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Am 19. Mai hatte General Pelissier das Oberkommando der französischen Armee übernommen – der Kaiser hatte seinen Kämpen zum Turnier gewählt.
Die Stärke der verbündeten Truppen betrug zu dieser Zeit durch die bedeutenden Nachsendungen aus Frankreich, die Ankunft des türkischen Korps unter Omer-Pascha und der Sardinier unter General La Marmora: Am 12. Mai. 174 500 Mann, von denen 100 000 allein auf die Franzosen kamen. Auch die Zahl der Russen in der Krim war auf zirka 200 000 Mann gewachsen, so daß fast eine halbe Million Krieger auf diesem Fleck der Erde einander gegenüberstand. – Am 9. April hatten die Verbündeten ein zweites Bombardement auf die Festung eröffnet, das, in Betracht seiner riesigen Vorbereitung, einzig in der Geschichte dasteht. Die Kosten des Vorbereitungsmaterials betrugen nicht weniger als sieben Millionen Franken. – Fünfhundertundacht Geschütze schweren Kalibers – mindestens 32pfündige – und viele Bombenkanonen, die 100-200pfündige Hohlkugeln warfen – bildeten die Armierung der Demontier-Batterien von der Quarantänebucht bis zum östlichen Ende der Reede. Vierzehn Tage dauerte dieses furchtbare Feuer mit beinahe gleicher Heftigkeit – während des Tages die Kanonade, während der Nacht das Bombardement – ununterbrochen fort, und mehr als zweimalhunderttausend Kugeln verschiedener Art wurden während dieser Zeit auf Sebastopol geschleudert.
Dennoch hatte dieser entsetzliche Eisenhagel nicht den gehofften Erfolg. Obschon die russischen Batterien dem Feinde nicht mit gleicher Heftigkeit antworteten und durchschnittlich alle 24 Stunden 15-20 russische Geschütze demontiert wurden, lieferten die ungeheuren Vorräte des Arsenals und die Artillerie der versenkten Schiffe doch hinreichenden Ersatz, und mit jedem Morgen sahen die Verbündeten die jenseitigen Batterien in demselben Zustande, wie vor Beginn des Bombardements. Alles, was am Tage die feindlichen Geschosse zerstört hatten, wurde in der Nacht, trotz des heftigen Bombenfeuers, wieder ausgebessert. Keine der Festungsbatterien wurde zum Schweigen gebracht, wogegen dies mehrfach mit englischen und französischen der Fall war. Schon am zweiten Tage waren hier 50 Geschütze demontiert. Die Flotte – eingedenk der erhaltenen Lektion – hielt sich außer dem Bereich der Seeforts. In der Festung machte jeder Tag des Bombardements gegen 500 Mann kampfunfähig, die Verbündeten verloren etwas über 200. Während der nächtlichen Bombardements wüteten zugleich die Kämpfe um die Logements fort.
In der Nacht zum 2. Mai ließ Pelissier, der damals noch den linken Flügel der Belagerungsarbeiten kommandierte, die Redoute Schwarz und die Logements vor der Bastion IV und V mit 10 000 Mann stürmen. Die Logements wurden nach einem großen Verlust genommen, die Redoute Schwarz aber schlug den Angriff zurück. Die Belagerungsarbeiten waren somit nur wenig vorgeschritten, als Pelissier – gleichgültiger gegen Menschenleben als je ein russischer Führer – den Oberbefehl an Stelle Canroberts erhielt, der, sorgsam und aufopfernd, doch selbst fühlte, daß er zu einem solchen Kampfe nicht die Energie und Rücksichtslosigkeit besitze, die allein den Sieg verschaffen konnte. Würdig von seinem Posten als Oberbefehlshaber zurücktretend, bewies er den Mut und Gehorsam des Soldaten, indem er sich das Kommando seiner früheren Division zurückerbat.
Der neue Oberkommandant ging sofort zum Sturm der Verteidigungslinien über. Schon in der Nacht zum 22. Mai warf er auf die Linien der Konter-Approchen zwischen der Quarantänebucht und der Mastbastion drei starke Kolonnen unter General de Salles, denen Chruleff begegnete. Der blutige Kampf dauerte die ganze Nacht resultatlos; beide Teile hatten weit über 2000 Tote und Verwundete; in der nächsten Nacht erneuerte sich die Schlacht.
