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Der Kampf um Silistria.

Das Schlußspiel an der Donau sollte das zitternde Europa auf die Schreckenstragödie in der Krim vorbereiten.

Silistria war das blutige Morgenrot der Tage von Sebastopol.

Einen kurzen Aufenthalt brachten den Russen bei ihrem Übergange über die Donau nach der Dobrudscha und ihrem Andringen gegen Silistria die für die Türken glücklichen, glorreichen Gefechte von Kastelli, Küstendsche und Tschernawoda, das letztere am 25. April; aber wie groß auch die Verluste und Opfer der Russen bei ihrer Besetzung der Dobrudscha waren, der fast allmächtige Wille, der dies Volk beherrscht und als bloße Masse für seine Zwecke verwendet, fragte nicht nach diesen Opfern, und die Massen drängten, den Tod in den eigenen Reihen, vorwärts bis zum Trajanswall.

Die Anstrengungen und die Summen, welche die Besetzung der Dobrudscha forderte, waren kolossal. Ein ungeheurer Train Kibitken und schwere Lastwagen mußten den Truppen in dies wilde, nur von flüchtigen Tataren und Kosaken, Adlern, Trappen, wilden Gänsen und Schwänen bewohnte Land folgen, auf dessen 200 Quadratmeilen kaum 20 000 Einwohner kommen, dem, trotz der Sümpfe und Moräste, das belebende Element des Wassers fast ganz zu fehlen scheint. So weit das Auge reicht, sieht man nirgends einen Baum oder Strauch; die stark gewölbten Hügelrücken sind mit hohem, von der Sonne gelb gebranntem Grase bedeckt, das der Steppenwind in Wellen schlägt; weite Strecken reitet man über die einförmige Wüste, bevor man ein elendes Dorf ohne Gärten, ohne Bäume, in einem wasserlosen Tal entdeckt. Der Mensch hat den Menschen aus jenen unwirtbaren Gegenden verscheucht, und sie sind dem Reich der Tiere anheimgefallen.

In ungeheueren Zügen kam und ging dieser Train, neue Provisionen holend und Hunderte von Verwundeten, Tausende von ruinierten Waffen, Monturen und Rüstzeugen zurückschleppend. Die Zahl der Verwundeten und Kranken überstieg zu Ende April bereits 2600, bei Karassu allein gab es über 500 Blessierte; die Zahl der Todten betrug über 3000. In Braila, Galacz und Reni wurden zu den bereits bestehenden sieben Lazaretten neue improvisiert, so gut es gehen wollte. Die Ambulanzen füllten sich Tag für Tag dermaßen, daß die Transporte nach Hirsowo, Matschin und zum linken Donauufer täglich zweimal erfolgen mußten. Aber nicht nur der Verlust an Menschenleben war ungeheuer, die Erfordernisse an Pferden, Bagage und Munition waren noch größer.

Auf den Befehl des Feldmarschalls rückte zu Anfang Mai das Korps des Generals Lüders, am 6. Rassowa nach hartem Kampfe nehmend, aus der Dobrudscha gegen Silistria vor. Am 12., 13., 14. und 15. kam es zu heftigen Gefechten, und die Generale Engelhardt und Grotenhjelm, die Avantgarde des Korps bildend, drängten die Türken in die Festung zurück und schlossen diese von der Ostseite ein.

Die Operationen von jenseits der Donau gegen Silistria hatten bereits am 5. April begonnen; General-Leutnant Chruleff, der tapfere Führer der fliegenden Korps in Polen und Ungarn, der im Sommer 1855 sich noch berühmt machte durch den Zug in die Kirgisen-Steppe gegen die Kokanzen und den Sturm auf die Veste Ak-Metschet, leitete die Belagerungsarbeiten. Nachdem sich die Russen der drei Donauinseln Olbina, Tarbaneki und Rakiuski bemächtigt hatten, eröffnete der General am 22. aus den auf dem linken Ufer und den Inseln errichteten Brustwehr-Batterien mit 70 Kanonen ein heftiges Feuer gegen die Donaufront der Festung, die Batterien auf den noch im Besitz der Türken befindlichen drei anderen Inseln und die vorgeschobenen Werke am rechten Ufer. Da aber die Kanonen der letzteren den hier etwa 1000 Schritt breiten Fluß beherrschten, konnte der beabsichtigte Übergang nicht stattfinden, bis die bereits oben erwähnte Operation des Lüders'schen Korps von der Dobrudscha her vollständig erfolgt war. Ein langandauerndes, heftiges Regenwetter hatte diese Operationen verzögert, am 14. Mai erst stand die russische Avantgarde in Kütschük-Kainarscha, auf der Straße nach Basardschik und Varna, die Festung von dieser Verbindung abschneidend und die Türken in ihre östlichen vorgeschobenen Werke zurückdrängend.

Am 15. unternahm Fürst Paskiewitsch und Fürst Gortschakoff eine persönliche Rekognoszierung am linken Ufer, und der letztere erteilte nach der Rückkehr nach Kalarasch alsbald den Befehl, mit dem Bau einer Brücke vorzugehen.

Unter einem heftigen Bombardement der Stadt vom linken Ufer und den Inseln her vollzog General Chruleff den Auftrag, und zum ersten Male hatte hier der Ingenieur-Kapitän Tottleben Gelegenheit, durch die zweckmäßige Anlage der Brücke unterhalb der Stadt, zwischen dieser und dem Dorfe Ostrow und außer dem Bereich der türkischen Batterien sich auszuzeichnen. Am 18. Mai war die Brücke vollendet. Sie bestand aus zwei Abteilungen für Kavallerie und Infanterie, mit einer Überfuhr für Geschütze. Fürst Paskiewitsch ging an demselben Tage mit seinem Generalstab über die Donau. Ihm folgten zwanzig Infanterie-Bataillone (die ganze 8. Infanterie-Division unter General-Leutnant Silvan und das ochotzkische Jäger-Regiment von der 4. leichten Kavallerie-Division, drei Sotnien donische Kosaken, 11.), drei Kompagnien Sappeure, das woßnessenskische und olviopolskische Ulanen-Regiment von der 4. leichten Kavallerie-Division, drei Sotnien donische Kosaken, 6 Batterien Fuß-Artillerie und zwei berittene, im ganzen 88 Geschütze mit dem Belagerungstrain. Das Korps des Generals Lüders auf der Südostseite der Stadt zählte 35 Infanterie-Bataillone (die 9. Infanterie-Division und Abteilungen der 11. und 15.), das lithauische Ulanen-Regiment »Erzherzog Albrecht« und das volhynische »Großfürst Konstantin«, 2 Kosaken-Regimenter und 104 Geschütze.

Sofort begannen die Russen die Tracierung der Belagerungslinie von der Landseite und das Aufwerfen der Trancheen.

Zugleich sollten nach dem Plan des Feldmarschalls 30 000 Mann bei Oltenitza auf einer dort geschlagenen Brücke nach Tuturkai übersetzen und gegen Rasprad vorrücken, somit die Verbindung Silistrias mit dem 10 Meilen entfernten Schumla, dem Hauptquartier des Sirdars, unterbrechend. Diese Operation mißglückte, denn der Übergang wurde von den Türken glücklich gehindert und die Brücke gesprengt. Ungefähr 60 000 Mann zernierten demnach jetzt Silistria auf drei Seiten, und nur die Verbindung im Südwesten und Westen der Stadt, nach Schumla und Rustschuk, war noch frei.

Bereits bei dem Übergang am 16. hatte der Feldmarschall einen Parlamentär an Mussa-Pascha, den Kommandanten Silistrias, geschickt, ihn zur Übergabe aufzufordern. Die Türken wiesen diese zurück, und am 19. begann von der Landseite aus die Beschießung der Festung aus den zwischen den Weinbergen gegen die östlichen Vorwerke vorlaufenden Trancheen. In der Nacht zum 22. wurde die zweite Linie derselben eröffnet, und General Schilder sprengte mit Glück von der Donauseite eine gegen die Müftiereh-Bastion gerichtete Mine, obschon das Fort selbst wenig Schaden nahm.

Noch einmal wurden jetzt Unterhandlungen eröffnet, und Mussa-Pascha, um Zeit zu gewinnen, verlangte eine Frist bis zum 26., die jedoch nur bis zum 24. bewilligt wurde. An diesem Tage stürmten die Russen die östlichen Werke, wurden jedoch mit bedeutendem Verlust zurückgeschlagen. Seitdem dauerte die heftige Kanonade ununterbrochen fort.

Silistria bildet die Spitze eines fast gleichschenkligen Dreiecks, dessen Basis die Linie Schumla-Varna vorstellt, und dessen Ostseite Front gegen die Dobrudscha und die Straße über Basardschik und Varna macht, wie die Westseite gegen Rustschuk und die von da an die Balkan-Pässe ziehenden Wege. Die Entfernung nach Tschernavoda beträgt 10, nach Varna 18, nach Schumla 12, nach Rustschuk 15 Meilen, ein Terrain, das vollständig innerhalb der Wirkungssphäre einer starken Garnison wäre. Hierdurch begreift sich die Bedeutsamkeit Silistrias für die russischen Operationen, die ohne den Besitz der Festung der Sicherheit ermangelt hätten. Diese Wichtigkeit der Position wurde auch in allen früheren Kriegen anerkannt. Im Jahre 1809 wurde die Festung vergeblich belagert, 1810 aber nach nur fünftägigem Widerstand von General Langeron erstürmt. Damals wurde Silistria von den Russen geschleift, später von den Türken aber wieder aufgebaut und bedeutend vergrößert. Im Feldzug von 1828 fesselte es die Russen vier Monate vor seinen Mauern, ohne daß sie es zu erobern vermochten, und auch, nachdem Varna gefallen, bildete es ein wichtiges Hindernis, und der Feldzug des Jahres 29 mußte mit einer Belagerung des an und für sich nicht starken Platzes begonnen werden, die auch damals General Schilder leitete und die 43 Tage dauerte.

So wichtig die Lage Silistrias in strategischer Beziehung, so ungünstig ist sie es in fortifikatorischer, indem die Südseite durch das 200 Fuß hohe Balkanplateau beherrscht wird, das bis auf 1500 Schritt an den Hauptwall herantritt und dem Belagerer zur terrassenförmigen Aufstellung seiner Geschütze Gelegenheit gibt. Man übersieht von hier aus das ganze Innere der Stadt. Die drei östlichen und zwei westlichen Fronten werden von dieser Höhe aus bestrichen, und da, wie bereits erwähnt, das Donaubett nur 1000 Schritt breit, kann auch die Wasserfront von dem gegenüberliegenden Ufer beschossen werden. Die Stadt selbst bildet einen Halbkreis von etwa 2000 Schritt Länge in Form eines Zehnecks, jede der Fronten ist 550 Schritt lang, und zwar befinden sich vier Bastionen auf der Donauseite, drei auf der östlichen, zwei auf der westlichen. Das östliche Tor ist von den Außenwerken Tschengell- und Liman-Labiassi gedeckt. Zur Sicherung der zwei Tore auf der Landfront nach Schumla und Basardschik wurde bei Beginn des Krieges die bisher sehr unvollständige, aus unbedeutendem Erdwerk bestehende Verteidigung durch Anlegung eines festen Forts auf der Höhe Oskardscha zwischen beiden Straßen vermehrt, das zugleich die Gefahr der Beherrschung vom Plateau aus paralysieren sollte. Unter Leitung eines früheren preußischen Offiziers, des Artillerie-Kapitäns Grach, ward diese durch dreifaches Mauerwerk aus Felsengestein hergestellte Nebenfestung, die den Namen Abdul Medjid erhielt, binnen acht Monaten hergestellt, indem man Tag und Nacht daran arbeitete.

Durch zwei Türme – Arab Tabia und Yanina – flankiert und mit 60 Kanonen bewaffnet, bildete das Fort jetzt mit dem festen Stadtschloß die Hauptverteidigung der Festung, nach welcher der Besatzung die Rückzugslinie vom Fort durch eine Reihe von Batterien gedeckt war, von deren letzter ein unterirdischer Gang zur Festung führte. Die Ringmauern der Stadt sind ziemlich niedrig, das Glacis hinter dem 12 Fuß tiefen, 30 Fuß breiten Graben wird von der 20 Fuß starken Brustwehr des Hauptwalles nur um 8 Fuß überragt. Dies waren die Hilfsmittel der tapferen Verteidigung von Silistria.

Am 25. Mai endlich erhielt General-Leutnant Piwloff, der, wie erwähnt, von Oltenitza aus bisher vergeblich den Übergang versucht und nur eine zwischen beiden Ufern liegende Insel besetzt hatte, die Nachricht, daß die Türken sich von Tuturkai zurückgezogen, und bewirkte am 26. seinen Übergang, sodaß nunmehr auch die Verbindung mit Rustschuk abgeschnitten werden konnte.


Es war am Mittag des 28. Mai – eines Sonntags – als die Geschütze der russischen Batterien, die während des ganzen Morgens gespielt und einen wahren Hagel von Bomben und Vollkugeln auf die Werke der Ostseite und bis in die Stadt geschleudert hatten, eine kurze Pause machten. Von dem Babadagh-Tor her, vor dem die hart bedrängten, vorgeschobenen Forts Tschengell-Labiassi und Liman-Labiassi liegen, kam in eifrigem Gespräch eine Gruppe von Offizieren, von denen mehrere ihrer Kleidung nach Europäer waren. Der eine von ihnen trug die Uniform der Zuaven, jenes berühmten Korps, das in diesem Augenblick auf den blauen Wellen des mittelländischen Meeres seine Überfahrt nach Gallipoli und Varna vollendete; es war eine hohe, prächtige Gestalt von soldatisch-kühnem ernsten Gesicht; zwei andere waren offenbar Engländer, der eine in der Uniform eines Kapitäns der schottischen Garde, der andere in Zivil.

»Hussein-Aga,« sagte der ältere Türke zu seinem Begleiter, »schwört beim Propheten, daß er die Schanzen gegen den nächsten Sturm der Moskows zu halten vermag. Sage mir Deine Meinung, Jüs-Baschi.«

»Ich vermag Dir nur zu wiederholen, Mehemed-Bey, was ich bereits dem Pascha berichtet und was mir diese Herren bestätigen. Der Aga kann die Forts nicht länger als einen Tag noch halten. Die Trancheen des General Schilder sind uns bis auf halbe Büchsenschußweite nahe.«

»Wir werden sie heute oder morgen mit Allahs Hilfe zerstören.«

»Ich zweifle nicht an unserem Siege, Bey, aber er kann uns nichts nützen. Unsere Hilfe muß von Schumla oder Rustschuk her kommen.«

»Wallah!« sagte ärgerlich der alte Türke, »Du weißt, Brennibor, (Brandenburger) was uns gestern dieser Hund von Jude gemeldet hat. Die Russen sind bei Tuturkai über die Donau gegangen. Was tun wir mit diesen Franken, wenn sie müßig stehen in Varna und Gallipoli. Ich spucke auf ihre Hilfe und bin selbst ein Mann.«

Der Kapitän lachte.

»Lasse solche Worte die Herren an unserer Seite nicht hören, Bey, und bedenke, daß gerade die Franzosen, meine Landsleute, diese Wälle und Forts gebaut haben, mit deren Hilfe wir jetzt den Russen widerstehen, zu Deinem eigenen Ruhme, der Du doch Genie-Direktor von Silistria bist, während Du recht wohl weißt, daß Du kein Dreieck von einem Quadrat zu unterscheiden verstehst.«

»Wissen Sie, Herr Kamerad,« fragte der französische Offizier in seiner Sprache, »was die Botschaft des Paschas bedeuten soll?«

»Einen Ausfall, hoffe ich; es ist unbedingt nötig, daß wir uns Luft auf dieser Seite verschaffen. Ich wünschte, wir hätten dazu einige Kompagnien Ihrer Zuaven hier, von deren Tollkühnheit wir so viel gehört haben.«

»Sie werden zur Stelle sein, wenn es gilt und der Kaiser befiehlt, Herr Kapitän. – Da ist der Pascha.«

Die vier Offiziere näherten sich dem Kreise, der sich auf dem Platze an der Moschee der Barmherzigkeit um Mussa-Pascha, den tapferen Kommandanten von Silistria, gebildet hatte. Er bestand aus fast allen oberen Offizieren der Besatzung, die in diesem Augenblick der Dienst nicht auf den Wällen gefesselt hielt, und schien mit einer Art von Kriegsrat beschäftigt. Neben dem Pascha standen der uns bereits bekannte Kapitän Depuis, Muglis-Bey, der Anführer der Redifs, und Kirki-Pascha, der Führer der Baschi-Bozuks.

Der französische Offizier, der soeben von den Schanzen hinzukam, nahm offenbar eine geachtete Stellung ein, denn man machte ihm und seinen Begleitern sogleich Platz.

Der Pascha hielt eine Depesche in der Hand, ihm zur Seite stand ein türkischer Knabe, von klugem, verschmitztem Aussehen, dessen Lebhaftigkeit jedoch durch den Anschein von Gleichgiltigkeit unterdrückt wurde.

»Monsieur le Colonel,« sagte der Kommandant höflich zu dem Franzosen, »ich habe Sie bei der Unterbrechung des Feuers hierher bitten lassen, weil mir vor einer Stunde eine Depesche von Schumla überbracht worden ist, die auch ein Schreiben für Sie enthält, und die unsere ernste Erwägung fordert. Ihre Nachrichten stimmen wahrscheinlich mit den meinen überein?«

Der Zuaven-Colonel, Vicomte de Méricourt, hatte seine Depesche geöffnet:

»Man trägt mir auf, dahin zu wirken, daß die Garnison sich so lange wie möglich hält. Eine kombinierte Bewegung zum Entsatz der Festung ist vor Mitte des nächsten Monats nicht möglich, da Ihre Truppen zum Teil an der Aluta engagiert sind, und Rustschuk selbst noch fortwährenden Angriffen ausgesetzt ist. Für jene Zeit wird jedoch eine Diversion zugesagt.«

»Ich muß eher Beistand haben, wenigstens eine Verstärkung der Besatzung und eine Zufuhr von Proviant,« sagte mißmutig der Pascha. »Sie kennen die unglücklichen Verhältnisse und wissen, daß unsere Vorräte in Cadassia lagern.«

»Es war eine Torheit ohne gleichen,« warf Kapitän Depuis ein.

»Was soll ich sagen! Es ist nun einmal so und wir haben kaum noch für zwanzig Tage Lebensmittel in der Stadt. Man meldete mir, daß die vorgeschobenen Werke am Babadagh-Kapussi nicht länger gehalten werden können, trotz der alles vernichtenden Tapferkeit meiner Agas. Mein Genie-Direktor, Mehemed-Bey, ist jedoch anderer Meinung.«

»Dein Genie-Direktor, Pascha,« sagte brüsk der englische Offizier, »ist ein Esel! Die Meinung des Kapitän Grach hier ist vollständig die unsere. Die Werke sind kaum 24 Stunden mehr zu halten.«

Der alte Bey schaute höchst gleichmütig zu der Artigkeit des Engländers drein und strich sich den Bart. Die Türken begannen bereits diese Art der Behandlung seitens ihrer Verbündeten gewohnt zu werden.

»Inshallah, wie Gott will! Mein Freund Mehemed kann sich irren, und der Himmel hat Euch Franken ein scharfes Auge in solchen Dingen gegeben. Was ratet Ihr mir zu tun?«

»Ich habe bereits über den Fall mit den kommandierenden Offizieren des Forts gesprochen,« sagte der Kolonel, »und unser aller Meinung ist, daß durch einen kräftigen Ausfall in dieser Nacht die Arbeiten der Russen gestört werden können und Hussein-Aga Zeit erhält, morgen die vorgeschobenen Schanzen ohne Verlust zu räumen. Der Kapitän hat so vortreffliche Werke in der Nähe des Tores vorbereitet, daß der Besitz der beiden Forts den Feinden nur wenig helfen wird.« –

»Ich fürchte nicht die Beschießung oder die Sturmangriffe,« sagte Kapitän Grach, der türkische Artillerie-Offizier – »sondern die Minen des Generals Schilder, es ist seine Lieblingswaffe.«

»Darum müssen wir ihn möglichst fern halten. In unverhofften Ausfällen liegt die Gelegenheit, seine Arbeiten zu stören. Ich stimme für einen solchen in dieser Nacht.«

Der wilde Kiriki, dem die französische Sprache der Beratung fremd war, erriet aus den Umständen, um was es sich handele, und schaute mit dem Ausdruck eines Bullenbeißers auf den Kommandanten.

»Mashallah – es sei, wie Ihr sagt, ich habe auch daran gedacht. Wir wollen einen Ausfall machen diese Nacht auf die Flanke des Feindes an der Donau. Hussein-Aga soll ihn leiten und Kiriki mit seinen Bozuks und einer Tabor des Nizams ihn ausführen. Werdet Ihr Teil daran nehmen, Effendis?«

»Meine Befehle beschränken sich auf die Stadt,« entgegnete der Kolonel.

»Ich werde Hussein-Aga begleiten,« bemerkte der englische Offizier.

»Pek äji – es komme auf Dein Haupt, – ich bin nicht verantwortlich für Dich. Ich werde meine Ordres erteilen. Dennoch muß ich Nachricht senden an den Sirdar – unsere Lage ist schlimm.«

»Der kleine Halunke, der die Depeschen hereingeschmuggelt,« bemerkte Kapitän Depuis, »kann sie wahrscheinlich auch wieder herausbringen. Wo ist der Bursche?«

Alles sah sich nach dem zerlumpten Jungen um, der beim Beginn der Unterredung hinter dem Pascha gestanden, doch vergeblich, denn der Bursche hatte die Gelegenheit benutzt, sich zu entfernen, bis der türkische Offizier, der ihn von den Außenposten zum Kommandierenden geführt, berichtete, der Knabe habe ihm gesagt, daß er früher im Dienst des Frankenarztes gestanden, der kürzlich von Widdin und Schumla gekommen sei, und daß er zu diesem seinem Herrn zurückkehren wolle.

