenden Kerze, der nur wie ein helles Fleckchen in der großen Dunkelheit flimmerte. Sie beneideten Erna, die ganz ruhig schlief.

»Hörst du – Gertie!« flüsterte Heinz zitternd. Und Gertie nickte.

»Wenn es doch einmal aufhörte«, murmelte sie.

Und sie rückten eng aneinander, als die Schauer der Einsamkeit, der Nacht und der bangen Erwartung sie mehr und mehr quälten. Gertie schmiegte den heißen, verweinten Kopf an ihres Bruders Schulter. Furchtsam und beklommen lauschten sie dem Ton, der mit einer schrecklichen Gleichmäßigkeit durch die Wände zu ihnen drang – dem Winseln und Wimmern, das zu einem angstvollen Ächzen wurde und wieder zurücksank zu einem wehklagenden Wimmern. Und so auf und nieder, auf und nieder mit einer Eintönigkeit, die ermüdete und aufregte, die fast zur Verzweiflung führte, daß man hätte fliehen mögen bis ans Ende der Welt – nur um nichts mehr zu hören.

Und endlich kam ein Augenblick, in dem der Schmerzenston verstummte und alles plötzlich in eine große, feierliche Stille versank.

Die Kinder klammerten sich atemlos aneinander und lauschten weiter . . . Die Stille war nicht erlösend – sie war fürchterlicher und schreckenerregender als alles Frühere.

»Er ist wohl eingeschlafen«, hauchte Gertie.

Heinz antwortete nicht. Er wußte, daß Fritz in dem Augenblick gestorben war.

Er hat niemals in seinem Leben vergessen, was Todesstille bedeutet.

 

Fritz wurde begraben. Sein Vater kam zur Beerdigung. Er war still und ernst, etwas steif und förmlich, wie Männer werden, wenn sie einen großen Schmerz beherrschen wollen. Gertie hielt sich viel in seiner Nähe. Ihr kleines, von Trauer, Sehnsucht und Eitelkeit erfülltes Herz begehrte, von ihm beachtet und getröstet zu werden. Aber er bemerkte ihre Versuche, seine Aufmerksamkeit zu erregen, gar nicht.

Heinz ging zerstreuter und verträumter denn je im Hause umher. Fräulein Wächter äußerte mit ihrer von Tränen heiseren Stimme ärgerlich: sie fürchte, der Junge würde noch ganz blödsinnig. Seine Augen blickten so geistesabwesend, daß man es schon nicht mehr mit ansehen könne.

In ihm arbeitete es; Gedanken und Gefühle, die ihn quälten, rangen nach Form und Ausdruck.

Auf dem Kirchhof, die Füße im kalten Schnee, an Fritzens offenem Grabe, während der langen Rede des Predigers, die in einförmigem Tonfall ungehört an sein Ohr schlug – da kam es plötzlich – da wurde es mit einemmal lebendig in seinem Kopf: Worte, Gedanken, Bilder, Reimklänge tauchten in ihm auf und fügten sich leicht und harmonisch ineinander, daß er selber fast davor erschrak – vor dieser neuen Fähigkeit, die er noch nicht in sich kannte.

Die leichten, anmutig tanzenden Schneeflocken, die dem jubelnden Mädchen die Ankunft des lieben Knaben kündeten, und die schweren, kalten Schneemassen, die ihm den Tod gebracht und nun sein Grab umschlossen – wie eines aus dem andern geschah, wurde es ihm zum Sinnbild der heimlichen Tücke, die tödlich in aller Lust und Lieb und Fröhlichkeit lauert.

Er stahl sich davon, als die Leidtragenden auseinandergingen, und kritzelte in seinen Schüler-Mentor nieder, was in seinem Kopfe entstanden. Und siehe, es war ein Gedicht. Als er es las – wieder und wieder, mit Schauern des Entzückens, mutete es ihn fremd an, ganz unähnlich den kleinen Reimereien des bewunderten Fritz – als hätte ein Größerer es gedacht und geschrieben – ein Unbekannter, vor dem man Ehrfurcht haben müsse.

 

Der Sommer kam wieder. Den Wald schmückten Millionen neuer, grüner Blätter und frischer, gelber und weißer Blumen. Die Kinder aßen Abendbrot unter den Bäumen. Gerties Augen glänzten, als scheine die Sonne hinein. Der Vetter Max war bei ihnen zum Besuch, und er trug eine richtige Uniform, wenn er auch nur Kadett war – nein, wie fesch! Und was er für lustige Geschichten erzählen konnte – Gertie mußte sich halb tot lachen.

Heinz saß neben Fräulein Wächter und sah träumerisch, wie der Kadett und seine kleine Schwester sich neckten.

»Morgen wird es ein Jahr, daß wir mit Fritz hier waren«, sagte er nachdenklich.

Er wußte, daß er Fritz niemals vergessen konnte. Aus dem Tode des armen Jungen war ihm die lebendige Kraft entsprungen, die er sorgsam und heimlich hütete als eine schicksalsmächtige Gabe, welche ihm seinen Weg in die Zukunft wies.

 


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