General Pelissier richtete nun sein Augenmerk gegen die Schiffervorstadt und ging mit seinen Approchen vor. Am 2. Juni waren die französischen Linien so weit vorgedrungen, daß die russischen Logements von der Kamtschatka-Lünette geräumt werden mußten, weil das französische Feuer sie im Rücken faßte. –
Fürst und Fürstin Oczakoff hatten bei der immer größeren Überfüllung der Lazarette den bedeutendsten Teil ihres Hauses für Kranke und Verwundete eingerichtet, die die Fürstin mit ihren Frauen pflegte, und in einem großen Gemach des Erdgeschosses – gegen Abend – lag auf einem wohlgeordneten Feldbett ein verwundeter französischer Offizier in unruhigem Schlummer. An seiner Seite saß die Fürstin selbst, – während an der andern Wand zwei dunkle Gestalten sich beschäftigten, Jussuf, der Mohr, und Nursädih, seine Schwester ... Der ehemalige Kurier des Sultans und spätere Baschi-Bozuk war hager und abgefallen; die Folgen der schweren Wunden, die er an der Felsenbrücke von Schloß Ayu erhalten, zeigten sich noch in seinem ganzen Äußern, obschon sechs Monate seitdem verflossen. Nur sein gelbglänzendes Auge hatte den alten feurigen Blick bewahrt, der jetzt oft mit dem Gefühl der Dankbarkeit die schöne Gestalt der Fürstin suchte, deren Befehl und Güte ihn damals gerettet hatte. Dann wieder kehrte das Auge mit Zärtlichkeit zu seiner Schwester zurück; seine aufgeworfenen Lippen öffneten sich zu einigen freundlichen Worten, und er versuchte mit dem etwa drei Monate alten Kinde zu spielen, das diese auf ihrem Schoße hielt ... Die ganze Liebe einer jungen Mutter lag in den Augen, mit denen Nursädih das kleine Mädchen betrachtete, das seiner Farbe nach zum Mulattengeschlechte gehörte, bei der edlern Gesichtsbildung der Mutter aber schon jetzt nur wenig die Merkmale der schwarzen Rasse zeigte.
»Klein Piccaninni sein artig Kind heute,« sagte der Schwarze, »wecken Signor Offizier nicht auf, spielen hübsch mit schwarzen Onkel.« – »O Jussuf,« flüsterte das Mädchen, »die Kleine ist so lieb und gut, als verstände sie schon alles, was ich ihr sage. Aber sieh, der französische Aga erwacht, und die Fürstin bedarf meiner: hier, nimm du das Kind!« Der blut- und kampfgewöhnte Mann nahm den Säugling so zart und sorgfältig auf, als sei er zur Wärterin geboren, und schaukelte ihn auf seinen Armen, während Nursädih zu der Fürstin schlich, die das Erwachen des Kranken mit großer Teilnahme beobachtete. Auf ihrer leichtgebräunten Stirn lagen Zeichen trüben Sinnens und schweren Kummers; das schöne Antlitz, das sich draußen im Pulverdampf der Schanzen und Redouten, im Jammer der Lazarette nur heiter und tröstend zeigte, war hier düster und gedankenvoll.
Der kranke Offizier trug ihr wohlbekannte Züge – wohlbekannt aus einer glücklichen, freudenreichen Zeit ihres Lebens! – der bleiche Mann mit den hohlen Augen, den feuchten, an der Stirn klebenden Haaren, war einst der Liebling der Pariser Salons, der kecke Roué am Spieltisch, im Ballsaal und Boudoir, der Tonangeber der Mode und der Vertraute der Chronique scandaleuse von ganz Paris, aus dem Reiche der Kulissen, wie aus den Kabinetten der Diplomaten: Alfred de Sazé! ... Bei einer der kecken nächtlichen Streifereien der russischen Matrosen und Jäger außerhalb der Festung im Mai war der junge Reiteroffizier, der auch nach der Abreise des Prinzen Napoleon vor Sebastopol zurückgeblieben war, auf einer Feldwache aufgehoben und verwundet nach der Mast-Bastion gebracht worden, wo die Fürstin sich am Morgen befand. Sie hatte ihn sofort erkannt und gebeten, den Gefangenen in ihr Haus aufnehmen zu dürfen, das, wie erwähnt, bereits einer Anzahl Verwundeter und Kranker zur Heilstätte diente. Die an und für sich nicht gefährliche Wunde des lebenslustigen Marquis erregte jedoch bald ernste Besorgnisse, da das verdorbene Blut des Pariser Lebens, eine seltsame Aufregung der Nerven, die ihn bald nach seiner Ankunft im Hause der Fürstin ergriff, und die Wirkung der eingetretenen Hitze seinen Zustand, trotz aller Sorgfalt, verschlimmerte und fieberhafte Erscheinungen herbeiführte, ähnlich jenem furchtbaren Übel, das jetzt die Lazarette entvölkerte, rascher als Kugel und Bajonett, und das der Schrecken der tapfersten Krieger war: dem Typhus.