»Das ist Doktor Welland, der Oberarzt des Hospitals und mein Freund,« meinte Kapitän Grach. »Ich bin im Begriff, ihn zu besuchen und werde mich nach dem Boten erkundigen.«

»Könnten Sie mir sagen, Sir,« fragte der englische Offizier, »ob dies derselbe Doktor Welland ist, ein geborener Preuße, der vor zwei Jahren sich in Paris aufhielt?«

»Ganz derselbe, Sir. Ich lernte ihn in den dreißiger Jahren kennen, als ich bei der Garde-Artillerie in Berlin stand, und traf ihn zu meiner Freude unerwartet hier in Silistria und in unserm Dienst wieder.«

»Er kam im vorigen Sommer von Paris.«

»Dann erlauben Sie mir, Sir, daß ich Sie begleite, ich habe seine Bekanntschaft in Paris gemacht, und es wird mir Vergnügen bereiten, sie zu erneuern. Begleiten Sie uns, Maubridge?«

Der Baronet, denn dieser war der Brite in Zivil, verneigte sich nachlässig, und die kleine Gesellschaft nahm, als die Dienstgeschäfte beendet waren und die Offiziere sich nach allen Seiten zerstreuten, um die Vorbereitungen für den Sturm zu treffen, ihren Weg nach dem großen Khan, in dem ein Lazarett für die Verwundeten eingerichtet worden und Doktor Welland eine kleine Wohnung angewiesen erhalten. Es waren während der Belagerung für die ganze, über 15 000 Mann betragende Besatzung nur acht Feldärzte vorhanden, von denen noch dazu drei Chirurgen waren, und die Anstrengungen, denen sie unterworfen, waren daher erschöpfend.

In der dürftigen Behausung des Arztes, die am Eingang des schlechten Khans gelegen war, saßen in eifrigem, stillem Gespräch drei Personen zusammen, der Knabe Mauro – denn der kleine listige Teufel war es, der nach seiner Rückkehr aus dem Epirus durch den Einfluß der in Varna und Schumla wirkenden Hetäristen zum Ueberbringer der Depeschen an Mussa-Pascha benutzt worden, – Nursah und sein Bruder Jussuf, der Tatar der unglücklichen Mariam, den Welland, von der Kugel des korsischen Banditen verwundet, in den Fischerhütten an der Bai von Kumburgas getroffen und dort bis zu seiner Genesung zurückgelassen hatte. Bei der Ankunft von Widdin hatte er ihn in Silistria wiedergetroffen, wohin der Mohr, sobald er seine Kräfte wiedergewonnen, den Weg genommen, da die Festung der Ort war, wohin die erste Bestimmung des Arztes lautete und wohin er den Genesenen bestellt hatte.

Der Leser wird sich erinnern, daß der Knabe Mauro den beiden Geschwistern oder wenigstens Nursah von ihrer gemeinschaftlichen Flucht aus Konstantinopel her bekannt war, und es schien ein geheimes Band vorhanden, was die sich Wiedertreffenden mit einander vertraut machte. Der junge Spion hatte bei seinem Erscheinen in der Wohnung des Arztes diesem einen Brief seines Freundes Gregor Caraiskakis aus Varna gebracht, in welchem dieser ihm, von seiner Versetzung nach Silistria benachrichtigt, die Neuigkeiten des Tages schrieb und mitteilte, daß er einstweilen noch in Varna, das durch das Eintreffen der westmächtlichen Truppen zum großen Heerlager geworden war, von seinen Interessen und Geschäften zurückgehalten werde. Um sichere Kunde von dem Freunde zu erhalten, habe er den Knaben Mauro einem befreundeten türkischen Oberoffizier zum Boten angetragen. Doktor Welland, ohne auf diesen Zusammenhang viel zu achten, freute sich der Ankunft des Knaben, weil er durch ihn Nachricht von dem Freunde erhielt, hatte jedoch erst wenige Augenblicke seinen Erzählungen widmen können. So bemerkte er nicht, wie der junge Spion, nachdem er mit den Geschwistern allein war, noch einen zweiten, sorgfältig in seinen Lumpen verborgenen Brief hervorsuchte und ihn an Nursah gab, der ihn – obschon das Schreiben gleichfalls an seinen Herrn adressiert war – öffnete und mit großer Aufmerksamkeit las, worauf die Drei alsbald jene eifrige Beratung begannen.

Durch den Eintritt der beiden Kapitäne und des Baronets hierbei gestört, rief Nursah seinen Herrn aus dem Lazarett herbei.

»Sie werden Arbeit bekommen heute, Doktor, mehr als gewöhnlich,« sagte, ihm die Hand schüttelnd, der Artillerie-Kapitän, »und ich komme, Sie davon zu benachrichtigen und mir Ihre Anwesenheit in den Forts am Babadagh-Tor zu erbitten. Wir machen diese Nacht einen Ausfall auf die Russen und bei so blutiger Arbeit mag man wohl wünschen, die geschickte Hand eines Freundes in der Nähe zu haben. Zugleich will ich einen Kameraden bei Ihnen einführen, der bereits das Vergnügen hat, Sie zu kennen. Kapitän Morton …«

»Ich hoffe, Sie erinnern sich meiner aus Paris, Doktor. Ich habe nie die Hilfe vergessen, die Sie mir in dem Duell mit dem französischen Spitzbuben leisteten, der mich am Roulette geplündert.«

»Mein teurer Sir,« sagte der Arzt erfreut und jenem herzlich beide Hände drückend, »seien Sie mir bestens willkommen, wenn ich Sie in Ihrem Interesse auch weit weg von diesem Orte wünschen möchte. Es scheint, als sei der heutige Tag dazu bestimmt, Nachricht von alten lieben Freunden zu erhalten.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen einen der meinen vorzustellen,« sagte der britische Offizier mit einer Bewegung nach seinem Gefährten hin. »Sir Edward Maubridge, Baronet, schon länger im Orient als wir.«

Der Arzt, der bisher den Fremden nicht beachtet, wandte sich bei diesen Worten zurückfahrend nach dem Vorgestellten und begegnete dem höhnisch-kalten Blicke desselben.

»Ich habe die Ehre,« sagte der Baronet ruhig, »den Herrn bereits von Smyrna zu kennen. Ich traf ihn dort in interessanter Gesellschaft.«

»Es war nicht das letzte Mal, Sir, daß Sie mich gesehen,« sprach bitter der Arzt.

»Richtig, Sir, ich vergaß! Sie sekundierten am Skamander einem Freund, dem Bundesgenossen von Wegelagerern und Banditen!«

»Dem Bruder Ihrer rechtmäßigen Gattin, Sir!«

»Lassen wir das, wir wollen darum nicht streiten. Es wäre besser für uns alle gewesen, Sie hätten damals meinem ersten Wunsch entsprochen. – Haben Sie von Herrn Caraiskakis gehört? Ich glaube, er ist in dem letzten Aufstand zu Konstantinopel ein Opfer seiner Leidenschaftlichkeit geworden.«

Der Arzt sah ihn finster an.

»Mein Freund, Sir, hatte als Mann von Ehre seine Schwester zu rächen.«

Ein unbestimmtes Gefühl verhinderte ihn, zu erwähnen, daß er soeben von ihm Nachricht erhalten habe, und er hatte noch nicht Zeit gehabt, die Einzelheiten seiner Mitteilungen zu lesen.

»Die Sache ist vorbei, lassen Sie uns nicht streiten darüber,« sagte der Baronet. »Wir sprechen vielleicht später noch über Dinge, die mich interessieren. Ich sehe, Morton und Kapitän Grach werden ungeduldig.«

»In der Tat,« meinte der letztere, »meine Zeit ist gemessen und ich habe der Vorbereitungen noch viele zu treffen. Ich werde Sie um 9 Uhr abholen in die Festungswerke. Halten Sie Ihr Verbandzeug bereit, Doktor, und nehmen Sie einen Gehilfen mit. Es wird einen harten Tanz geben. Wie viel Verwundete hat man Ihnen von dem gestrigen Bombardement gebracht?«

»Dreiundsechszig, Kapitän. Wir zählen vierzig Tote.«

»Einen Verlust von Hundert – das passiert, aber ich fürchte, es wird schlimmer werden.«

»Mit wie viel Mann greifen Sie an, Kapitän?«

»Zwei Bataillone Nizam und die Bozuks. Etwa dreitausend Mann!«

»Und die Stunde?«

»Elf Uhr – bei Aufgang des Mondes. Depuis und der französische Offizier bleiben in den Forts am Basardschik-Tor. Auf Wiedersehen, Doktor, vor dem Kampf! Ich muß zu meinen Arbeitern. Hören Sie – der Feind beginnt seine Kanonade wieder.« –

Das dumpfe Dröhnen des schweren Belagerungsgeschützes erschütterte aufs neue die Luft und die Offiziere entfernten sich eilends, wobei der Kapitän ganz vergaß, weiter nach dem Knaben zu fragen, den er beim Eintritt flüchtig gesehen.

Nursah war allein in dem Gemache ab- und zugegangen während des Besuchs, indes sich Jussuf und Mauro entfernt hielten. Diese suchte er jetzt eilig auf, während sein Herr sich mit dem Briefe des Freundes beschäftigte und über das Zusammentreffen mit dem Briten nachsann.

Nursah zog die beiden in einen Winkel.

»Eine Stunde vor Mitternacht,« berichtete er hastig, »werden dreitausend Türken einen Ausfall gegen das Lager an der Donauseite machen. Unsere Freunde müssen benachrichtigt werden.«

»Kannst Du dem Winde die Botschaft geben?« fragte ärgerlich Jussuf. »Olmas! Es ist nichts – die Wälle werden zu gut besetzt sein und der Zigeuner – Eblis verdamme ihn! – hat sich seit drei Tagen nicht blicken lassen.«

»Ich sage Dir, es muß geschehen, die Nachricht muß hinaus,« sagte der jüngere Bruder mit der Autorität, die er über den älteren übte. »Wofür wäre dieser Knabe uns zur Hilfe gesandt, wenn er uns in solchen Fällen nicht nützen sollte?«

»Wird das Blut der verfluchten Moslems fließen, wenn ihr Unternehmen den Russen bekannt wird?« fragte mit teuflischer Neugier der kleine Spion.

»Haben sie Zeit, ihre Vorbereitungen zu treffen, dann kann die ganze Kolonne abgeschnitten werden und ein Sturm die Wälle erobern, Kind.«

Die Augen des Knaben blitzten.

»Viele, viele! Ein ganzes Meer von Türkenblut für meinen gemordeten Oheim!« sagte er giftig. »Bringt mich nur hinaus und gebt mir Euren Auftrag, Mauro ist schnell, und was er will, das tut er.«

»Von der Schnelligkeit Deiner Füße, Knabe, wird mehr als von Deinem Mute abhängen. Wir werden wie gewöhnlich die Wälle an der Abendseite zu bewachen haben, und ich vermag Dich nicht eher hinaus zu lassen, als bis die Nacht eingetreten ist. Du hast dann einen weiten Weg bis zum Lager der Russen. Schreibe Deinen Brief, Nursah, der Prophet sieht zwar übel auf mein Beginnen, aber ich habe geschworen, Dir zu gehorchen, bei einer, die nicht mehr ist.«

Der Ruf des Arztes, der nach dem Knaben verlangte, um durch ihn von dem Freunde zu hören, trennte sie.

In einzelnen Intervallen dauerte während des ganzen Tages das Geschützfeuer der Belagerer fort, von den Kanonen der Festung erwidert. Der Kapitän Grach war überall und in der Tat die Seele der artilleristischen Verteidigung, die um so höher anzuschlagen ist, als sie einem so alten und berühmten Genie-Offizier wie General Schilder gegenüber geschah. –

Es war am Abend gegen zehn Uhr, als die zum Ausfall bestimmten Kolonnen sich am Babadagh zu sammeln begannen. Still und geräuschlos hielten die Reihen der Irregulären auf ihren meist weißen Pferden hinter den Wällen, während die Bataillone des Nizam wie dunkle Schlangen durch das geöffnete Tor in die beiden vorgeschobenen Forts strömten.

Mussa-Pascha, der während seines Kommandos eine den Türken sonst sehr ungewöhnliche Tätigkeit und Einsicht an den Tag gelegt hatte, die ihn auch dem Einfluß und Rat der europäischen Offiziere zugänglich machte, war überall, seine letzten Befehle erteilend. Hussein-Aga, der Kommandeur der beiden Forts, ein wilder aber tapferer Offizier, sollte den Ausfall befehligen, den Kapitän Morton mitzumachen beschlossen hatte. Die Müftiereh-Batterie, die allein von den Schanzen an der Donau die rechte Flanke der russischen Stellung bestreichen konnte, wurde von Mehemed-Bey kommandiert, indes hier und an den vorgeschobenen Werken die wahre Leitung dem On-Baschi Grach überlassen blieb.

Der Kommandant selbst wollte durch eine Kanonade von den südlichen Toren und dem Abdul-Medjid-Fort her die Aufmerksamkeit des russischen Zentrums und der linken Flanke beschäftigen, nachdem er vom Fort aus durch eine Rakete das Zeichen zum Angriff gegeben.

An dem hohen Bogen des Tores, durch das sich jetzt im geräuschlosen Marsch die wilde Reiterkolonne drängte, standen die Führer, Kiriki-Pascha, ungeduldig, an die Spitze seiner Bozuks zu eilen, der französische Kolonel nochmals dem Kommandanten für die Infanterie-Attaque einige Ratschläge erteilend, und Kapitän Morton, die Zügel des Pferdes in der Hand, noch einige Worte mit den beiden Preußen wechselnd.

»Sie setzen sich unnütz einer Gefahr aus, Kapitän,« sagte der Arzt, »von der sie im besten Falle wenig Ruhm ernten können. Sie sollten Ihre Mission an des Paschas Seite bedenken und Ihr Leben nicht zwecklos aufs Spiel setzen.«

»Sie sind und bleiben ein alter Moralprediger, Doktor,« lachte der Offizier, »vordem am Spieltisch und jetzt wieder bei der Lust des Kampfes. Ich habe eine für die andere eintauscht, und es ist Zeit, daß ich die russischen Truppen kennen lerne. Das Korps, dem wir gegenüberstehen, trägt doch nicht etwa hellblaue Uniformen?«

»Wieso? Die Uniform ist grün.«

»Dann werden Sie mich unzweifelhaft unverletzt wiedersehen. Gefahr droht meinem Leben nur von einem hellblauen Feind. Hellblau und Weiß – Sie wissen, Doktor, ich bin ein Faulconbridge, die ihre Ahnungen haben, und ich habe auch von dem Familienvorzug profitiert.«

»Sie meinen die Erscheinung des Lords, Ihres Vaters, – was ist Ihnen begegnet?«

»Ein andermal davon, Doktor – der Pascha scheint fertig – leben Sie wohl, meine Herren!« Er schwang sich aufs Pferd. Zugleich wandte sich der Kommandant.

»Es ist Zeit, Effendis, – alle auf Eure Posten, in einer Stunde erwartet das Signal. Allah gebe uns Sieg.«

Das Gedränge der Davoneilenden verschlang den letzten Gruß. Jeder nahm seinen Posten ein, und nach wenig Minuten lag tiefes Schweigen auf den Werken.

Der Paschah nahm seinen Weg innerhalb der Wälle um die Stadt, um noch einmal die Wachsamkeit der Mannschaften zu prüfen, ehe er seinen Posten auf den Werken an der Südseite einnahm. Die Wälle der Westseite waren von den Kompagnien besetzt, die der Kommandant bei den geringen Hilfsmitteln der Verteidigung als eine Art Freikorps aus den Bewohnern Silistrias und dem Troß von Gesindel gebildet hatte, das mit und ohne Herrn, sowie aus Deserteuren, Abenteurern, Flüchtlingen und entlaufenen Sklaven bestand, sich in die Festung eingedrängt hatte, und das er wenigstens auf diese Art nutzbar zu machen suchte. Auch Jussuf, der ehemalige Kourier, gehörte hierzu und stand jetzt auf einem der äußersten Posten des Walles in der Nähe des Tores von Schumla.

Es war gegen zehn Uhr, der Mond noch nicht aufgegangen, und ein leichter Sprühregen fiel von Zeit zu Zeit. Zu seinen Füßen im Schatten des Walles lag es wie ein Ball zusammengerollt, jedem zufälligen Blick verborgen. Es war Mauro, der anatolische Knabe, gewöhnt an solche Unternehmungen und erst vor wenig Tagen mit Nicolas Grivas aus den blutigen Bergen Metzowos zurückgekehrt zu dem Mann, dem ihn der sterbende Oheim zugewiesen, zu Gregor Caraiskakis nach Varna.

»Allah möge mir vergeben, wenn ich Unrecht tue,« murmelte der Kurier vor sich hin, »aber es ist mein Schicksal, Mariam zu gehorchen. Was gehen mich diese Türken an – puf, – sie sind Hunde, ich bin ein Abessynier, und meine Väter waren Christen. Jawasch – wir wollen es tun! Steh' auf, Knabe, es wird Zeit für Dich!«

Der Junge sprang rasch auf die Füße.

»Ich bin fertig, Jussuf.«

»Hast Du den Weg gemerkt, den man Dir beschrieben?«

»Wie von der Hand zum Mund! Ich kreuze die Straße von Schumla eine Viertelstunde von der Festung und gehe dann immer nach Aufgang, bis ich an die Vorposten der Russen komme.«

»Du hast den Brief?«

»In den doppelten Sohlen meiner Pantoffeln und diese im Gürtel.«

»Und Du weißt, nach wem Du fragst?«

»Nach dem General selbst. Sorge nicht, ehe der Morgen graut, bin ich wieder an dieser Stelle.«

»Zwei Stunden nach Mitternacht stehe ich wieder auf diesem Posten. Allah oder der Gott der Christen geleite Dich. Du kannst doch schwimmen?«

»Ich tauche wie die Ratten.«

»Desto besser – beeile Dich.«

Er hatte dem Knaben eine starke Seidenschnur um den Leib geschlungen und hob ihn über die Brustwehr. Halb rollend glitt der Junge über den Wall bis zu der in den Graben sich senkenden Mauer. Dort angekommen, gab er seinem Helfershelfer ein leises Zeichen, auf welches dieser die Schnur losließ. Mauro zog sie an sich, suchte, mit den Händen tappend einen der vorspringenden Steine und befestigte hier sorgfältig das eine Ende des dünnen Strickes, da er ihm zur Rückkehr dienen sollte; dann ließ er sich leicht an ihm ins Wasser und durchschwamm die geringe Breite, bis er eine Stelle fand, auf der er an der anderen Seite mit Hilfe der Nägel und Zehen emporklimmen konnte, was ihm durch den hier hohen Wasserstand bedeutend erleichtert wurde. Ehe zehn Minuten vergangen waren, vernahm der Mohr das verabredete Zeichen, daß der gewandte kleine Spion in Sicherheit sei.


Der Sturm.

Der Kriegsrat, den der Fürst von Warschau mit den Führern des Belagerungskorps – es waren sechsundfünfzig Generale vor der Festung versammelt, – an diesem Nachmittag im Dorfe Kanara, dem Hauptquartier des Fürsten Gortschakoff, gehalten, war vorüber, und der Fürst machte sich eben bereit, nach Kalarasch zurückzukehren, wie er es alle Abende tat.

Vor der Tür der durch flüchtige Anbauten von Holz und Zelttuch vergrößerten Bauernbaracke standen die Generale, Adjutanten und höhere Offiziere in eifrigem Gespräch über die eben beratenen Gegenstände, die einzelnen Ansichten und Vorschläge nochmals erörternd, da eine Entscheidung noch nicht erfolgt war. Die beiden Fürsten und Führer der Armee dagegen waren noch in dem Gemach, in dem die Beratung stattgefunden hatte und an dessen Eingang von außen zwei Unteroffiziere Wache hielten.

Der greise Feldmarschall saß in der strammen Haltung, die er trotz seiner siebzig Jahre noch immer beobachtete, in einem Feldstuhl, und seine hohe, wenn auch magere, dünne Figur machte noch immer eine imposante Wirkung.

Ihm gegenüber stand der ihm jetzt untergebene Ober-Befehlshaber der Donau-Armee, Fürst Gortschakoff, die Hand auf die Tafel gestützt, das Auge nachdenkend auf den Feldherrn gerichtet.

»Sie sind zwanzig Jahre jünger als ich, Fürst,« sagte der greise Krieger, »und haben noch eine Zukunft vor sich. Gott allein weiß, welchen Ruhm Sie in diesem Kriege noch erwerben mögen. Mein Ruf, mein Besitz, ist die Vergangenheit, und ich möchte sie nicht gern aufs Spiel setzen in diesem Feldzuge, in dem wir an Händen und Füßen gefesselt sind. Die Franzosen und Engländer stehen bereits vor uns und haben das Meer; sie verstärken sich mit jedem Tage und bilden schon eine nicht zu verachtende Zahl. In unserem Rücken lauert unser alter Freund Österreich mit seiner perfiden Politik, selbst die Proklamation an die Bulgaren hat uns getäuscht und ich habe eine bittere Erfahrung mehr gemacht! Die griechischen Aufstände können uns nichts mehr nützen – meine Ansicht, die ich noch heute unserem Herrn, dem Kaiser, melden werde, ist, daß wir eilen müssen, uns mit Ehren aus diesen unglücklichen Fürstentümern zurückzuziehen.«

»Die Straße nach Schumla ist frei – der Muschir nicht im Stande, uns aufzuhalten.«

»Ich weiß es, Fürst – aber – der Fehler dieses Krieges von seinem Beginn! Wir haben nicht die Macht zur Disposition, die nötig wäre. Sie selbst wissen am besten, wie viele Russen den Pruth überschritten haben.«

»Hundertundsechszigtausend Mann!«

»Wir sind unter uns, Fürst – wir machen keine Berichte für die europäischen Zeitungen. Wie hoch rechnest Du unsere Verluste in diesen neun Monaten?«

Der Fürst beugte traurig das Haupt.

