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(Fortsetzung.)
»Ich bin ermächtigt, Ihnen dies Honorar für Briefe und Manuskript zu bieten, – oder stellen Sie selbst Ihre Forderung.«
»Es genügt – auf meine Bedingungen hin. Der Handel ist abgeschlossen und hier sind die Papiere.«
Der Doktor schloß das Seitenfach auf und holte das kleine Päckchen Briefe und Blätter hervor, denen er vorhin die Probe entnommen, deren Einsicht den Besucher so sehr aufgeregt hatte. »Nehmen Sie – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht das Geringste zurückbehalten habe. Aber sehen Sie selbst nach, wenn Sie wissen, um welche, wahrscheinlich der Schreiberin entwendete Papiere es sich handelt. – Hier ist auch das bereits fertige Manuskript – dort im Kamin glühen noch Kohlen genug.«
Der Fremde schleuderte das kleine Heft, als hätte er glühendes Eisen zwischen die Finger genommen, in den Kamin, wo es alsbald ankohlte und in Flammen aufging. Dann sah er sorgfältig die Papiere nach und band sie mit einem tiefen Seufzer wieder zusammen. »Arme Amalie! Ich kann nicht wissen, was jener Dame entwendet worden und muß mich auf Ihr Wort verlassen. Nur sprach man mir von einem Tauf- und Totenschein …?«
»Sie müssen meiner Versicherung glauben; es war Alles, was die Leute mir gaben, – so viel ich sah, was sie überhaupt hatten. Von den beiden Scheinen war unbedingt nichts dabei. – Noch einen freundlichen Rat – Sie hatten vorhin auf der Treppe ein Rencontre mit einem Herrn?«
»Ja – er rannte mich fast um,« sagte der Fremde zerstreut.
»Nun wohl, Sie haben nicht für gut gehalten, mir Ihren Namen zu sagen, aber, wenn ich recht gesehen, waren Sie so – so unvorsichtig, jenem Menschen Ihre Karte zu geben.«
»Er glaubte sich durch meine ausgesprochene Meinung beleidigt. Es war allerdings unvorsichtig – – auf diesem Gange! Es läßt sich indeß nicht ändern.«
»Nun, die Sache geht ja eigentlich mich und unsern Verkehr nichts an, aber ich möchte Sie vor dem Mann warnen, er ist einer jener polnischen Gurgelabschneider, die wieder stark ihr Wesen zu treiben beginnen und eine Ehre darin suchen, jedem Deutschen einen Streich zu spielen.«
»Es wird seine Sache sein, ob er von sich hören läßt oder nicht. Ich weiß nicht einmal seinen Namen. Leben Sie wohl, Herr, und – halten Sie Ihr Wort!«
Er hatte seinen Hut genommen, der Redakteur hielt höflich die Tür der Barriere geöffnet, der Fremde hatte bereits die Hand auf den Griff der Tür gelegt – aber er öffnete sie nicht, er blieb stehen, und wandte sich nach kurzem Besinnen wieder zu dem Journalisten.
»Mein Herr,« sagte er, »mein Benehmen hat Sie wahrscheinlich beleidigt, ich gestehe es, ich hatte Unrecht, ich kam mit einer vorgefaßten Meinung hierher. Verzeihen Sie, was Sie verletzen konnte; ich muß Ihnen wie ein von schwerer Schuld Belasteter oder wie ein Tollhäusler vorgekommen sein, und dennoch ist beides nicht der Fall. Ich fühle mich nur darüber unglücklich, daß ich mit meinem Leben nicht den zerstörten Frieden eines andern Lebens zurückkaufen kann.«
»Ich bedauere Sie!«
»Ich kann mir denken, daß ein Mann wie Sie sich aus der Kenntnis jener Schriftstücke das ganze Leben zweier durch die Verhältnisse um ihr Lebensglück betrogener und getrennter Menschen klar gelegt hat. Sie wissen also auch, daß ein Zweifel über die Existenz jenes armen unglücklichen Wesens nahe liegt, das allerdings einer Schuld sein Dasein verdankt, dessen Leben aber doch vielleicht unser Schicksal geändert hätte. Vielleicht wäre es möglich, durch Sie eine Spur der Wahrheit zu erhalten.«
»Erklären Sie sich näher; ich bin gern bereit, Ihnen zu dienen, so viel ich kann.«
Der Fremde hatte dem Journalisten die Hand entgegengestreckt, dieser schlug ein und zeigte ihm mit warmem Druck, daß sein Anerbieten aufrichtig sei.
»Wie sind Sie in den Besitz der Papiere gekommen?«
»Ich habe Ihnen bereits die Wahrheit gesagt.«
»Kennen Sie die Personen, die Ihnen die Papiere verkauften?«
»Nein. Ich habe wenigstens das Frauenzimmer, das die Papiere besaß, nur einmal gesehen und nicht nach ihren Verhältnissen geforscht. Eine gewisse Dankbarkeit, vielleicht auch die Besorgnis, daß man sie ihr bei erster Gelegenheit abnehmen würde, schien die Veranlassung dazu zu sein, daß sie mir die Papiere anbot, weil ich ihrem Zuhälter durch meinen Rat und die Bekanntschaft mit unseren Kriminal-Kommissarien aus einer argen Klemme geholfen hatte. Er ist ein Herumtreiber und Lüderjahn der schlimmsten Art, und doch dabei eigentlich ein Genie, freilich ein verkommenes.«
»Kennen Sie ihn, wissen Sie seinen Namen?«
»Ich kenne ihn nur unter dem Spitznamen, den er bei seinen Genossen führt, einer Gesellschaft von Gaunern und Vagabonden. Er heißt: der schwarze Springer! Möglich, daß er wirklich Springer heißt, oder daß es von seinem Gewerbe kommt, denn der Mensch soll Schauspieler, Kunstreiter, Seiltänzer, Gaukler, kurz alles Mögliche gewesen sein. Er ist in der Tat ein Bursche, der wohl bei Frauen gewisser Stände eine wahnwitzige Leidenschaft erwecken kann, und eine solche Anziehungskraft scheint er auf das Frauenzimmer geübt zu haben, die jetzt seine Geliebte oder Zuhälterin macht, denn ich glaube schwerlich, daß sie verheiratet sind.«
»Erinnern Sie sich vielleicht des Weibes, können Sie mir dasselbe etwas näher beschreiben?«
»Es ist eine große blasse Person mit rötlichem Haar. Sie mag vielleicht 27 oder 28 Jahre zählen, obschon sie infolge von Kummer und Elend, wahrscheinlich auch von Eifersucht und Mißhandlungen, älter aussieht. Selbst in den Lumpen, mit denen sie bekleidet war, sprach sich eine gewisse Koketterie aus. Auffallend war mir der Ausdruck ihrer großen grünlichleuchtenden Augen!«
»Kein Zweifel – sie ist es – die ehemalige Kammerjungfer der – der Dame, die ich meine!«
»In ihrem Gesicht,« fuhr der Doktor fort, »liegt etwas Intriguantes, ich erinnere mich als eines Kennzeichens, das mir auffiel, eines schwarzen Flecks oder Muttermals, das sie auf der linken Seite des Kinns hatte, und das sie trotz ihres kläglichen Zustandes mit dem Band ihrer alten elenden Haube zu verdecken suchte, auch, daß sie schöne Zähne hatte und eine eigentlich sehr angenehme Stimme.«
»Es ist so, sie sang sogar gut. Es ist die Person, die jene Papiere entwendet hat, wahrscheinlich, um später eine Erpressung darauf zu gründen. Zugleich mit ihr verschwand das Kind – vermutlich ist es gestorben – sie allein – außer einer Person, die unseren Fragen entrückt ist – kann die Wahrheit wissen. Wann haben Sie jene Person gesehen und ihr die Papiere abgekauft?«
»Ich erinnere mich – am Tage nach dem Begräbnis des Königs kam sie zu mir. Der schwarze Springer ist freilich oft in den Händen der Polizei und auch im Gefängnis gewesen, aber er hat es immer meisterlich verstanden, sich vor dem Zuchthaus zu salvieren. Diesmal ist er ihm nur mit Mühe und durch einen glücklichen Zufall, den ich ihm zu benutzen riet, entgangen. Daher die fast leidenschaftliche Dankbarkeit des Weibes.«
»Und können Sie mir nicht auf die Spur dieser Leute helfen? Ich sage Ihnen offen, ich könnte die Erreichung meines Zweckes, die Gewißheit über das Schicksal des Kindes – es müßte jetzt sechs Jahre zählen – mit einer gleichen Summe honorieren, wie – die Unterdrückung des Romans.«
»Wie ich Ihnen sage, ich habe nichts wieder von ihnen gesehen und gehört; sie werden sicher Berlin verlassen haben. Von dem Geld, das ich ihnen aus Mitleid für jene Papiere zahlte, wollte der Vagabond, wie ich mich erinnere, einen Leierkasten kaufen.«
»Auch für diese Spur bin ich Ihnen dankbar! Leben Sie wohl, Herr Doktor und – am besten! – vergessen Sie meinen Besuch!«
Der Fremde öffnete die Tür und entfernte sich, jede Begleitung durch eine energische Bewegung der Hand zurückweisend. Als der Doktor die äußere Tür schließen wollte, sah er draußen auf dem Treppenflur einen kleinen verwachsenen, aber mit der den Verwachsenen gewöhnlich eigenen Eitelkeit, anständig und modern gekleideten Mann stehen, der sehr devot den Hut in der Hand hielt.
»Wollen Sie zu mir?«
»Wenn Sie erlauben, geehrter Herr Chef-Redakteur – ich möchte in einer wichtigen Angelegenheit Sie wohl um eine kurze Unterredung bitten.«
Der Doktor sah etwas geringschätzig auf den kleinen Mann und überschlug in Gedanken, ob es wohl der Mühe lohne, ihn noch zu empfangen.
»Ich komme in einer Börsen-Angelegenheit, wegen einer Eisenbahnfrage,« flüsterte der kleine Meier, denn dieser war es; »wollten der Herr Doktor nicht die Güte haben, mich anzuhören? Sie würden das Haus Röder und Kompagnie sehr verbinden.«
»Treten Sie ein.« – – – – –
Eine Stunde darauf verließ der kleine Meier sehr vergnügt das Bureau des Redakteurs, der sogleich zur Druckerei schickte und dem Faktor sagen ließ – die ›Öffentlichkeit‹ war ein Morgenblatt, – der bereits gesetzte Leitartikel müsse zurückgestellt werden, er werde anderes Manuskript senden.
In dem Salon, das heißt im großen Vorderzimmer der Geheimrätin, begannen schon die Teetassen zu klirren, die Gesellschaft hatte sich eingefunden; selbst der große Kritikus war erschienen, freilich etwas spät und bereits etwas angeheitert. Dies mußte jedenfalls dem Trauerspiel Fräulein Adelaidens zu Gute kommen, die an einem besonderen kleinen Boudoirtisch von Rosenholz saß, das Manuskript von ›Ewald und Theodolinde‹ vor sich, zur Seite zwei Doppelleuchter mit brennenden Wachskerzen trotz der ganz guten Gasbeleuchtung des ›Salons‹. Sie warf einen höchst mißbilligenden Blick nach dem ›Speisesaal‹, wo die unästhetische Schwester noch mit Gläsern und Tellern klapperte, da sie endlich die große Vorlesung des vierten Aktes, in dem das Unglück der beiden durch die Hand des Fatums in Eifersucht und Verläumdung getrennten Liebenden bis zum, wie die Geheimrätin zu behaupten pflegte, Unerträglichen sich steigerte, beginnen wollte. Ja bis zum Unerträglichen: denn der große Kritikus und selbst die beiden Gardeleutnants schienen es kaum noch ertragen zu können, so unruhig rückten sie in den Fauteuils, und so durstige Blicke sandten sie von den Erquickungen des geheimrätlichen Tees – und in diesem Artikel sind die Berliner Geheimrätinnen bekannt und gefürchtet, – nach den Türen, hinter denen sie etwas Substantielleres erwarteten, als das unglückliche durch die Intriguen des Hülsenschen Lesekomitees verschmähte Trauerspiel.
Nebenan aber im Kabinet des Geheimrats saß dieser, schrieb an dem großen Schlußreferat über die … Eisenbahn und spickte es mit solchen Zahlen und scharfsinnigen Bemerkungen, daß dem entscheidenden Minister gewiß ganz blümerant werden mußte und er nicht anders sagen konnte, als: diese oder keine! und wieder nebenan, im Redaktionsbureau der ›Öffentlichkeit‹, saß der Doktor Heitel. Seine Stahlfeder flog über das Papier, daß die auf die einzelnen Streifen harrenden Druckerjungen einen wahrhaft heiligen Respekt vor der Gelahrtheit des gefürchteten Chefredakteurs kriegten, und am andern Tag sicher kein Hund in Berlin einen Bissen Brot und noch viel weniger eine Aktie aus der Hand des eigennützigen, jedes staatsökonomischen Blickes entbehrenden Konsortiums genommen hätte, das es versucht, gegen eine offenbar so vorteilhafte und wichtige Linie, wie die des Kommerzienrats Röder und seiner Gesellschaft in die Schranken zu treten, und daß Bankier X. und Baurat Y. und Geheimrat Weber und wie sie alle hießen, die der Artikel systematisch zerfleischt hatte, kaum wagten, sich auf der Börse oder auf der Straße blicken zu lassen!
Also geschah es, daß der Geheime Rat Görling in den Verwaltungsrat der … Eisenbahn kopfüber kopfunter gestürzt wurde und später in den Kammern unter allerlei bissigen und unlauteren Bemerkungen der Opposition die staatliche Zinsgarantie mit vierundeinhalb Prozent zu vertreten hatte.
Der Fremde, der sich dem Redakteur der ›Öffentlichkeit‹ gegenüber als Leutnant oder Hauptmann Hermann, kurz als Offizier, bekannt, ging in der Richtung nach dem Dönhofsplatz und hatte auf dem Trottoir noch keine zweihundert Schritte gemacht, als er auf einen Herrn im Paletot traf, der ihn hier erwartet zu haben schien: denn er trat sofort an seine Seite und ging neben ihm her, ohne daß beide sich weiter unterhielten. Erst als sie an der Ecke des Platzes angelangt waren und nun quer über den weiten, ziemlich menschenleeren Raum schritten, wandte sich der Zweite – ein Mann in den Vierzigern, mittelgroß, von kräftiger Gestalt – an den Offizier.
»Nun, mein Herr, welches Resultat?«
»Ein günstiges, wenigstens in einer Beziehung. Es war, wie wir gefürchtet, es handelte sich in der Tat um die Personen und die Verhältnisse, die Sie kennen.«
»Und nun?«
»Ich bin im Besitz sämtlicher Papiere, wenigstens hat mir Ihr Kollege sein Ehrenwort gegeben, daß es alle sind, die er selbst zu Gesicht bekommen hat, und nach der eigentümlichen Szene, die der Auslieferung dieser Papiere voranging, glaube ich seinem Wort.«
»Erlaubt es der Vorgang, daß Sie mir Näheres erzählen?«
»Warum nicht? Überdies müssen Sie die freilich geringen Auskünfte erfahren, die er mir geben konnte.«
Sie gingen auf dem Platz auf und nieder, und der Offizier erzählte dem aufmerksam Zuhörenden den Hergang.
»Ich sagte es Ihnen ja im voraus, daß Sie mit Drohungen bei ihm nichts ausrichten würden.«
»Es waren keine Drohungen! Nachdem ich mich von dem Dasein der Papiere überzeugt, hätte ich sie nur mit dem Leben in seinen Händen gelassen.«
»Desto besser, daß es jetzt so gekommen ist, und die Fürstin, als sie Sie herüberrief, das leichtere Mittel zu unserer Disposition stellte. Sie wird glücklich sein, die Papiere, wenn auch gegen eine so hohe Summe, zurückzuerhalten. Sie wird bedauern, nicht mehr hier zu sein, um sie selbst in Empfang nehmen zu können.«
»Schreiben Sie ihr,« sprach der Offizier mit dumpfer Stimme, »daß sie jeden Augenblick zu ihrer Disposition stehen; bis dahin sollen sie nicht von meinem Herzen kommen. Leider muß ich Ihnen die weiteren Nachforschungen überlassen, da ich noch mit dem Nachtzuge zurück muß. Ich bin ohne Urlaub abwesend.«
»Seien Sie und die Frau Fürstin versichert, daß ich alles mögliche aufbieten werde. Der Fingerzeig, den Doktor Heitel Ihnen gegeben, ist, so gering er ist, doch von Wichtigkeit, da er mit dem Resultat meiner eigenen Ermittelungen übereinstimmt, und vielleicht ist es möglich, noch diesen Abend Gewißheit darüber zu erhalten und zu erfahren, wo jenes Paar jetzt zu finden ist.«
»Wieso?«
»Ich werde noch heute Abend – in einer Stunde – einen jener Orte besuchen, wo der Auswurf Berlins zu verkehren pflegt und man solche Dinge am ersten erfährt. Ein Mensch der Art, wie Sie den ›schwarzen Springer‹ beschrieben, kann seinen Genossen nicht leicht aus den Augen kommen.«
»Aber begeben Sie sich nicht selbst unnütz in Gefahr!«
»Keine Besorgnis! Ich gehe in Begleitung eines Polizei-Kommissars, der mich zu dem Gange durch diese Nachthöhlen Berlins abholen wird, und eigentümlicher Weise zunächst an einen Ort, der gerade in dem Hause gelegen sein soll, das Sie eben verlassen haben. Er will mich um halb zehn Uhr bei Becker abholen. Trinken Sie bis dahin dort ein Glas Wein mit mir?«
»Entschuldigen Sie mich; ich muß noch nach dem Hotel zurück, um mich zu der Fahrt fertig zu machen. Gott gebe Ihnen günstigen Erfolg. Sie wissen jetzt meine Adresse, und wenn ich Ihre Güte nochmals in Anspruch nehmen darf, so schreiben Sie mir davon zugleich mit dem Brief an die Fürstin.«
Der andere versprach es, und so schieden die Beiden.
Die bürgerliche Gesellschaft hat ihre Cloaken, so gut wie das Haus, die Straße! Solche Cloaken der Gesellschaft sind in den großen Städten gewisse Tabagien und Kneipen; in Berlin waren es damals gewöhnliche Kellerlokale der obskursten Art, in der Volkssprache als ›Bums‹ oder ›Verbrecherkeller‹ bezeichnet. Etwas höher stehen die ›nächtlichen Konditoreien‹. Die neuere Zeit hat in dieser Beziehung stark aufgeräumt.
Gewissermaßen ist es für die Polizei eine Notwendigkeit, solche Lokale bestehen zu lassen, in welchen sich der gefährliche Teil der Bevölkerung zusammenfindet: Verbrecher aller Art, Hehler und Vagabonden beiderlei Geschlechts, um bei einer notwendig gewordenen Razzia oder Suche das Wild gleich auf dem Sammelplatz zu finden. In allen Hauptstädten der Welt wird diese Notwendigkeit anerkannt.
Damals gaben die Berliner ›Verbrecherkeller‹ in der Mannigfaltigkeit und den Eigenschaften ihres Publikums den berüchtigsten Höhlen von Paris, London und New-York kaum etwas nach, bis auf das Kontingent der brutalen Mörder und Räuber, das an jenen Orten stärker vertreten ist. Dafür blickte in den Berliner Lokalen dieser Art ein gewisser pikanter Zug durch, der den unteren Volksklassen Berlins überhaupt eigen ist, und sie unterscheiden sich von jenen auch dadurch, wahrscheinlich in Folge der verschiedenen Lokalität, daß hier nicht blos die absolute Domaine der Verbrecher und Taugenichtse ist, sondern auch oft ein ganz ehrliches Publikum aus der untersten Klasse seine Erholung sucht, freilich grade nicht zum besondern Gewinn seiner Moralität.