Der Sorgfalt des Arztes gelang es zwar, den Ausbruch zu unterdrücken, aber der Tod hatte dabei auf andere Weise sich die Beute gesichert: der Brand hatte die Kniewunde erfaßt und der eitle Franzose wollte sich das Bein nicht abnehmen lassen. Pirogoff selbst hatte ihn am Morgen besucht und achselzuckend geäußert, daß auch dies äußerste Mittel jetzt zu spät kommen würde ... Der Kranke kannte vollkommen seine Lage; die Schmerzen hatten sich bereits gelegt, und sein leichter und doch männlich-entschlossener Charakter trat wieder ganz in den Vordergrund ... Der kurze Schlaf, wenn auch fieberhaft, hatte ihn doch gekräftigt. Sein Auge schien im Zimmer umherzusuchen und wandte sich dann auf die Fürstin. – »Wie fühlen Sie sich nach dem Schlummer, Herr Marquis?« fragte ihn diese. – » Parbleu, Durchlaucht, als letzte Vorbereitung zum ewigen ganz leidlich! Doch, Sie haben sich ja selbst wieder bemüht ... Wo ist meine treue Wärterin Annuschka?« – »Sie ruht einige Augenblicke; ich verlangte es von ihr, weil sie ganz erschöpft war.« – »Das ist kein Wunder, denn seit den fünfzehn Tagen, daß Ihre Güte mich hier aufgenommen, hat sie mein Krankenlager kaum verlassen ... Es ist mir lieb, Durchlaucht, daß ich allein mit Ihnen bin: ich möchte Sie bitten, mir eine kurze Unterredung zu gewähren.« – »Das Sprechen wird Sie ermüden und angreifen,« sagte die Fürstin zögernd. – »Was tut das? eine Stunde eher oder später! ich habe so viel vergeudet in meinem Leben, daß ich jetzt nicht geizen mag darum, wo es vielleicht das Beste gilt, was ich im Leben getan habe.« – »Soll ich unsere schwarze Freundin fortschicken?« – »Nein, Fürstin, lassen Sie beide hier; wir werden sie ohnehin vielleicht brauchen. – Ich verstehe zwar nicht Russisch, Durchlaucht, aber ich habe wohl begriffen, was Ihr Doktor von heute morgen gesagt.«
»Beunruhigen Sie sich nicht, Ihr Leben liegt in der Hand des Allmächtigen.« – »Beunruhigen? bah! Als ob das Leben derlei wert wäre! Ich weiß, ich muß sterben, und werde kaum noch vierundzwanzig Stunden Ihrer Güte zur Last fallen; das ist wenigstens eine Beruhigung auf den Weg.« – »Freveln Sie nicht, Herr von Sazé! Es sollte mich tief schmerzen, wenn irgend etwas Ihnen gezeigt hätte, daß Sie, wenn auch unser Feind, uns zur Last gewesen seien. O! warum haben Sie nicht unsern Bitten und dem Rat der Ärzte nachgegeben und sich einer Operation unterworfen, die sicher Ihr Leben gerettet hätte!« – »Nein, Fürstin, das können Sie mir nicht im Ernst zum Vorwurf machen! Ja, wenn es noch ein Arm gewesen wäre, – ein leerer Ärmel an der Brust ziert besser als zwei Ordenskreuze und hindert nicht! – Aber denken Sie sich selbst, Alfred de Sazé an einem Krückstock, auf einem Korkbein – Valga me Dios! ich möchte lachen, wenn ich mir die komische Figur in den Salons des Faubourg St.-Germain oder auch nur bei Herrn Mirès oder in den Tuilerien denke. Es wäre ein allzu teurer Handel, ein Bein von gutem Blut für einen Napoleon!« – »Sie sollten ernstere Gedanken suchen und an Gottes Gnade denken, Herr. Ich bedaure, daß wir keinen Priester Ihrer Konfession in Sebastopol haben, aber auch einer der unsern könnte Ihnen ein nützlicher Freund sein.« – »O, Durchlaucht, ich bitte Sie – nicht so strenge! – Ich beschäftige mich wahrhaftig schon seit heute morgen mit sehr ernsten Dingen, bei denen ich ohnehin die Hilfe Ihres Popen in Anspruch nehmen muß. Wissen Sie, Fürstin, ich habe so ziemlich alles erfahren auf der Welt, bis auf eins: wie einem Ehemann zu Mute ist. Und dies Vergnügen will ich mir noch vor meinem Ende bereiten – ich will heiraten!«