»Fünfundsechszigtausend, Durchlaucht! Kalafat hat uns allein Fünfzehntausend gekostet: die Krankheiten haben furchtbar gewütet.«

»Heiliger Andreas! mehr als der dritte Mann! – Wenn wir das Lüderssche Korps – und Lüders liegt noch immer krank in Kalarasch – und Chruleff hier zurücklassen, behielten wir noch nicht vierzigtausend Mann, um den Balkan zu forcieren. Es geht nicht.«

»Ich habe oft genug um Verstärkungen und Zufuhr gebeten, indeß – –«

»Der Kaiser täuscht sich über den Zustand der südlichen Provinzen, die Kommunikationsmittel sind erbärmlich.«

»General Kleinmichel hat seit Jahren Millionen darauf verwandt.«

Der greise Fürst sprang heftig empor, alle diplomatische Ruhe schien ihn mit einem Schlage verlassen zu haben.

»General Kleinmichel ist ein – – und der Teufel hole die Millionen, die in seinen Büchern stehen. Ich weiß, was ich von seinem System in Polen zu leiden habe und bin wahrlich nicht der Mann, der so geduldig zusieht. Was, Fürst, willst auch Du hier unter vier Augen den Hofmann spielen und diesem fluchwürdigen System des Truges noch den Mantel halten?« – Er ging hastig auf und ab in dem kleinen Gemach. – »Es geht nicht – ich sehe es deutlich und klar, die Mißstände sind zu groß und zu tief mit dem ganzen System und dem Volk verschmolzen, als daß selbst ein Riesenwille wie der des Kaisers sie in einem Menschenleben ausrotten könnte. Ich fürchte, ich fürchte, die Schuld der einzelnen könnte sich ein Mal schwer an dem Ganzen rächen. Doch wir müssen wenigstens zu Ende kommen mit diesem Nest, das sie eine Festung nennen. Was meinst Du zu Schilders Vorschlag?«

»Wir haben bereits vier Mal gestürmt,« sagte ausweichend der Fürst, »und an zweitausend Mann geopfert.«

»Ich weiß, ich weiß, Sie sind Artillerist, Durchlaucht, und vertrauen zu viel auf die Macht der Kanonen.«

Ein flüchtiges Lächeln des Stolzes zuckte über das Gesicht des berühmten Artillerie-Generals – er hoffte, noch ein mal Gelegenheit zu haben, die volle Gewaltigkeit seiner Waffe bekunden zu können.

»Lasse Dir sagen, Kamerad,« sprach der alte Fürst und legte vertraulich die Hand auf die Achsel seines jüngeren Gefährten, »es bereitet sich eine Revolte in dem Befestigungssystem vor und Du wenigstens wirst es noch erleben, daß der Stein ganz dem Spaten und der Erde weicht. Ich habe da eine vortreffliche Arbeit eines Deiner jüngeren Offiziere gelesen – Tottleben heißt er und ich empfehle Dir den Mann. Rußland hat schon eine Menge seiner Siege dem ruhigen Wirken der Hacke und des Spatens zu danken.«

»Die beiden Forts der Ostseite können sich nicht länger halten, die Batterien haben sie zusammengeschossen.«

»Ich habe mich bereits überzeugt – senden Sie morgen früh dem General Schilder zehntausend Mann Verstärkung und lassen Sie um Mittag, wenn das Geschütz seine Wirkung getan, stürmen. Wir müssen sie haben, aber sie werden uns wenig nützen. Die Stärke des Feindes liegt in der neuen Zitadelle, die sie nach dem Sultan nennen. Haben wir die Außenwerke, dann mag Schilder seinen Minenkrieg beginnen. Jetzt aber leben Sie wohl, Durchlaucht. Ich habe noch meine Berichte zu machen und will morgen zeitig wieder bei Ihnen sein.«

Der Fürst geleitete den greisen Feldherrn bis zum Wagen; die Adjutanten und Offiziere der Suite warfen sich auf die Pferde, und der Zug rasselte davon, der zweiten Pontonbrücke zu, die man eben weiter unterhalb der ersten vollendet hatte.

Während des Gesprächs der Führer hatte vor dem Quartier die Unterhaltung in den Gruppen fortgedauert, die von Offizieren jeder Charge und Waffe gebildet waren.

Eine solche stand in der Nähe einer alten halb verwitterten Kastanie. Um zwei durch ihre Uniformen als kommandierende Generale ausgezeichnete Männer hatte sich ein großer Kreis von Offizieren versammelt. Der Ältere von beiden, ein Mann von 68 bis 70 Jahren, nahm wenig Teil an dem Gespräch und ließ, an den Baum gelehnt, die Blicke über den Kreis hinausschweifen in die roten Abendwolken, welche die unter den Horizont sinkende Sonne hinter den Werken von Silistria gleich blutigen Streifen über den Himmel schoß. Es war eine hohe Greisengestalt, hager wie der Fürst von Warschau, aber keineswegs von dessen stattlichem Aussehen. Die reiche, goldbeladene Genie-Uniform hing unordentlich und aller militärischen Akkuratesse entbehrend um die dürren Glieder und über der ganzen Figur lag etwas Träumerisches, Unheimliches, als gehöre sie nicht dieser Welt an. Namentlich war es der Kopf und das Auge, was diesen unheimlichen, aber nicht würdelosen Eindruck machte: eine jener Adlerbildungen des haarlosen, nur an der Seite mit spärlichen weißen Locken versehenen Schädels, wie wir sie zuweilen so scharf ausgeprägt finden; überaus tief in den Höhlen liegende Augen, mit buschigen weißen Brauen darüber, so tief, daß es nur wie ein Feuerstrahl daraus hervorfunkelte und die Farbe der Pupille ganz unsichtbar blieb; unter der großen schnabelartig gebogenen Nase ein dichter, grauer Schnurrbart: – das war der General-Adjutant, Ingenieur-General Schilder, einer der berühmtesten und sowohl durch seine militärischen Talente als durch seine Seltsamkeiten bekanntesten Soldaten Rußlands, der nun zum zweiten Male vor der türkischen Festung lag.

General Chruleff an seiner Seite unterhielt sich eben mit dem General-Leutnant Selwan, dessen Division den linken Flügel der Aufstellung gegen Silistria bildete und die Trancheen gegen das Fort Abdul-Medjid führte. Der Stabschef des General-Leutnants, Oberst Graf Orloff, der Sohn des berühmten Freundes des Kaisers, stand dabei, mit einem Adjutanten des Fürsten und einem jungen Genie-Kapitän sprechend, und ab und zu mengten sich andere von den zahlreichen Offizieren in die Unterhaltung.

»Erinnern Sie sich unsers Wirtes an dem Abend in Bukarest, Kapitän, als wir vom Ball zu dem blutigen Tanz von Oltenitza geholt wurden?« fragte einer der Offiziere den Adjutanten.

»Des preußischen General-Konsuls von Meusebach?«

»Richtig, Baron; er besuchte uns heute Morgen während des Bombardements in den Schanzen und erkundigte sich auch nach Ihnen.«

»Was hat Herrn von Meusebach hierher geführt?«

»Ei, die Neugier! Er war bereits bei dem Bauen der ersten Brücke gegenwärtig, als der kleine Kotzebue fiel, und wollte sich von unseren Fortschritten überzeugen. Wir konnten ihm leider den erhofften Sturm nicht vorführen, denn es fehlten die Ordres, aber er hat eine recht hübsche Kanonade mit angesehen. Kennen Sie seinen Pudel Caro?«

»Ich habe nicht die Ehre,« sagte lächelnd der Adjutant, »doch habe ich von den Bären des Herrn von Meusebach gehört.«

»Ei, liebster Meyendorf, wahrhaftig, da verlieren Sie viel. Es ist ein ausgezeichnetes Vieh und apportiert wunderbar. Glauben Sie wohl, daß der Preuße, der wirklich ein Soldat zu sein verdient, denn er spazierte ganz ruhig im Feuer umher und ließ die Zigarre nicht ausgehen – die Paßkugeln durch seinen Hund apportieren ließ? Das Tier wußte die Bomben und Granaten dagegen ganz vortrefflich zu unterscheiden und hielt sich stets aus ihrem Bereich. Karamsin, der an der Aluta steht, lehrte ihn das Kunststück in Bukarest.«

»Herr von Karamsin,« sagte eine dumpfe Stimme neben ihnen, »wird keine Hunde mehr das Apportieren lehren.«

»Wie können Sie das behaupten, General?« warf der Graf ein.

»Oberst Karamsin,« sagte der alte Ingenieur-General – denn dieser war es, der die eigentümliche Prophezeihung in den Kreis geworfen, – »hat von den Türkenhunden heute genug bekommen. Israel ist ausgezogen den Philistern entgegen in den Streit. Die Philister aber hatten sich gelagert zu Aphek und rüsteten sich gegen Israel. Und der Streit teilte sich weit; und Israel ward von den Philistern geschlagen und sie schlugen in der Ordnung im Felde bei viertausend Mann.«

»Ei was, Kamerad,« sagte halblachend der General-Leutnant Selwan, »verderben Sie uns mit solchen düsteren Gedanken nicht die Laune. Der Kaiser Alexander, allen Respekt vor ihm, wird diesmal hoffentlich falsch berichtet sein.«

Der alte General wandte sich zu ihm und sah ihn starr an.

»Und es kam ein Gericht über die Spötter und sie wurden zu Schanden in ihrer Weisheit. Gehe heim, Mann, und bereite Dich vor, denn Du wirst eher vor Dem stehen, der Himmel und Erde gemacht hat, als einer von diesen allen – jenen dort ausgenommen.«

Der magere Finger des Generals zeigte vor sich hin, und mit einem unwillkürlichen Schauder wichen alle zur Seite, bis nur ein entfernterer Offizier, der Oberstleutnant eines Jäger-Bataillons, ihm gegenüberstand, der gar nicht wußte, wovon die Rede war und der deshalb näher hinzu trat.

»Herr Kamerad,« sagte der General-Leutnant mit einem gewissen Unwillen, »für wen von uns auch die Stunde kommen mag, sie wird uns als Männer und Soldaten finden, auch wenn wir nicht an Kartenschlagen und Wahrsagen glauben.«

Er verließ den Kreis.

Eine tiefe, unheimliche Stille hatte sich über diesen verbreitet. Jeder kannte die Seltsamkeiten des alten Generals und seine Visionen, die ihm namentlich in der Dämmerung und in den einsamen Stunden der Nacht das Erscheinen des verstorbenen Kaisers Alexander vormalten, obschon selten jemand darüber zu spotten wagte. –

Der Abend hatte sich auf die Flur gesenkt – nur von den Donauschanzen her donnerte in langen Pausen Schuß auf Schuß. In dem sinkenden Lichte stand die hohe, schmale Gestalt des Generals und sein geisterhaftes Auge starrte dem Fortgegangenen nach. Ringsum im Kreise herrschte auffallendes Schweigen, das um so schauerlicher abstach gegen die lachende, lärmende Unterhaltung der entfernteren Gruppen.

»Der Tor! Da geht er hin in seinem stolzen Mut,« sprach die hohle Stimme des Greises, »und schon ist er nichts als Staub und Asche. Als ob mein toter Freund und Herr sich irren könnte – sein Auge schaut das Unglück, das heraufzieht über das heilige Rußland. So wahr mir der Dreizehnte Gefahr und Tod bringt, so wahr wird jener Übermütige im Staube liegen von der Hand des Herrn, noch ehe die Sonne wieder die Gipfel der Berge vergoldet.«

»Kommen Sie, Freund,« sagte zutraulich und teilnehmend General Chruleff, »wir wollen aufbrechen, unser Weg bis Girlitza ist nicht der kürzeste.«

»Die Pferde, Herr General?«

Der alte Krieger, noch immer mit seiner Vision kämpfend, legte die welke Hand auf den Arm des jungen Obersten, der die Frage getan.

»Schau Dich um, Graf Orloff, damit Du die schöne Welt siehst und jene Wolken, auf denen der Gott Israels thront. Schau um Dich das Land, das er gemacht hat und die Himmel, die seiner Hände Werk! Wo ist Dein Auge, Graf, – die Höhle ist leer – Deine Hand ist voll Blut – wehe über Jerusalem!«

Die hohe, greise Gestalt schauderte unwillkürlich zusammen – auch der junge Graf – – da wirbelten die Trommeln und die Wache trat ins Gewehr, die beiden Oberstkommandierenden erschienen im Eingang des zeltartigen Quartiers.

»Guten Abend, Gortschakoff! Guten Abend, meine Herren, und gute Wache!«

Dahin rasselte die Equipage – nach allen Seiten zerstreuten sich die Mitglieder des Kriegsrats mit ihren Suiten.


Halb Elf! Der General-Leutnant Selwan hielt eben, von dem Chef seines Stabes begleitet, eine Nachtrunde durch die Trancheen und die Postenkette entlang, als ihm ein zerlumpter türkischer Knabe zugeführt wurde, Mauro, der junge griechische Spion.

»Oberst Daragan,« meldete der begleitende Unteroffizier, »zeigt an, daß der Bursche an dem äußersten Posten nach dem kommandierenden General gefragt hat und eine eilige Nachricht überbringt.«

»Wer bist Du?«

Der General wandte sich zu dem Knaben.

Mauro schüttelte den Kopf, er verstand kein Russisch.

»Spricht einer von Euch Türkisch oder Griechisch oder die Lingua franca? die Zeit ist kostbar!«

Graf Orloff redete ihn auf Italienisch an, das der Junge leidlich verstand.

»Bist Du der General?«

»Dieser Herr hier.«

»Dann laß uns im Geheimen reden, ich habe einen Brief für ihn.«

Die Offiziere und Soldaten traten zurück; im Schatten der Brustwehr hatte einer der Sappeure rasch eine Laterne angezündet und an die Lafette gehängt.

»Den Brief, den Brief, Bursche!«

Der Junge brachte ihn vorsichtig aus dem Schuh zum Vorschein.

»Man hat mich so lange an den Vorposten aufgehalten, Herr – die Zeit muß bald da sein, um elf Uhr greifen die Türken an.«

Der Graf ließ die Uhr repetieren, während der General-Leutnant den Brief durchflog.

»Drei Viertel auf Elf! Schorte wos mi! auf welcher Linie soll der Angriff erfolgen?«

Der General sprang empor.

»Lassen Sie, ich weiß genug! Wir können heute einen tüchtigen Schlag tun, Orloff, und vielleicht das ganze Nest nehmen! Ein Kosakenoffizier!«

Ein Kosak sprang vor.

»Dein Pferd?«

»Kaum hundert Schritte von hier, Väterchen!«

»Kuriere zu den Schanzen des Generals Schilder an der Donau – die Türken werden um elf Uhr einen starken Ausfall vom Babadagh-Tor machen. Eine Rakete von der Zitadelle das Signal. Pascholl! und schone das Pferd nicht – Pepotoff!«

Ein zweiter Offizier stand bereit.

»Du hast gehört –: fort mit gleicher Meldung nach Girlitza zu Schilder und Chruleff.«

»Wohl, Exzellenz!«

Der Galopp des Kosaken klang bereits über die Ebene.

»Orloff!«

»Exzellenz!«

»Welche Truppen haben wir im Umkreis einer Viertelstunde zur Disposition?«

»Nur das dritte Bataillon des poltawskischen Regiments, das dritte des alexopolskischen und das erste der samoszkischen Jäger.«

»Es genügt. Michalowitsch!«

»Zu Befehl!«

»Zu Oberst Daragan in die vorderste Linie! Er soll das Bataillon zum Sturm sammeln.«

Der Offizier schwang sich über die Brustwehr und sprang querfeldein.

»Du, Komajeff, zu Boussaye – das Bataillon muß in fünfzehn Minuten an der letzten Tranchee sein. Fort! Leutnant von Möller gleiche Ordre dem General-Major Golowaschewski!«

»Aber der Brief, Exzellenz, der Brief – er muß zum Fürsten!«

»Du hast Recht, Graf. Hier,« – er warf dem Knaben seine Börse zu – »sieh, wo Du bleibst, laß ihn zurück über unsere Posten, wenn er will. Fürst Braginski, schnell zu Pferde und nach Kanara zum Oberstkommandierenden diesen Brief und sage ihm, wenn der Ausfall sich bewahrheitet, was wir in zehn Minuten wissen werden, werde ich einen Sturm versuchen auf die südöstliche Front, die dann sicher nur schwach besetzt ist –«

»Exzellenz – bedenke –«

»Ich weiß, was Du sagen willst, Orloff, aber die Gelegenheit ist zu gut, um zu zaudern. Ein Armeekorps oder eine Kugel – beides ist zu gewinnen. Sorge, daß Popoff mit den anderen vier Bataillonen in Reserve nachrückt und nicht zu spät kommt. Ich gehe voran nach dem Platz – zehn Minuten nach dem Aufsteigen des Signals beginne ich den Sturm.«

Der General eilte davon; nach allen Seiten flogen die Boten und Ordonnanzen.


Gleich dem dämonischen Reiter, der in den Sagen der Völker durch Nacht und Sturm braust, flog die graue Gestalt des jungen Kosaken-Offiziers auf dem kleinen wilden Pferde mit der langen Mähne und den feurigen Augen über die Ebene, jedes Hindernis im rasenden Anlauf überspringend, über Stein und Sumpf, Graben und Buschwerk – nur ein Kosakenpferd konnte solchen Lauf unternehmen, nur ein Reiter der Steppe ihn ausführen! – Immer in gerader Linie fort auf die Trancheen zu, die sich in zweiter Linie bereits zwischen der Stadt und den Weinbergen weit ins Land über die Straße nach Rassowa und bis zu dem Punkt erstreckten, wo der Oberst Graf Oppermann, der die Arbeiten in den Trancheen leitete, den Bau der Redoute begonnen, von der man das Fort Abdul-Medjid im Rücken beschießen wollte.

Plötzlich tat das Pferd des Ordonnanzoffiziers einen furchtbaren Sturz, es war in eine der im hohen Grase angebrachten Schützengruben mit den Vorderbeinen gestürzt und hatte beide gebrochen. Der Offizier flog aus dem Sattel über den Kopf des Pferdes hinweg, raffte sich aber, nur wenige Augenblicke betäubt, wieder empor; das hier mannshohe Gras versperrte ihm die Rundsicht; der bedeckte Himmel gestattete ihm nicht einmal, sich nach den Sternen zu orientieren.

Da knisterte und zischte es links in der Ferne vor ihm in die Höhe – hoch in den dunklen Nachthimmel stieg von der Zitadelle der majestätische Strahlenschweif einer Rakete und streute auf dem Zenith seine glänzenden Leuchtkugeln in das Dunkel ringsum – auf einige Augenblicke Tageshelle verbreitend.

»Heiliger Iwan, schütze sie!« Der Lichtstrom hatte ihm die Lage der Forts gezeigt; wie ein gejagter Hirsch brach er sich Bahn zur Rechten durch das Gestrüpp und Gras.

Kaum zweihundert Schritt weit –

» Stai! – die Parole!«

Viktoria – er war an der Tranchee! – »Constantin und die Flotte! – Alarm, Alarm! Zu den Waffen – die Türken machen einen Ausfall!«

Ein Musketenschuß, dann eine Salve links in der Entfernung einer halben Werst krachte bereits die Antwort; in der nächsten Minute brach der Allahruf der Moslems durch die Luft und eine Kavallerie-Attaque donnerte quer über das Feld.

»Freigestanden! – Fertig! – Feuer! – Drauf mit dem Bajonnet!«

Die Säbel und Handjars der Irregulären blitzten zwischen den kleinen Posten.


In dunklen Massen, unter wütendem Allahruf brachen die Kolonnen des Nizam auf die vorderen Linien der Trancheen und die Batterien, im ersten ungeahnten Anlauf die Postenkette über den Haufen werfend und unaufhaltsam bis zur ersten Linie vordringend. Erst hier, an den Abhängen der Weinberge und unterm Schutz der russischen Batterien am Donau-Ufer gelang es dem Obersten Graf Oppermann, die Seinen zum Stehen zu bringen und die Truppen zu sammeln.

Die Verwirrung und der nächtliche Lärm waren furchtbar, das Rasseln der Trommeln, die Alarmsignale der Hörner auf allen Seiten, der Ruf der Offiziere, das Knattern der Flinten und Pistolenschüsse, das wilde Geschrei der Türken, dem nur das grimmige Zähneknirschen des Feindes, aber desto verzweifeltere Gegenwehr antwortete, das alles war sinnverwirrend und betäubend.