Solche Lokale gab es nicht blos vor den Toren, in den vorzugsweise von den untern Volksklassen bewohnten Straßen und Stadtteilen, sondern auch mehrfach im Herzen der Stadt selbst; meist waren sie der Polizei wohlbekannt, oft aber ihr gänzlich unbekannt, bis irgend ein Vorkommnis ihren Charakter enthüllte.
Eine sehr düstere, durch die staubüberzogenen, seit lange nicht gereinigten roten Scheiben leuchtende Gaslaterne verkündigte in dem ›Bums‹, der in dem schon so viel erwähnten Hause lag, am Abend nach außen »Kalt und warm gespeist, einheimische und fremde Biere,« während bei Tage die beiden von äußerst kunstfertiger Hand eines Stubenmaler-Lehrlings gefertigten Seitenschilder der Tür mit dem saftigen Schinken, der angeschnittenen Preßwurst und der schaumgefüllten Weißen nebst der roten Rosoglioflasche wunderbare Herrlichkeiten den Hungernden und Durstenden verhießen. Zehn Stufen führten hinab zu der mit roten Gardinen vor den Scheiben für gewöhnlich verhüllten Glastür, deren Anblick überdies um diese Stunde bereits durch die wenigstens an einander gelegten äußeren hölzernen Ladentüren den weniger eingeweihten Besuchern entzogen war. Eine der mittleren Stufen vor der Glastür war übrigens so eingerichtet, daß wenn der Fuß sie betrat, ein Mechanismus im Innern des Ladens eine Klingel ertönen ließ.
Hatte man die Glastür geöffnet, so befand man sich zunächst in dem Verkaufsladen, dem »Buffet«, das mit dem nächsten Zimmer wieder durch eine Glastür in Verbindung stand. Aber auch der Laden enthielt für die flüchtiger verweilenden Gäste schon rechts und links ein Paar Tische, wo jene sich zum »Stehseidel« oder der »kleinen Weißen« niederlassen konnten.
Quer über die Mitte des Ladens lief der Tisch, der vorn mit einem etwa anderthalb Fuß hohen Holzgitter zum Schutz der hinter ihm aufgestellten Herrlichkeiten versehen war.
Da stand zunächst auf einer Schüssel schon halb aufgeschnitten in natura der große rosig und saftig aussehende Schinken und neben ihm eine große Schüssel mit Kartoffelsalat. Teller mit kalten Koteletts, allerlei angeschnittener Wurst, hartgekochten Eiern, ein Tönnchen mit marinierten Heringen und Rollaal vervollständigten dies Büffet, während an dem Säulenbogen darüber und von der Decke noch ein ganzer Vorrat von Würsten, Speck, Schinken, Zwiebelreihen und dergleichen niederhing, und an der Hinterwand, rechts und links von der Tür zu einer Schlafhöhle, in die sich niemals das Tageslicht verlor, hölzerne Regale mit Gläsern und Flaschen aller Art sich befanden, unter ihnen Kümmel, Spanisch Bitter, grüne Pommeranzen, Parfait d'Amour und das wahrhaft furchtbare chemische Gemisch, das jene Lokale »Cognac« zu nennen belieben.
Hinter dem Schanktisch hantierte Madame Nowak, die Gattin des Boutikers, an deren Schürze zwei Jöhren von vier und sieben Jahren hingen.
Madame – es war eine Eigentümlichkeit der Berliner der unteren Stände, die französische Benennung zu brauchen! – Madame Nowak war, ganz im Gegensatz des Ehepaars zu seinen Kollegen in dem Gartenlokal des Quergebäudes, das wir früher dem Leser vorgeführt, eine fast kolossale Frau, von Formen, gegen welche die Venus vulgivaga im Museo Bourbonico zu Neapel bloße Andeutungen gab, mit schwarzen Haaren, einem ziemlich stark ausgeprägten Schnurbart, und einem sehr energischen Willen. »Madame« Nowak war eine Dame, deren Vergangenheit allerdings nicht ganz vorwurfsfrei war, kurz, die Manches erlebt und manchen Sturm über sich hatte ergehen lassen. Aber seit sie der ehemalige Hausdiener Nowak in dem sehr zweifelhaften Hotel ihres Verweilens in den fünfziger Jahren zu seiner Gattin erkoren hatte, war sie in Bezug auf die eheliche Treue und Diskretion, wie man es sehr häufig in solchen Verhältnissen findet, eine ganz makellose, ja musterhafte Gattin gewesen, infolge dessen sie es auch nach und nach glücklich zu zwei ehelichen Sprößlingen gebracht hatte. Tatsache – und zwar eine unter den Besuchern des Bums sehr bekannte und gefürchtete – war, daß Madame Nowak nicht blos über Gatten und Kinder eine äußerst handfeste Kontrolle übte, sondern ebenso in dem ganzen Lokal, wenn ihr etwa die Ungeniertheit der Gesellschaft zu arg oder zu gefährlich wurde.
Madame Nowak trug ein hoch hinaufgehendes dunkelgrünes Wollenkleid und einen quer über den sehr stark ausgeprägten Busen geschlungenen und auf dem Rücken gebundenen gelben Shawl, was mit den flatternden hochroten Bändern ihrer Haube einen sehr genialen Eindruck machte, und war eben beschäftigt, für einen der Gäste, nach dem Rock und Abzeichen ein Mitglied der Scabel'schen Straßenreinigungs-Kompagnie, eine Weiße einzuschenken, wobei der zurückgekrämpelte Ärmel die Kraft ihrer Gelenke und den breiten Bau ihrer Hand zur Genüge zeigte.
Aus dem Laden führte die erwähnte, jetzt halb offenstehende Glastür in ein größeres, niedriges Zimmer, in dem ein altes sehr abgenutztes Billard stand, das von zwei darüber angebrachten Gaslampen erleuchtet wurde. Die Gesellschaft schien hier bereits eine gemischte, das heißt aus noch ehrlichen oder halb ehrlichen Leuten und ausgeprägten Spitzbuben zusammengesetzte, denn es befanden sich außer einigen Arbeitern ein Paar sehr junge Burschen mit ziemlich guten Röcken, wie Kommis irgend eines größeren Geschäftes aussehend, und ein Mann dort, der der Packer oder Austräger in demselben Geschäft zu sein schien, ihrer gelegentlichen Unterhaltung nach zu urteilen. Diese Drei spielten einen Kegelboule mit einem langen Menschen von etwa sechs- bis siebenundzwanzig Jahren in outriert aufgeputzter Garderobe, dessen Gesicht einmal hübsch gewesen sein mußte, jetzt aber in den tief liegenden verschmitzt und frech blickenden Augen, in den hagern Wangen und den Falten um den Mund, die der blonde Schnurrbart nicht verdecken konnte, alle Spuren eines ausschweifenden lüderlichen Lebenswandels trug.
Der lange Bursche hatte einen abgeschabten grünen Jagdfrack an und dazu trotz der noch immer sehr rauhen Jahreszeit, lange helle Beinkleider von Sommerstoff. Dazu trug er einen hohen grauen Hut flott auf das linke Ohr gestülpt und schwang das Queue mit einer gewissen barbiermäßigen Grazie, während die Linke die Hosentasche nur verließ, wenn sie den Bock beim Stoß machen sollte oder die Zigarre aus dem Munde entfernte, welches letztere jedoch nur ausnahmsweise geschah. Er behielt den Glimmstengel selbst während des Redens zwischen den Zähnen, was seiner Sprache etwas schnarrendes gab. Die beiden Ladendiener und der Austräger hörten übrigens seinem sehr geläufigen Diskurs mit einer gewissen Bewunderung zu, wobei alle Drei häufig sehr sehnsüchtige Blicke nach der Tür warfen, die der erwähnten Glastür des Ladens gegenüber zu einem dritten Raume führte, aus dem ein gedämpftes Durcheinander von Stimmen, die Töne eines Leierkastens und einer Ziehharmonika und das Stampfen eines bacchanalischen Tanzes herüberdrangen, wenn die Tür, über der die große Inschrift hing: »Garderobe« geöffnet wurde. Dies geschah übrigens häufig, da fortwährend Personen nach dem Billardzimmer ab und zu gingen.
Jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, konnte man in den Raum hinunter sehen, der noch einige Stufen tiefer zu liegen schien, als die anderen Keller-Lokalitäten. Es war dies ebenfalls nur ein Durchgangszimmer von schmalen Dimensionen, aus dem links ein Zugang nach der Küche zu führen schien, wie der ranzige Geruch bratender Butter und schmorenden Fleisches andeutete. Der Tür zum Billardzimmer gegenüber befand sich eine zweite, an deren Seite hinter einem kleinen Tischchen ein kurzer stämmiger Mensch saß, der zwar nur ein Auge hatte, da das andere ihm wahrscheinlich, wie die verwachsenen Narben andeuteten, bei irgend einer Gelegenheit ausgeschlagen oder ausgedrückt worden war, der aber mit dem zweiten desto mehr zu sehen schien, denn es funkelte wie das eines Luchses. Der Kerl hatte eine merkwürdige Kopfbildung, indem fast das ganze Gesicht nur aus der kolossalen Nase bestand, die, ein wahres Monstrum, wenigstens drei Viertel der Visage füllte und in blau, violet und rot schimmerte, auch, sei es infolge der Spirituosen, sei es durch die Gewohnheit des ewigen Kratzens daran, eine Menge kleiner Näschen und sonstiger Auswüchse zeigte. Der Besitz dieses ausgezeichneten Gliedes hatte ihm unter seinen Freunden den Kriegsnamen »Gurkenwilhelm« verschafft. Er streckte seine Beine quer über die Türschwelle wie ein Cerberus, der den Eingang zur Unterwelt bewacht, und schwerlich hätte selbst ein Orpheus einen solchen Wächter mit der Leier bestochen, wenn er sein entlaufenes Weib aus diesem Tartarus hätte zurückholen wollen.
Eben öffnete sich die Küchentür, ein etwas struppiger Kopf streckte sich herein und lugte umher. Als er den Kassierer, denn diesen Titel pflegte sich der Cerberus beizulegen, allein sah, kam der ganze Körper herein.
»Guten Abend, Gurkenwilhelm,« sagte er mit heiserer Stimme, indem er mit dem Daumen nach der Tür wies, »Alles sicher drinnen oder gibts Bosser-Ische Polizei-Vigilant. da?«
Der Kassierer schüttelte den Kopf. »Kannst herein kommen – 's ist kein Schauter da, Zigeunerfritz, der Dich anzeigen könnte. Die jofe Hübsche. Amande ist schon lange da, tanzt mit dem »Totschläger« und hat schon drei Mal gefragt, wo Du wärst?«
Die Nachricht von dem Mädchen schien sofort jedes Bedenken des Verbrechers zu beseitigen, denn ein solcher der gefährlichsten Art war der Eintretende. Es war ein großer schlanker Bursche von 27 oder 28 Jahren, seiner Abstammung oder seinen braunen Hautfarbe wegen der »Zigeuner-Fritz« genannt. Ein leichter Accent, wenn er nicht das Gemisch der Diebessprache redete, wie das schmale schön geformte Gesicht mit den dunklen, melancholischen Augen, den blendend weißen Zähnen und dem pechschwarzen Haar, bewies allerdings, daß er slavischer oder magyarischer Abstammung war, und in der Tat hatte er früher zu der Gesellschaft der jungen slavonischen Kesselflickerburschen gehört, die vor den Toren Berlins eine förmliche Kolonie unter einem bestimmten Vorstand bildeten.
»Ich will dem Totschläger einmal sein Dam Blut. abzapfen, wenn er das Schöntun mit dem Mädchen nicht läßt. Ich fürchte mich nicht vor ihm und vor Keinem. Laß mich hinein, Gurken-Wilhelm!«
»Nicht eher, als bis Du das Dalled-gedaulim-chatiche Eintrittsgeld. bezahlt hast, es ist heute Bal paré drinnen!«
»Die Pille soll Dich bestieben Du sollst die Schwerenot kriegen., Mann! – ich habe keinen Groschen mehr in der Tasche, die Amande wird für mich bezahlen – oder da, nimm das und gib mir heraus, was Du denkst, damit ich drinnen den Feinen rauskehren kann!«
Er griff in die Tasche des alten braunen Paletots, den er trug und warf dem Kassierer eine goldene Uhr auf den kleinen Zahltisch, an der noch ein Stück mit einer jener scharfen Drahtscheren abgeschnittener Kette hing, deren sich eine gewisse Sorte von Taschendieben zu bedienen pflegt, um Uhrketten oder Berlocques Unaufmerksamer im Gedränge oder bei sonst günstiger Gelegenheit abzuschneiden.
Der Gurken-Wilhelm warf einen gierigen Blick auf die Uhr und seine Hand zuckte danach, indeß er überwand sich. »Du bist ein kecker Bursche, Zigeunerfritz, und machst gute Geschäfte. Schon wieder einen solchen Fund und wirst noch gesucht wegen des Einbruchs in der Behrenstraße. Die Uhr« – und er wog sie taxierend in der Hand, »ist ihre sechzig Dill wert, aber Du weißt, ich darf nichts kaufen, das ganze Geschäft könnte darüber zu Grunde gehn, wenn man die Nowaks oder mich dabei erwischte! Du findest den Leimsieder drinnen, der immer Geld in der Tasche hat, und ich werde Dir das Entrée vorschießen. Schade um das schöne Geschäft!«
Er zog die Beine zurück, und der Zigeuner-Fritz stürzte sich in die Öffnung, aus der ein wahrer Brodem von heißem Dampf, fetten Gerüchen und Lärmen hervorquoll, denn durch die Tür der Billardstube kam ein anderer Gast.
Es war ein noch ziemlich junger hübscher Mann, nur etwas unförmlich durch die dicke Figur. Das Geheimnis erklärte sich jedoch sogleich, als er den ganz neuen Überzieher ablegte und unter diesem noch ein zweiter zum Vorschein kam, sodaß, als auch dieser an den Nagel gehängt war, die Gestalt sich als eine sehr schlanke erwies.
»Zwei Garderoben-Marken, Herr Kassierer,« sagte lächelnd der Bursche. »Stark besucht heute?«
»Sie da, schöner Ludwig,« meinte satyrisch der Cerberus. »Hast ja doppelte Häute wie die Schlangen.«
»Eben darum will ich hier ablegen; 's ist bequemer und sicherer!«
»Dacht ich mir wohl! Man wird doch hierher keinen Verdacht tragen?«
»Gott bewahre, aus ganz verschiedenen Stadtteilen. Wenn ich sie hier nicht gleich verkaufen kann, laß ich sie in Verwahr. Hier Ihre vier Gute, und da vier andere Garderoben-Geld!«
»Scheinst ja verteufelt bei Kasse! Na, wenns Geschäft nur lange dauert. Wirst Dich bald nach was Anderem umsehen müssen! wenn's warm wird, tragen die Leute keine Paletots mehr.«
»Dann geh ich mit dem langen Hake in die Spielbäder, zunächst, nach Homburg und Wiesbaden. Er will ein ganz neues System erfunden haben, das gewinnen muß! Na, ich verlaß mich mehr auf die Geschwindigkeit und die fünf Finger. In Wiesbaden verdirbt kein gescheutes Menschenkind.«
»Aber die Franzosen sind da, und ich hab' mir sagen lassen, denen könntet Ihr doch nicht das Wasser reichen. Aber macht, daß Ihr hinein kommt, die Studenten-Claire ist heute hier.«
»Teufel! Das ist ein Weibsstück! Sie kennen doch die Geschichte mit den Sechsundsechszig?«
»Nein.«
Das saubere Histörchen mußte unerzählt bleiben, denn die Tür öffnete sich und Herr Nowak selbst streckte den Kopf herein.
Es war dies ein höchst eigentümlicher Kopf, den man so leicht nicht wieder vergaß. Der Kellerwirt war im Gegensatz zu seiner Frau und seinem Kollegen in der Parterre-Etage ein kleines sehr mageres Männchen, und der Kopf, der zu dieser Statur gehörte, hatte eigentlich zwei Stockwerke, dessen ersteres von dem spitzen Kinn bis zu den überaus hohen Augenbrauen ging, während das zweite, aus Stirn und Schädel bestehend, schmal wie der Turm einer Dorfkirche sich aus dem an und für sich schon nicht breiten Unterbau erhob. Das Gebäude war von einem sehr blonden spärlichen Haarwuchs bedeckt, unter dem ein Paar wässerig bläuliche Augen für gewöhnlich äußerst nichtssagend blickten. Aber hinter dieser Gleichgiltigkeit lag ein schlimmer tückischer Geist verborgen, der manchmal in einem bösen Blick wie eine Natter aus dem Grase hervorzüngelte und dann den wahren Charakter des kleinen Mannes verriet. Dieser Charakter bestand aus einem merkwürdigen Gemisch von Habsucht, Bosheit und Vorsicht. Die Polizei wußte sehr gut, welche Sorte von Gesellschaft in dem Nowakschen Keller verkehrte, aber eines Teils hatte sie ihm trotz häufiger mit der größten Genauigkeit betriebener Haussuchungen nach gestohlenem und spurlos verschwundenem Gut nie etwas anhaben können, denn sie hatte nie etwas gefunden, was eine Anklage auf Hehlerei gerechtfertigt hätte, andernteils leistete er ihr ganz erkleckliche Dienste, denn es gab keinen Dieb und Vagabonden in Berlin, den er nicht gekannt und dessen Schlupfwinkel er nicht hätte verraten können, wenn er nur wollte. Aber freilich wollte er nicht, so lange es nicht etwa galt, durch einen guten Verrat sich wieder einmal bei der Polizei in Gunst zu setzen, oder sich an einem der Strolche zu rächen. Denn der kleine Kneipenwirt war außerdem ein sehr rachsüchtiger Mensch und duldete es nicht, daß einer seiner Gäste sich seinem Einfluß und seiner Oberherrschaft entzog.
Niemand – selbst die hohe Obrigkeit nicht – konnte daher eigentlich sagen, woher Nowak sein Vermögen gewonnen; denn daß er vermögend und zwar recht vermögend war, daran zweifelte man nicht, nachdem es durch einen Boten vom Stadtgericht bekannt geworden, daß er durch seinen Advokaten in der Kochstraße ein ansehnliches Haus hatte kaufen lassen und auf einigen anderen in verschiedenen Stadtteilen Hypotheken stehen hatte. Die Gesellschaft in der Kneipe mußte freilich ganz anständig bezahlen, namentlich den Naumburger und Grüneberger Champagner, den irgend ein leichtsinniger Bursche nach einem veritablen Streich zum Besten gab; denn »wie gewonnen, so zerronnen!« gilt nicht bloß von einer gewissen Sorte Frauenzimmer, sondern auch von ihrer gewöhnlichen männlichen Gesellschaft. Auch die »Kluft« der Frau Nowak, obschon sie an den Tagen der Bälle im Orpheum, Colosseum, im Ballhause und dergleichen ein ganz Erkleckliches abwarf, konnte unmöglich die bedeutende Erwerbsquelle sein. Aber man zerbrach sich vergeblich den Kopf über diese, und Nowak war schlau und seine Helfershelfer treu oder klug genug, daß keine Vermutung darüber zur Gewißheit werden konnte, und so mußte man denn die Enthüllung dem Zufall überlassen, der schließlich selten ausbleibt.