Die Fürstin wandte sich unwillig von dem Spötter ab und wollte sich erheben. Seine Hand legte sich leise auf ihren Arm, und als sie auf ihn schaute, sah sie einen schmerzlich-ernsten Ausdruck in seinen Augen mit dem frivolen Lächeln seines Mundes kämpfen ... »Bleiben Sie, Fürstin,« bat der Kranke; »was ich Ihnen gesagt, klingt nur wie übermütiger Frevel. O, fürchten Sie nicht, daß ein halbtoter Roué, wie ich, seine Blicke zu der Rose der Krim erheben will – ich ehre die Rechte meines Freundes Méricourt, der für den Verlust eines Beines vielleicht gern an diesem Platz läge. Meine Absichten sind bescheidener und richten sich auf Mademoiselle Annuschka, Ihre Dienerin!« – »Sie reden irre, Herr von Sazé! Annuschka ist meine Freundin, meine Schwester, aber –«
»Hören Sie mich zu Ende, Durchlaucht,« sagte der Kranke, und seine Stimme klang jetzt ernst und sanft, ein gewisser feierlicher Ausdruck hatte sich über sein Gesicht verbreitet. »Bei meiner Ehre, ich rede die Wahrheit! In Ihre Brust lege ich ein Geheimnis nieder, das die meine erleichtern möge in jener Stunde, vor der wir alle zagen, wie stark wir auch die Furcht wegzuspotten uns bemühen. Erinnern Sie sich wohl des besondern Eindrucks, den Annuschkas erster Blick auf mich machte, als ich in Ihr Haus gebracht worden?« – »Genau, Herr Marquis!« – »Von dem Fürsten erfuhr ich auf hingeworfene Fragen, daß Annuschka einen Bruder habe, dem sie gleichfalls sehr ähnlich sei. Er war der Diener der Ihren, und ich erinnere mich jetzt, in Paris in Ihrem Hotel ihn gesehen zu haben.« – »Er verließ uns nie.« – »Und dennoch ist, wie der Fürst mir, ohne näher darauf einzugehen, mitteilte, dieser Mann, der nach Ihrer raschen Abreise in Paris zurückblieb, dort verschwunden?« – »So ist es!« – »Ich beabsichtigte, dem Fürsten, Ihrem Bruder, mein Geheimnis mitzuteilen,« fuhr der Kranke fort, »aber sein Dienst hat ihn, wie Sie mir sagten, nach der andern Seite der Stadt geführt und und hält ihn dort fest. Es bleibt mir keine Zeit, seine Rückkehr zu erwarten, und ich muß mich an Sie wenden. Sie halten jenen Mann – Annuschkas Bruder – für tot?« – »Wir sind überzeugt davon – seine Treue ist zuverlässig und wir hätten sicher von ihm gehört.« – »Er ist es!« – »Wie, Herr von Sazé, Sie kennen das Schicksal Wassilis? Sie wissen von ihm?« – »Ich bin leider überzeugt – diese Hand brachte ihm den Tod, wenn auch unabsichtlich.«
Die Dame schauderte zurück. Schrecken, Angst und Aufregung spiegelten sich auf ihrem schönen Gesicht. Der Kranke sah, wie sie mit Gewalt nach Fassung rang, bis sie endlich die Worte hervorstieß: »Um Gottes willen, Herr, ich beschwöre Sie, reden Sie – erzählen Sie mir alles!« – »Das ist meine Absicht, Fürstin, und mag zugleich meine Rechtfertigung sein – wenn die Tat sich entschuldigen läßt!« – Die Fürstin winkte ihm, fortzufahren. – »An einem Abend des März im vorigen Frühjahr verfolgte mich am Kai des Cours la Reine ein ziemlich derangiert aussehender Unbekannter und fiel mich plötzlich wie ein wütendes Tier an unter Ausrufungen und Beschuldigungen, die mir gänzlich unverständlich waren und zum Teil noch Rätsel sind. Ich sollte ihm Rechenschaft geben über seinen Gebieter, ich sei sein Mörder und dergleichen mehr. Das Gesicht war mir nicht ganz unbekannt, doch so verwildert, daß ich mich auch später nicht darauf besinnen konnte. Ich stieß ihn von mir, mich von ihm losreißend, und der Unglückliche taumelte so heftig gegen das Gitter des Flusses, daß er darüber hinweg und in den Fluß schlug, wo er sich am Eisenwerk eines Seineschiffes den Kopf zerschmetterte. Als man ihn ans Ufer trug, war er bereits tot.« – »Und es war Wassili?« – »Ich wußte es nicht, bis ich verwundet hierher kam. Ich hörte am Tage darauf, daß die Polizei in dem Verunglückten einen russischen Spion entdeckt habe, doch nicht den Namen. Aber obgleich ich absichtslos und nur in der Abwehr den Tod des Mannes verschuldet hatte, konnte ich mich nicht über den Tod des Fremden beruhigen, und sein düstres Bild schwebte lange vor meiner Seele und störte meinen Schlaf.«