In der ersten Viertelstunde war der Kampf ein Knäuel gegenseitigen Ringens und Würgens, Faust gegen Faust, Mann an Mann, ja Zahn gegen Zahn, denn der Fallende faßte rasend mit seiner letzten, natürlichen Waffe oft noch den Gegner, und am Boden würgten sich die Feinde unter den Füßen der Kämpfenden. Siegesjubelnd gellte das Allah der Türken, und immer weiter und weiter drängten die Massen vor, während im Rücken bereits die Geschütze der erstürmten Schanzen vernagelt, die Laufgräben von hundert rüstigen Händen verschüttet wurden und die Hyänen der Schlachtfelder, die regellosen Marodeurs und die privilegierten, trotz aller Befehle des Muschirs von den Paschas geschützten und geduldeten Kopfabschneider der Tabors oder Kompagnieen ihr greuliches Geschäft an den Leichen und Verwundeten der Russen begannen.

Dazu strömte Zug auf Zug aus dem geöffneten Tor, zur Unterstützung von dem vorsichtigen Mussa-Pascha beordert, und stürzte sich in den Kampf.

Kiriki-Pascha mit den berittenen Bozuks hatte sich nach rechts geworfen, um die Verbindung mit dem Zentrum zu durchbrechen, und dem ungestümen Angriff war es im ersten Augenblick gelungen. Kavallerie kämpfte hier mit russischer Infanterie und mit den Artilleristen, die mit Ladestöcken und Hebebäumen sich wütend verteidigten und sich einzeln an den Kanonen erschlagen ließen, ehe sie von dem anvertrauten Gute wichen. Mitten in den Reihen der Bozuks befand sich der englische Garde-Kapitän, das wilde Gemetzel betrachtend und nur hin und wieder den am Faustgelenk hängenden Säbel zur Abwehr schwingend. Den Jägern, die diesen Teil der Trancheen hielten, war es jetzt gelungen, an einer eben erst angelegten Batterie Posto zu fassen unter dem Kommando eines jungen Artillerie-Offiziers, des Leutnants Potemkin, und zwei Geschütze gegen den Feind zu richten. Während sich an der Kehle der Batterie die orloffskischen Jäger wütend gegen die Reiter schlugen, krachte der Kartätschenhagel in den dichten Haufen der Feinde, Reiter und Pferde zerreißend und zu Boden schmetternd, die ersten Kanonenschüsse, die von russischer Seite in diesem furchtbaren Kampfe fielen.

Rat – tat – rat – tat – tat! Der kurze Schlag des Sturmmarsches schien den Höllenlärm des Kampfes zu durchbrechen und mit dem grollenden Donner des Himmels zu wetteifern, den die immer höher heraufziehenden Gewitterwolken, schon mit Sonnenuntergang drohend, jetzt mit dem Leuchten der Blitze durch die Nacht warfen. Gleich einer Strahlengarbe fuhr es jetzt von den Donauschanzen hinauf in die dunklen Wolkenschichten, eine Garbe großer Raketen, die Gegend ringsum auf eine Minute weithin mit Tageshelle überglänzend.

In dem hellen Schein sah man das Anrücken der Kolonnen, das zweite Jäger-Bataillon vom Regiment »Fürst von Warschau« unter Anführung seines tapferen Obersten Kloot von Jürgenburg eilte seinen bedrängten Kameraden zu Hilfe, ihm zur Seite im Sturmmarsch dicht schon an den wilden türkischen Reitern General-Major Juseroff mit dem zweiten Bataillon des Jeletzkischen Regiments.

Das »Hurrah!« der Russen übertönte den Donner, von Kanara her gellte das »Kuli!« des Tamanskischen Kosaken-Regiments, das der Oberfeldherr zu Hilfe sandte, von den Weinbergen herab drängten in dunklen Massen mit den im Blitzstrahl blitzenden Bajonnetten die Infanterie-Kolonnen General Chruleffs.

Das rollende Hurrah mischte sich mit dem wütenden Allahruf, mit dem Donner des Himmels – der zuckende Blitz – das blendende Licht der Raketen und Leuchtfeuer zeigte den grimmigen Gegnern das Weiße im Auge, glänzte auf dem blinkenden Stahl, spiegelte sich blutrot im strömenden Blut. Dazu schien der Himmel seine Schleusen zu öffnen und, vom sich erhebenden Wirbelwind gepeitscht, stürzte ein dichter Gewitterregen herab.

Rat – tat – rat – tat – tat! Neue Regimenter der Russen im Sturmschritt herbei – durch die engen Wege der auslaufenden Donausümpfe von Girlitza schmetterten die Trompeten der Prinz-Friedrich-Karl-Husaren heran zum Angriff.

Hussein-Aga gab das Zeichen zum Rückzug; über die Kämpfenden hinweg zischten bereits die Paßkugeln des Kapitäns Grach aus dem Tschengell-Labiassi in die russische Stellung, und die Müftierih-Batterie donnerte mit schweren Kanonen.

Kirikis Reiterei hatte längst den Rückzug begonnen. Schritt um Schritt schlug man sich jetzt mit dem drängenden Feinde; Muchlis-Pascha am Kommando – Kiriki durch den Leib geschossen, vom Arm des englischen Kapitäns unterstützt, während seine Bozuks sich Bahn hieben, nahte man schon den Forts!

»Hier ist der Hekim-Baschi – Allah sei gepriesen und sein Prophet!«

»Goddam! Das ist ein Glück, daß Sie hier sind, Doktor. Ich fürchte, der Pascha ist schwer verwundet!«

Er hob mit Hilfe einiger Männer den Verletzten vom Pferde, das selbst von einem Bajonnetstich blutete.

»Es ist in diesem Getümmel wenig zu machen,« sagte Welland, den der Eifer aus dem Schutz der Forts und den Truppen nachgetrieben hatte. »Wir wollen ihn forttragen; faßt an, Bursche! Wie steht die Schlacht, Kapitän?«

» Hell and damnation! Selbst in Indien hab' ich ein solches Blutbad nicht gesehen, und dazu Finsternis und Regen statt des versprochenen Mondscheins. Wir müssen eilen, uns zurückzuziehen, Doktor, die Russen gewinnen jetzt das Feld.«

Schon war es zu spät. Das Hurrah und Kuli der Kosaken brauste heran wie ein Bergstrom, trennte sie von den Ihren und drängte sie fort – wen kümmerte jetzt der verwundete Pascha unter den Hufen der Pferde und den Füßen der Menschen, wo jeder genug an sich zu denken hatte. Kapitän Morton, wieder zu Pferde, an dessen Mähne sich der Arzt hielt, focht für das Leben wie jeder der Reiter, hin und her drängte der Stoß der Massen.

»Herauf, Doktor, hinter mir auf die Kruppe oder Sie werden erdrückt!«

Welland schwang sich mit Turnergeschicklichkeit empor – in dem Augenblick warfen Blitze und Raketen neues Licht, und er sah die zum Stoß erhobene Lanze eines Kosaken und dicht neben sich einen feindlichen Offizier.

»Heiliger Gott! Doktor Welland! Sie hier?«

Der Säbel des russischen Offiziers schlug die Lanze des Steppenreiters in die Höhe.

»Kapitän Meyendorf!«

»Fort, fort mit Ihnen! Gott schütze Sie! da hinaus!«

Der englische Kapitän, mit zwei Gegnern beschäftigt, hatte sich kaum umgesehen, doch die französisch gesprochenen Worte gehört und benutzte den Rat, das Pferd zur Seite werfend – der Choc herbeieilender türkischer Infanterie machte Luft, nach einigen Augenblicken hatte sich die türkische Kavallerie herausgehauen, und während sie selbst nun von Beiram-Pascha geführt, gegen den Feind ansetzte, flüchteten die Doppelreiter in den Schutz der Forts und gewannen den Eingang, indeß die Kartätschen über ihre Köpfe hinweg in die anstürmenden Kolonnen der Russen hagelten. Der Rückzug war blutig, fürchterlich, so blutig und verderblich wie der Überfall selbst, und nur die Nacht und das wohlgezielte Feuer des Kapitäns Grach bewahrte die tapferen Truppen vor der Rache der Gegner.

Kaum wußten die Führer auf den Bastionen am Babadagh-Tor, daß im selben Augenblick eine zweite Schlacht auf der Südseite der Stadt geschlagen wurde. Bei dem Toben des Kampfes vermochte keiner den entfernten Kanonendonner zu unterscheiden.

Dennoch wütete dort der Kampf fast eben so blutig. Wir haben bereits gesehen, daß der auf der linken Flanke kommandierende General-Leutnant Selwan – der Kommandeur der 8. Infanterie-Division – ohne die Befehle des Ober-Kommandierenden zu erwarten, beschlossen hatte, den Ausfall zu benutzen, um das gegenüberliegende und die Südseite deckende Fort Arab-Tabia zu stürmen, indem er der Ansicht war, daß die Türken in diesem Augenblick dort nur eine schwache Besatzung zurückgelassen haben würden.

Im Dunkel der den Mond verbergenden aufsteigenden Gewitterwolken reihten sich die Bataillone an dem äußeren Rand der Laufgräben mit möglichster Stille: drei Kompagnien des dritten Bataillons des poltowskischen Infanterie-Regiments, das dritte Bataillon des samoszkischen Jäger-Regiments, begleitet von einer Sappeur-Kompagnie und der Mannschaft einer Feldbatterie.

Es war wenige Minuten vor 11 Uhr, als noch eine Anzahl in der Nähe biwakierender oder zufällig benachrichtigter Offiziere herbeikam und sich dem General zur Disposition stellte, darunter der Oberst Kostanda von der reitenden Artillerie der Leibgarde.

Aller Augen hafteten auf den dunklen Massen des Abdul-Medjid-Forts, von dem, wie sie wußten, das Signal kommen mußte. Links am Horizont zeichneten sich die schwarzen Linien des Arab Tabia ab – kein Geräusch – kein Laut von drüben her, Nacht und Schweigen bis auf das melancholisch herübertönende La illah Allah il Allah! einer Schildwache als Gruß an die Ronde und als Zeichen ihrer Wachsamkeit. Auch diesseits alles Schweigen, nur leises Flüstern in den Reihen, die Offiziere auf den Degen gestützt, die Soldaten das Gewehr im Arm – die Sappeure vorn mit Faschinen, Äxten und Leitern.

Plötzlich – mit dem Minutenzeiger auf Elf schoß der feurige Strahl der Rakete vom Fort in die Höhe.

Also Wahrheit – die Botschaft des jungen Spions hatte nicht gelogen, und manches Herz, das noch immer gezweifelt, wappnete sich fester bei der Gewißheit der nun bevorstehenden blutigen Stunde, jedes Ohr lauschte – Totenstille ringsum.

Der Oberst Kostanda hatte sich auf den Boden geworfen, um besser zu hören – zehn Minuten darauf ließ sich in der weiten Entfernung undeutlich der Schall einer Gewehrsalve vernehmen.

»Sie sind aneinander, Exzellenz! Gott lasse die Unseren bereit sein!«

»Pascholl! Bei Todesstrafe kein Schuß ohne Befehl!«

Schweigend – ein gespenstisches Ungeheuer, Tod und Verderben in seinen Ringen – drängten die Reihen vorwärts. – Um den Horizont zuckte das Wetterleuchten und mit den dunklen Menschenwolken zusammen zogen die Wolken des Himmels gigantisch gegen einander zur Feuerschlacht der Elemente.

Jetzt waren die Tirailleurs bis auf 200 Schritt an die äußere Circumvallation heran, die hinter einem – bei der höheren Lage des Forts nach dem Bergplateau zu – trotz des hohen Wasserstandes der Donau kaum drei Fuß tief mit Wasser gefüllten Graben lag. Keine Ahnung noch schien die Moslems vor der drohenden Gefahr zu warnen.

Der grelle Schein des Blitzes enthüllte jetzt plötzlich die Bataillone der Russen.

»Mashallah, die Moskows! Zu den Waffen! zu den Waffen!«

»Sturmschritt! – Vorwärts!« Die russischen Trommeln schlugen den kurzen Appell, und ehe die Bataillone heran kamen, waren die Glacis vor dem Graben durch die Bajonette der Tirailleurs von den türkischen Wachen geräumt, die Kolonnen, die Sappeurs voran, an der Brücke und dem Graben, und ihr Hurrah donnerte herausfordernd durch die Lüfte. Die Faschinen flogen in das Wasser, die Leute sprangen und stürzten die Böschungen hinunter und begannen mit der den russischen Soldaten eigenen Halsstarrigkeit und Gleichgiltigkeit gegen den Tod die steilen Wände des Walles emporzuklimmen. Das Heckenfeuer der Jäger bestrich kräftig die Wälle, und der Zuruf, die Todesverachtung der Offiziere ermunterte die Leute zu riesenhaften Anstrengungen.

Aber der Angriff scheiterte an der Wachsamkeit der Artillerie und dem Umstande, daß Mussa-Pascha es für rätlich gehalten hatte, wie in einer Ahnung des Kommenden und in der Absicht, während des Ausfalles die Kräfte des linken russischen Flügels durch eine Eröffnung des Feuers zu beschäftigen, die, seine Südseite und die Straße von Schumla deckenden Forts, Arab-Tabia und Yania, mit einer starken Besatzung zu versehen, und daß sich – eben jener Demonstration wegen – die fremden Offiziere, die nicht am Ausfall Teil genommen, in den Forts befanden. Der Pascha war, nachdem er das Zeichen zum Ausfall gegeben, mit seiner Umgebung noch in der Nähe der Batterien, die die neue Citadelle, Abdul-Medjid, mit Silistria verbinden, als der Angriff des General-Leutnants Selwan begann, und umsichtig und entschlossen, warf er alle disponiblen Kräfte dahin, während die Citadelle ein Flankenfeuer gegen den russischen Angriff eröffnete.

In diesem Augenblick war es, als das Gewitter mit Sturm und Regen in seiner vollen Heftigkeit ausbrach. Ein Flammengürtel schien plötzlich rings um den Wall der Arab-Tabia sich zu öffnen und sprühte seinen Kartätschenhagel gegen die Stürmenden. Der Donner des Geschützes rollte mit dem des Himmels, mit der Flut der Wolken goß sich der eiserne Strom über die Feinde.

Der französische Kolonel, Kapitän Depuis, auch der Baronet Maubridge, der sich der Begleitung des Paschas angeschlossen, befanden sich unter den türkischen Offizieren auf dem Fort und warfen sich in den Kampf. Die Tabors (Abteilungen) der in der Stadt gebildeten Freischaren, die unberittenen ägyptischen Baschi-Bozuks hielten standhaft die Wälle.

Dennoch gelang es dem samoszkischen Jäger-Bataillon wirklich, auf dem großen Wall Fuß zu fassen und es entspann sich hier ein wütender Kampf. Mann gegen Mann – die Jäger ihre Hirschfänger auf die Büchsen gesteckt, die Bozuks und Freiwilligen mit Säbel, Pistol und Handjar oder mit den Flintenkolben. In der Nähe dieses Getümmels kämpfte am Wall auch der englische Baronet mit einem Diener gegen das Andrängen der Stürmenden. Der Diener des Briten, den er erst in Schumla angenommen, eine wilde, breitschulterige, verwegene Gestalt in Arnautentracht, lud und schoß kaltblütig seine Pistolen auf die heraufklimmenden Russen ab. In seiner Nachbarschaft, durch den Kampf dahin gedrängt, focht Jussuf, der schwarze Kurier, schon vor einer Stunde abgelöst von seinem Posten.

In diesem Moment gelang es dem Obersten Grafen Orloff, auch hier mit einer Abteilung der alexopolskischen Infanteristen den Wall zu erklimmen, und er griff mit dem Säbel in der Hand die Verteidiger an. Ein Pistolenschuß des vorhin erwähnten Dieners fuhr ihm von der Seite quer über das Gesicht und ein grobes Schrotkorn durchbohrte sein Auge, dennoch kämpfte der Tapfere weiter. Aber auch der Arnaut hatte keine Zeit mehr, das lange Pistol am Riemen über den Rücken zu werfen und sich der blanken Waffe zu bedienen, denn zwei Infanteristen stürzten über ihn her, der Kolbenschlag des einen warf ihn blutend zu Boden und schon sprang der zweite gegen ihn und hob das Bajonnet zum Todesstoß.

»Sukiensyn! (Hundssohn!) Geh' zu Deinem falschen Propheten!«

Ein kräftiger Yataganhieb traf Waffe und Arm des Russen, daß beide machtlos niederfielen, ein zweiter spaltete ihm das Gesicht bis tief in den Hals hinein, und über dem zu Boden Gestreckten stand der Mohr, den Kameraden gegen den anderen Feind kräftig verteidigend und schützend; wenige Hiebe und Stöße, und, obschon aus einer leichten Wunde blutend, die das streifende Bajonett ihm gerissen, hatte doch seine größere Gewandtheit auch diesen Gegner gefällt.

Der Kampf hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Jussuf hob den Gefallenen empor.

»Diavolo! – Das ging hart her – Dank, Kamerad!«

Das Auge des Mohren fiel bei dem Klange dieser Stimme auf das Gesicht des Geretteten, und die Feuer des Himmels, wie die Blitze aus Menschenhänden, die fortwährend das Dunkel erhellten, ließen ihn, trotz der Blutbefleckung, das Gesicht des anderen klar und deutlich erkennen. Es schien wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder der großen, kräftigen Gestalt zu zucken, und die Muskeln krampften sich zusammen, wie zum gewaltigen Sprunge, seine Augen blitzten wie die des Tigers, der sich auf seine Beute werfen will. Aber nur einen Moment lang – dann schien ein gewaltiger Entschluß jede Fiber zu beherrschen, ein Entschluß, der sich in den leise zwischen den Zähnen zischenden Worten kundgab: »Von meiner Hand – allein; erst soll er mich kennen!« und den vom gewaltigen Kolbenstoß noch Halbbetäubten, der nichts von dem grimmigen Triumphe des ihm ganz fremden Helfers gemerkt, umfassend, zog er ihn schützend aus dem gefährlichen Gewühl.

Die kaum errungenen Vorteile der Russen waren gegen den Andrang der von Mussa-Pascha herbeigerufenen Verstärkungen nicht zu halten; von einem Handjarstoß durchbohrt, stürzte der tapfere Führer der samoszkischen Jäger, Oberst-Leutnant Gladysch, – kaum vermochten seine Krieger den Sterbenden den siegreichen Verteidigern zu entreißen; in den Graben zurückgestürzt, von Kartätschen überschüttet, war der Kampf der Russen nur ein Kampf der Ehre und der Verzweiflung, und ihr allzukühner Führer, der selbst bis an den Graben vorgedrungen, konnte sich der Überzeugung des Mißglückens nicht länger verschließen.

»Popoff läßt uns im Stich,« sagte er zu dem neben ihm stehenden General-Major Wesselinski, »geben Sie den Befehl zum Rückzug. Ich selbst bin verloren, ich – – –«

Er ließ den Säbel fallen, hob die Arme in die Höhe und drehte sich um sich selbst, ehe er schwer zu Boden stürzte – eine Kartätschenkugel hatte ihm den Leib aufgerissen und das Kriegsgericht erspart.

»Um Gotteswillen, Exzellenz – ermannen Sie sich – ich höre den Sturmmarsch unserer Reserven – Popoff rückt an –«

»Zu spät – der Rückzug – – Gott sei mir gnädig!«

Ehe sie den Körper aufgehoben, war der tapfere Offizier bereits eine Leiche und die unheimliche Prophezeiung des Generals Schilder erfüllt, wie in betreff der anderen.

Kühn und frisch rollte der Trommelwirbel des Sturmmarsches durch Wetter und Kampf, unter welchem General-Major Popoff mit vier Bataillonen als Reserve von der rechten Seite jetzt herbeistürmte und sich todesmutig gegen das Fort warf. Aber die Besatzung desselben war jetzt dermaßen verstärkt, daß sie den heldenmütigsten Anstrengungen trotzen konnte. Der General-Major Fürst Urusoff, mit dem ersten Bataillon des alexopolskischen Jäger-Regiments, stürzte sich in den Graben und eilte den Kameraden zum Beistand – – der Führer selbst einer der ersten, die den Wall erstiegen.

»Oberst Wassilkowitsch, vor mit Deinem Bataillon, wir müssen diese Kanonen zum Schweigen bringen.«

Das graugrüne Auge des Offiziers funkelte, indem er den Degen hob, als Zeichen zum Angriff. Der galante, alte Roué aus dem Salon der Fürstin Lieven zu Paris, die kriechende, im Verborgenen ihr Gift in die jungen Herzen ergießende Schlange, der reiche, an jede Üppigkeit des Lebens gewöhnte Graf war verschwunden und dem grimmig-tapfern Offizier gewichen, der seine Bataillone, wetteifernd mit dem jungen Fürsten, zum Sturme führte. Die ersten Reihen füllten, von den Nachdrängenden achtlos gegen das billige Menschenleben in die Tiefe gestürzt, den Graben, über den Damm von Leichen erklommen die Stürmenden den Wall, breite Lücken rissen die Kartätschen in ihre Reihen aber neu und neu füllten sich die blutigen Breschen und das siegreiche Hurrah der Russen donnerte auf der Höhe der Embrasüren.

Aber die Augenblicke des Sieges konnten nur kurz sein – von rechts und links schmetterten die wohlbedienten Geschütze der Besatzung das Verderben in die russischen Glieder, und in der Front drangen mit jubelndem Triumph die Moslems auf die Haufen, die die Brustwehr erklommen, ein französischer Offizier kühn und ermunternd voran.

Das minutenlange, fast tageshelle Licht zeigte klar und deutlich die kriegerische Gestalt, das edle, feurige Antlitz des Vicomte de Méricourt.

»Feuer auf sie! Feuer auf den Offizier! Hundert Rubel dem, der ihn trifft!«

Die Gewehrsalve krachte, – aber unverletzt und glorreich stand unter den pfeifenden Kugeln der brave Zuaven-Offizier und stürmte auf die Gegner.

