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Ein düsterer Winterabend dunkelte über Paris. In launischem Mischmasch stöberten Schnee und Regen aus dem grauschwarzen Gewölke herab und ein schneidender Nordostwind, der als Bundesgenosse die Straßen und Boulevards entlang fegte, spornte die Beine von Mensch und Tier zu einem nur noch beschleunigteren Marschtempo.
Die »Elyseischen Felder« trugen an diesem Abend ihren mythologischen Namen wie zum Hohn, denn für einen »Lustort der Seligen« gaben die kahlen, ächzenden Bäume und die im Gaslicht sich spiegelnden Regenpfützen eine schlechte Staffage ab. Hier und da in den öden Alleen eine katilinarische Existenz, auf der Glücksjagd nach einem Schlupfwinkel oder einem Abendbrot – vielleicht auch Schlimmeres planend; an dem einen oder andern Kreuzweg ein verdrossen dreinschauender Sergent de Ville; zeitweise der weltmüde Hufschlag eines Fiakergaules oder der sausende Räderschwung einer herrschaftlichen Karosse: auf dieses Minimum reduzierte sich das ganze Leben und Weben, das zu andern Jahreszeiten die Baumgänge bis nach Mitternacht durchlärmt und durchschwärmt. Die Südseite der Champs-Elysées begrenzt die Seine; Regengüsse hatten den Fluß hoch angeschwellt und sein dumpfes Rauschen paarte sich mit dem Heulen des Windes zu einem Konzert, das sich am besten hinter soliden Doppelfenstern und einem wohlgeheizten Ofen anhörte …
Ähnlich der Tiergartenstraße zu Berlin, bilden auch die Alleen und Avenuen am Saume der Champs-Elysées ein Alignement von hocheleganten Herrschaftshäusern. In der Allee d'Antin, eine der reizendsten dieses idyllisch-aristokratischen Westends, vor Nummer Fünf, einer kleinen koketten Villa im Baustil des vorigen Jahrhunderts, machen wir Halt. Vor uns öffnet sich eine reichgeschnitzte Pforte von Eichenholz und klappt hinter uns wieder leise in Schloß und Riegel. Welch ein Szenenwechsel im Zeitraum einer Sekunde! Draußen das brutale Regiment des Winters – und hier behagliche Wärme und saftiges Pflanzengrün, das die breite Marmortreppe mit ihrer goldbronzierten Balustrade einsäumt. Eine geisterhafte Stille umfängt uns, dickwollene Smyrnateppiche in Korridor und Vorzimmern saugen den Hall unserer Schritte ein und lassen uns ungehört und ungestört den Endpunkt unserer Wanderung erreichen.
* * *
Der Kerzenkranz eines antikgeformten Kronleuchters erhellte einen mittelgroßen Salon, dessen ganzes Arrangement einen edeln, kunstsinnigen Geschmack kundgab. Vor den aus goldbraunem ägyptischem Jaspis gemeißelten Kamin war ein Fauteuil hingerollt, von dessen dunkelrotem Seidenbezug sich die Figur einer Dame in scharfen Umrissen abhob. In tiefes Sinnen verloren, verfolgte sie mit träumerischem Blick das Spiel der Kaminflamme, die züngelnd und knisternd an dem verkohlenden Holze emporleckte. Offenbar hatte sich die Dame mit Lesen beschäftigt, denn noch hielt ihre müde in den Schoß gesunkene, schlanke Hand eine kleines Heft, dessen Zeilenreihen die markige Schrift einer männlichen Feder erkennen ließen. Auch auf dem Kaminsims lagen Bücher, Briefe und sonstige Papiere.
Eine Robe von schwarzem venetianischem Samt umwallte in düsterm Faltenwurf den imposanten, junonischen Frauenleib, das nachtdunkle, üppige Haar war zu einem griechischen Knoten geschürzt und gab dem stolzen Kopfe das Gepräge einer altklassischen Camée.
Schon an anderer Stelle ist uns die Dame im Zauber ihrer wunderbaren Schönheit begegnet, im kaiserlichen Schloßtheater zu Compiégne, wo sie alle Blicke auf sich lenkte und den eifersüchtigen Groll der heißblütigen Landesmutter erregte. Die Randglossen, die der Rittmeister Colbert seinem afrikanischen Waffenbruder ins Ohr flüsterte, rufen uns den Namen der Fürstin Camilla von Bentivoglio, jener dämonisch-reizvollen Italienerin ins Gedächtnis zurück, wie es bei jener Gelegenheit in seinen einzelnen Zügen und Linien skizziert worden ist. Und doch, wie so fremdartig erscheint uns hier am einsamen Kaminfeuer die fürstliche Frau! Statt der brillanten Toilette, die sie damals im Theater entfaltete, jetzt ein schmuckloses, dunkles Gewand. Und an Stelle der marmorkalten Grandezza, womit sie damals in ihrer Loge dem Kreuzfeuer des Hasses, des Neides und des Spottes die Stirne geboten hatte, jetzt in Gesicht und Haltung der Ausdruck tiefster Schwermut und in den von langen Wimpern halbverschleierten Augen Tränenschimmer! – Die kostbaren, funkelnden Ringe, waren an diesem Abend abgelegt, bis auf einen einfachen Goldreif, an welchem soeben die Principessa durch einen leichten Druck die obere Platte zurückschob. Eine zweite Platte zeigte sich darunter, in deren Oval das Bild einer aufgehenden, flammenden Sonne eingraviert war. Um das Symbol des Lichtes und des Triumphes reihten sich wie ein Kranz die zierlich gestochenen Buchstaben einer Devise oder irgendeines Denkspruches. Die Fürstin drehte den Ring gegen das Kaminfeuer, daß der helle Widerschein auf die Legende fiel.