Die Fürstin weinte leise vor sich hin ... »Armer Wassili – bis zum Tode getreu!« – »Die Ursache des Anfalls und seine Worte sind mir, wie gesagt, noch ein Rätsel. Ich kann sie selbst nicht einmal auf jenes Duell deuten, denn der Diener Ihres Bruders wußte doch zweifelsohne, daß es nicht stattgefunden und sein damaliger Herr unversehrt in Rußland sich befand. Ich trat, um der langjährigen Zivil-Untersuchung über jenen Vorfall und der unangenehmen Erinnerung zu entgehen, in die Armee, und erst die Erscheinung Annuschkas lehrte mich, jenem traurigen und mich immer noch bedrückenden Bilde eine bestimmte Form zu geben.« – »Es war Gottes Schickung ... Selbst die Schwester wird Ihnen die Tat nicht zurechnen.« – »Dennoch liegt sie mir schwer auf der Seele, und wenn Sie einem Sterbenden den bösen Augenblick erleichtern wollen, Fürstin, so helfen Sie ihm an der Schwester vergüten, was er am Bruder verbrochen. Ich lebte früher in den Tag hinein, und mein Testament hätte mir gerade kein Kopfzerbrechen gemacht. Das Schicksal hat mir aber eine Malice gespielt; denn vor etwa sechs Wochen erhielt der verarmte Marquis, der seit dem letzten Arrangement mit seinen Gläubigern keine Aussicht mehr hatte als sein Offizierspatent, die amtliche Nachricht, daß er ein reicher Mann geworden sei. Ein entfernter Verwandter, dessen Namen ich kaum gehört, ein Plantagenbesitzer auf Martinique, dem seine ganze Familie das gelbe Fieber zum Jenseits befördert, hat die Albernheit gehabt, mich zum Erben zu machen, und der Kapitän Sazé würde in Paris eine Million und fünfmalhunderttausend Franks deponiert finden, wenn er nicht so töricht gewesen wäre, sich vor Sebastopol das Bein zerschmettern zu lassen.« – »Gott kann noch alles wenden!« – »Nein, Fürstin, er hat mehr zu tun, als sich mit einem leichtsinnigen Toren zu befassen. Daß er aber ist, daß er die zahllosen Fäden dieses wirren Durcheinanders, das wir Leben nennen, dennoch in seiner Hand leitet,« fuhr der Kranke wieder mit ernsterem, fast feierlichem Tone fort, »das zeigt mir die Fügung, die meine letzten Stunden durch die Pflege gerade desjenigen Mädchens erleichterte, dessen Bruder ich erschlug. Mein Wunsch und mein Wille ist, bis auf einige Legate ihr das Vermögen, das mir der Zufall so rechtzeitig in den Schoß geworfen, zu hinterlassen. Dazu bitte ich Sie, mir behilflich zu sein. Die bloße Niederschrift meiner letzten Verfügungen würde jedoch kaum vor Weitläufigkeiten schützen; hingegen wird kein französischer Gerichtshof der Marquise de Sazé das ihr bestimmte Erbe streitig machen.«
Er schwieg erschöpft; die lange Unterredung begann ihn offenbar fieberhaft zu erregen, wie sein Auge zeigte. Dennoch hielt es die junge Fürstin für Pflicht, zu erwidern: »Annuschka ist mit ihrer Lebensstellung zufrieden; sie wird unter keiner Bedingung dem, der ihren geliebten, zärtlich betrauerten Bruder getötet, ihre Hand reichen wollen.« – »Aber sie braucht es nicht zu wissen! Warum sollte sie es je erfahren?« fragte der Offizier dringend. »Wollen Sie einem Manne, der vieles gut zu machen hat, den leichten Trost durch eine unnütze Bedenklichkeit verkümmern? Sie wissen so gut wie ich, daß diese Ehe nur Schein, und daß Annuschka, ehe vielleicht der morgende Tag anbricht, schon Witwe sein wird.