»Ha – Graf Wassilkowitsch! Heran zu mir!«

Die Säbelklingen kreuzten sich, – Schritt vor Schritt wichen die Russen, bis an den Rand der Embrasüren, jeden Zoll breit des gewonnenen Bodens nur mit ihren Leichen, mit ihrem Blute den grimmigen Gegnern zurückverkaufend.

Drüben vom Glacis her ließen die Hörner in dringender Weise den Befehl zum Rückzug ertönen, auf den anderen Stellen hatten die Russen bereits den Wall geräumt und klommen in wilder Flucht aus dem Graben empor, von den Kartätschen der Artillerie haufenweise zu Boden geschmettert!

»Ergeben Sie sich, Graf Wassilkowitsch, Sie sind verloren!«

»Der Hölle eher, als dem Todfeinde!«

Ein mit aller Kraft des erbittertsten Hasses geführter Säbelhieb galt dem Haupte des Vicomte; aber die geschickte Hand desselben parierte ihn, sodaß die Klinge des Russen am Griff zersprang, dann war der kühne, in den Kämpfen Algeriens mit allen Künsten der Wehr vertraute Zuavenführer an ihm und hatte ihn an Hals und Lenden gepackt und im nächsten Augenblick über die Brustwehr hinunter in den Graben gestürzt. Wem es nicht gelang, eilig zu fliehen, der fiel ohne Barmherzigkeit auf dem Fleck, auf dem er gekämpft; die Flucht der Russen war allgemein, blutig, verderblich, – der voreilig und ohne die nötige Unterstützung unternommene Sturm glänzend abgeschlagen. Nicht das Armee-Korps, sondern den Tod hatte er dem trotzigen Führer gebracht.

Der Verlust der Russen in dieser Episode des blutigen Kampfes war überaus schwer; sie selbst gaben ihn auf 250 Tote und 39 verwundete Offiziere, und 548 Soldaten an; in Wahrheit betrug er weit über tausend Mann. Unter den Verwundeten befanden sich – außer dem schwer am Auge und in der Schulter getroffenen Obersten Grafen Orloff – der Kommandeur der Reserven selbst, Generalmajor Popoff und Oberst Kostanda. Tot am Wall von Arab-Tabia lagen, wie der greise Geisterseher es verkündet, – General-Leutnant Selwan und der Führer der tapferen Jäger, Oberst-Leutnant Gladysch.

Diese Nacht kostete die Russen über zweitausend Mann. Auch der Verlust der Türken war bedeutend.


Auf und unter der Erde.

Auf einem Rohr-Divan mit schlechten Polstern lag Doktor Welland, ausruhend von den Strapazen und Mühen der Nacht, die er – es war mehrere Tage nach dem blutigen Ausfall – an der Seite der Kranken und Verwundeten zugebracht.

Nursah, der schwarze Knabe, schaute durch den gehobenen Vorhang herein, ob sein Gebieter wach sei, und als er sich davon überzeugt, kam er näher und legte demütig einen klein zusammengefalteten und schwarz versiegelten Brief vor ihm nieder, der statt der Adresse den bloßen Namen des Arztes trug.

»Woher der Brief?«

»Jussuf fand ihn am Morgen auf der Schwelle der Tür.«

Der Doktor betrachtete das Blatt, das offenbar keine dienstliche Mitteilung enthielt, von allen Seiten, wie man wohl zu tun pflegt bei Briefen, von denen man nicht weiß woher? obschon das Öffnen uns jedes Nachdenken ersparen würde, und sagte:

»Ich sah Deinen Bruder gestern in Gesellschaft eines Menschen, der jetzt der Diener des Engländers zu sein scheint, der mich neulich mit seinem Landsmann besuchte. Ich müßte mich sehr irren oder wir haben beide den Mann schon in Widdin gesehen bei Handlungen, die keineswegs für seinen Charakter sprechen. Warne Deinen Bruder.«

»Er hat dem Italiener bei dem Sturm auf Arab-Tabia das Leben gerettet und Signor Lucia beweist ihm seitdem große Dankbarkeit.«

»In dem Auge des Mannes liegt Tücke und Verbrechen – ich wiederhole es, warne Deinen Bruder.«

Ein leichtes, kaum bemerkbares Lächeln flog über das dunkle Gesicht des jungen Dieners, als er sich verbeugte und zurückzog, während Welland den Brief erbrach.

Der Brief war von dem Kapitän Meyendorf geschrieben und lautete:

»Bei unserer Begegnung im Sturm der Schlacht erst erfuhr ich mit Gewißheit, daß mein Befreier aus der türkischen Gefangenschaft zu Widdin in Silistria weilt. Nur wenige Augenblicke blieben mir heute, da ich wieder im Stabe des Fürsten bin und die Folgen des Ausfalles noch alle Kräfte in Anspruch nehmen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihr Schuldner bin. Erhöhen Sie diese Verpflichtung, indem Sie mir weiteres mitteilen und jede Nachricht geben über den Gegenstand, der uns beide verbindet, – es ist für mich von Wert, das geringste zu erfahren. Wie schwierig auch der Verkehr sein mag, ich werde Mittel finden, ihn zu unterhalten, und wenn Ihnen eine Person den Namen nennt, der unsere Losung ist, können Sie ihr sicher jede Botschaft auftragen. Leben Sie wohl und möge der Himmel Sie schützen. Ihr

Alexander von Meyendorf

Der Arzt las den Brief, mit tiefer Rührung des traurigen Schicksals jenes wackern, edlen Kriegers gedenkend, der auf der Seite der Feinde stand und für den er doch so viel Teilnahme empfunden. Er steckte das Blatt zu sich und beschloß, noch genauere Nachforschungen anzustellen, wie es in seine Wohnung gekommen, da es offenbar bewies, daß die Russen ihre Spione in der belagerten Festung hielten.

Der Eintritt der Kapitäne Grach und Morton, wiederum begleitet von Sir Maubridge, machte seinem Nachdenken ein Ende.

»Wir haben uns nur wenige Augenblicke seit der Nacht des Ausfalls und dem großen Sturm gesehen, den die Russen am Tage darauf unternahmen. Indem wir dem Feind die zerstörten Vorwerke am Babadagh-Tor überlassen haben, können wir unsere Mittel konzentrieren, und auch ich habe dadurch mehr Zeit gewonnen. Wie geht's mit Ihren Verwundeten und Kranken, Doktor?«

»Es ist mir lieb, Sie zu sehen,« entgegnete der Arzt, »und ich bitte um Ihre Unterstützung beim Pascha. Ich bin mit meinem Kollegen darüber einig, daß für die Rettung unser aller ein Waffenstillstand von einigen Stunden unbedingt notwendig ist, wenn nicht der Typhus, ja noch Schlimmeres, alles verschlingen soll.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Kapitän.

»Sie selbst müssen bereits die Verpestung der Luft durch die zahllosen Leichen von Tieren und Menschen empfunden haben, die um die Forts von den zwei letzten Stürmen und den täglichen kleinen Gefechten her liegen geblieben sind. Ich habe alles Mögliche getan, um im Innern der Stadt die sofortige Beerdigung aller unserer Leichen durchzusetzen; aber Sie kennen zur Genüge die Fahrlässigkeit und den Schmutz der Moslems; die Kadaver der Tiere bleiben unbeachtet auf den Straßen. Hier haben wir nicht die Hilfe der Hunde wie in Konstantinopel. Überdies geschieht auch das Begraben der menschlichen Leichen äußerst sorglos, und die großen Gruben, die zu ihrer Aufnahme dienen, werden nur mit einer dünnen Schicht von Erde bedeckt. Die Hitze ist im Steigen, und es entwickeln sich auch in der Festung Miasmen, die, mit dem Pesthauch von außen vereint, so tötlich wirken müssen, als alle feindlichen Batterien. Die Cholera ist bereits stark im Zunehmen!«

»Goddam!« meinte der englische Offizier, »es ist eine verteufelte Aussicht, wie ein Hund zu sterben.«

»Aber die Russen,« warf der Baronet ein, »haben denselben Nachteil wie wir.«

»Darauf eben gründe ich meinen Vorschlag. Unsere Kanonen verhindern sie, ihre zurückgelassenen Leichen zu begraben. Ein vorgeschlagener Waffenstillstand wird als eine Noblesse unsererseits angesehen werden und ihnen sehr willkommen sein. Wir aber ziehen den besten Vorteil davon.«

Der Kapitän hatte aufmerksam und nachdenkend zugehört.

»Sie haben Recht, Doktor, und wir werden Ihren Vorschlag ernstlich bei dem Pascha unterstützen. Es wird am besten sein, wenn Sie ihn sofort und in unserer Gesellschaft anbringen. Mussa hat mir außerdem einen Auftrag an Sie gegeben. Ich glaube, der Knabe, der uns am Sonntag die letzten Nachrichten und Depeschen aus Schumla in die Festung schmuggelte, befindet sich bei Ihnen.«

»So ist es.«

»Master Welland,« sagte spöttisch der Baronet, »scheint eine ganze orientalische Familie in seiner Begleitung zu haben.«

»Ich besitze einen einzigen Diener, Sir,« entgegnete der Arzt ruhig, »der hier seinen Bruder gefunden hat. Über beide bin ich bereit, meinen Vorgesetzten jede Auskunft zu geben. Was den Knaben betrifft, so ist er das Vermächtnis eines treuen, aber mißleiteten Mannes an einen teuern Freund. Daher kenne ich ihn.«

»Etwa des Räubers Jan Katarchi für Herrn Caraiskakis?«

Kapitän Grach unterbrach ihn unwillig.

»Was geht das uns an, Sir! Wollen Sie hier im Orient den Stammbaum eines jeden prüfen, ehe Sie mit ihm verkehren, so möchten Sie seltsame Geschichten zu hören bekommen. Hier ist die Frage, ob Sie den Burschen für geschickt genug halten zur Ausführung eines Auftrages und ob er ihn übernehmen will?«

»Das Erstere beantwortet sein Hiersein, das Zweite ist leicht zu entscheiden, indem wir ihn rufen.«

»Nehmen Sie ihn mit, Doktor, und begleiten Sie uns zum Pascha. Es handelt sich darum, Briefe nach Schumla zu bringen und Nachricht von dort zu holen über die beabsichtigten Bewegungen zu unserm Ersatz, damit wir vielleicht eine unterstützende Diversion aus der Festung machen können.«

Mauro wurde gerufen, und der Arzt begleitete mit ihm die Offiziere, um den Kommandanten aufzusuchen.

Sie fanden ihn auf der nämlichen, zu einer Art Paradeplatz der Truppen dienenden Stelle, auf der wir ihm zuerst begegnet sind. Das Bombardement der Stadt hatte den ganzen Vormittag gedauert und Mussa-Pascha diesen auf den Wällen zugebracht, mit Anordnungen und Ermunterungen beschäftigt. Hussein-Aga und die beiden französischen Offiziere waren wieder in seiner Begleitung. Der Knabe wurde sogleich dem Pascha vorgestellt.

»Bismillah,« sagte Mussa, »der Bursche sieht aus, als trüge er die ganze Welt in dem Winkel seines Auges. Getraust Du Dich, sicher nach Schumla zu kommen, ohne den Moskows in die Hände zu fallen, wenn ich Dir zwanzig goldene Ghazis verspreche und eben so viel bei der Rückkehr?«

»Ich bin ein Kind, Hoheit – die Moskows achten nicht auf mich.«

»Ai dschänum! das ist eben der Grund, weshalb wir Dich wählen. Wie heißest Du, Knabe?«

»Mauro.«

»Du bist im Glauben an den heiligen Koran erzogen? Wer sind Deine Eltern?«

»Möge Dein Schatten lang sein, Hoheit, und der Ruhm Deiner Tapferkeit über dem des Sirdars. Ich bin ein Grieche von Geburt, habe aber seit meiner Jugend keine Eltern mehr und diene den Müssilmännern.«

Der Pascha fühlte sich durch das Kompliment zu sehr geschmeichelt, um Mißtrauen zu zeigen.

»Sprich zu einem Griechen von Gold, und er verkauft seine Seele! Dieser Knabe wird zuverlässig sein, er hat bereits seine Probe abgelegt, und es ist gefährlich, einen anderen Boten zu schicken. Geh' mit Selim, meinem Divan-Effendi, er wird Dir die Briefe einhändigen und die Hälfte des Geldes, denn es ist notwendig, daß Du zur Stelle und ohne weiter mit jemand in der Stadt zu verkehren, die Wälle verlässest. Es fehlt den Moskows leider nicht an Spionen in Silistria, und unsere besten Unternehmungen werden oft vereitelt. Selim wird Dich dem Offizier des südlichen Turmes Yania übergeben und Allah möge Deine Augen, Deine Ohren und Deine Füße stärken, damit Du den Feinden glücklich entkommst.«

Der Knabe ward auf seinen Wink fortgeführt, nachdem er demütig den Rock des Paschas berührt und die Hand des Arztes geküßt hatte. Kapitän Grach machte hierauf den Kommandanten mit den schweren Besorgnissen der europäischen Ärzte und dem Vorschlag des Doktor Welland bekannt. Alle in der Umgebung des Paschas befindlichen europäischen Offiziere stimmten sofort den erhobenen Bedenken bei und erkannten die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Abhilfe an. Nur Hussein-Aga machte einige Einwendungen.

»Bei meiner Seele,« sagte er, »diese Dschaurs werden sich einbilden, wenn sie die weiße Fahne auf unseren Wällen sehen, wir dächten an Übergabe.«

»Desto bitterer werden sie sich getäuscht finden,« widerlegte ihn der Kapitän. »Ich dächte, die Russen hätten die Kraft Deines Armes und die Unbezwinglichkeit Deines Mutes bei dem letzten Ausfall genügend kennen gelernt, tapferer Aga, um zur Genüge zu wissen, was sie zu hoffen haben.«

»Du hast Recht, Jüs-Baschi (Hauptmann) Grach,« entschied der Pascha, »und Dein Rat ist immer weise gewesen, wie Dein Mut groß. Ich habe noch heute Gutes von Dir geschrieben an den Sirdar. Wir wollen die Fahne des Waffenstillstandes aufstecken auf dem Turm der Zitadelle und einen Unterhändler senden in das Lager der Moskows. Wen rätst Du zu wählen?«

Der Pascha hatte, während die Zwischenreden unter den türkischen Militärs und die Instruktion des kleinen Spions in türkischer Sprache geführt worden, bei der die europäischen Offiziere interessierenden Frage sich wieder des Französischen bedient und war daher allen verständlich gewesen. Der Baronet, welcher der ganzen Verhandlung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt war, nahm die Gelegenheit wahr, eine Bemerkung zu machen, die er offenbar schon lange anzubringen wünschte.

»Vielleicht würde Doktor Welland selbst der beste Bote sein, da er, wie ich von Kapitän Morton vernommen, besondere Freunde unter den russischen Offizieren hat.«

Aller Augen wandten sich bei der unerwarteten, einer Anklage ähnlichen Bemerkung auf den deutschen Arzt, der in der Tat, von der Bosheit des Gegners überrascht, einige Augenblicke verlegen und unsicher blieb. Das Gefühl, wie nötig es sei, keinen unwürdigen Verdacht aufkommen zu lassen, gab ihm indes die Fassung zurück, und er erwiderte, ruhig und fest dem Angreifer ins Auge schauend:

»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen, Sir, und was überhaupt das Reden über meine Person und meine Angelegenheiten bedeuten soll?«

»Der Baronet,« sagte scharf Kapitän Morton, »scheint auf die zufällige Äußerung von mir hinzudeuten, daß in dem Augenblick, als Sie, mein Freund, bei dem Ausfall am Sonntag uns so aufopfernd ins Kampfgewühl folgten und wir in großer Gefahr waren, von einer Abteilung der Kosaken niedergemacht oder gefangen zu werden, ein russischer Offizier unser beider Entkommen ermöglichte, weil er in Ihnen wahrscheinlich einen Bekannten früherer Zeit wiedersah, ebenso wie wir selbst uns schon im früheren Leben getroffen haben.«

»So ist es, Sir, und ich glaube nicht nötig zu haben, mich darüber zu verantworten.«

Der Zuaven-Colonel hatte mit sichtlichem Unwillen der Wendung des Gespräches zugehört.

»Das ist eine Sache, die sich von selbst versteht und die einzig wir Offiziere zu beurteilen haben,« fügte er mit unverhehlter Verachtung gegen den versteckten Ankläger bei und indem er dem Arzt die Hand reichte. »Ich habe Gelegenheit gehabt, diesen Herrn, trotz meiner kurzen Anwesenheit, in seiner Pflichterfüllung zu beobachten, und möchte wünschen, daß die türkische und die verbündete Armee viele Männer von seiner Ehrenhaftigkeit in ihren Reihen besitze. Ich selbst zähle viele liebe Bekannte in der feindlichen Armee und werde mit Vergnügen auch auf dem Schlachtfelde die Erinnerung früherer Zeiten anerkennen.«

Doktor Welland verbeugte sich erfreut gegen ihn.

»Ich danke Ihnen, mein Herr; Sie haben mir nur Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

»Der Vorschlag war überhaupt unpassend,« bemerkte Kapitän Grach, während sich der Baronet mit einer hochmütig höhnischen Miene, als verachte er die Kritik seines Benehmens, zurückzog, »da zu der Sendung nur ein Offizier verwendet werden kann. Die Sache ist jedoch dringend, Hoheit, und Du wirst gut tun, sofort die nötigen Befehle zu geben.«

»Lasse die Fahne ausstecken, und Du, Hussein-Aga, sende zwei Offiziere ab an die Posten der Moskows. Mashallah! Wir möchten gern, wie es tapferen Soldaten ziemt, im Kampf gegen unsere Feinde und auf den siegreich behaupteten Wällen sterben, nicht auf dem Krankenlager an der scheußlichen Pest.«

Der Ruf des Muezzins vom Minaret: »La Illa illa Allah, we Muhammed Resul Allah!« unterbrach seine Worte. Der streng seine religiösen Pflichten ausübende Pascha wandte sich sofort gegen die Moschee.

»Der Azam ruft uns zum Assar« (das dritte oder Nachmittags-Gebet), »laßt uns das Heiligtum betreten und Allah und dem Propheten danken, daß sie uns bisher den Sieg gegeben. Möge Azraël, der Engel des Todes uns …«

Der Tapfere sprach die Worte nicht aus; durch die Luft über ihnen knisterte und zischte es, und es krachte nieder mit gewaltigem Schlage tief in den Erdboden.

»Eine Bombe! Nieder mit allen!«

Kapitän Grach rief's, indem er sich zu Boden warf und alle – bis auf den ziemlich starken und etwas unbeholfenen Pascha – seinem Beispiel folgten oder wenigstens zur Seite sprangen. Fast im selben Augenblick, als die Bombe den Boden berührte, platzte sie auch schon und die Eisenstücke sprühten rings umher. Doktor Welland war als der Erste wieder empor, und sein Auge fiel sogleich auf den unglücklichen Kommandanten. Der Brave stand aufrecht; aber er wankte wie ein Mann, der einen harten Stoß erhalten, und seine beiden Hände preßten sich auf die linke Seite und den Leib, während zwischen den Fingern durch ein Strom dunklen Blutes hervorquoll. Der Arzt sprang auf ihn zu und umfaßte ihn; im Augenblick waren auch Kapitän Grach und die anderen Offiziere ihm zur Seite.

»Um Gottes Willen, Hoheit – bist Du schwer getroffen?«

Der Pascha machte einige Versuche zu sprechen – Blut quoll mit jedem Atemzuge über seine Lippen.

»Es ist mein Kismet! – Der Tag des Todes ist gekommen – mögen Munkir und Nekir (die Folterengel, die den Begrabenen befragen) gnädig mit mir verfahren! – Freunde, gebt mir die Kiblah! (Richtung nach Mekka).«

Mehrere der türkischen Offiziere hoben ihn empor und trugen ihn in die Vorhalle der Moschee, wo sie ihn an einen Pfeiler lehnten, mit dem Antlitz gen Mekka. Der Arzt war eifrig um ihn beschäftigt und untersuchte die schreckliche Wunde.

»Ist Hoffnung vorhanden?«

Der Kapitän fragte es auf Deutsch – Doktor Welland antwortete in derselben, dem Sterbenden unverständlichen Sprache.

»Keine,« sagte er hastig, »in wenigen Augenblicken steht er vor dem allmächtigen Richter. Das Eisenstück hat die Lebensarterien getroffen und steckt noch in seiner Seite. Jeder Versuch würde ihm nur unnützen Schmerz machen.«

Alle standen um den sterbenden Kommandanten bestürzt und stumm, und das mit Blitzesschnelle sich verbreitende Gerücht füllte schnell die Halle der Moschee und den Platz vor derselben mit Menschen an. Der Verwundete atmete mühsam, aber er blieb bei voller Besinnung.

»Der Padischah hat mir diese Stadt anvertraut, aber Gott bestimmt es anders. Hussein-Aga, Dir übergebe ich den Schlüssel des Tores, verteidige ihn wie Deinen Bart und achte auf den Rat dieser Franken. Möge der Prophet Eurer Tapferkeit den Sieg geben.«

Der Arzt, der neben ihm kniete und seinen Puls mit den Fingern bewachte, winkte mit den Augen den Umstehenden. Hussein-Aga legte seinen Tisbeh oder Rosenkranz ihm zwischen die Hände, und einige Augenblicke hörte man zwischen dem entfernten Donner der Kanonen und dem Krachen der einschlagenden Kugeln keinen Laut, als die röchelnden, immer kürzer werdenden Atemzüge mit jenem schauerlichen Gurgeln in der Kehle, das bei Bluterstickung den Tod verkündet. Dann quoll ein schwarzer Strom dieses Blutes aus dem Mund, die kräftige Gestalt des Paschas zuckte zusammen und streckte sich – der tapfere Krieger hatte geendet.