»Nun Wilm?« fragte der Wirt, »hat der Schaum-Polde sie noch nicht in der Tasche?«
»Es geht nicht so rasch, Spitzkopp,« dies war der Spottname des Wirts, den er sich jedoch nur bei sehr guter Laune und nur von Seiten seiner Vertrautesten gefallen ließ, – »sie sind zu grün noch, und müssen erst gehörig eingeseift werden.«
»Nun ich dächte, der Leopold verstände das!« Er beugte sich zu seinem Vertrauten und sagte flüsternd: »Hoffentlich hat er etwas Gutes ausbaldovert, es ist ein Bursche drinnen, der direkt von Moabit entsprungen ist und mir zu Allem fähig scheint, wenn sie ihn nicht vorher erwischen.«
»Wer ist's?«
»Der Louis Grothe – er sitzt auf vier Jahre wegen schweren Diebstahls. Aber er ist ein schlauer Fuchs und bereits zum zweiten Mal ausgebrochen.«
»Aber er ist hier nicht durchgekommen!«
»Nein, dazu ist er zu gescheut. Hinten durch den Garten, – er hat bloß eine Begegnung mit meiner Alten, die ihm Geld schaffen soll.«
»Die Quinche? ja, sie kam mit ihrem Taugenichts von Jungen, der aber gleich von ihr ging.«
»Wahrscheinlich Schmiere stehn! Mir ist der ganze Besuch nicht nach der Mütze – ich mag den Louis nicht leiden und hätt' es nicht gern, daß hier heute Lärm wird. Einstweilen ist er wie verrückt auf das Guitarremädel, das mit dem Springer gekommen ist.«
»Und darum meinst Du, daß der Louis zu was Verzweifeltem gut wäre?«
Der Wirt lächelte boshaft. »Er hat keinen Groschen in der Tasche und so viel Brunst, daß er einen Mord begehen könnte. Gib dem Schaumpolde einen Wink, daß er die Drei einbringt oder für heute laufen läßt, denn sie schreien schon wieder nach mir!«
Herr Nowak verschwand, und der Gurken-Wilm erhob sich, in das Billardzimmer zu gehen, nachdem er die Kassette verschlossen hatte, um gegen jeden Liebeseingriff seiner guten Freunde gesichert zu sein.
Ein günstiger Zufall überhob ihn der Mühe, denn eben als er in die Vorderstube getreten war, hatte die Gesellschaft ihre Boule beendigt und war bei der Berechnung. Wie gewöhnlich hatte die Handfertigkeit und das routinierte Auge des Barbiers den Sieg über die unbeholfenen Sonntagsspieler davongetragen. In dem Augenblick, wo er das Geld einstrich, traten zwei Frauenzimmer ein, an deren Toilette und geschminkten Wangen ein Kundiger gleich ihr Handwerk erkennen mochte, beide aber noch ziemlich jung und hübsch und in den Künsten der Verführung wohlerfahren, wie ihr koketter Blick, den sie sogleich auf die beiden Handlungslehrlinge warfen, und das herausfordernde Lächeln bewiesen. Der Schaum-Leopold schien sie vortrefflich zu kennen: denn er hatte sie nicht sobald erblickt, als er mit unnachahmlicher Barbier-Grazie sämtliches auf das Billard gelegte Geld zusammenstrich und in die Hosentasche schob, ohne sich mit Herausgeben und Wechseln weiter zu bemühen und im Polkaschritt auf die Damen zuchassierte.
»Ah, Fräulein Wanda und die schöne Eleonore, sehr obligiert. Sie hier zu sehen! Hätte kaum noch auf das Enchantement gehofft. Um so glücklicher werden meine beiden jungen Freunde hier sein, eine so angenehme Bekanntschaft zu machen! Zwei Gimpel erster Sorte, die Ihr rupfen könnt!« fügte er im Flüstertone bei, und fuhr dann fort: »erlauben Sie, meine Herren, daß ich Sie vorstelle. Herr Hahnebusch, Fräulein Wanda von Poninska, Herr Bohnemann und Kompagnie, so heißt ja wohl Ihre väterliche Firma in Treuenbrietzen? Fräulein Leonore von Bürger, dramatische Künstlerin, künftig sicher noch einmal ein Komet unserer Hofbühne, die beiden Herren volontairisieren zu ihrem Vergnügen, da ihre elterlichen Häuser sehr begütert sind, in einer unserer ersten Modehandlungen. Verzeihen Sie, bester Freund,« fuhr er zu dem Hausdiener fort, »daß ich Sie nicht besonders vorstelle, aber ich darf unseren jungen Freunden keinen Rival geben, und bewahre für Sie etwas anderes auf. – Ist es also den Herrschaften gefällig, uns in den Saal zu begeben? Bitte, Herr Hahnebusch, haben Sie die Güte, dem gnädigen Fräulein Ihren Arm zu reichen; Herr Bohnemann, weiß ich, ist ein Protektor der Kunst, da ich die Ehre hatte, ihn bei Callenbachen kennen zu lernen!«
Die beiden jungen Bengel, die von den mütterlichen Ermahnungen oder einer Ahnung bewahrt, doch vielleicht noch gezaudert hätten, den Ort ihres moralischen Untergangs zu betreten, glaubten sich durch Zögerung in den Augen der beiden Schönen nicht kompromittieren zu dürfen und führten die sich schleunig an ihre Arme hängenden Polkamamsells, die einander verständigende Blicke zuwarfen, durch die Garderobe, wo ihnen der Gurken-Wilm das Entree für die ganze Gesellschaft abnahm, in den Tanzsaal.
In einer Ecke des Billardzimmers saß ein Mann von schlichtem Äußeren bei seiner Weißen und einer Schinkenstulle. Er hatte sich so wenig bemerklich gemacht, daß er selbst dem Scharfblick der Frau Nowak entgangen war, die doch sonst ihre Gäste sehr genau zu visieren pflegte, und deshalb auch nicht bemerkte, daß noch zwei eben in den Keller tretende und sofort sich des Billards bemächtigende Mitglieder in der Uniform, das heißt in dem Teerrocke der honorablen Gilde der städtischen Straßen-Reinigung, einen Wink und später im Vorübergehen sogar einige Worte mit ihm wechselten.
Im »Polkasaal« war der Ball im vollen Gange, und es gehörte wirklich eine wahre Todesverachtung, wenigstens eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen Rippenstöße und Fußtritte dazu, um sich in diesen bacchantischen Reigen zu werfen, wo jedes Paar vorwärts stampfte, unbekümmert um Regel und Ordnung, die Tänzerinnen in einer wahren Musterkarte hingebender Attitüden, bald auf Brust und Achsel des Tänzers mit dem erhitzten Gesicht liegend, bald die rechte Hand in seine linke Hüfte gepreßt oder wie der Arm eines Wegweisers hinaus ins Gedränge gestreckt. Der schöne Ludwig tanzte eben mit der Studenten-Claire, einem jungen Frauenzimmer, dessen früher sehr hübsches Gesicht zwar jetzt bereits alle Spuren eines langjährigen, in wahrhaft fabelhaften Strapatzen der Lüderlichkeit zugebrachten Lebenswandels zeigte, aber trotzdem noch so viel Pikantes hatte, daß es wohl zu erklären war, wie sie unter Männern dieses Kreises, ja vielleicht noch ganz anderer Kreise nicht wenige Freunde und Liebhaber zählte. Ihr Ruf war noch wenige Jahre vorher in ganz Berlin wohlbekannt, und es gab wohl wenige junge Männer, die in jener Zeit in Berlin verweilten, die nicht mindestens ihren Namen und ihre kolossalen Leistungen in dem Reiche der Venus vulgivaga gehört und so ihren Ruf auch außerhalb Berlins verbreitet hätten. Man erzählte in der Tat die tollsten Geschichten von ihr. Aus dem Umgang ihrer Glanzzeit mochte es auch kommen, daß ihr Benehmen und ihre Sprache etwas Ungewöhnliches und Pikantes behalten hatte. Für die Bälle des Salon Nowak war sie daher die Prima Ballerina.
Der Zigeuner-Fritz stand an dem Büffet und stürzte ein Glas des starken schlechten Punsches nach dem anderen hinunter, während er mit wütenden Blicken ein tanzendes Paar durch den Wirbel verfolgte.
Der Barbier hatte kaum den Tanzsaal betreten, als er eine Dirne ergriff, die eben, atemlos von dem wilden Tanze, vor ihm stehen blieb und sich mit ihr aufs neue in den Wirbel stürzte, »Linksum Doppeltritt, schönste Aurora – meine Herren, versäumen Sie die Polka nicht!«
»Aufgepaßt – der Schaumpolde tanzt Doppel-Schottischen! Der Taglioni könnts nicht besser machen, seht nur, wie der Schwerenöter die Beine schmeißt!«
»Nun, Herr von Hahnebusch, ist's gefällig?« sagte das polnische Edelfräulein, »sehen Sie nicht, daß meine Freundin schon mit der Firma Bohnemann oder Boonekamp und Kompagnie mitten mank sind! Oder wollen Sie mir erst an's Büffet führen? Dann erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich gewöhnlich eine Vanille in den Punsch gieße.«
»Wie Sie befehlen, Fräulein von Poninska, ich fürchte nur, es dürfte sich nicht sonderlich gut tanzen – es sind zu viel Paare und ich sehe keinen Tanzordner!«
»Ach was, det kommt später! Allons, schöner Jüngling, und dann wollen wir eins trinken!« Sie zog ihn mit Gewalt in den Reigen – halb zog sie ihn, halb sank er hin, – ein neuer Hylas in diesem Meer des Verderbens, das ihn gleichfalls verschlingen sollte.
An einem Tisch in der Nähe des Orchesters saß ein Paar, eine starke, etwa fünfzigjährige Frau von massiven Gesichtszügen, die vielleicht einmal hübsch gewesen waren. Es gibt unter den Frauen Körper und Gesichter, die nicht bloß dem Elend, sondern selbst dem ausschweifendsten Leben ohne allzusichtbare Einwirkung widerstehen zu können scheinen und sich das robuste, kräftige Äußere bis in das spätere Lebensalter erhalten. Zu diesen Personen gehörte die Witwe, die hier an dem Tisch saß und mit ihrem Sohne in leisem, emsig geführten Gespräch an einer Weißen und dem dazugehörigen Kümmel trank. Dieser Sohn stand im Anfang der zwanziger Jahre. Er war ein Mensch von schlanker Statur und nicht unangenehmem, große Energie verratendem Gesicht, das jedoch die blasse Farbe des Gefängnislebens zeigte. Er trug ein altes schwarzes Tuch über das eine Auge gebunden, was wahrscheinlich bei einem Faustkampf übel zugerichtet sein mochte, denn die Spuren davon erstreckten sich über den Nasenrücken. Ein breiter roter Wollenshawl verbarg trotz der in dem Lokal herrschenden Hitze den unteren Teil des Gesichts, während ein langer, offenbar nicht für ihn gemachter alter Überrock die Gestalt einhüllte. Über das dunkle, sehr kurz abgeschnittene Haupthaar war eine graue Mütze mit breitem Schirm, wie sie die Maurer und Handlanger zu tragen pflegen, gebreitet.
Das gesunde Auge des Burschen war fortwährend, selbst während des Gesprächs, auf das seltsame Orchester gerichtet, das dieser Gesellschaft zum Tanz aufspielte, oder vielmehr auf eine bestimmte Person dieser Musikbande.
Diese bestand aus einem Invaliden, oder einem Mann, der ein solcher zu sein schien, denn er trug ein Stelzbein unter einer alten, grauen Soldaten-Kapotte, von der jedoch die militärischen Abzeichen abgetrennt waren. Indes war er keineswegs alt, sondern höchstens fünf- bis sechsunddreißig Jahre, und aus dem dunklen, das Antlitz umrahmenden Bart schaute ein keckes, scharf geschnittenes schwarzes Gesicht mit funkelnden Augen, weißen Zähnen und schmaler, kühn vorspringender Nase. In dem ganzen Mann lag, trotz seiner Verstümmelung und der armseligen Kleidung, die durch eine österreichische oder französische Fouragiermütze auf dem lockigen schwarzen Haar vervollständigt wurde, etwas Gewandtes, Keckes, fast Geniales in jener besonderen Bedeutung, wie man es unter den sogenannten vagabondierenden Künstlern findet, die mit irgend einem dahin einschlagenden Gewerbe, wie Scherenschleifen, Akrobatik, Bärenführen oder dergleichen im Lande umherziehen zu großer Plage der Polizei und zum Gaudium der guten Dörfler, der Dienstmädchen und der lieben Jugend, aber durch die strengere Kontrolle der Gewerbescheine immer mehr in Norddeutschland verschwinden.
Zur Linken des Stelzbeines, der mit wahrer Meisterschaft eine große Ziehharmonika handhabte, saß eine hagere, blasse Frau von schlanker Figur, trotz der ärmlichen Kleidung doch mit einer gewissen Koketterie geputzt, denn sie hatte bei ihrer Beschäftigung, dem Drehen eines Leierkastens, das große orangegelbe Umschlagetuch auf die nach dem Takt gewiegten Hüften herabfallen lassen, so daß das ausgeschnittene, mit falschen Silberketten in Schweizermanier besetzte Mieder von schäbigem, schwarzem Manchester ihre hagere Büste zeigte und in dem weiten Ausschnitt unter einem sehr durchsichtigen Mullhemdchen den noch magerem Busen ahnen ließ. Auf dem rötlichen Haar trug sie einen abgegriffenen Tyrolerhut mit schwarz gewordenen Quasten. Die Augen der Frau hatten ein eigentümliches, fast grünlich leuchtendes Aussehen.
Auf der anderen Seite des Harmonikaspielers saß ein viel jüngeres Mädchen von kleiner, derber Figur, und einem recht hübschen und noch ziemlich frischem Gesicht mit großen blauen Augen, die einen frechen Ausdruck hatten. Sie spielte zu Harmonika und Orgel mit großer Gewandtheit die Guitarre, und wenn einmal Tänzer und Tänzerinnen allzusehr ermüdet schienen und die Musik eine Pause machte, dann trat sie an den Rand der Rampe und sang mit nicht unangenehmer Stimme irgend einen zotigen Gassenhauer, wie sie damals durch die Offenbachsche Richtung der Theater begünstigt, immer mehr in öffentlichen Lokalen an die Tages- oder besser die Abendordnung kamen, oder sie wechselte sich mit der blassen Frau in dem Einsammeln der Tanzgroschen ab.
Diese Person war es, die der junge Mensch mit der Binde um das Auge permanent anstarrte, und das Mädchen hätte ihr Handwerk nicht verstehen müssen, wenn sie den Bewunderer nicht längst bemerkt hätte. Als sie wieder die Runde mit dem Teller machte, blieb sie vor der Gruppe am Tische zuletzt stehen, machte einen Knix und hielt dem jungen Mann den Teller hin. »Nun, schöner Herr, zeigt Euch einmal recht generös!«
»Aber der Louis hat ja gar nicht getanzt. Pack Dich fort!«
»Ah, also Louis heißt er,« sagte das Mädchen. »Ein recht hübscher Name, und ich brauchte gerade einen. Ich hoffe, wir werden noch ganz gute Freunde werden, wenn er auch jetzt auf dem Trockenen zu sitzen scheint. Sie müssen ihn nicht zu kurz halten, Madamchen!«
Der junge Bursche hatte sich zu der Alten gewendet. Einen Groschen, Mutter! Wie heißt Du, Kind? –« Er kneipte das Mädchen am Kinn.
»Marie Fischer«, sagte dieses frech. »Ich spiele alle Donnerstage bei Nowaks seit ich in Berlin bin, habe Dich aber noch nicht gesehen, mein Junge!«
»Glaub's wohl!« murmelte der Bursche. »Der Teufel hol' es, daß ich grade kahl bin. Mutter, ich muß was tun, um Geld zu kriegen. Du mußt mir dazu helfen!«
»Du bist ein Narr, Louis,« entgegnete die Frau, obschon das Mädchen längst weiter gegangen war und sie nicht mehr hören konnte. »Halte Dich vor allem jetzt ruhig, damit die Polizei Dir nicht auf die Spur kommt. Es ist überhaupt nicht gut, daß Du mich hierher bestellt hast. Es muß heute Abend etwas gegeben haben, ich hörte davon flüstern, aber ich weiß noch nicht was. Wenn der Hermann nicht bald zurückkommt, der den Ring versetzen soll beim Lumpenbalzer, so tun wir am besten, zu gehen. Auf der Straße ist's immer noch sicherer.«
»Ich geh' nicht von der Stelle, eh' ich Geld habe«, meinte trotzig der Bursche. »Wie sollt ich's anders machen, als daß ich Euch hierher bestellen ließ? Zu Euch nach der Krausnickstraße konnte ich doch unmöglich kommen, da hätten sie mich zuerst gesucht.«
»Bei Leibe nicht, und es wird auch nicht lange dauern, da werden sie morgen dort sein, zu mir darfst Du nicht kommen. Es ist nur unglücklich, daß ich gerade auch kein Geld habe, um Dir zu helfen!«
»Schwerenot, was soll ich da tun! Ich war froh, daß ich von dem Semmelnante hier die alten Kleider gekriegt habe, aber ich habe versprochen, sie ihm zu bezahlen, sonst darf ich mich nicht wieder bei ihm blicken lassen. Wär's nicht so kalt, so logierte ich bei Mutter Grün im Tiergarten und wollte schon irgend ein Geschäft machen, bei dem ich ein paar Taler erwischte, denn es treiben sich immer alte Sünder dort herum nach dem Schlage von Eurem alten Liebhaber. Apropos, könnt Ihr dem nicht was abzwacken?«
»Der Professor ist lange nicht bei uns gewesen, er weiß wahrscheinlich unsere neue Wohnung nicht einmal!«
»Hol' ihn der Teufel! Warum habt Ihr den Ring nicht beim Vater Nowack versetzt? Da hätte ich doch Geld.«
»Du weißt, daß er sich nicht mit solchen Sachen einläßt, wenigstens hier nicht!«
»Aber ich muß Geld haben, ich muß dem Fratz dort einmal einschenken lassen, sie sieht mich gar zu verliebt an, und der Sonef, der ein Jahr lang in Groß Makum oder Moabit hat fasten müssen, dem ist's egal und müßte man drum gradezu dem Taljen Henker. in die Arme rennen.«
»Geh, geh; bei all' dem unsinnigen Reden kommt nichts heraus! Hier sind die letzten vier Gute, die ich habe – ich will einmal horchen, was denn gewesen ist!« Sie erhob sich, während der Bursche ein Glas Punsch bestellte und die Guitarrenspielerin zu sich winkte, denn der Stelzfuß hatte eine Pause gemacht.
Auch an dem Buffet des Herrn Nowack war die Rede von einem Ereignis gewesen, das am andern Morgen ganz Berlin in Erstaunen setzte und eben keinen besonderen Begriff von der Sicherheit der Straßen gab; denn es war in der Abendstunde und zwar bald nach 7 Uhr bei Mondschein auf einem Platz inmitten der Stadt, hinter dem alten französischen Turm nach der Französischen Straße zu, der Kassenbote eines großen in der Nähe wohnenden Banquierhauses, als er aus dem Kontor kommend einen Beutel mit Kurant zur Post tragen wollte, zu Boden geschlagen und beraubt worden, ohne daß sich eine Spur der Täter fand und bis auf den heutigen Tag gefunden hat. Die freche Tat war mit einem Raffinement und einer Kühnheit verübt worden, die an die damals kursierenden Erzählungen von den Angriffen der Londoner Garottiers erinnerten und wahrscheinlich auch die Folge von solchen Belehrungen waren.