« – »Ich weiß nicht, wie ich sie zu dem eiligen Schritt bewegen soll.« – »Der Tod, Fürstin, gestattet keine lange Bedenkzeit. Das wird auch sie begreifen. Sagen Sie ihr, daß ich für ihre sorgsame Pflege auf diese Weise ihr danken wolle, daß es meinen Tod erleichtern werde und« – um seine blassen Lippen schwebte wieder das leichte, spöttische Lächeln des Lebemannes, der so manches Frauenherz an sich gefesselt hatte – »ich glaube, sie wird sich nicht weigern, Alfred de Sazés Gattin zu werden.«
Er lehnte sich zurück in die Kissen; die Fürstin empfand, daß sie kein Recht habe, eine Sühne zurückzuweisen, die ihrer Milchschwester und treuen Gefährtin vielleicht eine glänzende Zukunft bereiten konnte. Sie erhob sich und sprach: »Ich gehe, um die Erfüllung Ihres Wunsches zu versuchen, Herr Marquis; Annuschka wird nicht erfahren, wessen Hand ihren Bruder getötet, bis – doch sagen Sie mir das eine noch, wann geschah die unglückliche Tat?« – »Ich erinnere mich des Tages ganz genau, Fürstin: es war am Abend des 26. März. Ihre Landsmännin, die Bagdanoff, hatte in der Oper getanzt, und ich war zum ersten Male dort wieder mit Méricourt zusammengetroffen nach seiner Rückkehr von Algier. Ich gedenke deutlich des Abends und selbst unseres Gesprächs – es handelte sogar von Ihnen und Ihrem Bruder, und er erzählte mir zuerst von dem seltsamen Spiele der Natur, die einem armen Marketenderburschen eine wirklich seltsame Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder gegeben.«
Die Fürstin war stehen geblieben und hatte sich lebhaft zu ihm gewandt. Fliegende Röte übergoß ihr Gesicht. – »Meinem Bruder Iwan gleich? Ich bitte Sie, wer? wo?« – »Ein armer Verrückter oder Schwachsinniger. Der Vikomte traf ihn zuerst bei dem Einschiffen der Truppen in Marseille. Ich selbst sah ihn in Varna und muß gestehen, daß diese Ähnlichkeit mich anfangs erschreckte.« – Die Fürstin preßte die Hand auf die heftig wogende Brust; auf ihrem Antlitz wechselte mehrfach die Farbe, während ihr Mund fast keuchend stammelte: »Und lebt – der Mann noch? Wo ist er? Haben Sie Näheres über ihn erfahren? Erzählen Sie mir alles, es – wird Iwan so sehr interessieren, von seinem Ebenbilde zu hören!« – »Er gehört zur Kantine der Marketenderin Nini Bourdon vom dritten Zuaven-Regiment, bei dem Méricourt steht. Die niedliche Kleine sorgt wie eine Mutter oder Geliebte für den verrückten Burschen, den sie für ihren Verwandten ausgibt. Ich versuchte selbst mehrmals, ihn auszuholen, indes er ist toll wie ein Märzhase, wenn auch ganz unschädlich, und folgsam wie ein Kind; die stehende Antwort, die man höchstens von ihm erlangt, ist die konfuse Rede: Elf Uhr, der Zug geht ab!«
Iwanowna Oczakoff hatte sich von dem Erzähler abgewandt und verbarg ihm ihr Gesicht. Mehrere Minuten stand sie so da, ihr ganzes Wesen schien heftig erschüttert, daß es selbst dem Kranken auffiel. Erst als er fragte, was mit ihr sei, schien sie ihre Fassung zurückzuerhalten, und mit tiefbewegter Stimme sprach sie: »Ich glaube, Sie hatten recht vorhin, Herr Marquis, als Sie sagten, die Hand des allmächtigen Gottes habe Sie auf dies Schmerzenslager und gerade in dies Haus geführt. Ich erkenne seinen Willen und gehe, mit Annuschka zu sprechen. Jussuf wird einen würdigen Geistlichen, den ich kenne, hierherführen, seine Schwester aber unterdes bei Ihnen bleiben.«