»Er ist zum Barzakh (nach dem Koran der Zustand zwischen dem Tode und der Auferstehung) eingegangen,« sagte Hussein-Aga ernst, »die Mizam (die Wage, auf der die Taten der Guten und Bösen gewogen werden) des Barmherzigen wird seine Taten wägen und ihm das Dschennet (das Paradies) des siebten Himmels öffnen. Bei Eblis, dem finstern Geiste, wir wollen seinen Schatten rächen mit dem Tode von tausend Moskows!«

»Möge der Sieg Dich begleiten, Bey, Du bist unser Kommandant nach dem Willen des Toten, und der Sirdar wird sicher Deine Tapferkeit ehren.«

Die türkischen Offiziere machten dem neuen Befehlshaber ihren demütigen Gruß. – – – – – – – – –


Den russischen Generalen war der Antrag eines Waffenstillstandes zur Beerdigung der Leichen nur willkommen gewesen, da ihre Truppen noch mehr als die Türken von dem Miasma litten und die Krankheiten bereits in ihren Reihen wüteten. Die weiße Fahne, die auf den Bastionen Silistrias wehte, ließ die Nachricht von der Übergabe der Festung die Runde durch Europa machen; aber schon am andern Tage – am 3. Juni – nachdem beide Teile ihre Toten begraben hatten und auch der Kommandant von Silistria seine Ruhestätte unter den so tapfer verteidigten Wällen gefunden, entbrannte der Kampf aufs neue und mit verdoppelter Energie. Die Russen unternahmen an diesem Tage einen allgemeinen Sturm und griffen die Forts an, während ihre Flottille die Stadt bombardierte. Der Kampf war mörderisch, aber ohne Erfolg für die Angreifer. Gegen Abend war es diesen zwar gelungen, eine Mine unter der ersten Batterie von Arab-Tabia herzustellen; aber die Kapitäne Depuis und Grach hatten rechtzeitig eine Gegenmine geschlagen, und diese sprengte an 400 Mann der Angriffs-Kolonne in die Luft, als diese auf das Sprengen einer Bresche harrten. In der durch die unerwartete Explosion entstandenen Verwirrung machten die Türken einen Ausfall und zerstörten die nahe liegenden Schanzen.

Von diesem Tage an ruhten kurze Zeit die Sturmangriffe, und es begann der furchtbare Krieg unter der Erde, jener Krieg mit der Bussole und dem Spaten, der Krieg der lebendig Begrabenen – der Bergleute des Blutes und des Todes.

Das war der unheimliche, gespenstische Kampf, zu dem man wie zum Orkus aus dem hellen Sonnenlicht hinabstieg, und in dem General Schilder, der Seher der Zukunft, ein Meister war.

Die Russen drängten Tag um Tag, Stunde um Stunde ihre Laufgräben vorwärts gegen die schwer bedrohte Stadt, und in der Heimlichkeit, in dem Schutz der aufgeworfenen Erde wühlte der General gleich dem Maulwurf seine Gänge gegen die Wälle und Bastionen.

Es war ein Glück für die Festung, daß der neue, noch jungkräftige und kecke Kommandant doch die Manen seines Vorgängers insoweit achtete, daß er die Talente und Kenntnisse der europäischen Ratgeber ehrte. Während er den Krieg der Ausfälle und offenen Verteidigungen leitete, überließ er den beiden Genie-Offizieren die unbestrittene Leitung der Befestigungsrenovationen und der Gegenarbeiten. Trotz der doppelten Tätigkeit der Verteidiger konnte man sich dennoch nicht verhehlen, daß die Fortschritte der Belagerung, wenn auch langsam, doch jeden Tag bemerklicher wurden. Es war bereits mehrfach zwischen den Minirern und Gegenminirern zum erbitterten unterirdischen Gefecht gekommen. Am 8. hatten die Russen eine Sappe aus Schanzkörben, mit Baumwolle gefüllt, bereits bis an den Rand der südöstlichen Contreescarpe getrieben, hinter welcher sich die Minirer mit dem Ausgraben zweier Schachte beschäftigten. Die Führer entwickelten dabei eine unablässige Tätigkeit. Was der fortwährende Kartätschen- und Granatenhagel der Türken bei Tage niederwarf, zeigte sich am andern Morgen wieder aufgebaut.

Am 7. und 8. hatten kleine Ausfälle und Gefechte mit wechselndem Glück stattgefunden. Der 9. Juni war ein blutiger Tag gewesen. Nachdem des Morgens eine Mine gegen zwei der Wasserforts gesprengt worden, versuchten die Russen die Breschen zu nehmen, wurden aber mit bedeutendem Verlust von den neuen Hilfstruppen, denen es, 3000 Mann stark unter Rifat-Pascha, am Tage nach Mussas Tode gelungen war, von Rasgrad her sich in die Festung zu werfen, zurückgeschlagen. Zu gleicher Zeit machte Paskewitsch selbst mit einer bedeutenden Truppenzahl – 31 Bataillonen Infanterie, 32 Schwadronen Kavallerie und 8 Sotnien Kosaken mit 12 Feldbatterien – eine große Rekognoszierung um alle Befestigungen bis zu dem Flecken Kalopetra auf der südöstlichen Seite. Hier stieß die Kolonne auf türkische Kavallerie aus der Festung und zwang dieselbe, sich in das Fort Abdul-Medschid zurückzuziehen, das nunmehr ein heftiges Feuer eröffnete. Eine matte Kugel, die zu den Füßen des Pferdes des Fürsten von Warschau niederfiel und es zu Boden riß, fügte dem greisen Führer selbst eine Contusion an der rechten Hüfte zu. Der Feldmarschall achtete jedoch nicht darauf und blieb bis zum Ende der Kanonade zu Pferde.

In Kalarasch, dem Hauptquartier des Fürsten, lag der greise Statthalter in dem früheren Quarantänegebäude, das zu seinem Quartier eingerichtet worden und mit Stabs- und Ordonnanz-Offizieren überfüllt war, auf einem freistehenden Feldbett in halb sitzender Stellung, neben sich einen niedern Tisch mit Papieren bedeckt. Das Gemach war ziemlich ärmlich ausstaffiert, aber glänzend erhellt, indem große Kerzen auf silbernen Leuchtern überall umherstanden. Der Leibarzt hatte soeben die Verletzung des Fürsten untersucht, der schon bei seiner Rückkehr ins Lager bedeutende Schmerzen gefühlt und nur mit Anstrengung nach Kalarasch gelangt war, und ihm erklärt, daß sie zwar nicht gefährlich sei, ihn aber mehrere Wochen hindern werde, zu Pferde zu steigen. Während der Arzt fortfuhr, lindernde und frische Umschläge auf die verletzte Stelle zu legen, hatte der Fürst sich bereits zu wichtigen Geschäften gewendet. Es befanden sich außer dem Arzt und dem Stabschef, General-Major Wranken, der eben auf die Nachricht der Verletzung eingetroffene Fürst Gortschakoff und General-Leutnant Chruleff mit einem dritten Offizier im Gemach, der, am Ruhebett stehend, dem Fürsten eine Depesche überreicht hatte, mit deren Durchsicht dieser eben beschäftigt war. So sehr der alte Krieger und Staatsmann auch Herr seiner Mienen sein mochte, war es doch allen Anwesenden sichtlich, daß der Inhalt des Briefes, dessen grünes Kuvert und Siegel ein Handschreiben des Kaisers erwiesen, von großer Wichtigkeit sein mußte und einen tiefen Eindruck auf den Fürsten machte. Er faltete endlich das Papier langsam zusammen, steckte es wieder in das Kuvert und schien einige Augenblicke in schweren Gedanken verloren. Dann – sich ihnen entziehend – wandte er sich zuerst zu dem Arzt:

»Kann ich Deiner Hilfe auf eine Stunde entbehren, lieber Tschetukin?«

»Ich fürchte, nein, Durchlaucht – muß ich Sie jetzt verlassen, so kann ich für die Folgen nicht stehen – die Kontusion ist vernachlässigt und die Geschwulst bereits eingetreten.«

»Und wenn ich Dich gewähren lasse, in welcher Zeit bin ich fähig, das Lager zu verlassen?«

»Ich verlange nur für morgen Ruhe, Durchlaucht – zu Wagen sollen dann Ihre Bewegungen unbehindert sein.«

»Gut, Staatsrat! Ich kenne Dich und weiß, daß ich mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen kann. Kümmere Dich nicht um uns und fahre fort mit Deinen Mitteln, da die Erhaltung dieses alten Körpers in den nächsten Wochen vielleicht unserm Herrn, dem Kaiser, noch einigermaßen nützlich sein mag. Wir sind sämtlich hier treue und bewährte Söhne des heiligen Rußland, und ich kann daher ungescheut sprechen, wie es die ernsten und schweren Umstände erfordern. Nimm Platz, Schebesky, und Du, Wranken, wir haben eine ernste und lange Beratung vor uns. Ihre Ankunft, Fürst, hat mir erspart, Sie rufen zu lassen. Der Tag hat wichtige Nachrichten gebracht.«

»Auch ich habe dergleichen, Durchlaucht.«

»Gut. Einer nach dem andern. Hast Du vielleicht auch Nachricht von dem Gesandten aus Wien?«

»Mein Bruder benachrichtigt mich von dem Ausgang der Zusammenkunft des Kaisers von Oesterreich und des Königs von Preußen in Tetschen.«

»Verdammnis über die österreichische Dankbarkeit, – ich wollte, wir hätten Ungarn den Rebellen gelassen. – Es ist, wie ich gefürchtet, Österreich wird in die Donau-Fürstentümer einrücken und hat sich den Rücken gedeckt durch das Garantie-Kartell mit Preußen.«

»Es sind Differenzen entstanden zwischen den beiden Herrschern über die Auslegung des Kartells.«

»Ich weiß, ich weiß; aber der Nutzen ist nur passiv. Preußen hält das Wiener Gelüst in Schranken, aber nur, wenn wir auf unserem eigenen Gebiete stehen. Österreich kann nicht offen operieren, aber sein Druck zwingt uns nicht zurück. Dennoch ist das nicht das schlimmste. Ich habe heute wichtige Berichte über die Zusammenkunft in Varna erhalten.«

»Die Rapporte unserer Agenten über den Kriegsrat am 19. liegen seit acht Tagen vor.«

»Das ist es eben, Fürst, was uns getäuscht hat. Die Hallunken taugen nichts; Marschall Arnaud und Lord Raglan wissen sehr wohl, daß sie von unseren Spionen umgeben sind, und was mit den Türken beraten wird, in der kürzesten Zeit uns bekannt ist. Ich sage Dir, Fürst, Deine Agenten in Schumla sind Dummköpfe und haben nur erfahren, was alle Welt weiß. Wie lautet doch der Bericht?«

Fürst Gortschakoff, einigermaßen pikiert, nahm aus seinem Taschenbuche ein Papier und entfaltete es:

»Hier ist die Abschrift der Chiffern: ›Der Zusammenkunft am 19. in Varna wohnten der Marschall St. Arnaud, Lord Raglan, Omer-Pascha, die Admirale Dundas und Hamelin und der Kriegsminister Riza-Pascha bei. Oberst Tignir machte den Dolmetsch, auch Aguiah-Pascha, der neu ernannte Pforten-Kommissar im Lager des Muschir, war zugezogen. Das Resultat war, daß Herrn von St.-Arnaud die Leitung der Kriegsoperationen sämtlicher am Kriegsschauplatz aufgestellter Streitkräfte übertragen worden ist. Der Muschir erstattete über die Lage Silistrias Bericht, und der Ersatz wurde beschlossen. Die beiden Generale sind vollständig auf die Pläne Omers eingegangen und die Dampfboote mit den Ordres nach Skutari und Gallipoli abgegangen, um einen Aufbruch in Masse anzuordnen.‹ Die Berichte gingen uns allerdings spät zu, da die unglückliche Verhaftung unserer Hauptagenten in Konstantinopel einige Verwirrung in die Sache gebracht hat.«

»Sind das alle Ihre Nachrichten, Fürst?«

»Bis auf die neuen Meldungen über die Ersatzoperationen, die ich eben empfangen und später vorzutragen die Ehre haben werde, ja.«

Der alte Feldherr lächelte.

»Sei nicht ärgerlich, Kamerad, Deine Nachrichten sind gut, aber ich habe wichtigere. Nach der Rückkehr der Generale von Varna hat eine zweite Beratung, aber diesmal ohne die Türken, auf dem französischen Flaggenschiff stattgefunden, und die Expedition gegen Sebastopol ist beschlossen worden.«

Ein leises Lächeln, gedämpft durch die Ehrfurcht vor dem greisen Haupte des Fürsten-Statthalters ging durch den kleinen Kreis der Generale, doch blieb es jenem nicht unbemerkt.

»Du hast Unrecht, Fürst, und glaubst, weil Du ein Artillerist bist, daß es eine Unmöglichkeit sei, die furchtbaren Batterien von Sebastopol zu überwinden. Ich bin kein Seemann und weiß nicht, was Schiffe gegen Granitwälle ausrichten können, aber ich sage Dir, ich wünschte, Fürst Mentschikoff verließe sich nicht allzusehr auf sie; ich kenne diese Franzosen! Sie werden irgend ein Auskunftsmittel finden, ihren Zweck zu erreichen.«

»Darf ich näheres von den Nachrichten Eurer Durchlaucht erfahren?« fragte einlenkend der Zweitkommandierende.

»Der Versuch gegen Sebastopol ist ausdrücklich beschlossen, aber man wird mindestens zwei Monate mit den Vorbereitungen zubringen. Diese sollen möglichst geheim betrieben und die Truppen in Varna unter dem Anschein konzentriert werden, zum Entsatz von Silistria zu dienen. Die Aufgabe bleibt aber dem Muschir selbst überlassen. Die Übertragung des Gesamt-Oberbefehls an Herrn von Saint-Arnaud ist eine leere Komödie und Omer-Pascha nicht sehr gesonnen, sich unterzuordnen. Er trifft umfassende Anstalten zum Entsatz durch seine Truppen.«

»Das letztere stimmt mit meinen Nachrichten überein. Sie können Ihrem Berichterstatter vollkommen trauen, Durchlaucht?«

»Er hält sich bereits zwei Monate in Varna auf und ist mir von Bodinianoff in Konstantinopel empfohlen. Er ist ein Bruder des Führers der Griechen im Epirus, Caraiskakis …«

»Ich kenne den Namen und habe bereits selbst Beweise seines Eifers für die russische Sache erhalten. Ich glaube, daß auch unsere Verbindungen in Silistria unter seinem Einfluß stehen.«

»Der Knabe,« berichtete der Fürst, »der am 28. die Nachricht von dem Ausfall an Selwan und später die Depeschen Mussa-Paschas an den Muschir uns zur Durchsicht brachte, ist aus Schumla diesen Abend zurückgekehrt.«

»Man scheint blindes Vertrauen in ihn zu setzen und nichts von der Eröffnung der Depeschen gemerkt zu haben. Hier sind die neuen.«

Er legte mehrere Briefe auf den Tisch. Die Siegel waren durch das gewöhnliche Mittel heißer Dämpfe nach Abformung des Petschafts in Staniol geöffnet.

»Der Inhalt, Fürst?«

»Hier ist der Auszug. Der Muschir bestätigt Hussein-Bey im Kommando, setzt ihm jedoch Rifaat-Pascha als älteren Offizier zur Seite. Ein vollständiger Plan des Entsatzes durch eine kombinierte Truppenbewegung und einen Ausfall der Garnison ist für den 13. und 14. bestimmt. Said-Pascha in Rustschuk hat 30 000 Mann zum Aufbruch bereit, und Iskender-Bey von Widdin, der den Angriff von dieser Seite leiten soll, ist bereits über Nikopolis eingetroffen. Die Vorposten des Korps stehen bei Baba und Turkosimich. Zugleich wird Giurgewo angegriffen werden. Im Hafen von Rustschuk liegen zwei türkische Dampfschiffe und achtzig Boote bereit, um die Expedition zu unterstützen. Der Muschir selbst wird mit Mehemed-Pascha von Schumla her in zwei Kolonnen eine Diversion unternehmen. Sein rechter Flügel lehnt sich an die Anhöhe von Taibahn-Dereh, – seine linke Flanke an die Dristra, das Zentrum steht bereits bei Crekli an der Straße von Schumla nach Silistria.«

»Wer führt die Vorhut, und wie stark ist der Muschir?« unterbrach der Feldmarschall.

»Der Renegat Czaikowski mit den sogenannten türkischen Kosaken. Die Depesche gibt die Stärke des Südkorps auf 70 000 Mann an, also mit Said-Pascha an Hunderttausend. Am 13. soll das gemeinsame Vorrücken beginnen. Am 14. werden die Korps in der Nähe von Silistria stehen und am Morgen des 15. angreifen, indem Hussein-Pascha zugleich an drei Stellen an den Wasserforts, aus dem Babadagh-Tor und Abdul-Medjid einen Ausfall machen soll.«

Das Gespräch, das bisher nur allein zwischen den beiden Führern gepflogen worden, verstummte jetzt ganz, – der greise Feldmarschall war in ernste Betrachtungen versunken, und seine Hand faßte unwillkürlich zwei Mal nach dem Brief des Kaisers.

»Wie stark sind wir in diesem Augenblicke hier?«

»Mit Pawloff nur 64 000 Mann. Wir haben vor Silistria bereits über 6000 gelassen.«

»Wir müssen zu einem Entschluß kommen. Rekapitulieren wir die Sachlage. Auf der einen Seite Bessarabien und die Krim über kurz oder lang bedroht; unsere Stellung in der großen Walachei nicht länger haltbar – kaum noch in der Moldau; – Silistria fast noch ebenso fest, wie beim Beginn der Belagerung, und ein starkes Entsatzkorps in der Nähe. Die Truppen kaum genügend, den Gegnern die Spitze zu bieten, an einen Übergang über den Balkan nicht mehr zu denken und keinerlei Vorteil im längeren Beharren auf dieser Seite der Donau. Wägen Sie selbst ab, meine Herren.«

»Was würde man in Petersburg dazu sagen!«

»Schebesky kommt von dort. Er kann uns den besten Bescheid geben.«

Der angerufene General zuckte die Achseln.

»Ich glaube, man hält dort die Donau-Besetzung jetzt selbst für einen Fehler. Man hätte am Bosporus stehen oder innerhalb der russischen Grenzen bleiben müssen.«

»Sehr wahr. Aber wir dürfen Silistria nicht aufgeben ohne des Kaisers ausdrücklichen Befehl,« sagte ziemlich heftig General Chruleff.

Der Feldmarschall nickte ihm zu und zog dann langsam den Brief seines kaiserlichen Herrn aus dem Kuvert.

»Wollen Sie des Kaisers eigene Worte hören?«

Alle schwiegen ehrfurchtsvoll.

»›Hast Du, Fürst Iwan Fedorowitsch,‹« las der Feldmarschall, »›bei Empfang dieses Briefes die Festung Silistria genommen, so wollen wir Gott und den Heiligen für diesen Sieg Rußlands danken. Weht der Halbmond noch auf ihren Mauern, so will ich Dir überlassen, was Du zu tun für das Beste hältst. Bedenke jedoch, daß Rußlands Ehre nur in Rußland selbst liegt. Ich wiederhole die Vollmacht, die ich Dir bei Übernahme des Kommandos erteilt habe.‹«

Der Fürst-Statthalter schwieg; General Chruleff war der einzige, der eine rasche Antwort hatte:

»Wir können unmöglich von hier gehen, ohne wenigstens noch einen Schlag versucht zu haben.«

Der alte Fürst lächelte.

»Nein, tapferer Chruleff,« sagte er freundlich, »das sollst Du auch nicht. Ich sehe, daß wir einig sind über die Notwendigkeit des Rückzuges, doch darf er natürlich nicht übereilt werden. Es gilt zunächst, die Kombination des Muschirs zu vereiteln.«

»Wir haben die Depeschen in unserer Hand.«

»Ganz recht, aber ich halte es für zweckmäßiger und weiser, sie richtig in die Hand des neuen Kommandanten gelangen zu lassen, um nicht sein Mißtrauen wachzurufen. Es handelt sich bloß darum, Zwiespalt und Verwirrung in ihre Beschlüsse zu bringen.«

»Man könnte das Datum um zehn Tage ändern,« sagte General Schebesky kaltblütig.

Der Fürst von Warschau lächelte.

»Das war meine Meinung; im Kriege ist jede List erlaubt. Sobald dies mit der nötigen Vorsicht geschehen, womöglich noch diese Nacht, Fürst, lasse den Boten nach Silistria laufen, triff aber Anstalten, daß wir genau von allen Vorgängen in der Stadt unterrichtet bleiben. Ich bin entschlossen, wie ich in Warschau beabsichtigte, mein Hauptquartier bis zum Eintreffen weiterer Befehle des Kaisers nach Jassy zu verlegen. Es ist der geeignetste Punkt – 32 Meilen von Silistria, 20 von Kamienecz und 22 von Odessa – wir übersehen da das Feld. Du, Fürst Gortschakoff, übernimmst von diesem Augenblicke an wieder den Oberbefehl über die moldau-walachischen Truppen. Lasse morgen das Bombardement gegen die Festung von den Inselbatterien wieder beginnen, fange aber an, Dein anderes schweres Geschütz auf das linke Ufer zu bringen. Schilder muß so weit fertig sein, daß am 13. ein Versuch gegen die Citadelle gemacht werden kann. Beordere Pawloff, von Tuturkai aus, sich dem Zuzug von Rustschuk entgegenzuwerfen, indeß Chruleff den Renegaten Mehemed und den Muschir angreift. Dadurch wird der ganze Operationsplan der Gegner zerstört und wir erhalten Zeit, zu sehen, was sich mit der Festung noch beginnen läßt.«

»Ich werde die Befehle noch diese Nacht erteilen. Ich höre, Lüders befindet sich auf dem Wege der Besserung?«

»So ist es. Gott und den Heiligen sei Dank; dafür werden wir den braven Orloff verlieren. Ich bedauere seinen Vater, meinen alten Freund! – Verdammt, Doktor, ich glaube, die Schmerzen nehmen wieder zu!«

»Wenn Euer Durchlaucht sich nicht sofort einige Ruhe gönnen, stehe ich für nichts, am wenigsten für die Möglichkeit, abzureisen.«

Die Generale verabschiedeten sich.