»Nun, Zigeunerfritz, ich möchte doch wissen, wer der kluge Kerl gewesen ist, der so fünfhundert Ratt mit einem Ruck in die Tasche gesteckt hat!«
»Also fünfhundert sinds gewesen?« fragte in gleichgültigem Ton der Vagabund, indes seine Augen dabei doch den Nebenbuhler nicht verließen.
»Ich denke, wenigstens haben sie's vorhin erzählt«, meinte dagegen mit einem scharfen Blick auf seinen Gast der Wirt. »Na – was geht's mich an. Wenn der Bursche nur so gescheut ist, und bringt das Geld in sichern Verwahr und gibt kein Stück aus davon bis Gras über die Geschichte gewachsen ist. Das zu zeitige Prahlen mit dem Gelde hat schon manchen ins Unglück gebracht.«
»Möglich! Willst Du mir Kredit geben, Nowack? Ich kann's nicht länger ansehn, daß der Lump die Amande mir vor der Nase allein herumdreht!«
»Unter der Bedingung, daß Du keinen Lärm anfängst, Du weißt, Du hast schon drei Glas getrunken, und ich leide keine Händel, die mein Lokal in schlechten Ruf bringen und die Polizei herbeirufen. Nehmt Euch überhaupt in Acht heute, – ich weiß nicht, aber mir liegt's wie in den Gliedern.
»Nicht Ursach! Seit die Staatsanwaltschaft die Polizei greift, greift die Polizei keinen andern. Ich habe mit ihr nichts zu tun, schon lange nicht mehr.«
»Bist Du am Ende gar unter die Vigilanten gegangen.«
»Nimm Dich in Acht, Spitzkopp – ich verbitte mir dergleichen.«
Der Wirt verzog das Gesicht. »Wirst doch Spaß verstehn – weit eher traut' ich's Deinem Nebenbuhler zu. Aber ich sage Dir, fang keinen Lärm an. Du bist ein Hitzkopf!«
»Heute gewiß nicht, ich finde schon eine andere Gelegenheit. Wer ist denn das da?«
»Kenn' ihn nicht – der Spielmann hat ihn vielleicht herbestellt. Du siehst, daß er sich zu ihm setzt.«
In der Tat hatte der Stelzfuß gleichfalls seinen Platz verlassen und sich zu einem Tisch zur andern Seite der Estrade gewendet, an dem sich zwei Männer niedergelassen, die kurz vorher in den Saal getreten waren. Dieser Tisch befand sich dem grade gegenüber, an dem der Bursche mit dem verbundenen Auge und die Guitarrespielerin tranken und miteinander bald sehr vertraulich taten.
Das scharfe listige Auge des Schankwirts schweifte mißtrauisch häufig hinüber nach den beiden Tischen, aber er schien doch keinen rechten Anhalt zu gewinnen, oder gewinnen zu wollen.
Der Schaumpolde, der seine Tänzerin zur Ruhe gebracht, hatte sich zu ihm gesellt. »Wißt Ihr was Neues, Spitzkopp?«
»Was willst Du, Schlingel?«
»Als ich heute den ersten Schreiber beim Justizrat Licht rasierte, hab ich's gehört. Euer Haus soll verkauft werden.«
»Welches?« fuhr der Wirt unbesonnen heraus.
»Aha! die Frage hats verraten, daß die Leute Recht haben, wenn sie erzählen, Ihr hättet ein paar eigene Häuser.«
»Unsinn!«
»Na, was gehts mich an, es tut mir nur leid, daß es nicht meine eigenen sind! Ich würde mich wahrhaftig nicht mit den alten Baracken quälen und mich von den Mietern schinden lassen! Teufel, was für ein lustiges Leben wollt ich führen. Höre, Spitzkopp, die beiden jungen Laffen da sind ganz im Garne der Mädchen, und ich wette darauf, ehe sie drei Tage älter sind, haben die Dirnen ihre neuen seidenen Kleider wie eine Gräfin! Wenn sie nur erst wissen, wie sie Geld dafür machen können.«
Der Wirt begnügte sich mit einem kurzen Nicken: »Aber was ist's mit dem Hause, was meintest Du damit?«
»Nun hier Eure alte Chaluppe, wo wir drin tanzen und trinken. Es sollte mir leid tun, wenn Ihr heraus müßtet – das Lokal hat doch mancherlei Annehmlichkeiten.«
Das fahle Gesicht des Schenkwirts war noch fahler, fast grünlich geworden. Seine Finger krampften sich wie Krallen in den Arm des lüderlichen Barbiers.
»Schaumpolde – sprich die Wahrheit! Du kennst mich, und eine Lüge könnte Dir übel zu stehen kommen. Wer will das Haus verkaufen? Es gehört ja Minderjährigen und wird administriert. Sie denken nicht an den Verkauf, da die Administration gute Prozente abwirft.«
»Doch, doch – es soll ein sauberes Gebot darauf geschehen sein. Ich möchte nur wissen, ob der Kerl wirklich so viel Geld hat, oder wer es ihm vorschießen wird. Ihr hättet uns längst davon einen Wink geben sollen?«
»Aber wer? von wem sprichst Du?« keuchte der Kneipier.
»Wer anders, als der kleine verrückte Franzose, der im Parterre wohnt. Er ist bei dem Justizrat gewesen, und hat nach dem Hause gefragt und ihm Auftrag gegeben, nachzufragen. Aber es soll Alles in der Stille geschehen.«
»Verflucht sei der Schleicher! Nun, ich habe zwar immer geglaubt, daß er Moos hat – aber ich will's ihm eintränken, ehrliche Leute um ihr bischen Brot bringen, denn ich weiß, er kann mich nicht leiden, und hat sich schon ein paar Mal bei der Polizei über angebliche Störung der Nachtruhe beschwert. Wenn ich nicht so gut stünde! – Na, wir reden weiter darüber, vielleicht wärs ein Geschäft für einen von Euch, besser als die Ladenschwengel dort, die es nicht lange treiben werden. Es sitzt ein Bursche dort, der rabiat genug wäre; man brauchte ihm nur einen Wink zu geben.«
Es sollte aber anders kommen, wenigstens vorläufig, als Herr Nowack vielleicht im Sinn hatte.
Einige Zeit vor dieser Unterredung war ein Mann in einem einfachen Überzieher durch den Laden in das Billardzimmer getreten und hatte ein Seidel Bier bestellt. Der Mann hatte nichts Auffallendes und Verdächtiges, und die Wirtin hatte daher wenig auf ihn geachtet, – es war ja überhaupt nichts seltenes, daß Personen, welche auf der Straße vorübergingen, durch die Musik angelockt oder von augenblicklichem Durst getrieben, für kurze Zeit in das Kellerlokal eintraten, ohne erst eines der anständigeren Lokale aufzusuchen.
Der Eingetretene war der Journalist, dem unsere Erzählung an dem Abende bereits an verschiedenen anderen Stellen begegnet ist, zuletzt auf der Straße im Gespräch mit dem Offizier, dem er von einer Exkursion erzählt hatte, die er im Interesse der ihm übertragenen Nachforschung noch an diesem Abend mit einem der Kriminalkommissare nach einer berüchtigten Spelunke machen wollte, und diese war eben der Keller des Herrn Nowack.
Obgleich er allein eintrat, schien er doch eine gute Information erhalten zu haben und für einen passenden Führer gesorgt zu sein. Denn er hatte kaum das Bier erhalten und bezahlt, als sich der Mann, der bisher ruhig im Winkel gesessen und mit den beiden Mitgliedern der ehrenwerten Straßenreinigungsgilde Worte gewechselt hatte, erhob und wie zufällig zu ihm ans Billard trat.
»Wenn Sie einmal hier sind, sollten Sie sich doch mal den Jux drinnen ansehen. Vielleicht finden Sie was Interessantes.«
»Wenn ich einen Wegweiser wie Sie hätte!«
»Kann schon geschehen. Folgen Sie mir nur ganz dreist – als ob Sie zu mir gehörten.«
Der Journalist nickte zustimmend – unwillkürlich hatte er doch die Hand in die Seitentasche des Überziehers geschoben, wie um sich zu überzeugen, daß ihm auch jene Waffe zur Hand sei, die im Gedränge oder bei einem plötzlichen Anfall immer die sicherste ist, der Handschläger.
»Ohne Sorge, Herr Doktor! Mit mir hats keine Gefahr.«
»Vorwärts denn! Ist der Mensch hier?«
»Ich glaube wohl!«
Der anscheinende Bürger öffnete die Tür zur Garderobe, in welcher der Gurkenwilm wieder, gleich einem Cerberus, vor der Tür saß und mit scharfem Auge die Eintretenden musterte. »Garderobe ablegen, meine Herrn?«
»Nicht nötig – hier das Entrée.«
Die Stimme schien den Kassierer stutzig zu machen, während der Anblick der beiden Fremden ihm früher ganz unverdächtig gewesen war, und er schaute jetzt scharf empor.
Es war merkwürdig, wie der Augenblick des Niederbeugens des Kopfes, als er das Entree auf den Tisch gelegt, genügt hatte, das ganze Gesicht des Mannes, der sich, offenbar auf vorherige Instruktion, dem Journalisten zum Führer und Leiter angeboten hatte, verändert hatte. Die einfache, nichtssagende Physiognomie hatte einen scharfen drohenden Ausdruck bekommen, der ganze Kopf durch das Heben aus dem steifen Kragen eine andere Form – der Mann mußte ein angeborenes Talent für völlige Veränderung seiner Visage haben, wie es in der Tat manche Schauspieler besitzen.
»Herr Wachtmeister – Sie …«
»Still! Keine Silbe vorläufig, oder –! Wir wollen uns den Spaß nur einmal in der Nähe betrachten. Dieser Herr wünscht den schwarzen Springer in einer Angelegenheit zu sprechen. Ist er hier?«
»Ich glaube wohl – aber …«
»Verstehe – inkognito! Nun, wir haben nichts mit ihm zu schaffen. Aber ich habe nicht Lust, erst zu suchen, und kenne den Burschen zu wenig.«
»Er läuft zur Abwechselung jetzt nur auf einem Bein und macht Musik.«
»Springt aber auf beiden. Also – Schweigen, auch gegen Nowack. Sonst Verdächtiges?«
»Sie werden ja selbst sehen.«
Die Phisiognomie des Polizeibeamten hatte sich eben so rasch wieder in die vorige Bedeutungslosigkeit verändert, als er die Tür des Tanzsaals aufdrückte. Es drängte sich eine so zahlreiche Menge in ihrer Nähe, daß ihr Eintreten ziemlich unbemerkt blieb.
Das Auge des Beamten hatte sofort den ganzen Raum überflogen; er lächelte, als er das seltsame Orchester sah und ließ sich dann vorwärts drängen, behielt aber immer die Richtung nach dem anderen Ende des Saals, dicht gefolgt von dem Journalisten, bis er den grade leeren Tisch in der Nähe der Musiker erreicht hatte.
Dort ließen sich beide nieder und bestellten Punsch. Der Beamte, ohne aus der Rolle zu fallen, hob, als er die Augen des Stelzbeins auf sich gerichtet sah, das Glas und winkte ihm herbei zu kommen.
Der Invalide ließ sich das nicht zwei Mal sagen, er hatte grade große Pause in seinen musikalischen Leistungen gemacht, und humpelte zu dem Tisch heran.
» Buona sera Signori,« sagte er radebrechend – »mit Ihrer Permission!« Damit hob er liebäugelnd das Glas des Journalisten empor und trank es auf einen Zug aus.
»Wohl bekomms! Sie sind ja ein wahrer Virtuose. Ich habe die Harmonika noch niemals so gewandt spielen hören.«
»Sie seind zu kütig, Signore, ik seind nur ein povero artiste!«
»Setzen Sie sich zu uns und trinken Sie noch ein Glas mit uns, oder ziehen Sie etwas anderes vor?«
» No, no, Signori, ik sein Italiano, Italianissimo und lieben mein patria, das Land von den Zitronen, also ziehe ick vor den Punsch!«
Der Journalist hatte der vorbeilaufenden Bedienung den Auftrag gegeben, mehr Punsch zu bringen, auch eine Portion Essen, um den Mann länger festzuhalten, dessen Identität ihm noch immer nicht genügend konstatiert war.
»Sie waren Soldat?«
» Si, si – ick habe gedient unter General Benedek und habe verloren mein Bein in die große battaglia von Solferino!«
Der Beamte hatte einen raschen Blick mit dem Journalisten gewechselt, um erst seine Erlaubnis einzuholen, dann sagte er leise, aber energisch:
»Unsinn, Mann! Ihr seid niemals in der Schlacht von Solferino gewesen, schwarzer Springer, und Euer linkes Bein ist gerade so gesund wie das rechte.«
Der schwarze Springer hätte beinahe seinem Namen Ehre gemacht, einen solchen Anlauf nahm er, empor zu springen, als wäre er von einer Stahlfeder in die Höhe geschnellt, aber der Andere legte rasch die Hand auf seinen Arm und hielt ihn so zurück. »Seid kein Narr, Springer, und stellt Euch nicht selber bloß. Es kümmert uns nicht, ob Ihr ein Bein habt, oder zwei, und ich wollte Euch bloß zeigen, daß ich Euch ganz gut kenne.«
Der Vagabond hatte sich rasch gefaßt und stärkte sich mit einem Schluck aus der Flasche. »Nichts für ungut, Herr – ich habe zwar nicht die Ehre, Sie zu kennen …«
»Ist auch vorläufig nicht nötig.«
»Nun, Signore, man tut, was man kann, und ein Invalide mit einem Bein, der das andere bei Solferino oder auf dem Malachof verloren hat, macht bessere Geschäfte mit der schweren Orgel, als ein gewöhnlicher Mann. Darf ich fragen, mit was ich den Herrschaften dienen kann?«
»Dieser Herr wünscht mit Euch zu sprechen und deshalb habe ich ihn hierher geführt.«
» A vôtre service, Monsieur,« sagte der Vagabond höflich.
»Sie sollen ein Stück Geld verdienen, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.«
»Ich kanns eben brauchen, wie Sie sich überzeugen. Es ist ein verteufelt schlechter Verdienst, für solche canaglia zum Tanz aufspielen zu müssen.«
»Sie sind also der Mann, den man den schwarzen Springer nennt?«
»Wie Sie eben von dem Herrn hier gehört haben, der mich besser zu kennen scheint, als ich mich selbst. Aber verzeihen Sie, Signor – wenn Sie etwas Geheimes haben sollten und es hat Eile – sprechen Sie italienisch oder französisch?«
»Beides!«
»Dann bitte ich – denn die Leute hier haben lange Ohren und ein verdammtes Ausschnüffelungstalent. Wenn man mich fragt, kann ich sagen, Sie wären ein alter Kamerad von mir.«
Der Journalist lachte. »Danke bestens! Doch zur Sache. Die Frau dort, gehört sie zu Ihnen?«
»Es ist Madame, Signore – so von der linken Hand – Sie werden mich verstehen.« Er kniff das Auge.
»Aus dem Hannoverschen?«
»Ah – Sie zielen dahin, Signor! – Ja – da Sie doch darum zu wissen scheinen – aus dem Hannoverschen, einer Lady Kammerjungfer.«
»Sie haben kürzlich gewisse Papiere dieser Lady jemandem zur Veröffentlichung verkauft.«
Der Vagabond kratzte sich hinter den Ohren. »Es mag freilich nicht wie ein Gentleman gehandelt gewesen sein, wir vom stärkeren Geschlecht sollen immer Rücksichten beobachten gegen das schwächere – indes, wir waren arg in der Klemme. Aber parole d'honneur. Ich spreche nie mehr davon.«
»Es war immer eine schofle Handlung. Zum Glück sind die Papiere in sichern Händen!«
»In den Ihren, Monsieur?«
»Das tut zur Sache nichts. Wollen Sie – fünfhundert Taler verdienen?«
»Zweitausend Franken? O Signor, wie können Sie danach fragen.«
»Dann sprechen Sie die Wahrheit. Sie werden wissen, daß in jenen Papieren von einem Kinde die Rede war.«
Der Vagabond rückte unruhig hin und her. »Wollen Sie nicht lieber mit Madame davon reden, ich versichere Sie, ich weiß nur wenig davon; sie hat selbst mir ein Geheimnis daraus gemacht – das arme Wurm ist tot, ohne meine Schuld – auf Ehrenwort, ich hätte es gern erzogen!«
»Schade – um die fünfhundert Taler! Haben Sie den Totenschein?«
»Ich glaube; sie muß so etwas haben!«
»Das tut mir leid – um Ihretwillen. Es hätten leicht tausend Taler werden können, wenn das Kind – nicht gestorben wäre und seine Identität bewiesen werden könnte. Was hat man Ihnen gegeben für den Tod des Kindes?«
Die direkte Frage machte den Mann stutzen, und er verlor die Farbe. »Signor, auf Künstler-Parole, Sie tun mir Unrecht.«
»Oder für sein Verschwinden?«
»Ich beteuere Ihnen, Sie irren sich!«
Der Journalist schob dem Vagabunden einen Fünftalerschein zu und seine Karte. »Ich fürchte, wir werden hier nicht Gelegenheit haben, ausführlicher zu sprechen, denn die Leute werden ungeduldig und wollen wieder tanzen, und dort kommt Ihre Frau zurück.«
»Sie ist ein Satan,« flüsterte der Gaukler, »und darf um der Madonna willen nichts davon hören.«
»So behalten Sie einstweilen die Kleinigkeit, und wenn Sie mir eine passende Gelegenheit zu einer Unterredung geben wollen, so bestimmen Sie Zeit und Ort durch die Stadtpost. Nur merken Sie sich, daß Sie Berlin nicht verlassen dürfen, dieser Herr wird Sie im Auge behalten.«
Die blasse Frau kam herbei. »Na, Du Lüderjahn, was schwatzst und säufst Du wieder? Hörst Du nicht, daß sie nach Musik rufen, oder sollen ich und die Marie allein arbeiten?«
Der große starke Mann schien bedeutende Furcht vor dem blassen, hageren Weibe mit den grünen Augen zu haben; denn er reichte ihr sehr devot das noch halb gefüllte Glas. » Pardon, Madame Jeánnette, ick haben da bloß getroffen eine alten Kriegskameraden, der mir haben traktiert mit einem Glas Punsch!«
Die Frau sah die beiden ziemlich mißtrauisch an. »Mach keine Flausen; Du weißt es doch – ich kenne Dich! Allons jetzt und nimm die Harmonika, sie wollen einen Walzer.«
Er erhob sich gehorsam und humpelte nach dem Orchester, aber es kam diesmal nicht zum Tanzen.
Die Türe des Entrees wurde hastig aufgerissen und einer der bekannten Polizeihelme mit dem weißen Beschlag blitzte durch den Dunst und Qualm, zugleich tönte ein scharfer Pfiff.
»Himmel, die Polizei!«
»Halt da! Niemand rühre sich von der Stelle!«
Aber mit so kräftiger Stimme auch der Befehl gegeben worden, er schien wenig Beachtung zu finden, denn alles wirbelte bei dem Ruf »die Polizei!« bunt durcheinander. Die merkwürdige Gesellschaft drückte sich an den Wänden, suchte die Ausgänge zu gewinnen oder nahm eine Stellung ein, so ruhig und still, als sei sie die Unschuld selbst.