Eine Stunde darauf hatte sich die Szene in dem Zimmer, das bald der Schauplatz jenes geheimnisvollen Scheidens von Seele und Körper sein sollte, geändert. Neben dem Bett des französischen Offiziers saß in einfachem schwarzen Kleide, den kleinen Myrtenzweig im Haar, der unter dem Donner der Schlachten fortgegrünt auf dem heimatlichen Boden, und von dem Schleier halb verdeckt, das bleiche Mädchen, das bald zur jungfräulichen Frau werden sollte, und hielt die Hand des Kranken mit halb scheuem, halb zärtlichem Blick in der ihrigen: denn das scharfe Auge des Franzosen hatte sich nicht getäuscht und es weniger Überredung der Fürstin bedurft, als diese gefürchtet. Die Herrin selbst ging unruhig im Zimmer auf und ab, während schweigend und achtungsvoll ein französischer Korporal, gleichfalls Gefangener, den in der Heilung begriffenen linken Arm in der Binde, in der Nähe von Nursädih, der jungen schwarzen Mutter, an der Tür saß, die sich jetzt öffnete. Jussuf erschien auf der Schwelle, um einen ehrwürdig aussehenden Mann in der Kleidung der russischen Geistlichkeit hereinzuführen. Seine Rechte hielt in einem Körbchen die heiligen Gefäße, während er auf dem andern Arme ein kleines Kind von etwa anderthalb Jahren trug.
Die Fürstin eilte ihm entgegen ... »Nehmen Sie unsern Dank, ehrwürdiger Vater Basili Polatnikow, daß Sie unserer Bitte gefolgt sind, und geben Sie uns Ihren Segen.« – Der Pope, die heiligen Gefäße niederstellend, machte das Zeichen des Kreuzes über ihrer Stirn ... »Der Segen des Herrn ist bei dir und den Deinen, o meine Tochter, denn dein Herz gehört ihm, und wer tut wie du, ist der Fürsprache der Heiligen sicher.« – Er sah umher, wohin er das Kind auf seinem Arm, einen muntern Knaben, setzen könne, als Annuschka zu ihm trat und ihn bat, es ihr zu geben. – »Es ist eine Waise,« erzählte der Priester auf einen fragenden Blick der Fürstin, »auf dem Meere geboren, inmitten von Kampf und Tod. Die griechische Mutter zahlte sein Leben mit dem ihrigen und übergab den Knaben sterbend meiner Sorge. Er hat keinen Verwandten mehr, da auch sein Oheim, einer der Capitani des Fürsten Morosini, beim großen Ausfall des Generals Chruleff gefallen ist.« – »Aber warum lassen Sie das Kind nicht bei Ihrer Familie, hochwürdiger Vater?«
Der ehemalige Kaplan des »Wladimir« beugte in schmerzlicher Ergebung das Haupt ... »Der Herr,« sprach er traurig, »hat auch mich schwer heimgesucht, wie ganz Rußland, – mein Weib und meine beiden Töchter sind die Opfer der Seuche innerhalb dreier Tage geworden und mein Haus ist öde und verlassen. Dieses Kind hat niemand als mich, der für sein zartes Alter Sorge trägt.« – »O, so lassen Sie es mir,« sagte die junge Braut rasch und errötend, »lassen Sie mich dafür sorgen und so die Mutterpflichten erfüllen. Wir wollen es pflegen und warten in diesen Schreckenstagen, bis Gott über uns anders bestimmt.« – »Annuschka tut recht, ehrwürdiger Vater,« sprach die Fürstin, »und ich vereine meine Bitte mit der ihrigen. Wie konnten Sie auch uns in Ihrer Not vergessen! Gott gebe den Ihrigen Frieden und Ihnen ein seliges Wiedersehen – dieses Kind des Unglücks aber gehört hinfort unserer Sorge.«
Sie faßte die Hand des Geistlichen und führte ihn zu dem Lager des Kranken, ihn von der heiligen Pflicht unterrichtend, die man von ihm verlangte, und von dem Zustande des Offiziers, der zugleich eines zweiten, noch feierlicheren Sakramentes bedürftig sei. Der Geistliche verstand so viel Französisch, um einige Fragen an den Kranken über die Handlung zu richten, der er die kirchliche Weihe erteilen sollte, und während er einen Tisch zum Altar improvisierte, winkte der Offizier den Anwesenden, näher zu treten ... »Ich bitte Sie, Kamerad,« sagte er zu dem gefangenen Korporal, »wenn Sie