Es war am Morgen des 14. – Dienstags. – In der seit zwei Tagen durch unaufhörliches Bombardement schwer bedrängten Festung erwartete die Besatzung jeden Augenblick einen Sturmangriff der Russen, sobald die Minen des Generals Schilder ihr Werk getan, deren bereits einige von den Russen in den letzten Tagen gesprengt worden, ohne daß sie jedoch mehr als leicht wieder herzustellende Mauer- und Erdrisse zu Wege gebracht hatten. Jedermann wußte, daß sie hauptsächlich gegen das Tor Abdul-Medjid gerichtet sein mußten, und daß hier die Entscheidung des Tages und des Schicksals der Stadt lag. Die Kapitäne Grach und Depuis und selbst der alte Chef des Geniewesens, Mehemed-Bey, waren indeß nicht müßig gewesen, und der Spaten unter der Erde arbeitete rüstig an den geheimen, furchtbaren Gängen, bestimmt, die eindringenden Feinde in die Luft zu schleudern. Schon zweimal waren unter der Erde die feindlichen Mineure aufeinander gestoßen und das blutige Würgen hatte das schauerliche Grab im wahren Sinne begraben. Das Sprengen der Minen war das einzige, wovor die türkischen Soldaten, zum Teil aus ihrem bewußten Ungeschick, zurückbebten, während der passive Gehorsam der Russen bekannt war, und die Bewachung und Sprengung der türkischen Minen blieb daher einer Anzahl Freiwilligen anvertraut, die aus den kecksten und jedem Wagstück Trotz bietenden fremden Abenteurern gewählt waren und durch reichen Lohn gelockt wurden. Hussein-Aga oder, wie er jetzt bereits hieß, Hussein-Pascha, und sein Gefährte im Kommando, der Ferik Rifaat, hatten am Tage vorher für den Morgen des 13. – auch ohne Kunde von den Demonstrationen der Ersatzkorps zu haben, – einen allgemeinen Ausfall beschlossen, und die Truppen standen daher, kampfgerüstet, innerhalb der Wälle und Tore.

Auch diesmal hatten die Russen keine Ahnung davon – wir werden im Verlauf der Geschichte hören, durch welche Ursache, – und der Sturm gegen die Festung war erst für den Nachmittag 3 Uhr festgesetzt, nachdem drei große Minen, welche die Russen gegen die Forts Abdul-Medjid, Arab-Tabia und Yania gerichtet hatten, gesprengt sein würden. – –


Eine finstere, undurchdringliche Nacht füllte wieder den etwa drei Fuß breiten, langen, winkeligen Gang, der aus dem Souterrain der Bastion von Arab-Tabia unter dem Graben gegen den äußeren Wall führte und dort in einer Kammer von etwa 10 Fuß Quadrat und Manneshöhe endete. Die schwarze Finsternis dieser Kammer wurde gebrochen durch das matte Licht einer sorgfältig verwahrten Laterne von dickem Glase, die auf dem Fußboden am Eingang des Ganges stand und ihren Schein auf mehrere, an den feuchten Seitenwänden aufgestellte Fässer und zwei Männergestalten warf, die in der Mitte des engen Raumes in der gewöhnlichen türkischen Stellung auf dem Boden kauerten.

Die Deckel der Fässer waren aufgeschlagen, schwarz, wie die Umgebung rings umher, war der Inhalt derselben – ein starker Zündsack lief von der einen Öffnung zur anderen. Am Eingang der Erdkammer hing an einem in die Seitenwand gestoßenen Querholz eine große Klingel, von deren Griff eine Schnur sich in das Dunkel des Ganges verlor.

Die beiden Männer waren die Wächter der Mine; in der Tiefe des einmündenden Ganges, um die Ecke des Winkels biegend, verlor sich der letzte Lichtschein einer sich entfernenden Laterne, – Kapitän Grach mit seiner Ordonnanz, der eben die Minengänge nochmals revidiert hatte.

Die Runde schien ein inhaltschweres Gespräch der beiden der Todesgefahr keck trotzenden Wachen gestört zu haben, denn als jener letzte Lichtschein verschwunden war, begann es aufs neue. Obschon in dieser Tiefe der Erde, weit entfernt von der Ausmündung der Gänge, selbst der lauteste Schrei von keinem menschlichen Ohr gehört werden konnte, wurde das Gespräch doch leise, fast flüsternd geführt, als verböten die Schauer des grabähnlichen Ortes jeden lauten Ton.

Der Schein der Laterne fiel auf die beiden Gesichter, wie sie manchmal in seinem Dunstkreis sich vorwärts beugten – auf das dunkle Antlitz des Mohren Jussuf mit den großen, gelbweißen Augen, die er gedankenvoll auf den zweiten gerichtet hielt, auf seinen neuen Freund und fast unzertrennlichen Gefährten – Sta-Lucia, den ehemaligen korsischen Banditen.

»Der Hekim-Baschi vermißt seit zwei Tagen einen wichtigen Brief,« sagte langsam der Mohr. »Bak – sieh – er glaubt, daß Du ihn gestohlen hast, während Du bei mir warst, denn er hat mich und meinen Bruder gewarnt vor Dir. Doch der Prophet weiß es, ich kann nicht von Dir lassen, und darum bin ich mit Dir in dieser Höhle der Schrecken, wo Eblis herrscht, der Fürst der Finsternis.«

Der Korse lachte.

»Barbuasso! bekommen wir nicht glänzendes, schönes Gold dafür, daß wir den gefährlichen Posten übernommen, der nur Gefahr droht dem Feigen und Ungeschickten, und hätten wir die Zechinen des Paschas anderen lassen sollen? Aber genug, ich hatte noch eine andere Ursache, Dir den Posten vorzuschlagen, um unbelauscht hier sprechen zu können.«

Er griff in seinen Gürtel, zog einen ledernen Beutel heraus und öffnete ihn im Licht der Laterne.

»Kennst und liebst Du das?«

Der Beutel enthielt 30 bis 40 Goldstücke.

»Bismillah! Kamerad – wie kamst Du dazu?«

»Höre mich an, Jussuf,« sagte der andere, indem er den Beutel wieder einsteckte. »Du sollst halb Part haben und noch mehr als dies. Antworte mir aufrichtig bei Deinem Propheten: Hältst Du große Stücke auf den Hekim-Baschi, Du und Dein Bruder?«

»Was soll ich sagen, Freund – es ist so, und es ist anders. Nursah, mein Bruder, ißt sein Brot; aber er ist ein Franke, ein Dschaur. Was geht ein Ungläubiger mich an?«

Der Korse sah den schlauen, beobachtenden Blick nicht, den sein Gefährte bei diesen Worten auf ihn schoß.

»Per bacco! das ist Recht, – ich konnte es mir denken, Jussuf, es ist wahr, ich habe den Brief.«

»Wallah! ich dachte es mir! Ein Brief ist ein Brief und eine Erfindung des Teufels. Ich spucke auf alle Briefe und ihre Väter und Mütter. Was tust Du mit dem Briefe?«

»Ei zum Teufel! Mir selbst ist wenig an dem Briefe gelegen, aber desto mehr, wie es scheint, dem Engländer, der die Ehre hat, mich jetzt als eine Art Leibdiener und Khawaß in seinen Diensten zu haben!«

»Dem Inglis?«

»Ja, ich will Dir etwas sagen – der Hekim-Baschi, Dein – oder vielmehr Deines Bruders Herr, ist ein Spion der Russen, er verkehrt mit ihnen und sendet ihnen Botschaft aus der Festung.«

»Ich weiß nicht, ob Du mit zu dem Komplott gehörst,« fuhr der Korse ruhig fort, »aber ich möchte es fast glauben. Du weißt, was einem Verräter nach dem Kriegsgesetz droht?«

»Inshallah! Wohl weiß ich es! Aber Du wirst nicht von hier gehen, um es weiter zu erzählen.«

»Narr! Laß Deinen Handjar ruhig im Gürtel stecken. Ich fürchte Dich nicht; wenn ich nicht eine gute Absicht mit Dir hätte, würde ich mit Dir nicht hierher gegangen sein und Dir jetzt nicht offen meinen Verdacht oder vielmehr meine Gewißheit ins Gesicht gesagt haben.«

»Was konnte ich tun? – ich bin ein armer Sklave und meine Haut ist schwarz.«

»Der Hekim-Baschi hat Dich und Deinen Bruder mit Gold bestochen, aber Du sollst mehr verdienen und ohne Gefahr, eine Kugel durch den Kopf zu bekommen. Ich bin Dir Dank schuldig, denn Du hast mein Leben gerettet vor dem verfluchten Russen, und Du sollst sehen, daß Sta-Lucia kein undankbarer Schuft ist, wenn auch sonst mein Gewissen sich gerade nicht viel Kummer macht.«

»Meine Ohren sind offen.«

»Mein Herr haßt den Deinen – das Warum geht uns nichts an, ich weiß es auch nicht. Kurz und gut, er sinnt auf sein Verderben oder will ihn wenigstens in seine Gewalt bekommen, um irgend etwas von ihm zu erpressen. Am Tage, da der Zufall gerade Dich zu meinem Lebensretter gemacht hat« – er unterbrach sich und beugte sich horchend nach vorn. »Was ist das für ein Geräusch? – mir ist, als hörte ich es neben uns.«

»Du irrst, Freund, – vielleicht ein Posten, der über die Mine geht. Fahre fort, in des Propheten Namen.«

»Also an diesem Tage hatte mein Herr den Doktor zufällig hier wieder gefunden, und als er hörte, daß Du, der mich so sorgfältig in den beiden ersten Tagen pflegte, im Dienst seines Feindes ständest, oder doch unter seinem Dache wohntest, gab er mir den Auftrag, mich an Dich zu machen und mit Dir gute Freundschaft zu halten.«

Die Zähne des Mohren glänzten weiß zwischen den dicken Lippen hervor.

»Ich weiß nicht, woher er gleich den Verdacht eines Verkehrs des Hekim-Baschi mit den Russen hatte, aber genug, er hatte ihn und ich hätte nicht Sta-Lucia sein müssen, wenn ich nicht, ehe acht Tage vergangen, gewußt hätte, daß sein Verdacht Wahrheit sei. Der Brief ist in seinen Händen.«

»Wah! Was ist ein Brief! Der Hekim-Baschi hat Freunde!«

»Ich sage Dir, er und Ihr alle seid in unseren Händen. Meinst Du, wir würden es bei einem Beweise gelassen haben? – Der türkische oder griechische Knabe, den Dein Herr zu seinen Botschaften gebraucht, ist in unserer Gewalt; wir fingen ihn gestern Abend auf, als er im Wall umherschlich. Der Bursche kam geduldig, als ich ihn rief, und merkte nichts, bis ich ihn in meinen Händen hielt, aus denen kein Entrinnen ist. Wir haben die Briefe, die er bei sich trug, gefunden.«

Der Mohr war bei der Nachricht erschrocken zurückgefahren, hatte sich aber bald gefaßt.

»Und was habt Ihr mit dem Knaben gemacht?«

»Wir haben ihn eingesperrt in des Beisähdis (Benennung vornehmer Engländer) Wohnung.«

»Es ist ein Unglück – was kann ich dafür? Was beabsichtigst Du, mit uns zu tun?«

»Hab ich Dir nicht gesagt, daß Du nichts zu fürchten hast? – Es soll kein Haar der Wolle auf Deinem Scheitel in Gefahr kommen, wenn Du meinem Rat folgst. Der Beisähdih hat mich beauftragt, mit Dir zu sprechen. Der Junge, den wir bereits in der Hand haben, wird festgehalten, bis zu der Zeit, da der Lord für nötig hält, die Anzeige zu machen. Bis dahin beobachtest Du den Hekim-Baschi genau und teilst mir alles mit, was er tut und treibt, dann treten Du und ich als Zeuge gegen ihn auf. Nursah, Dein Bruder, erhält des Doktors Habe und wir einen reichen, goldenen Lohn von meinem Herrn. Er kennt mich und weiß, daß er sein Versprechen halten muß. Jetzt rede und sage Deinen Entschluß.«

Schon seit einiger Zeit hatte der Mohr wiederholt den Kopf vorgebeugt und, während er mit dem einen Ohr der Rede des würdigen Genossen zu lauschen schien, angestrengt nach der anderen Seite hin gehorcht. Jetzt machte er eine Bewegung mit der Hand, wie um dem anderen Schweigen zu gebieten, und warf sich dann lang auf den Boden, das Ohr auf die Erde pressend.

»Was hast Du? – Demonio! jetzt hör' ich auch …«

Jussuf war bereits wieder auf den Füßen.

»Bismillah! Ich glaube, die Moskows arbeiten neben uns. Überzeuge Dich selbst, o Freund.«

Der Bandit schlich zu der Wand, aus deren Richtung sehr entfernt und undeutlich und nur durch den dumpfen Widerhall des Erdbodens hörbar ein einförmiges Geräusch herüber dröhnte. Er kniete auf dem Boden nieder, weit vorgebeugt und den Kopf horchend unten an die Erdwand gedrückt, das andere Ohr mit der Hand hohl bedeckend. In dieser Stellung konnte er nicht sehen, was hinter ihm vorging.

»Höre genau, Freund!«

»Zum Teufel! – schweig!«

Hinter ihm stand, wie lauschend, gleichfalls gebückt, die Gestalt des schwarzen Kuriers, aber seine Rechte hatte leise den Handjar aus dem Gürtelshawl gezogen und hielt die graue, mattglänzende Klinge hinter dem Rücken verborgen.

Es war eine jener unscheinbaren Klingen, wie sie Damaskus in früheren Zeiten aus zusammengeschweißten Drähten gehärtet, ein matter, schwarzgrauer Stahl mit wirren Damastfiguren, der in der Hand eines Moslems – und selbst von diesen verstehen ihn nur noch Auserwählte zu führen – nicht nur mit dem Schlag und der Kraft des Armes, sondern durch die rasche sichelförmige Führung und seine unglaubliche Härte und Schärfe Eisen wie Daunen durchschneidet.

»Die Moskows sind – – Marzocco! was tust Du?«

Er wollte empor springen, doch es war zu spät. Der Mohr hatte ihn mit der Linken im Genick gefaßt und drückte seinen Kopf zu Boden, während seine Rechte rasch und gewandt mit der Schärfe des Handjars anscheinend nur einen leichten Schnitt über die ihm zugekehrte innere Seite der Beine seines Gefährten führte. Dann ließ er ihn los und sprang zurück, zugleich den neben der Laterne liegenden Handjar des Verwundeten aufhebend und die Waffe in den Gang schleudernd.

Der Bandit, der nur eine geringe Verletzung empfunden hatte, wollte sich wütend erheben und auf den verräterischen Freund werfen. »Hund von einem Neger! Du mußt sterben!«

Aber die Beine versagten ihm den Dienst, er fiel kraftlos zusammen, gleich als wären die Füße ihm am Knie amputiert – der Handjar des Mohren hatte mit einem Schnitt die vier Kniesehnen, die innerhalb des Knies Oberschenkel und Unterschenkel verbinden, durchschnitten, er war in einem Augenblick unheilbar zum machtlosen Krüppel geworden, und die Wahrheit durchfuhr bei dem zweiten schwachen Versuch seine schwarze Seele.

»Manigoldo! (Schuft von einem Scharfrichter) Noch habe ich meine Arme, um Dich zur Hölle zu senden!« Er griff nach den Pistolen in seinem Gürtel, ließ aber die Hand alsbald mit einem wilden Fluch kraftlos sinken: er erinnerte sich, daß strengem Verbot gemäß niemand eine Schußwaffe in die Minengänge mitnehmen durfte und schon aus eigener Besorgnis nicht mitnahm.

Der Mohr hatte die Bewegung gesehen und lachte spöttisch.

»Warum hast Du mir das getan, schwarzer Teufel, nachdem Du selbst mir das Leben gerettet?«

»Bana bak, ai gusum! Schau mich an, Licht meiner Augen! – öffne den Brunnen Deiner Gedanken, und Du wirst es wissen,« sagte höhnend der Schwarze. »Du hast ein schlechtes Gedächtnis, Freund Lucia, und mich hat Allah mit einem vortrefflichen gesegnet. Aber es ist Zeit, daß wir unsere Rechnung schließen, Eblis, der Engel des Unheils könnte uns die Moskows auf den Hals schicken und mich um meine Rache betrügen.«

»Komm mir nicht zu nahe, Schurke! – Zu Hilfe, Kameraden!«

Der Mohr machte eine verächtliche Bewegung, die das Nutzlose des Rufes zeigen sollte, dann zog er aus der langen Seidenbinde um seine Hüften eine dort verborgene starke Schnur und warf sich damit auf sein Opfer.

Es erfolgte ein langer, heftiger Kampf, bei dem keiner der Kämpfenden einen Laut hören ließ. Der Korse wehrte sich verzweifelt und mit riesiger Kraft. Aber der Blutverlust, der Schmerz seiner Wunden und die Unbehilflichkeit, in die er durch sie versetzt worden, mußten ihn bald unterliegen machen. Er fühlte Brust und Arme von der verhängnisvollen Binde zusammengeschnürt und war in wenig Minuten eine hilflose, fast regungslose Masse, die wie ein Stück Holz am Boden lag. Der Schwarze betrachtete spöttisch sein Werk und rollte mit dem Fuß den Körper rundum. Hätten die wutfunkelnden Augen des besiegten Feindes ihn durchbohren können, sie wären wie tausend Dolchstiche gewesen!

»Schwarzer Teufel – sprich – was habe ich Dir getan? – was willst Du von mir?« keuchte der Korse.

»Was Du mir getan hast, Brüderchen?« fragte langsam der Kurier. »Bei den sieben Toren des Paradieses, Du sollst es hören. Zuerst aber will ich mir die Freiheit nehmen, Deine Taschen zu untersuchen. Bei der Reise, die Du nun bald in Gesellschaft jener Moskows antreten wirst, deren Nähe Du hörst, bedarfst Du des Gepäcks nicht.«

Er begann ruhig die Taschen und den Leibbund des Hilflosen zu plündern.

»Höre mich, Jussuf! Wenn es Gold ist, was Dich reizt, ich will Dir alles lassen, was mein ist – ich schwöre Dir bei der heiligen Jungfrau, ich will mich nicht rächen an Dir und Dir vergeben, daß Du mich zum Krüppel gemacht hast, nur bringe mich an das Licht des Tages!«

»Du sollst dahin kommen, verlaß Dich d'rauf!«

Er hatte seine Plünderung beendet und das Gold und mehrere Schlüssel, die er bei dem Banditen gefunden, zu sich gesteckt, dann setzte er sich neben ihn.

»Wenn Deine Laune gut ist, o Effendi Lucia, so laß uns plaudern. Wir haben noch einige Minuten Zeit. Erinnerst Du Dich eines Abends im Monat Schewal und an ein kleines Geschäft, das Du an einem schwarzen Mann auf der Straße nach Silivria verrichtetest? – Du scheinst das Briefstehlen zu lieben!«

Ein kalter Schweiß begann die Stirn des gefesselten Banditen zu bedecken. Er fing an, zu begreifen, daß er einem mitleidslosen Rächer in die Hand gefallen.

»Du – der Kurier – wo hatte ich meine Augen!«

»Was weiß ich! Allah hat die meinen besser gemacht. Als Du meinen wunden Körper auf Deinen Armen zu jener Schlucht von Tschekmedsche trügest und ihn in die blauen Wellen des Meeres versenktest, traf mein Auge Dein Antlitz und, wenn ich Ibrahims (Abrahams) Alter erreicht hätte, ich würde es nimmer vergessen haben.«

»Erbarmen, Jussuf – ich habe Gold – viel Gold – –«

»Weißt Du, wer meine Wunden geheilt hat? wer mir das Wasser des Lebens gab, von dem meine Glieder wieder ihre alte Kraft bekommen, jene Kraft, die Dich gebändigt hat? – Der Hekim-Baschi war es, den Du verfolgst und den der fränkische Hund, Dein Herr, bedroht!«

»Erbarmen, Jussuf – ich will alles tun, was Du willst – ich will den Engländer töten, wenn er die Papiere nicht herausgibt oder dem Doktor schlimmes tun will.«

»Narr! Du bist zu nichts mehr gut, selbst nicht zu Deinem Handwerk, dem Meuchelmorden. Du bist ein Kloß Erde und wirst Erde werden. Wisse, daß der Hekim-Baschi, den Du verderben wolltest, nicht einmal Schuld hat an dem Verrat an den Moskows oder auch nur eine Ahnung von ihm. Selbst hier warst Du auf falschen Wegen und Allah wird mir die Mittel geben, das gut zu machen, was Du böse gemacht.« –

Man hörte in der Pause, die Jussuf seinen Worten folgen ließ, jetzt dumpf und deutlich das Arbeiten, Hacken und Schaufeln zur Seite der Minenkammer in einiger Entfernung.