Der Kommissar, der in der Tür stand, setzte die Pfeife zum zweiten Male an den Mund.
»Nochmals, daß sich keiner von der Stelle rührt!« – Schon bei dem ersten Pfiff waren plötzlich unter den Tanzenden die beiden Straßenkehrer aufgetaucht und hatten sich vor eine Tür hinter dem Orchester postiert. Am Ausgang nach dem Billardzimmer sah man mehrere Schutzleute.
Herr Nowack war eiligst herbeigekommen. »Gnädigster Herr Hauptmann, Sie werden doch nicht denken! Es ist ein einfaches Tanzvergnügen, es ist alles richtig angemeldet!«
»Weiß, weiß! Ich will mir auch nur einmal Ihre Tanzgesellschaft so ein klein wenig anschauen, eine kleine Musterung, will nur wissen, wer hier ist, wer nicht! Hat irgend jemand heute bei Ihnen extravagante Ausgaben gemacht – harte Taler sehen lassen? – Sie wissen, ich fordere strenge Wahrheit.«
»Gott bewahre! Sehen Sie nach in der Theke, gnädiger Herr Hauptmann, es sind erst drei harte Taler eingekommen, zwei von den jungen Herren dort, die sich hinter den beiden Mädchen verkriechen und den dritten hat der Herr da gegeben. Der Beamte mußte das Lachen verbeißen, als der Kneipwirt nach dem Journalisten wies. Schon gut! Wachmeister Blümler; stellen Sie einmal fest, ob unter den Anwesenden Leute sind, die unter Polizei-Aufsicht stehen. Was will die verdammte Krabbe, die sich so unnütz vordrängt.« Ein derber Fußtritt traf einen etwa zehnjährigen Knaben, der sich durch die Beine der Schutzleute drückte und nach der Stelle hindrängte, wo der junge Bursche mit dem verbundenen Auge sich möglichst unbemerklich machte.
Der Beamte, der mit dem Journalisten gekommen war, hatte während dessen Unterredung mit dem schwarzen Springer, die ihn wenig kümmerte, da er nicht italienisch verstand, den Verehrer der Guitarrespielerin nicht aus dem Auge verloren. Als der Knabe diesem jetzt etwas in die Hand drückte – es waren, wie sich später erwies, zwei Taler, der Erlös für den verkauften oder versetzten Trauring der Mutter – und der junge Mensch sich, als ginge ihn die ganze Sache nichts an, möglichst unbefangen dem Ausgang zu nähern suchte, war er mit einigen Schritten an seiner Seite.
»Wen haben Sie denn hier?« sagte er, den Burschen beim Kragen fassend und mit einem Griff der anderen Hand ihm Tuch und Mütze abreißend. »Bitte, Herr Hauptmann, sehen Sie doch einmal zu, ob das nicht der gestern aus Moabit entsprungene Strafgefangene sein könnte!«
»Louis Grothe? das wäre ja gleich ein Fang.«
Es entstand ein wilder Tumult; denn der junge, kecke Verbrecher, als er sich erkannt und wieder ergriffen sah, riß ein Messer aus der Tasche und stürzte sich mit gedrücktem Kopf, wild um sich stoßend, wie ein Mauerbrecher auf die Beamten, um sich einen Weg zu bahnen. Aber diese waren auf ihrer Hut, und es nützte nichts, daß die Mutter des jungen Verbrechers sich zur Erleichterung seiner Flucht zwischen ihn und die Beamten drängte und der Knabe, sein Bruder, sich zwischen die Beine des Wachtmeisters kugelte. Selbst der Lärm, der plötzlich vom Hofe her in den Saal drang und Frau Nowack mit Wiederholung des draußen zeternden Rufes: »Mord! Mord! Zu Hilfe!« noch vermehrt wurde, konnte die Wiederinhaftnahme des Entsprungenen nicht aufhalten. Ein tüchtiger Hieb auf die Hand des Flüchtlings zwang ihn, das Messer fallen zu lassen.
»Hollah! Was gibts denn da draußen? Heda, Wirt! öffnen Sie die Tür zum Hof! Halten Sie die Kanaille fest, Wachtmeister, und lassen Sie ihn binden.«
Der Polizei-Hauptmann drängte nach dem Hofe hinaus, wo unterdes ein anderer, halb tragischer, halb komischer Auftritt sich ereignet hatte.
Im Gedränge hielt der Redakteur seine Taschen zu. Eben als er im Begriff stand, den Ausgang zu gewinnen, hörte er eine Stimme an seinem Ohr: »Ist es Ernst, Signor, mit den Tausend?«
Er wandte sich rasch um und glaubte den schwarzen Springer in dem ungewissen Lichte zu erkennen. Er nickte.
» Optime!« sagte jener. »Es ist möglich, daß Tote auferstehen!«
Das Gedränge machte jeder etwaigen Frage ein Ende; im nächsten Moment befand sich der Journalist in dem mit Menschen bereits gefüllten Hofraum. –
Es war ein armseliger Raum, eine Spelunke, die nicht den Namen einer menschlichen Wohnung verdiente, der Keller in dem linken Hinterflügel des großen Hauses, den die Witwe Martini bewohnte und in dem sie für arme Leute zwei Schlafstellen hielt, um aus dem Ertrag die vierteljährliche Miete herauszuschlagen, die der Vizewirt, der Budiker auf dem anderen Flügel, mit unnachsichtlicher Härte für den Hausbesitzer, minorenne Erben, einkassierte.
Die Frau Martini hatte einst bessere Tage gesehen! Sie war die Tochter eines früher ganz wohlhabenden Schneidermeisters am Oranienburger Tor, aber der Mann war verarmt durch den Kredit, den er an Fähnriche, Studenten und leichtsinnige junge Leute gegeben, die, wenn sie Berlin den Rücken gekehrt, an nichts weniger dachten, als an Bezahlung der kreierten Schulden, und hauptsächlich durch die Etablierung der großen Kleidermagazine, die den kleinen Handwerker in gar nicht langer Zeit zum bloßen Arbeiter der Fabrikherren gemacht hatten, denn sie lieferten den Stoff in reicher Auswahl, und der Besteller brauchte ihn nicht in den Tuchhandlungen zu kaufen und gleich zu bezahlen, ehe er ihn zum Schneider brachte. Sie gaben Kredit, denn sie verstanden mit der angeborenen Handelsschlauheit sich alle Sicherheiten zu verschaffen, sie etablierten große Werkstätten und zogen durch Versprechungen hoher Lohnsätze die Arbeiter an sich, die bald genug unter dem Vorwand ungünstiger Konjunkturen in einer Weise ihrer Willkür anheimgestellt waren, die aus dem gelernten korporativen Handwerker bald den Proletarier machte.
Nur diejenigen Meister, denen es geglückt war, sich ein eigenes Haus zu erwerben, hielten mit diesem Hinterhalt, also mit Grundbesitz, noch den Verfall des Handwerks auf, und sie bildeten in der Tat, namentlich in den zwanziger und dreißiger, selbst noch im Anfang der vierziger Jahre, in Berlin eine höchst respektable Bürgerklasse. Aber wie gesagt, die jüdische Spekulation, die es verstand, die Arbeit zum Handel auszubeuten und die Schranken der damaligen Gewerbe-Ordnung, das Innungs- und Korporationswesen leicht zu überspringen, drängte die selbständigen Meister immer mehr zurück, machte den wohlhabendern die Fortsetzung des alten Betriebes leid und zwängte die, welche auf den Erwerb von der Hand in den Mund angewiesen waren, bald unter die Botmäßigkeit der Magaziniers.
Wir erinnern uns noch der berüchtigten »Schneider-Revolution« im Jahre 1829 in Breslau, wo die von den Meistern notgedrungen entlassenen Gesellen für die ruinierten Meister gegen die großen Kleider- und Möbel-Magazine Partei nahmen, diese Magazine verwüsteten und zwei Tage lang die schlesische Hauptstadt in Bewegung hielten bis – die Truppen vom Manöver zurückgekommen waren. Vielleicht, daß der spätere Agitator Lassalle aus seiner Kinderzeit damals die Sympathien für die Arbeiter entnahm!
Frau Martini war die Witwe eines Maschinenbauers. Der Mann, ein tüchtiger Arbeiter, war beim Brande der Kasernen am 18. März 1848 verunglückt, und also einer der Märzgefallenen, um deren Hinterbliebene nach Abwickelung des gesammelten Kapitals die Demokratie sich herzlich wenig bekümmert hat. Sie war bald heruntergekommen, im Vermögen wie in der Moralität, und lebte gegenwärtig mit einem Handlanger bei den Maurer-Arbeiten in wilder Ehe. Der Mann, obschon roh und gemein und dem Vergnügen ergeben, und viel jünger als sie, war nicht ohne Gutmütigkeit und hielt zu der älteren Frau aus einem gewissen Dankgefühl, weil sie ihn, als er bei ihr in Schlafstelle lag, in einer schweren Krankheit trotz ihrer Bedürftigkeit aufopfernd gepflegt hatte. – –
Der Leser wird sich aus der ersten Abteilung unseres Buches der unglücklichen Tochter des alten Schuhmachers erinnern, der es vorzog, mit der greisen Gattin den Tod im erstickenden Kohlendampf zu suchen, um den gerichtlichen Verkauf seines kleinen Häuschens nicht zu überleben, das seitdem bereits abgetragen war und einem Neubau Platz gemacht hatte; er wird sich erinnern, daß die arme Friederike von einem Knaben entbunden worden und ihr Fehltritt die Veranlassung geworden war, daß ihr Bruder, der wackere Unteroffizier, wegen tätlicher Beleidigung eines Schutzmannes im Dienst zu harter Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Das Mädchen hatte seit mehreren Tagen ihr bisheriges, ohnehin schon sehr ärmliches Logis verlassen und einen anderen Zufluchtsort gesucht, den sie eben bei der Mutter Martini gefunden hatte.
Die Kellerwohnung der Frau bestand aus zwei Räumen, von denen der erste zur Küche und zum Waschraum diente und zwei Arbeitsburschen Schlafstelle gewähren mußte, und der anstoßende von der Witwe und ihrem »Manne« bewohnt war. Hier hatte die arme Friederike mit ihrem Kinde freilich nur auf vieles Bitten bei der ihr von früher her bekannten Frau ein vorläufiges Unterkommen gefunden. In diesem Augenblick saß sie ganz allein in der höhlenartigen Stube an einem alten Tisch, den schlechten Holzkorb, der ihrem Knaben als Wiege diente, neben sich, und bei dem trüben Schein einer Petroleum-Lampe mit dem Nähen von Handschuhen beschäftigt, einer ebenso mühsamen wie wenig lohnenden Arbeit.
Niemand befand sich außer ihr in der elenden Wohnung. Frau Martini und ihr Schatz waren drüben in dem Bumskeller, wo heute Abend, trotz der Landestrauer, Fastnacht gefeiert und bei Leierkasten und Ziehharmonika getanzt wurde, und die beiden Schlafburschen waren auch noch nicht daheim.
Das Meublement der Spelunke war sehr merkwürdig zusammengestellt. Einzelne Teile, wie ein ziemlich wohl erhaltener Glasschrank, der freilich zum Teil zerbrochene Tassen und Teller enthielt, und eine Bettstelle von Kirschbaumholz waren offenbar noch Rudera aus Frau Martinis besserer Zeit und paßten wenig zu der alten, wurmstichigen Kommode und den schmutzigen Stühlen. Ein großer, sauber gehaltener Bügeltisch sprach dagegen von dem Erwerb der Feinwäscherin, und die Geräte dazu standen und lagen auf einem morschen Küchentisch.
Kein Schirm, keine Gardine verhüllte das Lager der Witwe und trug einigermaßen der Scham Rechnung; – Armut und Not sind in dieser Beziehung ein trauriger Lehrmeister. Das dürftige Lager der armen Friederike, eine schlechte eiserne Bettstelle mit alter Matratze und einer wollenen Decke stand im Winkel an der entgegengesetzten Wand und die Ärmste hatte sich des grobleinenen Betttuchs und einer zweiten Decke beraubt, um damit durch Aufhängen auf einer quer über den Raum gezogenen Leine sich gewissermaßen einen Schutz zu sichern und eine Scheidewand aufzurichten zwischen sich und der Lagerstätte der Wirtin – wenigstens für das Auge, wenn auch nicht fürs Ohr.
Nur das Bettchen des Kindes war weich, warm und gut. Dafür hatte die Mutter alles geopfert. Und dennoch schien der Kleine nur wenig und unruhig zu schlummern; denn er bewegte sich häufig und weinte leise, und wenn die arme junge Mutter dann aufstand und mit der Lampe ängstlich zu ihm niederleuchtete, konnte man sehen, daß eine helle Fieberröte das Gesicht des Kindes bedeckte und die kleinen dunklen Augen unruhig umherstarrten.
Dann legte die arme Mutter ihre Arbeit nieder, kniete auf den schmutzigen Boden neben dem Korb, hob das Kind aus seinem Bettchen heraus und suchte es an dem dürftigen Busen zu beruhigen, der doch keine Lebenskraft mehr spenden konnte, denn sein Quell war in der Not und Sorge vertrocknet. Mit schweren Tränen holte sie von dem eisernen Ofen das Töpfchen mit dem beruhigenden Kamillentee, mischte ihn mit der schlechten gewässerten Milch und füllte damit aufs neue die Saugflasche, an der das arme kleine Wesen begierig zog.
Ein tiefes, schmerzliches Stöhnen entwand sich der Brust der Ärmsten, während ihr Auge zum Himmel suchte, den hier finstere, triefende Mauern und der matte gelbe Schein der Gaslaterne draußen im Hofe repräsentierten. »Armes Wurm, Du unseliges und doch so geliebtes Kind der Sünde, was kann ich tun, um Dein Leiden zu stillen! Oder ist es nicht besser für uns beide, wir gehen dahin, wo keine hartherzigen Menschen wohnen, und nur gereinigte, selige Geister, wie der Vater und die Mutter uns erwarten, denen der liebe Gott gewiß ihren freiwilligen Tod vergeben hat, wie er ihn mir vergeben würde, wenn ich mit Dir hinaufzöge ins Himmelreich! Nein, es kann keine Sünde sein, wenn das allzuschwer beladene und geprüfte Herz sein Leid nicht mehr tragen kann und die traurige Bürde des Lebens von sich wirft. Bin ich nicht eine Verurteilte, Verfluchte, ist nicht das Opfer meiner Ehre vergebens gewesen und hat es mir nicht alle die Schmach und das Elend gelassen? – hab' ich nicht selbst den braven und ehrlichen Bruder mit mir ins Verderben gezogen und seinen Fluch auf mich geladen! Gott, warum auch sind einige Deiner Geschöpfe ausersehen, daß gerade sie alles Leid der Welt tragen sollen, während so viele andere froh und beglückt durchs Leben gehen! Wenn ich gefehlt – Du allein weißt es, großer Gott, daß mein Herz deshalb nicht sündhaft war, daß nur die Angst und die Furcht mich dazu verleitete. Aber wenn ich gesündigt und meine Strafe tragen muß deshalb, was, Allmächtiger! hat dieses unschuldige Geschöpf verbrochen, daß es um der Sünde seiner Eltern willen leiden muß? Ist das Deine Gerechtigkeit, Herr über den Wolken, daß Du die Sünde der Mutter an dem Kinde strafst? Ist es Deiner Gerechtigkeit und Güte entsprechend, daß Du unsere Sünden heimsuchen willst bis ins dritte und vierte Glied?«
Und wiederum preßte sie das weinende Kind an die Brust und stöhnte tief auf!
»Warum hab' ich meine Not nicht dem jungen Mädchen geklagt, das vorhin hier war und nach der Wirtin fragte! sie hatte ein so liebes und gutes Gesicht und hätte mir gewiß beigestanden, wenigstens wäre sie bei meinem armen Kinde geblieben, daß ich hätte ausgehen und die Medizin holen können, die ihm der Armen-Doktor verschrieben. Meine Bitten hätten gewiß den Apotheker gerührt, daß er mir die Medizin gestundet, bis ich morgen das Rezept vom Armenvorsteher hätte unterschreiben lassen können! Vielleicht hätte sie doch dem Kleinen genutzt und er könnte am Leben bleiben! O, mein Gott, mein Gott, wie hilflos sind doch die Armen!«
Die Klagen der Unglücklichen um ihr erkranktes Kind waren herzzerreißend; die Arme ahnte nicht, daß das junge Mädchen, das sie bereute nicht um Beistand angesprochen zu haben, kaum minder unglücklich und kummervoll war als sie, daß der Kampf ums Dasein auf ihrem Herzen ebenso schwer lastete!
Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen und sah nach der Tür, von der her sie ein Geräusch gehört hatte. Sie legte eilig das Kind in den Korb zurück. »Mein Gott, wenn es nur nicht einer der beiden Schlafleute ist – der ältere sieht mich immer mit so bösen Blicken an, und ich bin so ganz allein in der Wohnung, Frau Martini kommt sicher vor Mitternacht nicht zurück!«
Das Geräusch wiederholte sich, als tappe Jemand unsicher durch den vorderen dunklen Raum, nur von dem Lichtstrahl geleitet, der durch die schlecht verwahrte Tür drang – schon nahm die junge Mutter all' ihren Mut zusammen, um hinaus zu leuchten, als es an der Tür klopfte.
»Herein!«
Die Tür wurde aufgeklinkt – in der Öffnung stand eine kleine verwachsene Männergestalt.
»Mamsell Friederikchen, ist es erlaubt, einzutreten?«
Ein halberstickter Schrei antwortete der Frage.
»Barmherziger Gott! also doch!«
Der kleine Mann war näher getreten und hatte die Türe geschlossen, nachdem er sich überall vorsichtig umgeschaut. »Gott sei Dank, Sie sind allein, so kann ich endlich sprechen einmal ungestört mit Ihnen!«
»Was wollen Sie von mir?« sagte sie mit entsetzter Stimme, »was haben Sie noch für ein Recht an mich, nachdem Sie und jener Abscheuliche mir Alles geraubt, und mich selbst betrogen um den Lohn meiner Sünde! Liegen nicht meine geliebten Eltern als Selbstmörder an der Kirchhofsmauer, ist mein einziger Bruder nicht zum Sträfling geworden wegen meiner Schande? hab' ich nicht kaum das Leben noch, kaum die Kraft für das arme Kind das Nötigste zu verdienen, damit es wenigstens nicht vor Hunger stirbt, wie es jetzt vor Schwäche und Krankheit versiegen wird! Warum, frag' ich Sie, verfolgen Sie mich und suchten meinen Aufenthalt zu entdecken? Lassen Sie mich wenigstens ruhig sterben, mich und mein Kind, und so die Schuld büßen, in die Sie mich gestürzt, Sie und jener Unbarmherzige, jener Betrüger, der das Leben meiner Eltern auf dem Gewissen hat und bald auch das meine!«
Jacob Meier, denn es war in der Tat der frühere Buchhalter der spekulativen Firma J. M. Cohn u. Comp., der das arme gefallene Mädchen hier aufgesucht, schüttelte sich leicht bei der Verwünschung, die sie ausstieß, aber er war ein Mann des Verstandes und der Berechnung, und das Bewußtsein der Absicht, in der er gekommen war, gab ihm überdies einen gewissen moralischen Mut.