ausgewechselt werden und unser Frankreich wiedersehen, stets zu bezeugen, daß diese Heirat von mir im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte und nach reiflicher Überlegung geschlossen ist. Dieses Papier, Durchlaucht, das ich in Ihre Hände lege, enthält meinen letzten Willen. Er sichert meiner Gattin mein sämtliches Vermögen – mit Ausnahme einer Summe in Gold und Wechseln, die mir von Paris mit der Nachricht des Erbes ins Lager übermacht wurde, und die ich – jener Frau bestimmt habe, die – ich im November aus Ihrem Schloß Ayu davonführte. Madame Celeste wird sich trösten in deren Besitz! Haben Sie die Güte, durch Ihren Bruder mit dem nächsten Parlamentär diese Schrift und die begleitenden Zeilen an den Vikomte von Méricourt ins französische Lager zu senden. Ich habe ihn zum Vollstrecker meines Willens ernannt und weiß, daß er ihn erfüllen wird. Und jetzt bitte ich Sie – lassen Sie die Zeremonie beginnen, ehe es zu spät wird.«
Der Priester trat mit dem heiligen Buch vor den Altar, während Annuschka weinend an der Seite des Bettes kniete. Die Fürstin und der Korporal bildeten die Zeugen der traurigen Zeremonie, während die schwarzen Geschwister mit den Kindern, ehrerbietig zurückstehend, ihr beiwohnten. Leise und feierlich klangen die Worte der Weihe durch das Gemach, nur von dem Rollen des Donners unterbrochen, der von den Wällen der bedrängten Stadt dem Feuer des Feindes antwortete. Als der Priester die Zeremonie des griechischen Ritus geendigt und die beiden Ringe, welche die Fürstin ihm reichte, dem Paare angesteckt hatte, erhob er seine Stimme im Gebet zu dem Allmächtigen, seinen Beistand zu erflehen für die letzte schwere Stunde des Mannes, der soeben jene feierte, die sonst des Lebens süßeste ist. Alle umher lagen auf den Knien, selbst der Mohr mit seinem fatalistischen Glauben vom Sterben fühlte die heilige Bedeutung und wandte sein Haupt gen Mekka, und er, den das Gebet am meisten berührte, er selbst, der dem Tode Geweihte, fühlte das Gebet mit, dessen Worte er nicht verstand! ... Er war der erste, der wieder das Wort nahm und die Fürstin und den Popen ersuchte, zur Stelle das Dokument über die vollzogene Trauung auszufertigen, das Iwanowna versprach, von dem Gouverneur, General von Osten-Sacken, selbst ratifizieren zu lassen. Dann bat er, ihn der Pflege seiner nunmehrigen Gattin für eine Stunde allein zu überlassen.
Der ehrwürdige Geistliche des »Wladimir« schied, von der Fürstin bis zur Tür begleitet, um an dem Schmerzenslager seiner tapferen Landsleute die heiligen Pflichten des Trösters zu üben, mit dem Versprechen, abends nochmals herzukommen, und empfahl das Kind ihrem Schutze ... Aber er sollte es nicht wiedersehen! In der Nähe der Wladimir-Kathedrale, jenseits der Brücke über den Kriegshafen, traf ein Stein sein Haupt, den eine gefallene Bombe von dem Gewölbe des Domes schmetterte ... Soldaten trugen ihn an die Stufen des Altars, wo er den Geist aufgab ... Zur selben Zeit eilten die Fürstin Oczakoff und ihre Diener, durch den Hilferuf Annuschkas herbeigelockt, in das Gemach, wo die Braut bei dem Gatten zurückgeblieben. Annuschka hatte die Tür aufgerissen; ihr Auge blickte verstört und erregt; der Kranz war von den fliegenden blonden Zöpfen gefallen; ihr einfacher Putz derangiert, und schluchzend rang sie die Hände. Auf dem Feldbett aber lag, in der geschlossenen Hand noch den Brautschleier der jungen Gattin zusammenkrampfend, der Löwe der Pariser Salons, der Mann der Mode und des Genusses, mit all den traurigen und edlen Seiten des französischen Charakters begabt – Alfred de Sazé – starr und tot!