»Die Moskows sind uns nahe – kaum zehn Schritt breit Erde trennen sie von uns – Du wirst in ihrer Gesellschaft zur Ladha (Hölle) fahren, wo Du die Teufelsköpfe von Zakhum fressen wirst, die Deine Eingeweide zerfleischen werden, verräterischer Christ!«

»Verfluchter! Di« Moskows werden mich retten! Zu Hilfe!«

Er begann mit aller Kraft seiner Lunge zu schreien, doch im Nu hatte sich der Mohr auf ihn geworfen und preßte ihm ein Tuch in den Mund.

»Tor – Du beraubst Dich selbst des Trostes, Dein letztes Gebet sprechen zu können!«

Er lauschte – die Arbeit der Russen schien für einige Augenblicke eingestellt, sie hatten den gewaltigen Ruf vielleicht als dumpfen Klang zu sich dringen hören und horchten. Als alles stumm blieb, setzten sie bald die Arbeit fort.

Mit fast aus den Höhlen dringenden Augen folgte der machtlose Bösewicht den Vorrichtungen, die sein Todfeind jetzt begann. Jussuf schleppte eines der Pulverfässer in die Öffnung des Ganges und stellte es dort auf. Dann zog er den Banditen in die Mitte des Raumes und warf ihn dort achtlos hin, mit dem Gesicht dem Eingang zugekehrt. Er hob die Laterne, leuchtete seinem Opfer ins Gesicht und hielt sie dann vor sein triumphierendes grinsendes Antlitz, als wolle er jenem dessen Züge für die letzten Augenblicke noch schreckensvoll einprägen.

Dann nahm er sorgfältig das Licht aus der Laterne, putzte es mit den Fingern und trat in den Gang zurück vor das Pulverfaß. Sorgfältig die Flamme mit der Hand verhüllend, steckte er die Wachskerze in das Pulver – langsam tiefer und tiefer – bis die Flamme kaum noch einen Zoll von der Pulverschicht entfernt war.

Sein schwarzes Antlitz mit den großen, gelbweißen Augen und den glänzenden Zähnen schien dem Verlorenen das Haupt des dunklen Engels Eblis im roten Schein des Lichtes, der darüber fiel.

Dann richtete sich der Mohr vorsichtig wieder auf. Er hob wie zum Abschied den Finger empor.

»Gedenke Jussufs, des Kuriers und der Straße von Silivria!« – –

Er verschwand gebückt und langsam im Dunkel des Ganges, jeden Luftzug vermeidend.

Mit ihm sank des Korsen letzte Hoffnung. Der Mörder, der reuelos das Blut so vieler vergossen, saß jetzt, halb aufgerichtet, in dem eigenen Grabe, in der Gewißheit des Todes, des furchtbaren Todes, dessen Nähe auch der verhärtetsten Seele alles in einem anderen Lichte erscheinen läßt.

Kalter Schweiß drang Tropfen auf Tropfen aus seinen Poren, wirre Gedanken zuckten durch sein Hirn, wie er das schreckliche wenden möchte. Der Knebel im Munde erlaubte ihm kaum das Atmen, aber nur leben! den Schmerz der Wunden fühlte er nicht – nur leben! ob er es als jammervoller Krüppel müsse, – was tat es? – nur leben, ach, nur leben! –

Seine Augen hafteten stier auf dem brennenden Licht – mit Todesangst beachtete er jede Bewegung der Flamme, wenn sie ein Luftzug aus dem Minengange zur Seite trieb.

Er versuchte, sich dem Pulverfaß näher zu wälzen, sich aufzurichten – vergeblich, die zerrissenen Sehnen hielten ihn an den Boden gefesselt. Dann kam es ihm in den Sinn, daß jede Bewegung das Licht erschüttern und umfallen machen könne, daß seine Hände gefesselt, um es zu ergreifen, daß sein Mund verschlossen sei, um die Flamme in seinem Innern zu begraben.

Seine Anstrengungen, die Bande der Arme zu zerreißen, waren furchtbar. Plötzlich traf ein Laut sein Ohr – die Klingel am Eingang war in Bewegung gesetzt, sie schellte – – Heilige Jungfrau, Mutter des allsühnenden und vergebenden Heilands, er war gerettet, – Menschen waren nahe.

Nein – die Schwingungen des Glöckchens verhallten – kein Laut ließ sich hören. Mit teuflischer Bosheit der Rachgier hatte der Mohr beim Austritt aus dem Minengang die Schnur in Bewegung gesetzt, durch welche den Wachen im Innern der Erde die Befehle signalisiert werden sollten.

Der erste Zug der Schnur bedeutete: »Fertig zum Zünden!«

Der Unglückliche fühlte den schneidenden Hohn – ein Hauch konnte das furchtbare, immer tiefer und tiefer brennende Licht verlöschen und er war gerettet! aber dieser Hauch – er war eine Unmöglichkeit für ihn.

Nochmals verdoppelte er seine Anstrengungen, die Arme, die Hände, die Zunge loszuringen – das Blut schien ihm aus den Augen dringen zu wollen vor der gewaltigen Anspannung aller Nerven! –

Vergeblich!

Da versuchte er, zu beten! zum ersten Male vielleicht wieder seit seiner Kindheit – seit jener Zeit, wo er den schwarzen Lockenkopf in den Schoß der Mutter gelegt, da sie ihn zum Kirchlein geführt auf der Felsenhöhe von Capo Calvi, von wo der Blick des Kindes hinausschweifte über das blaue, sonnige, liebliche Meer, über Fels und Tal – –

Und er sollte Meer und Tal und Fels nie wieder schauen?

Um ihn schwarze Finsternis – das Grab – das ewige furchtbare Grab. –

Die Gebete seiner Seele wurden zu Lästerungen – entsetzliche Bilder tanzten und tauchten aus der Finsternis um ihn her –

Lauter und lauter schallte durch die dicke Erdwand das Arbeiten der russischen Minirer zu ihm herüber. Ihn däuchte, er könne schon die einzelnen Stöße der Spaten, das Murmeln der Stimmen, das Kommando der Ingenieure vernehmen – –

Ein Blick auf die Kerze – er hatte sie eigentlich nie aus den Augen gelassen, – belehrte ihn, daß jede Hoffnung vergeblich sei; kaum linienbreit noch schwebte die Flamme über dem Pulver.

Da begannen bleiche, drohende Gestalten vor ihm sich zu erheben, die er so lange zurückgedrängt; die blassen Toten von Ajaccio – die geschändeten Mädchen und gemordeten Greise aus den Schreckenstagen Roms – Paduani in den Straßen von Pera – das schreckensbleiche Gesicht, die starren Augen des armen Dieners in der Villa Hietzing vor den Toren Wiens – auch dessen Augen allein hatten Sprache, auch dessen Zunge fesselte der Knebel. –

Jahre der Angst und der Furcht vor dem Ewigen lagen in den wenigen Minuten, die seit dem Verschwinden des Mohren doch erst vergangen, und doch waren sie so kurz, so kurz – –

Näher und näher dröhnten die Spatenstiche der Russen – er hörte es deutlich, sie hatten die Richtung nach ihm eingeschlagen, von dem dumpfen Klang der Höhlung geleitet – er hörte das versuchende Pochen – deutlich den Befehl des Offiziers – kaum wenige Fußbreit noch – –

Allbarmherziger Gott – Rettung – Rettung –

Da – da –

Es knisterte an der Flamme des Lichts – es zischte – ein, zwei Körner sprühten –

Dann – –


Mit der fahlen Bleiche, welche die schwarze Farbe annimmt, durch die der grelle Sonnenstrahl des Äquators die Wesen jener glühenden Länder gezeichnet hat, stürzte Jussuf, der Kurier Mariams, mit hastigem Schritt aus den Gewölben der Bastion, die zu den Minen führten.

Er sah das goldene Mittagslicht, den blauen Himmel über sich – der Sonne Strahl blendete sein Auge, das aus der Nacht des Grabes kam.

»Der On-Baschi – der On-Baschi – wo ist er?«

Man trug ihn halb den Kapitänen entgegen, die auf die Meldung eilig herbei kamen.

»Fasse Dich, Mann! – Was ist geschehen? – wo ist Dein Gefährte?«

Der Mohr stand vor den Offizieren, deren Kreis sich mit jedem Moment vermehrte; er hatte alle seine Fassung wieder erhalten.

»Die Moskows, o Aga, sind in der Nähe der Minenkammer, wir hörten deutlich ihre Arbeiten – vielleicht keine zehn Ellen uns zur Seite –«

»Ich will mich überzeugen!«

Kapitän Grach eilte nach der Kehle der Bastion.

Der Mohr warf sich ihm in den Weg.

»Wallah! es ist zu spät – mein Kamerad wird zünden, so bald er die Russen nahe genug hält, – er muß jeden Augenblick erscheinen; ich eilte davon, es zu verkünden.«

»Das Glück ist für uns,« rief der französische Kapitän, dem rasch die Worte übersetzt worden. »Eilen Sie zu Hussein-Pascha, Herr Kamerad, damit er die Truppen zum Ausfall bereit hält. An die Geschütze, meine Herren, und fertig zum Feuern!« Er sprang die Böschung hinauf, auf die Wälle der Bastion – Kapitän Grach war davongeeilt.


Durch die vorderste Linie der gegen Arab-Tabia vorgeschobenen Trancheen kam mit seinem Adjutanten der greise Chef des russischen Geniewesens. Sein kaltgraues, aufmerksames Auge prüfte genau jede Linie, die Höhe der Brustwehr, die Anlage der Embrasüren, die Arbeiten zum Aufstellen der Kanonen, die Richtung der fertigen Geschütze, die bereits in vollem Feuer gegen die Bastionen waren. Zugleich aber machte er eine plötzliche, unheimliche Bewegung, wandte das weiße Haupt zurück, als wolle er jemand sehen, der ihm folgte, und schien, ins Leere starrend, auf Worte zu horchen, die nicht gesprochen worden.

An der Kehle der Sappe rief er den kommandierenden Offizier. – »Leutnant Potemkin!« – es war derselbe, der so kühn und umsichtig in der Nacht des großen Ausfalles die ersten Geschütze ins Feuer gebracht – »welche Nachricht von den Minirern?«

»Kapitän Ochalski hat vor fünf Minuten melden lassen, daß er das Bett des Grabens bis zur Mitte erreicht hat. Man beginnt das Pulver hinabzuschaffen.«

»Gut! Sobald die Sache beendet, schnellen Rapport. Er findet mich an der zweiten Mine gegen die Citadelle.« Er brach plötzlich ab und wandte sich hastig um, als sähe er jemand hinter sich stehen. »Zum Henker! Kann ich des Kaisers heute denn gar nicht los werden? Gespenster passen nicht zum Dienst! – Was winkt der Schatten fortwährend mir und raunt mir ins Ohr, als ob ich nicht wüßte, daß heute der Dreizehnte! – Der Fürst läßt mir melden, Leutnant, daß in einer Stunde die zum Sturm bestimmten Truppen in die Linien rücken werden. Vergessen Sie die Botschaft an Ochalski nicht, daß ich schleunigen Rapport haben muß; ich hoffe, ehe die Sonne sinkt, dort drüben die Fahne mit dem Adler flattern zu sehen!«

Er wandte sich, um nach den Pferden zurückzukehren, die in einiger Entfernung ihm langsam nachgeführt wurden.

Der General hatte kaum zwei Schritt getan, als die Erde unter ihm zu rollen begann, wie bei einem Erdbeben – dann erfolgte ein gewaltiger Stoß, der ihn und alle in der Nähe Befindlichen zu Boden warf; – die Erde schien sich zwischen der Sappe und der letzten Batterie zu öffnen und hoch in die Luft sich zu erheben; ein ohrenzerreißender Knall – ein dichter Regen von Erde und Steinen, menschlichen Leibern und Gliedern füllte fast minutenlang alles rings umher, Geschützstücke selbst flogen weit über die Trancheen hinaus und fielen zerschmetternd nieder, die Wände der Laufgräben waren weithin eingestürzt, die Sappe ein hohler Krater, die nächste Batterie in die Luft gesprengt, ein Teil der diesseitigen Böschung des Grabens in diesen zusammengestürzt.

Ein Jammerruf, ein wildes, schmerzliches Gewimmer drang aus den dicken Pulver- und Staubwolken, die rings umher fast wie dichte Nacht die Luft füllten.

Der junge Artillerie-Offizier, der den General zurückgeleitet, war erst wenige Schritte wieder entfernt und der erste, der – wunderbar allen Verletzungen entgangen – aus der Erde, die ihn überschüttet, sich emporraffte.

»Exzellenz, wo sind Sie? Sind Sie verwundet?«

Er sprang durch den Rauch nach der Stelle zu – der General stand bereits aufrecht, bleich, aber ruhig.

»Die Gräber öffnen sich und bringen die Toten zurück – mein kaiserlicher Herr und Freund – ich seh' Dich licht und hehr aus den Wolken der Finsternis daher schreiten – sprich – ist die Stunde Deines Dieners gekommen?«

»Um der Heiligen willen, Exzellenz, fassen Sie sich!« – der junge Mann wagte es, seinen Arm zu ergreifen, »ein unglücklicher Zufall muß die Mine Ochalskis zu früh gesprengt haben.«

Der Name des einem gräßlichen Schicksal erlegenen Offiziers führte den greisen General in die Wirklichkeit zurück.

»Tscherti tjebie by wsiali! Hinauf auf die Brüstung! Du hast junge Augen – was siehst Du?«

»Das Fort ist unbeschädigt – ich sehe nichts von unseren Arbeiten – alles scheint verschüttet – der Rauch –«

»Herunter Bursche! – nicht unsere Mine ist es; die Türken haben eine gegen uns gesprengt und wir werden gleich mehr von ihnen hören.«

Eine Kartätschensalve, die von der Bastion über die Glacis daher prasselte, bestätigte die Befürchtung des Generals.

»Die Pferde! die Pferde! Die Tölpel vor dem Abdul-Medjid sind töricht genug, ihre Mine zu sprengen in dem Glauben, daß ich hier das Signal gegeben. Verdammt sei der Tag!«

Er eilte mit jugendlicher Kraft zurück über die Trümmer und Erdstürze, welche die Trancheen füllten, bis zu der Stelle, wo die Pferde zurückgelassen worden.

»Gott geleite Sie, General!«

»Narr! Deine Batterie ist Atom – hierher zu mir; es ist keine Schande für den Krieger, in solchem Falle sich zu retten!«

Noch ehe sie die Pferde erreichten, gellte bereits der Allahruf der Türken, den Ausfall verkündend –

Die Pferde waren glücklich verschont geblieben – der General stieg mit Potemkins Hilfe auf das seine und jagte querfeldein davon, den russischen Werken vor der Citadelle Abdul-Medjid zu. Er hatte den Hut verloren, sein langes, graues Haar flatterte im Winde.

Wer eines Rosses habhaft geworden, folgte ihm.

Ein Hagel von Kugeln peitschte über die offene Fläche, mehrere Reiter stürzten – das Pferd des Generals ward von einer Paßkugel am Hinterteil getroffen und schleuderte, zusammenbrechend, den alten Offizier weit von sich, sodaß er zum zweiten Male niederstürzte. An vier Stellen brachen die Ausfallskolonnen der Türken aus den drei Forts – die ägyptischen Truppen; im hellen Sonnenstrahl blitzten die hochgeschwungenen Waffen der anstürmenden Geschwader. Aber schon war der junge Artillerie-Offizier, dem es geglückt, in der Verwirrung eines der Pferde zu nehmen, an der Seite des Generals, sprang aus dem Sattel und half ihm hinein. »Vorwärts, Väterchen; was ist an einem Leutnant gelegen! Erhalte Du Dich dem Kaiser!« Er sprang neben dem Pferde des Generals her, der aufs neue den russischen Schanzen zu galoppierte; da überschlugen sich plötzlich Roß und Reiter; eine Kanonenkugel hatte des alten Offiziers linkes Bein dicht unterm Knie zerschmettert – –

»Kaiser Alexander – Kaiser Alexander –!«

Wieder stand im Nu der junge Leutnant neben ihm, den Säbel in der Faust, bereit, in seiner Verteidigung das Leben zu lassen – kaum tausend Schritt weit jagte türkische Kavallerie bereits daher – aber sie warf sich zum Glück rechts hin gegen die Trancheen – Offiziere sammelten sich auf Potemkins Ruf um den verwundeten General – von der naheliegenden Schanze eilte ein Kommando herbei – im Augenblick war er von der Last des schlagenden Pferdes befreit und auf mehrere Gewehre gelegt, auf denen die Soldaten ihn zurücktrugen aus dem blutigen Gemetzel, das sich auf allen Punkten der langen Linie entspann.

Der Erfolg des Ausfalles war ein vollständiger, alle Erwartungen übertreffender, denn die Russen, in keiner Weise auf den Angriff vorbereitet und den ihren auf die vorhergehende Sprengung von Breschen basierend, wurden vollständig überrascht und bis hinter ihre ersten Linien zurückgeworfen. Das Donauufer entlang der Festung fiel in die Hände der Belagerten und blieb darin. Auf der Ost- und Südseite wurde der größte Teil der Belagerungsarbeiten der Russen zerstört, mehrere Fahnen und eine Mörser-Batterie blieben in den Händen der Türken, die dritte Mine, die nach der voreiligen Sprengung der gegen das Abdul-Medjid-Fort noch übrig blieb, wurde verschüttet – die Belagerung mußte aufs neue begonnen werden. Tausend Tote ließen die Russen in den zerstörten Laufgräben – der Verlust der Türken war nur wenig geringer, denn heldenmütig hatten in ihren Werken sich die Posten gewehrt, ehe die Hilfe herbeikam.

Schon beim Beginn des Kampfes hatte Jussuf, der Mohr, sich eilig und still aus dem Fort entfernt, und während die Schlacht tobte, eilte er mit beschwingtem Fuß durch die engen Straßen, bis er an der Hofmauer des Hauses anhielt, das, wie er wußte, der Engländer Maubridge bewohnte. Mit Hilfe der Schlüssel, die er dem Todfeind abgenommen, der jetzt bereits vor dem ewigen Richter und Rächer stand, gelangte er leicht in das Innere, wo jetzt nur ein altes, ängstlich dem Bombardement lauschendes Weib zugegen war, und dieses, durch sein grimmiges Aussehen und die Todesdrohung erschreckend, führte ihn bald in die einsame und wohlverwahrte Kammer, wo er den Knaben Mauro eingesperrt fand. Er nahm ihn an der Hand und führte seine Beute glücklich davon. Durch die zum Ausfall geöffneten Tore und im Gewirr der ein- und ausdrängenden Truppen gelangten beide rasch ins Freie, und während zu ihrer Linken noch donnernd und blutig der Kampf raste, schlugen sie eilig die Straße nach Schumla ein. –

Am 13. war Mehmed-Pascha, der Renegat Czaikowski, mit den bei Erekli stehenden Truppen vorgerückt und traf am 15. mit dem Chruleff'schen Korps bei Baldakidi zusammen. Gleichzeitig hatte Said-Pascha die bei Turkosimich auf der Straße von Rustschuk stehenden Truppen unter Iskender-Pascha, gemäß dem allgemeinen Operationsplan vorrücken lassen, während er selbst Giurgewo und die Mokan-Insel angriff. Aber Pawloffs Division, rechtzeitig benachrichtigt, warf sich den Truppen des ehemaligen Grafen Ilinski in den Weg und verhinderte ihre Vereinigung mit Silistria und dem türkischen Südkorps. Bis in die Nacht hinein dauerte die Kanonade.

General Schilder ward noch im Lager amputiert und dann nach Kalarasch gebracht. Aber der Brand trat in die Wunde, und es mußte eine zweite Amputation am oberen Schenkel vorgenommen werden.

Doch auch diese rettete den greisen Krieger nicht. Seine Stunde war am 13. gekommen, wie das Traumbild seines verewigten Kaisers ihm verkündet: er starb am 23. in den Armen des jungen Artillerie-Offiziers, der ihn vor der türkischen Gefangenschaft gerettet und den er nicht wieder von seiner Seite ließ. Er starb – indem er noch das Leid hatte, die Aufgabe der Belagerung und den Rückzug der Russen vom rechten Donauufer zu erfahren.

Beides erfolgte in den letzten Tagen des Monats, nachdem schon seit dem 15. jeder aktive Angriff aufgehört und die Belagerung sich auf eine teilweise Cernierung durch das Korps des Generals Grotenjhelm auf den von Jassy angelangten Befehl des Fürsten-Statthalters beschränkt hatte. Fürst Gortschakoff und die Generale Lüders und Chruleff trafen schon am 19. wieder in Bukarest ein, alle drei leidend und krank. Das Einrücken der Österreicher in die Donau-Fürstentümer wurde bereits ganz offen proklamiert. Im Angesicht der österreichischen Truppenmärsche, die den ganzen Raum von der serbischen Grenze an über Siebenbürgen bis zur Bukowina bedrohten; bei der Aufstellung neuer Truppen an der Grenze bei Krakau und der Bildung eines Reservekorps in Mähren war auch die Stellung in der Moldau bedroht, und es erfolgte der Befehl zum Rückgang über den Pruth. Damit endete der erste Akt des großen orientalischen Dramas.

An zehntausend Tote ließen die Russen allein vor Silistria zurück, darunter sechs Generale und fünf Obersten.

Der Donau-Feldzug hatte sie mit der furchtbaren Verheerung der Krankheiten an achtzigtausend Menschen gekostet.



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