»Hören Sie mich an, Mademoiselle Friederike, Sie müssen mich hören; denn bei dem Gott meiner Väter, ich habe Sie nicht mit großer Mühe und viel Zeit, die doch ist Geld, aufgesucht in schlechter Absicht, ich habe gesucht und bin gekommen, um Ihnen zu helfen in Ihrer Not!«
»Ich will keine Hilfe von Ihnen, der Sie zu meinen Verderbern gehören!«
Herr Meier schüttelte den Kopf. »Sie tun mir verkennen,« sagte er, »ich will mir nicht brennen weiß und mich nicht besser machen als ich bin, aber wenn ich getan habe Ihnen ein Leid, ists doch gewesen bloß ein Profitchen, das sich geboten hat dem kleinen Meier vom Hauptgeschäft von dem Prinzipal und der trägt das Risiko, also die Schuld! Ich will nicht leugnen, daß er gehandelt hat schlecht an Ihnen, Mamsell Riekchen, sehr schlecht und es tut mir herzlich leid, daß es gekommen ist so schlecht für Sie. Denn, Mamsell Riekchen, Sie mögens mir glauben oder nicht, ich habe Sie herzlich gern und hab' es aufrichtig gemeint, als ich die Schlechtigkeit des Herrn Cohn erfahren hab gegen Sie und hab Ihnen angeboten, Ihrem seligen Vater zu helfen mit meinem Geld zu sieben Prozent, wenn er nicht so geeilt hätte zu kommen aus dem Leben. Können Sie mirs nehmen so übel, daß ich auch gemacht hab mein Profitchen aufs Konto von dem Herrn Hofbanquier? Aber weil ich Sie gehabt wirklich gern und weil ich mir gesagt hab, Jacobchen, Du hast geholfen, Sie zu bringen in Leid, wenn Du auch nicht der Erste gewesen bist, – Du sollst sorgen, daß sie wenigstens Dir nicht flucht und nicht zu leiden braucht Not und Hunger mit dem armen Wurm, der doch nun einmal das Unglück hat, da zu sein auf der Welt; darum hab ich mir gegeben große Mühe zu erfragen, wo Sie sind geblieben, als ich gekommen hierher nach Berlin, und hab gefragt hier und dort, bis ich erfahren hab, wo Sie gewohnt, und bin zweimal gewesen in Ihrer Wohnung, um mit Ihnen zu sprechen, aber vergeblich, ich habe nicht kommen können bis zu Ihnen.«
»Sie haben mich durch Ihre Zudringlichkeit hinausgetrieben aus dem Asyl, das ich gefunden hatte wenigstens bei guten und mitleidigen Menschen. Sollte ich meine Schande noch bekannter, mich noch verächtlicher machen, daß meine Verderber mich dort aufzusuchen wagten? – Ich will keinen sehen, ich will mit Ihnen nichts zu tun haben, mit Ihnen und dem schmutzigen Bösewicht, der mich betrog und zu dem Sie gehören und in dessen Auftrag Sie sicher gekommen sind.«
Der kleine Buchhalter hatte sich vorsichtig auf einen der alten Stühle gesetzt. »Soll mir Gott helfen, Mamsell Riekchen, ich habe gehabt keine böse Absicht. Aber Sie sind im schweren Irrtum, wenn Sie glauben, ich sei noch im Geschäft bei J. M. Cohn u. Comp. Gott bewahre, ich bin ausgetreten bald nach Ihnen und bin jetzt hier in einem Haus, wo J. M. Cohn ist nischt dagegen, bis ich etabliere mein eigen Geschäft, was soll geschehn, sobald ein werter Gönner gekommen ist von London hierher. Nein, Mamsell Riekchen, die Sache mit Ihnen und wie mich die Familie hat abspeisen wollen im Testament, ist mir rumgegangen im Kopf, und ich hab mir gesagt: Du hast nichts mehr zu tun auf Deine Rechnung mit J. M. Cohn u. Comp., als was Du deutlich kannst übersehen, daß es klar ist und richtig und Du nicht wirst gemeiert. Mamsell Riekchen, ich versteh Ihr Gefühl, daß Sie nicht mehr sehen wollen den kleinen Meier, so wenig wie Sie sehn wollen J. M. Cohn u. Comp., und daß Sie deswegen ausgerückt sind mit dem Wurm da aus Ihrer alten Wohnung und sind gezogen in diese Spelunke, um mich zu bringen auf eine andere Spur, daß ich bin ganz erschrocken gewesen, als ich gekommen bin heute Morgen dahin und hab gehört, daß Sie seit zwei Tagen fort sind, auf und davon mit dem kranken Kinde nach Magdeburg, wo doch sitzt Ihr Herr Bruder auf der Festung; und ich hab mir vorgesagt: Meier, sobald Du kannst, fährst Du nach Magdeburg, zu forschen nach ihr, da hat es zum Glück der Zufall gewollt, daß ich hier, als ich gehabt hab zu tun mit einem Freund hier im Vorderhause, ich hab gesehn durch das Fenster Sie gehn gerade über den Hof in diese Kellertür, und ich hab gefragt und gehört von einer armen Frau, daß eine junge Frau wohnt mit ihrem Kinde hier in dem Keller und daß es Ihnen geht sehr schlimm, weil die Zeit ist schlecht und wenig Verdienst. So hab ichs gewagt und bin gekommen hierher, zu sehen nach Ihnen und dem armen Kind und zu helfen, wie ich kann.«
Sie konnte sich nicht entschließen, den Worten, die doch von Gutherzigkeit und Reue zeigten, so streng und abweisend zu antworten, wie bisher. Sie sagte nur: »Verlassen Sie mich, Herr Meier, ich kann und will von Ihnen keinen Beistand. Ich hoffe, ich werde ihn bald nicht mehr nötig haben und mit meinem Kinde allem menschlichen Leid entzogen sein.«
Der kleine Buchhalter erhob sich: »Wie, das Kind? – Erlauben Sie mir, Mamsell Riekchen, es anzuschauen?«
Sie schauderte. »Es ist krank,« sagte sie, »es wird wohl nicht lange mehr leben – ich kann ihm keine Hilfe bringen! Gehen Sie fort, beflecken Sie mit Ihrer Berührung nicht das unglückliche Wesen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und das gebrochene Herz machte sich endlich in einem heißen Tränenstrom Luft.
Es war, als ob ein Gedanke die kleine verwachsene Gestalt des Juden ordentlich wachsen machte, als er jetzt zu dem Korbe trat und die geflickte Decke fortzog, mit der das Mädchen das Kind seinem Blick entzogen hatte. Ohne sie zu beachten, nahm er die Lampe vom Tisch und beleuchtete das Kind, das wieder leise zu wimmern anfing.
»Es ist krank,« sagte er. »Hören Sie, Mamsell Riekchen, das Kleine ist krank. Es muß haben einen Arzt oder eine weise Frau, es muß haben Hilfe und Pflege. Haben Sie geschickt nach dem Doktor?«
Sie antwortete nicht.
Der kleine Meier legte sanft die Hand auf ihre Schulter. »Antworten Sie mir! Das Kleine muß Hilfe haben! Ich habe ein Recht zu fragen danach!«
Unwillig schüttelte das Mädchen die Berührung ab. »Ein Recht?«
»Ich möchte doch nicht gesagt haben etwas, was Sie tut verletzen, Mamsell Riekchen, – aber der Prophet sagt weise: Das ist ein kluges Kind, das weiß, wer sein Vater ist. Können Sie leisten einen Eid, daß ich nicht bin der Vater von das Kind? Hat ein Vater das Anrecht auf sein Fleisch und Blut?«
Sie beugte sich noch tiefer nieder und schluchzte noch lauter.
»Mamsell Riekchen, ich will wissen, warum Sie nicht geschickt haben wegen das Kind zum Doktor?«
Nach einigem Zaudern rang sich die Antwort von ihren Lippen: »Ich war gestern Vormittag mit dem Kinde beim Armenarzt, leider ist mir der Herr Schlesinger auf dem Wege begegnet, und von ihm wissen Sie gewiß …«
»Soll mir Gott helfen, ich habe gar nicht gesprochen mit Nathan Schlesinger, der ist ein Lump an der Börse und ein Lügner und Verschwender. Ich habe Alles allein erfahren durch mir selber! Aber das gehört nicht hierher. Wenn Sie gewesen sind mit dem kranken Kind bei dem Arzt, statt daß Sie ihn kommen lassen hierher – was hat er gesagt? hat er verschrieben gar nischt?«
»Er gab mir heute ein Rezept, – er hat gesagt, das Kind müsse eine Amme haben, wenn es am Leben bleiben soll – ich hätte keine Nahrung dafür!«
»Das Kleine soll haben eine Amme, es mag kosten so viel es will! für Geld ist Alles zu haben in Berlin, warum nicht auch eine Amme. Aber warum haben Sie unterdeß nicht machen lassen das Rezept?«
»Ich habe es in die Apotheke getragen, aber …«
»Nun?«
»Der Armenvorsteher war nicht zu Hause, als ich es wollte abstempeln lassen, ich mußte es so hintragen und …«
»Und Sie haben gehabt kein Geld, um die Medizin zu bezahlen,« sagte der kleine Bucklige, ihrem Geständnis zu Hilfe kommend? »Gott soll mir helfen, da muß geschafft werden Rat, – in welche Apotheke haben Sie gebracht das Rezept und auf welchen Namen?«
»Auf den meinen in die Apotheke am Dönhofsplatz – ich – ich konnte das Kind nicht allein lassen, um die Medizin zu holen – die Wirtin war nicht zu Hause …«
»Gut, gut! ich brauche nicht zu wissen mehr, – haben Sie nur Geduld einen Augenblick!«
Er ergriff seinen Hut und rannte wie besessen davon, ohne auf das Nachrufen des unglücklichen Mädchens zu hören.
Sie wußte in der Tat kaum, was sie davon denken, was sie tun sollte, aber die zudringliche Teilnahme des Kleinen hatte doch einen wohltätigen Eindruck auf sie gemacht, und ihre Tränen rollten milder und ihr Weinen war weniger krampfhaft und gewährte ihr eine wirkliche Erleichterung. Das Kind schien eingeschlafen und sie nahm ihre Arbeit wieder vor.
Es war noch keine Viertelstunde vergangen, als es wieder im Dunkel des Vorderraums an die Ecken stieß und der Ruf »Mamsell Riekchen, ich bins, der kleine Meier!« sie die Lampe nehmen ließ, ihm zu leuchten.
Der frühere Buchhalter und Disponent der Firma J. M. Cohn u. Comp. bot einen eigentümlichen Anblick, denn er war beladen wie ein Packesel, als er an ihr vorbei in die Kellerstube sich drängte.
In der einen Hand hielt Herr Meier einen Topf mit Milch, in der anderen eine Flasche Rotwein, Chateau Becker, und unter dem Arm hatte er ein Brod, Gegenstände, die er sofort auf den Tisch neben die Lampe stellte. Dann begann er hastig die Taschen auszupacken. »Hier, Mamsell Riekchen, ist vor allen Dingen die Medizin, geben Sies gleich ein dem Kleinen und ängstigen Sie sich nicht, der Herr Apotheker hat mir doch gesagt, daß nach dem Rezept zu urteilen, ist keine Gefahr für das Kind, das Mittel soll nur beruhigen das Fieber und die Tropfen da die Milch nahrhafter machen, die ich mir erlaubt, gleich zu bringen mit mir.« – Selbst einen neusilbernen Teelöffel holte er aus der Tasche und legte ihn neben die beiden Medizinflaschen. Dann kamen verschiedene Pakete hervor, aus deren Papierhülle ganz appetitlich Schinken, Wurst und Butter hervorsahen. »Ich hab mirs gedacht, Mamsell Friederike,« fuhr er dabei fort, »daß wenn Stärkung braucht das Kind, auch Stärkung braucht eben so gut die Mutter, und hab mir erlaubt zu bringen einige Kleinigkeiten, die Sie nicht werden abschlagen einem aufrichtigen Freund, dem es geht wie ein Messer durchs Herz, daß er Sie sieht in Not und Kummer. Wenn ich bitten darf, Mamsell Friederike, tun Sie mir die Liebe und sorgen Sie vor Allem vor das Kind, wie es ist vor Gott und Menschen meine und Ihre Pflicht!«
Das Muttergefühl überwand die Gefühle des Weibes, die junge Mutter kniete neben dem Bettchen des Kleinen und flößte ihm aus einer herbeigeholten Tasse mit dem Löffel die stärkende Medizin in den kleinen Mund.
Herr Meier wäre gar zu gern an der anderen Seite des Korbes niedergekniet und hätte geholfen, aber er wagte es nicht, – er begnügte sich daher einstweilen auf dem Tisch die mitgebrachten Speisevorräte auszupacken und in das beste Licht zu stellen, so wie mit seinem Messer den Wein zu entkorken, wobei er jedoch vergeblich nach einem Glase sich umsah.
Endlich hob die mit ihrem Kinde Beschäftigte schüchtern die noch tränenfeuchten Augen zu ihm auf. »Verzeihen Sie, Herr Meier, Sie sind sehr gut mit einer Unglücklichen, und es tut mir leid, wenn ich Sie gekränkt habe, aber Sie wissen nicht, welche Bitterkeit die Schlechtigkeit der Menschen in einem Herzen häufen kann. Haben Sie vielleicht den Apotheker gefragt, ob ich dem Kinde ohne Gefahr nach der Medizin gleich Milch geben kann, oder wie lange es warten muß? Es dürstet offenbar so sehr!«
»Gewiß habe ich gefragt, und Sie können die Milch ihm geben ein paar Minuten nachher, aber sie soll sein lauwarm. Gießen Sie weg das schlechte Zeug hier, wir wollen hinein tun ganz frische Milch, ich habe gekauft von der besten, mit der es ist, wie mit mir, das heißt, die nicht getauft ist mit Wasser, wie sie gewöhnlich tun.« Er half ihr, als wollte er sie gar nicht zur Unterbrechung kommen lassen, mit einer fast komischen Geschäftigkeit, und erst als die Milch auf dem Ofen stand, in den er selbst einige frische Kohlenbrocken geschoben und mit Papier und Spähnen in Feuer gebracht hatte, setzte er sich wieder nieder.
»Gott der Gerechte! das soll sein eine Wiege für ein Kind! Aber wahrscheinlich haben Sie geglaubt, daß das Schaukeln nicht zuträglich ist für ein Kind, worüber ich neulich noch gelesen habe einen Artikel in der Gartenlaube. Nun, so muß es haben wenigstens ein großes Bettchen, bei dem Sie nicht zu knien brauchen auf dem schmutzigen Fußboden. Aber Mamsell Friederike, warum tun Sie mir nicht den Gefallen, zu essen eine Schnitte Brod und etwas von diesem Schinken, den ich gekauft habe im Vorbeigehen bei Fischer auf dem Dönhofsplatz. Bedenken Sie, daß Sie müssen haben Nahrung und Kraft, wenn Sie arbeiten wollen für das Kleine und wachen bei ihm, damit es kann werden gesund. Wenn ich nur hätte ein Glas, daß ich Ihnen könnte einschenken ein Glas; er kann nicht sein schlecht, denn er tut kosten zwanzig gute Groschen.«
Die geschickte Einflechtung des Kindes in die Einladung sich an Speise und Trank zu kräftigen, verfehlte nicht ganz ihre Wirkung. Das Mädchen nahm schweigend eine Schnitte Brod und Fleisch und führte sie zum Munde, aber den Wein lehnte sie mit einer Handbewegung ab.
Der kleine Buchhalter drehte und wandte sich auf seinem Stuhl, er schien offenbar noch etwas auf dem Herzen zu haben und nur nicht recht zu wissen, wie er es anbringen sollte.
»Mamsell Friederike!«
»Herr Meier!«
»Wollen Sie mir glauben, daß ich möchte gut machen mein Unrecht, und daß ich bin Ihr aufrichtiger Freund! Wollen Sie mir verzeihen, was ich getan hab Schlimmes an Ihnen?«
»Was kann Ihnen an der Verzeihung eines so armen Geschöpfes liegen?«
»Viel, Mamsell Friederike, sehr viel! Ich bin in mancher Beziehung ein verkümmerter Mensch wie Sie, denn ich hab nicht meinen geraden gesunden Leib, aber ich hab einen guten Verstand und ich verstehs Geschäft. Ich werd mir also bringen durchs Leben, und ich hab mir schon weit genug gebracht, weiter, als mir gesungen worden ist an meiner Wiege, die gestanden hat in Midzibor, wo ist gewesen mein Vater ein sehr armer Jüd. Auch ein Mensch, der hat einen verkrüppelten Leib, was ist gewesen die Schuld von meiner Schwester, die mich hat fallen lassen in meiner Kindheit vom Tisch, kann haben ein Herz und Gefühl, und die Marianne, ich will sagen die Frau Nathan Schlesinger ist gewesen meine erste Liebe und meine erste größere Spekulation. Aber sie hat mich gesehen über die Achsel an und ist davon gelaufen mit einem Offizier, zu ihrem Unglück, sie hat ihren zweiten Mann und er ist ein Lump, und wenn sie mich genommen hätte und mir die Hälfte zugebracht, was haben vertan ihre Männer, könnte sie jetzt haben eine halbe Million! Ich will nicht mehr an sie denken, und ich würde Sie heiraten, Mamsell Friederike, um Ihnen zu geben die Reputation zurück, obgleich Sie nischt haben, aber ich bin ein Jud, und Sie sind christlich, und Sie werden nicht nehmen meine Religion an, und ich nicht die Ihre, nicht weil ich hab was gegen Ihren Glauben, aber weil die meine ist die Religion meiner Väter, in der gestorben ist mein Aette und meine Mutter. Darum will ich bleiben unverheiratet, aber mein Geld soll nicht kommen an die Kinder von der Marianne, meiner ersten Liebe, da ich haben kann selbst ein Kind; Mamsell Friederike, ich will adoptieren hier den Kleinen, wenn er bleibt am Leben, als meinen Sohn, gleichviel ob er nun ist der Sohn von mir oder der Sohn von J. M. Cohn u. Comp., und ich will ihn lassen erziehn und ausbilden zu einem tüchtigen Geschäftsmann, der nicht untergeht in der Welt, denn er wird verdienen und wird haben Geld, viel Geld, wenn Sie mirs nur erlauben!«
Die junge Mutter schluchzte laut auf.
»Er soll meinetwegen bleiben ein Christ, da er ist schon getauft als ein solcher. Wir haben doch Alle einen Gott, wenn wir auch sind verschiedene Menschen. Mamsell Friederike, wollen Sie mir erlauben, zu sorgen für Ihren Sohn?«
»Herr, lassen Sie mir mein Kind – es ist das Einzige, was ich noch habe!«
»Sie sollen nicht verlieren das Kind, es soll bleiben bei Ihnen, oder Sie bei ihm. Ich will Ihnen machen noch einen Vorschlag. Mamsell Friederike, Sie sind krank und schwach, Sie sind aufgestanden viel zu früh von Ihrem Wochenbett, das Kind kann kaum sein einen Monat alt. Sie verderben Ihre ganze Gesundheit und sehen aus wie ein Schatten, Sie bringen sich ums Leben. Mamsell Friederike, ich habe einen guten Posten und verdiene viel Geld. Ich will auch haben ein bequemes Leben, wenigstens, wenn ich komme nach Hause in meine vier Pfähle, denn es ist mir angeboten ein Haus zu einem geringen Preis vor dem Potsdamer Tor, und ich habe Lust, das Geschäft zu machen. Weiß Gott, wäre noch nicht verkauft gewesen und niedergerissen das Haus von dem alten Mann, Ihrem Vater, ich würde es haben gekauft um jeden – um guten Preis. Wie wärs, wenn Sie nun zögen zu mir und führten mir die Wirtschaft, Sie solltens haben gut, als wären Sie wirklich meine Frau, und wir könnten erziehen zusammen den Kleinen zu Ihrer und meiner Freude, und es würde mir machen Freude, von Ihnen fern zu halten jedes Ärgernis und jeden Verdruß.«
Wiederum schauderte sie zusammen und barg ihr Gesicht in den Händen, obschon sie fühlte, daß der Vorschlag gut gemeint war. »Nein, nein – niemals! niemals! Wenn Sie es wirklich redlich meinen, Herr Meier, und Reue fühlen – so verschaffen Sie mir Arbeit, daß ich mich und mein Kind redlich ernähren kann – aber – wieder unter einem Dach mit Ihnen, mit jenem Mann unter einem Dach – niemals – lieber sterben!«
Der Kleine zuckte die Achseln. »Ich habs gemeint gut mit Ihnen und dem Kind und hab gehabt, auf Ehre, keine schlimme Absicht dabei. Aber Sie können doch unmöglich bleiben hier in dieser Höhle, Sie und das Kind, ich habe auch ein Wort zu reden dabei! Wenn es gewesen sind gute Leute, wo Sie gewesen sind dabei und geflüchtet vor mir, – so wahr ich heiße Jakob Meier und hoffe, die Firma noch einmal mit Ehren an der Börse zu sehen, – ich würde niemals kommen dahin. Aber Sie müssen haben Licht, Luft und Nahrung und Doktor und Apotheker, wenn Sie werden wollen wieder gesund, – Sie müssen annehmen von Jakob Meier,« – sie machte eine abwehrende Geberde – »nein, nicht ein Geschenk, aber ein Darlehn von – von hundert Talern, das Sie sollen mir verzinsen mit 6 Prozent und wiederzahlen nach und nach, wenn Sie wieder gesund sind und kommen zum Verdienst. Mamsell Riekchen, ich sage Ihnen, Sie tun dem Jakob Meier damit einen Gefallen, der sonst keine Ruhe haben wird zu seinen Geschäften, wozu er doch braucht allen Verstand, damit er verliert nicht sein Geld, – Sie …«
Ehe er weiter sprechen oder sie eine Antwort geben konnte, – er hatte bereits eine alte lederne Brieftasche in der Hand, und suchte die Kassenscheine heraus, – wurde das Gespräch durch eine dritte Stimme unterbrochen.
»Heiliges Kreuz-Millionen-Sakramenski! ist denn kein Mensch in dem verfluchten Loch, daß man sich die Knochen zu Schanden stoßen muß! Licht her, oder ich schlage Alles kaput.«
»Barmherziger Gott! Das ist der tolle Böhme, der Tischler – wenn er nur nicht herein kommt, – ich bin verloren, wenn er Sie hier findet, er ist so boshaft und fast immer betrunken!«
Der kleine Buchhalter zitterte am ganzen Leibe, denn große Kurage war eben nicht seine Sache. »Gott der Gerechte, er wird einem unschuldigen Menschen doch tun kein Leid, wir leben doch hier unterm Schutz des Gesetzes – es gibt doch Polizei und Konstablers. Wo kann ich hinaus, wo kann ich mich verbergen, Mamsell Riekchen? Ich habe Geld bei mir, viel Geld bei mir – und habe mich gewagt in diese Räuberhöhle, bloß aus Teilnahme für Sie!«
»Ich will dem Manne Licht geben, dann kommt er hoffentlich gar nicht herein. Es ist ihm verboten, Herr Hähnel wills nicht haben!« Sie machte Anstalt, mit der Lampe zur Tür zu gehen, aber es hätte wenig genutzt, wenn Herr Jakob Meier nicht zugleich die Gelegenheit benutzt hätte, hinter den improvisierten Bettschirm der jungen Mutter zu schlüpfen.
Diese öffnete mit Aufbietung all' ihres Mutes die Türe nach dem düstern Raum.
»Wenn Sie Licht wünschen, Herr Jellinek,« sagte sie, »bitte, zünden Sie Ihre Lampe an der meinen an.«
Sie stand quer vor der Tür, aber der wüste Mensch drängte sie gewaltsam zur Seite.
»Na, es wird doch erlaubt sein, sich ein wenig die Hände zu erwärmen! Den Teufel, die Martini läßt uns frieren, mich und den Gassenkehrer, wie Hunde. Nur nicht ängstlich, Kind, ich tu Dir nichts, Dir und dem Bankert da, Sakramenski! wahrhaftig, Du hast ja ein Abendbrot wie 'ne verlaufene Prinzessin, davon's bei uns in Österreich Gottes Segen genug gibt! He, da kann ich Dir wohl 'nen Augenblick Gesellschaft leisten, da die Alte und der lange Lümmel, der sich ihren Ehemann tituliert, nicht da sind. He, was ist denn das? wahrhaftig Wein, roter Ofner, wie er mir lange nicht vors Maul gekommen ist.«
»Herr Jellinek,« sagte das zitternde Mädchen, »Sie wissen, daß Sie nicht in unsere Stube kommen dürfen.«
»Eine schöne Stube! ein Hundeloch, wie das, worin wir schlafen, ich und der schuftige Gassenfeger! Aber ich habe einen verteufelten Hunger – ich habe nichts gehabt heute Abend, als ein paar lausige Schnäpse, und das füllt den Magen nicht! Mit Erlaubnis, Kind!«
Und er schnitt sich ein Stück Brot ab und bestrich es dick mit Butter.
»Herr Jellinek,« sagte das geängstigte Mädchen, dessen Ohr zugleich eine unruhige Bewegung hinter ihrem improvisierten Bettschirm hörte, »ich bitte Sie, wenn Sie noch Hunger haben, nehmen Sie das alles mit in Ihre Schlafstelle, aber verlassen Sie unsere Stube, mein Kind ist krank und bedarf der Ruhe.«
Der Böhme hatte in Ermangelung des Glases die Flasche Wein an den Mund gesetzt und mit einem Zuge halb geleert. »Schaun's, es ist wahrhaftig echter! Der Teufel soll mich holen, wenn ich geh weg. Komm her, Mädel, sei nicht albern, gib mir einen Schmatz, einen tüchtigen. Der Kerl dämlichte sein nicht hier – scheer mich auch den Teufel um ihn. Hierher, Dirne, sag ich, setz Dich auf den Schoß meinigten, ich bin grad' in der Laune dazu und massakrier die ganze Welt, wenn sie nicht tut, wie ich will.«
Er taumelte von dem Stuhl auf, auf den er sich gesetzt und Lebensmitteln und Flasche zugesprochen hatte.
»Herr Jellinek, haben Sie Erbarmen! mein Kind! ich rufe um Hilfe, wenn Sie sich nicht sofort entfernen!«
» Szert! Dumme Gans, dummigte, mach keine Sperenzien! warum sträubst Du Dich, ich steche jedem das Messer in den Ranzen, der mich hindern will, mich, den Nepomuk Jellinek, der schon einen um die Ecke gebracht, warum bin ich ausgewandert sonst! Komm hierher, Dirne, oder ich schlage Dir die Knochen im Leibe entzwei.«
Er suchte sie zu erfassen.
»Zu Hilfe! zu Hilfe!« sie flüchtete nach ihrem Lager, der kleine Meier, so wenig Kurage er hatte, so sehr er sich fürchtete, steckte er den Kopf hinter der Decke hervor. »Wenn Sie nicht werden gehn sogleich, werd' ich rufen die hohe Polizei!«
Der Böhme brach in ein gelles tückisches Gelächter aus. »Also das ist's, warum die deutsche Vettel sich sträubt. Hussah – der Liebhaber ist drin im Bett, darum Wein und Schinken! Aber ein Jüd! wie kannst Du Dich unterstehn, Schinken zu fressen, Du Ganef! Nun erst recht soll die Dirne mein sein, trotz aller Juden und aller Polizei! Hierher, Mädel, oder ich schneide Euch allen den Bauch auf und dem Bankert zuerst!«
Sie schrien alle, das Mädchen, der Buckliche, das Kind, der betrunkene Unhold taumelte auf den Korb zu und wäre im nächsten Augenblick darüber hingestürzt, wenn die unglückliche Mutter sich nicht davor geworfen und mit ihrem Leibe das Kind gedeckt hätte.
Selbst der kleine Meier war bei diesem Anblick mit unerhörtem Mut aus seinem freilich sehr unsichern Versteck hervorgekommen, hatte sich des eisernen Ofenhakens bemächtigt und schwang ihn tapfer zur Seite der gefährdeten Mutter.
»Soll mir Gott helfen, ich schlage Ihnen ein den Schädel, wenn Sie kommen uns zu nah!«
Aber die heldenhafte Stellung und die Drohung würden wenig genützt haben, denn der Böhme war, wenn auch nicht groß, doch ein ziemlich untersetzter kräftiger Bursche, und seine schwarzen czechischen Augen funkelten Tücke und Grausamkeit, als er das Messer aufklappte, das er aus der Tasche gezogen, und das Gesicht des kleinen Buchhalters wurde kreideweiß vor Angst. Aber es kam ihnen von anderer Seite Hilfe.
Eine kräftige Faust faßte von hinten den Rockkragen des Tischlers. »Schwerenot! was tust Du hier, böhmischer Maulaff! Willst Du Ruhe halten und Dich in Deine Küche scheren, Du hast hier nichts zu suchen!«
Der Böhme stieß einen wilden Fluch aus. »Laß los, roter Wilm, oder ich geb Dir mein Messer zu kosten, sakramensker Ketzerhund!«
»Was, Du willst noch schimpfen?« Der Zuhälter der Witwe Martini war ein langer breitschultriger Uckermärker von großer Kraft. Er hatte ein ziemlich nichtssagendes breites Gesicht und rote Haare, aber wenn er in Zorn geriet, dann gewannen seine blauen Augen drohendes Feuer. Seine gewaltige, durch die schwere Steinträgerarbeit mit Sehnen wie Stränge durchwachsene Hand ballte sich, und mit einem Faustschlag warf er den Böhmen zu Boden. »Hinaus mit Dir!«
Der Mann hatte sich emporgerafft und zitterte vor Wut und Bosheit. »Ich habe ein besser Recht hier zu sein, als Du! Ich bezahle meine Schlafstelle, Du nicht, Du straft's ihr am Leibe ab!«
»Hund! wär's nicht Nacht, würf ich Dich noch heute vor die Tür! fort! sag ich, oder ich tu's sogleich!«
»Probier's! Willst wohl allein sein mit der Dirne – 's ist Dir ein anderer zuvorgekommen, und ich will gehn, und es der Kellerfrau sagen!«
Der rote Wilm hatte einen Blick zur Seite geworfen und den kleinen Buchhalter gesehn. »Wer ist das? was tut der Krüppel hier? Aber erst will ich mit Dir fertig werden!« Die Drohung, die Kellerfrau zu rufen, hatte seinen ganzen Zorn erregt, und er stürzte auf den Tischler zu, ihn um den Leib zu fassen und mit Gewalt hinaus zu tragen, aber er hatte noch nicht zwei Schritte gemacht, als er den Mann los ließ, zurücktaumelte und mit der Hand nach der Seite griff. »Kanaille, Du hast mich gestochen!«
»Was ist's, was gibt's! Was hast Du hier zu schaffen? Hab mir's doch gedacht, daß Du hier zu dem Frauenzimmer gelaufen bist, mit der Du Dir hast, als wär's 'ne Prinzessin, bloß weil der Kerl, ihr Bruder, der auf der Festung sitzt, einmal Dein Unteroffizier gewesen ist. Aber ick sage Dich, die Jeschichte jefällt mich nich, ick will meinen Liebsten alleene haben, so lang ick ihm Speise und Trank gebe, und morgen mag sie sich en ander Logis suchen … Herrjes! wat ist denn das,« unterbrach sie sich aufschreiend – »Blut, Wilhelm, Du blutst ja, wie en abgestochnes Schwein – wat is geschehen!«
Der Steinträger, indem er vom Blutverlust und Schmerz überwältigt auf den nächsten Stuhl sank, deutete auf den Böhmen, der, noch das Messer in der Hand, trotzig und drohend zur Seite stand.
»Der da – der Tückebold – er hat mich gestochen! Herr Gott, es geht zu Ende mit mir!«
»Schinderknecht!« schrie die Frau, bei der im Nu alle Eifersucht verschwunden war vor der größeren Gefahr, und fuhr nach dem Haar des Böhmen. »Mörder! ruft die Polizei, der Kriminal ist ohnehin drüben! Mord! Mord!«
Sie war eine große robuste Frau im Alter von etwa vierzig Jahren, mit schwarzem Haar auf der Oberlippe, ein Weib, das sich wohl in einer Schlägerei mit einem Manne messen konnte, und der Tischler vermochte sich in der Tat kaum ihres wütenden Angriffs zu erwehren.
»Laß mich los, sacramensa podwana, oder ich stech Dich nieder, wie ihn!« Der tückische Mensch suchte sich loszumachen von ihr, aber schon zeterte Herr Jakob Meier aus allen Kräften durch das kleine eingeschlagene Kellerfenster, das kaum zur höchsten Tageszeit Licht genug in den Raum ließ, um die Nadel führen zu können, hinaus in den Hof: »Mörder! Mörder! haltet ihn fest den Gojim, er hat einen erstochen!« und Frau Martini hielt in der Tat fest wie eiserne Klammern, obschon der Tischler ihr Faustschläge ins Gesicht versetzte und alle Kräfte aufbot, sich von ihr zu befreien. Im Hofe war es aber ohnehin lebendig, aus dem hinteren Ausgang der Boutique drängten sich Menschen, und aus dem Gartensaal kam auf das Geschrei alles heraus, was irgend die Tür herauslassen konnte.
»Ruhe da!« befahl eine kräftige Stimme – im Scheine der Gasflamme sah man die Helme von Schutzleuten blitzen – »Wachtmeister Blümler, führen Sie den Gefangenen zum Molkenmarkt. Lassen Sie ihn knebeln, wenn er sich sträubt, und verhaften Sie jeden, der Miene macht, ihm beizustehen.«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann! Soll ich die Mutter, die Witwe Quinche auch mitnehmen?«
»Nein – wir haben es nur mit dem aus Moabit entsprungenen Sträfling zu tun! Die Frau ist der Polizei sicher. – Aber was geht hier vor? was ist das für ein Lärm? wer schreit hier Mord? Schutzmann Winter, recherchieren Sie!«
Um die Kellerwohnung hatte sich eine Menschenmenge gedrängt, auch von der Straße kamen schon Leute herein, der Polizei-Hauptmann ließ das Tor sperren und ging an den Eingang des Kellers, aus dem man eben den Böhmen hervorstieß, während Frau Martini heulte und wehklagte.
»So viel ich entnehmen kann, hat der Mensch hier bei einer Prügelei einem anderen mit dem Messer einen Stich versetzt.«
»Ist der Mann tot?«
»Nein, aber er scheint doch schwer verwundet.«
»Holen Sie einen Arzt, daß Hilfe geschafft wird.« Der Beamte drängte sich in den Keller zwischen den Unberufenen und Neugierigen hindurch, die sich bereits hinein und heraus stießen. Unter den Hinausdrängenden befand sich auch der kleine Meier; er hatte es für geraten gehalten, sich trotz seiner Teilnahme für die junge Mutter davon zu machen, um nicht etwa als Zeuge aufgeschrieben zu werden und vor das Kriminalgericht zu kommen. Die Gerichtszeitung und die Tribüne hätten keine Schonung gekannt und seinen Namen sicher genannt.
Die arme Friederike war in der Tat die Einzige, die Überlegung und Ruhe zeigte. Nachdem sie ihr Kind in Sicherheit gebracht, eilte sie dem Steinträger zu Hilfe, suchte das Blut zu stillen und half, ihn auf das Bett zu bringen. Der Schutzmann hatte glücklicherweise im nächsten Barbierladen einen Gehilfen gefunden, der wenigstens mit Wunden umzugehn verstand und einen vorläufigen Verband anlegte, bis ein Arzt die Verletzung näher untersuchen und entscheiden konnte, ob ein Transport in die Charité oder nach Bethanien ausführbar sei.
Während der Polizeibeamte den Tatbestand festzustellen suchte, war der Verwundete wieder zu sich gekommen.
»Heule nicht so, Alte,« sagte er, »es war nur die erste Furcht, hoffentlich wird's nicht an's Leben gehen. Ein Kerl, wie ich, stirbt nicht sogleich, ich hab' schon manchen blutigen Kopf davongetragen und selber geschlagen. Er hätte nur nich gleich stechen sollen, der Nepomuk, aber wenn ich wirklich sterben müßte, so sollen sie alle bezeugen, daß er kein Mörder nich is, denn ick habe ihn zuerst gehaun und zu Boden geschmissen, und das war keine Kunst nich, denn ick bin dreimal so stark wie er. Dadrum is er kein Mörder nich!«
Ein anständig gekleideter Herr, der mit den ersten Neugierigen eingetreten und dann in der Stube geblieben war, ohne sich weiter bemerklich zu machen, hatte sich jetzt, als endlich ein Arzt erschien und sofort an die Untersuchung des Kranken ging, dem Mädchen genähert, das, nachdem sie ihre erste Aussage über den Hergang des Streites gemacht, wieder neben ihrem Kinde saß; er berührte leise ihren Arm.
»Mamsell Krause!«
Sie fuhr erschrocken auf und blickte ihn an, dunkle Röte der Scham färbte ihr abgehärmtes Gesicht.
»Mein Gott, Sie, Herr Doktor! Wie kommen Sie hierher?«
»Das eben möchte ich Sie fragen!«
»Ich wohne nicht mehr in dem Hause, ich … ich habe es verlassen müssen, schon vor zwei Tagen!«
Der Fremde, es war der Journalist, dem wir in den anderen Szenen des Abends begegnet sind, sah sie mitleidig an. »Das ist das Erste, was ich höre! So hat man Sie und Ihr Kind, vielleicht, weil Sie die Miete nicht gleich zahlen konnten, unbarmherzig hinausgestoßen?«
»Nein, nein, tun Sie den Leuten nicht Unrecht – ich bin freiwillig gegangen, ich mußte gehen! fragen Sie nicht, Herr Doktor, Sie und Ihre Frau waren immer so gütig gegen eine Unglückliche. Ich bin ehrlich fortgegangen – ich habe die wenigen Sachen, die ich noch hatte, dort gelassen und nichts mit mir genommen, als mein Kind. Aber ich konnte unmöglich da bleiben, die guten Leute sind selbst zu arm. Ach, Herr Doktor, ich bin ein sehr unglückliches Geschöpf – und nun noch die Szene hier – mein Kind, ach, mein armes Kind!«
»Fassen Sie sich! Aber Sie können unmöglich hier bleiben, eben hat der Arzt, den ich zufällig kenne, den Ausspruch getan, daß der Verwundete ohne Gefahr nicht transportiert werden kann. Ist die Kammer noch frei, die Sie in unserem Hause bewohnten?«
»Ich fürchte, nein. Es gibt der armen Mädchen so viele.«
»Nun denn, so müssen wir ein anderes Unterkommen für Sie suchen; ich habe Hilfe für Sie, ein menschenfreundlicher, hoher Herr hat mir eine Unterstützung für Sie anvertraut, die fürs Erste hinreichen wird, Ihnen ein besseres Unterkommen zu schaffen und Sie vor Not zu schützen. Ich will Sie für diese Nacht in ein kleines Gasthaus bringen, es sind deren ganz anständige in der Krausenstraße. Morgen wollen wir dann weiter sehen.«
»Nein, nein, ich danke Ihnen herzlich, Herr Doktor, aber es geht nicht, – mein Kind ist krank!«
»Das wollen wir gleich sehen! Der Arzt dort tut mir gewiß den Gefallen.«
Dieser hatte eben dem Polizeibeamten erklärt, daß die Wunde zwar nicht tötlich, daß aber große Ruhe für den Kranken erforderlich sei, wenigstens in den ersten Tagen, daß deshalb jede Erschütterung, wie sie ihm bei dem weiten Transport nicht zu ersparen sei, vermieden werden müsse. Also Ruhe, absolute Ruhe müsse er haben, dann glaube er für das Leben des Mannes stehen zu können. Frau Martini hatte das kaum gehört, als sie erklärte, sie werde Ruhe schaffen, die Schlafleute sollten sogleich hinaus, und sie selbst wolle den roten Wilhelm pflegen und ihn keinen Augenblick verlassen. Die Krause sei an Allem schuld, denn um sie sei der Streit allein gekommen, und darum solle sie noch in dieser Stunde hinaus, wo sie mit ihrem Bankert bleiben möge, das sei ihr ganz egal.
Der Polizeihauptmann war zu sehr mit solchen Szenen und Charakteren vertraut, um sich mit einer, sogar in ihrem Rechte befindlichen Xantippe in einen weiteren Streit einzulassen, und nachdem er alle fremden Personen aufgefordert hatte, den Keller zu verlassen, ging er selbst, um nach seinem Gefangenen zu sehen und das Weitere zu veranlassen.
Der Journalist hatte unterdeß den ihm oberflächlich bekannten Arzt zu dem Kinde geführt und ihm kurz die Verhältnisse mitgeteilt. Dessen Ausspruch war sehr bestimmt. »Warum sollte es denn nicht fortgebracht werden können? wenn Sie nur wissen, wohin damit. Ich sehe gar keinen Grund ein, warum es hier bleiben sollte. Dem Kinde hat, wie ich aus dem Rezept meines Kollegen hier ersehe, in der Welt nichts gefehlt, als bessere Nahrung, und die scheint es jetzt bekommen zu haben. Wenn die Mutter es also irgendwo anders hinbringen kann und das wird um des Kranken willen nötig sein, so steht dem gar nichts im Wege!« Damit hatte er dem Journalisten die Hand gereicht und war gegangen.
»Sie sehen, Mamsell Krause, daß Sie meinem Rat jetzt doch folgen müssen,« sagte der Journalist, »Sie können und dürfen nicht hier bleiben!«
»Nein, das darf sie nicht,« rief das Weib, »und wenn sie nicht macht, daß sie fortkommt, werde ich ihr auf die Beine helfen!«
»Aber, Marie, so denke doch menschlich – sie soll mit dem armen Kinde jetzt hinaus in die Winternacht und sich eine Wohnung suchen!« sagte eine sanfte Stimme bittend zu der Kellerwirtin.
»Papperlapapp, so ein Bankert stirbt nich gleich und wenns wäre, dann wäre sie ihn los, und 's wär ein Glück für sie. Du bist ja eine vornehme Prinzessin, Nette, und hast Dein eigen Logis, statt daß Deine Schwester im Keller wohnt, – zwei eigene Stuben! wenn Dirs so leid tut, kannst Du sie ja zu Dir nehmen, – Ihr paßt zusammen in der Vornehmigkeit!«
Das gescholtene Mädchen – es war die kleine Konfektionsnäherin, die vor kaum einer halben Stunde der Freundin ihr eigenes schweres Leid geklagt, und die selbst bei dieser Schwester hatte Hilfe und Rat suchen wollen, sagte kein Wort; sie fühlte, daß die Arme neben ihr mit dem Kinde doch noch unglücklicher war, als sie selbst. Aber dann fuhr es ihr wie ein Blitz durch den Kopf, ein glücklicher, helfender Gedanke.
»Wenn es nur nicht so weit wäre von hier – vielleicht wüßte ich Rat. Was haben Sie für eine Beschäftigung?«
»Ich habe versucht, Handschuhe zu nähen; es bringt freilich wenig ein, Fräulein,« sagte schüchtern, die junge Mutter, indem sie zweifelnd und bittend auf das junge Mädchen sah.
»Nennen Sie mich nicht Fräulein, ich bin eine arme Arbeiterin wie Sie, und gegenwärtig sogar ohne jeden Verdienst; Sie haben ein Kind, ich habe eine alte gelähmte Pflegemutter, die ich nicht allein lassen kann. Handschuhe können Sie zu Hause nähen, während, wenn ich außer dem Hause arbeiten könnte, genug verdienen würde, um meine kleine Wirtschaft im Stande zu halten und mich redlich zu ernähren, ohne von Jemandes Gunst oder Bosheit abzuhängen. Sie sehen ehrlich aus, wie wärs, wenn Sie zu mir zögen und meine alte Kranke pflegten mit Ihrem Kinde, während ich außer dem Hause schneidere; denn man sagt, ich sei ganz geschickt darin und hätte Geschmack. Die Miete ist, Gott sei Dank, pränumerando bezahlt bis zum ersten April, und Raum, Licht und Luft ist genug in meiner Wohnung. Bis dahin …«
»Bis dahin,« sagte der Journalist, »ist gesorgt durch die Großmut eines edlen Herrn. Hier sind vier Friedrichsd'or, die er mir gegeben! Nehmen Sie das Anerbieten an, Mamsell Krause, es scheint mir herzlich gut gemeint, und vielleicht wäre so zwei jungen Wesen geholfen, daß sie nicht verderben. Für lohnendere Arbeit als die Handschuhnäherei wird sich leicht sorgen lassen, und Sie, Fräulein – ich nenne Sie so, wenn Sie's auch nicht wollen – bitte ich, wenn Sie Zeit haben, noch diese Woche zwei Tage bei meiner Frau zu arbeiten, die gerade eine geschickte Schneiderin sucht, da ihre frühere nach auswärts geheiratet hat; Sie wird sich freuen, ein so braves Mädchen bei sich zu sehen, und daß Mamsell Krause hier bei Ihnen ein Unterkommen gefunden hat. Wo wohnen Sie, Fräulein? ich will sogleich eine Droschke holen und werde mir das Vergnügen machen, Sie bis zu Ihrer Tür zu begleiten.«
Das Gesicht Friederikens strahlte vor Freude, sie preßte die Hand aufs Herz und sah dankend bald auf den Mann, dessen Beistand sie ohne Scham und Schauder annehmen konnte, bald in das zarte hübsche Antlitz des jungen Mädchens.
»Wenn ich nur nicht so weit wohnte – ich wohne draußen in der Badstraße – aber,« fügte sie, mit der glücklichen Elastizität der Jugend im Hoffen fast schon wieder heiter, hinzu, »wenn unser Kompagnie-Geschäft gut einschlägt, ziehen wir näher in die Stadt, damit wir mit dem langen Wege nicht so viel Zeit verlieren.«
»Und es wird sicher einschlagen, aber nun wollen wir ebenfalls keine Zeit verlieren, also packen Sie rasch zusammen, was Sie hier haben, während ich die Droschke hole, und – da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch vorher eine gute Nachricht geben kann, Mamsell Krause.« Er zog sie zur Seite. »Der hohe Herr, dem Sie die freundliche Unterstützung verdanken, hat versprochen, sich auch für das Schicksal Ihres Bruders und seine Begnadigung zu verwenden. Es ist nur nötig, daß Sie eine Petition an des Königs Majestät unter offenem Geständnis der Sachlage anfertigen, und das will ich für Sie tun und dann die Bittschrift getrost in die Hände des mildherzigen hohen Herrn legen. Und nun Adieu!«
Als eine Viertelstunde später die beiden Mädchen den Korb mit dem Kinde und die wenigen Sachen der jungen Mutter durch den Hofraum und Flur in die Droschke trugen, sah das Auge Friederikens im Gaslicht auf dem Trottoir gegenüber die unverkennbare kleine Figur des Herrn Meier auf und abwandeln und neugierig nach dem Wagen spähen. Wenn er auch davon gelaufen war vor der Gefahr der Kompromittierung, – das wackere Gefühl war doch zum Durchbruch gekommen und hatte ihn in die Nähe des Hauses getrieben, um zu sehen, wie die Sache ausgegangen.
Frau Martini meinte zwar hinter der Scheidenden her, um solche Geschöpfe habe es keine Not, die kämen immer wieder auf die Füße zu stehen, und der Affe, ihre Schwester, bilde sich viel zu viel ein auf ihr Lärvchen und ihr Augenniederschlagen, und jetzt käme sie gerade in die rechte Gesellschaft und brauche ihr nicht wieder über die Schwelle zu kommen; schließlich aber überwand bei dem leichtsinnigen und herrischen Weibe auch die Angst um den jetzt im Wundfieber liegenden Galan doch allen Ärger, und sie hatte für nichts Sinn mehr, als dafür, den Vorschriften, die der Arzt zurück gelassen, aufs Eifrigste nachzukommen, und wies selbst ihre gute Freundin, die Boutikerin, zurück, als sich Madame Nowack einen Augenblick vom Geschäft gestohlen hatte, um herüberzukommen und mit ihr zu klatschen über die Ereignisse des Abends.
Es war bereits ziemlich spät – Mitternacht vorüber, als der Journalist von der Begleitung der beiden Mädchen sich wieder nach der Mitte der Stadt wandte, um, ziemlich ermüdet, seine Wohnung aufzusuchen.
Es war damals eine Eigentümlichkeit Berlins, daß das nächtliche Straßenleben eigentlich sehr unbedeutend war. Selbst in den schönen Sommernächten war es um Mitternacht schon einsam und öde; sobald die Omnibuswagen ihre Tageskurse abgefahren hatten und die Droschken die Nachttaxe fordern konnten, hörte der Verkehr zum großen Teil auf, während bekanntlich in den großen Städten des südlichen Europas dann erst das rechte Straßenleben beginnt. Als der Journalist durch eine der Straßen in der Nähe der Linden ging, sah er in eine Haustür gedrückt einen Mann stehen, er wäre achtlos vorübergegangen, wenn ihm nicht der Umstand aufgefallen wäre, daß der Mantel des Mannes von seiner Schulter gefallen und achtlos trotz der Kälte zu seinen Füßen liegen geblieben war. Zugleich traf ein Laut sein Ohr, wie ein tiefes Stöhnen, ein Stöhnen, das aus dem Innersten der Brust zu kommen schien und einen fast schauerlichen Klang hatte. Ein zweiter Blick, den er nach rückwärts warf, zeigte ihm etwas Bekanntes in der Gestalt, und, irgend einen Unfall vermutend, wandte er sich an der nächsten Straßenecke um und ging das Viertel zurück auf dem Trottoir, um, wenn seine Vermutung begründet wäre, seinen Beistand anzubieten, ohne doch aufdringlich sein zu wollen, da er den Herrn im Allgemeinen zu wenig kannte und nur in Kreisen munterer Gesellschaft hin und wieder mit ihm zusammengetroffen war.
Als er sich dem Mann wieder näherte, hatte dieser sich umgekehrt mit dem Gesicht gegen die Tür; dennoch blieb der Journalist stehen, denn der Ton des Schluchzens wiederholte sich so erschütternd, daß er es nicht über sich gewinnen konnte, ohne einen Versuch der Teilnahme weiter zu gehen; er blieb deshalb stehen und legte die Hand auf die Achsel des Mannes. »Verzeihen Sie, Herr, sind Sie krank? Erlauben Sie wenigstens, daß ich Ihnen Ihren Mantel wieder umgebe – die Nacht fängt an, sehr kalt zu werden.«
»Krank – ja wohl krank – sehen Sie nicht, was mir fehlt!« Der Mann drehte sich um und der Journalist erkannte in dem Schein der nächsten Gaslaterne, daß er sich in der Tat nicht geirrt in der Person, aber das Aussehen des Mannes war so wahrhaft entsetzlich, daß er ohne einige andere Umstände, die ihm rasch in die Erinnerung kamen, ihn kaum für dieselbe Person gehalten haben würde.
Das Gesicht des Mannes – es war ein jüngerer Beamter an einer der wichtigsten und einflußreichsten Behörden Berlins, ein heiterer Lebemann und großer Liebhaber der Kunst, weshalb man ihn häufig in der Gesellschaft eines bekannten Polizei-Assessors sah, der als der Förderer und Verehrer aller Schauspielerinnen galt – das Gesicht war so furchtbar bleich und verzerrt, die Augen blickten so stier, daß der Journalist sofort von dem Glauben zurückkam, der Andere habe etwa in einer lustigen Gesellschaft des Guten zu viel getan.
»Gewiß, Herr von Bennewitz, Sie müssen krank sein und mir erlauben, Sie nach Ihrer Wohnung zu führen.«
Der junge Mann stieß die helfende Hand hastig von sich. »Berühren Sie mich nicht! sehen Sie nicht, daß mich ein ehrlicher Mann nicht mehr anrühren darf – bevor – nein! nein! niemals wieder! – o mein Gott – womit hab ich das verdient – ich habe sie doch aufrichtig geliebt!«
Der Ton war fast kreischend, er schnitt dem Journalisten durchs Herz und verriet ihm mehr, als er durch hundert Fragen hätte erfahren können.
»Sehen Sie nicht – dort! dort!« er wies wie unwillkürlich nach dem Hause gegenüber.
Die Fenster desselben waren bis auf eins dunkel, aber der Journalist wußte, daß in einem dieser Häuser eine bekannte und sehr beliebte Schauspielerin der Hofbühne wohnte. Er wußte ferner, daß der junge Mann zu ihren Verehrern gehörte, das Gerücht sagte, zu den begünstigten, obschon er vornehme Mitbewerber haben sollte.
»Ich weiß nicht, was Ihnen fehlt, Herr von Bennewitz, aber Sie können unmöglich in der Kälte hier bleiben. Es würde Ihrer Gesundheit, Ihrem Leben schaden!«
»Gesundheit? Leben?« Der junge Mann lachte höhnisch auf. »Glauben Sie wirklich, daß ein Mann leben kann ohne Ehre! – mit dem Schandfleck da! – sehen Sie nicht, wie es brennt – und ich – soll leben und ihn tragen! ohne Ehre leben – nimmermehr!«
Der Journalist hatte sich halb mit Gewalt seines Armes bemächtigt und versuchte, ihn weiter zu ziehen.
»Die Begriffe der Ehre sind sehr verschieden, Herr von Bennewitz,« sagte er tröstend, »die wahre Ehre eines Mannes hängt nicht von einem Zufall, nicht von einem anderen Menschen ab, am Wenigsten von den Launen eines Weibes, sondern von uns selbst, von dem Bewußtsein der erfüllten Pflicht!«
Dasselbe höhnische Lachen antwortete ihm. »Gehen Sie Ihrer Wege, Doktor – was wissen Sie von der verletzten Ehre eines Edelmannes! Nur diese Hand allein vermag sie rein zu waschen – ja, jetzt erst begreife ich, was meinen Ahnen das Schwert in die Faust drückte! – ich werde ihn töten!«
»Wen?« frug der Journalist schaudernd.
»Ihn! – oder glauben Sie, daß Jene allein ein Recht haben auf des Lebens Güter, daß sie ungestraft den Fuß setzen dürfen auf unseren Nacken? – Höll und Teufel, ich habe sie wirklich geliebt – und was war sie ihm! Beim Blut meiner Ahnen – was waren ihre alten Lehmburgen gegen ein frisches warmes Menschenherz! Gehen Sie fort, Mann, Sie mögen es gut mit mir meinen, aber Sie wissen nicht, was mir geschehen – fort! sage ich!«
»Nicht eher, als bis Sie ruhig sind!«
»Im Grabe – gehen Sie, der Augenblick ist da!«
Im Hause gegenüber öffnete sich wie von unsichtbarer Hand die Tür, tief in seinen Mantel gehüllt, trat ein hoher Mann heraus und schritt ohne sich umzusehen oder auf sonst etwas zu achten, das Trottoir entlang.
Der junge Beamte hatte sich mit Gewalt von dem Journalisten los gerissen – zwei Schritte, er war auf dem halben Straßendamm, und seine Hand hob sich – der Journalist sah in dieser Hand etwas blitzen – es war kaum der zehnte Teil einer Sekunde, fast zu gleicher Zeit traf ein Schlag mit dem Lebensverteidiger die Hand des jungen Beamten und der glänzende Gegenstand fiel in den Schnee des Straßenpflasters. Der große Mann, der aus der Tür getreten, mußte doch das Geräusch gehört haben, denn er drehte sich um und war mit einem Schritt an der Gruppe. Sein Auge fiel auf das jetzt von Blut übergossene Gesicht des jungen Beamten – der Journalist hatte sich gebückt und hob den Revolver auf, der noch am Boden lag, sodaß er nicht zu erkennen war.
»Sie haben Ihre Genugtuung gehabt, mein Herr, Versagung der Waffe zählt auch!« sagte der Mann im Mantel mit kalter Ruhe und Strenge. »Gott hat Ihnen ein Verbrechen erspart, das selbst eine törichte, ganz unbegründete Eifersucht nicht hätte entschuldigen können. Lassen Sie sich für Ihre hitzige Gemütsart die Sache eine Warnung sein, und wir werden am besten tun, die Sache alle Drei zu vergessen – hören Sie, alle Drei!« Er setzte mit festem Schritt seinen Weg fort.
Der junge Mann stand, als wäre er von einem Schlage getroffen, so zerknickt und gebrochen war die ganze Gestalt, und als er sein Auge auf das des Journalisten richtete, der sich blaß, am ganzen Körper zitternd, jetzt aufgerichtet hatte, konnte er in diesem das ganze Urteil über seine Tat lesen. Er griff schwankend wie ein Rohr in der Luft umher, nach der Hand des Zeugen, aber diese zog sich unwillkürlich zurück.
»Sie hatten Recht, Herr von Bennewitz – jede Berührung anderer Menschen zurückzuweisen; gehen Sie nach Hause und bitten Sie Gott, daß er Ihnen diesen Augenblick des Wahnsinns vergeben möge.«
»Hat ers getan, – hat er mir vergeben?«
Der Ärmste schlug die Hände vor das Gesicht.
»Ich glaube wohl – aber gehen Sie!«
»Und Sie werden schweigen?«
»Ich werde es!«
»Ich danke Ihnen – aber ich selbst werde mir niemals vergeben – für mich Unglücklichen gibt es nur eine Sühne noch – den Tod! der ein fluchbeladenes Leben enden muß!« – Er schwankte die Straße entlang, der Journalist sah ihm mit Teilnahme zu, aber ohne sich ihm nochmals zu nähern. Er sah ihm nur traurig nach und dann zu den Fenstern hinauf, hinter deren Roleaux eben das einsame Licht verlosch.
»Armer Mensch! o Weiber! Weiber! was habt Ihr alles auf dem Gewissen, und doch soll jene dort trotz ihres Standes noch eine der besseren sein! Welches unsagbare Unheil hätte hier geschehen können!« In tiefem Nachdenken setzte er seinen Heimweg fort, in der Gewißheit, daß ihn eine tüchtige Gardinenpredigt erwarten werde, die er doch ohne Entschuldigung auf sich nehmen müsse.