» Sorella, anche Te chiama la patria!« Schwester, auch dich ruft das Vaterland!
Sie hatte es mit halblauter Stimme gelesen und dann ihre Hände gefaltet wie zu einem stillen Gebet. Leise, als wolle es die Träumerin nicht stören, knisterte das Feuer im Kamin, gespenstig rauschte draußen der Wind durch die kahlen Baumwipfel – – durch die Seele des trauernden Weibes aber stürmte eine Flut von Erinnerungen, so wild und düster wie dort oben das treibende Wettergewölke am Nachthimmel … Auf dem Kaminsims, dem Sessel der Fürstin gerade gegenüber, lehnte ein mittelgroßes Ölgemälde in solcher Stellung, daß die Kerzen des Kronleuchters die Figuration desto wirksamer aus den Schatten des Hintergrundes hervortreten ließen. Von meisterlicher Hand ausgeführt, war es das Brustbild eines Mannes in den dreißiger Jahren – von stämmiger, muskulöser Gestalt. Die tiefe Schwärze des dichten, leichtgelockten Haupthaares und des wohlgepflegten Vollbartes, der wachsgelbe Teint des scharfgeschnittenen Gesichtes deuteten unverkennbar auf den Südländer hin und fanden in Farbe und Ausdruck der dunkelglühenden Augen ihre harmonische Ergänzung. Es war nicht das Bild eines schönen Mannes, im gewöhnlichen Sinne; desto mächtiger aber erfaßten diese Züge den tiefer forschenden Blick, denn hier zeigte sich im individuellsten Gepräge ein Charakterkopf, der, einmal gesehen, sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingrub. Ein seltsames Gemisch von unbeugsamem Trotz und geschmeidiger Klugheit, von wilder Energie und schwärmerischer Melancholie pulsierte in diesem merkwürdigen Kopfe durcheinander und war von dem Maler zum naturgetreuesten Ausdruck gebracht.
Ein dunkelbrauner Radmantel, wie ihn weiland die Carbonari und Klubbisten des »jungen Italiens« trugen, drapierte in leichtem Faltenwurf die breiten Schultern und die rebellische Symbolik dieses Kleidungsstückes – das vormals die Wut der Polizeidiener und Gendarmen gerade so reizte, wie ein roter Lappen den Stier – bezweckte offenbar mehr, als der Figur eine bloß dekorative Zutat zu geben. Der Mantel repräsentierte ein politisches Programm: er war das Parteizeichen des revolutionären Umsturzes.
Der Verschwörer schien in düsterem Ernst auf die schmerzgebeugte Frauengestalt herabzublicken mit der stillen Mahnung:
»Schwester, auch dich ruft das Vaterland!«
Wie von einer magnetischen Kraft angezogen, richtete sich das gedankenvoll gesenkte Haupt der Fürstin empor: traurig und schaurig glühten ihr dort in dem Bilde die tiefen Geisteraugen entgegen und wie ein Hauch aus einer andern Welt schien den stummen Lippen eine Erlösung fordernde Frage zu entschweben.
Welchen Gedächtnistag aber feierte die Fürstin heute und welche Erinnerungen umwogten wie eine blutige Vision das Bild?
* * *
Am Abend des vierzehnten Januar 1858 zeigte sich zu Paris vor dem Opernhause eine besondere Bewegung. Zu Ehren eines ausscheidenden Mitgliedes sollte eine Benefizvorstellung stattfinden, die, wie es hieß, mit außergewöhnlichem Pomp inszeniert worden war. Schon diese von den Zeitungen ausposaunte Reklame hätte genügt, die neugierigen Pariser herbeizulocken; noch pikanter aber ward der Köder, als sich die Kunde verbreitete, der Kaiser und die Kaiserin würden den Benefizianten durch ihre Anwesenheit auszeichnen. Ein ausverkauftes Haus war das Resultat dieses zugkräftigen Boulevardgerüchtes. Vor dem Opernhause und in seiner nächsten Umgebung drängte sich ein Haufen von Gaffern, denen es ihr Beutel oder ihre Zeit nicht erlaubten, der Aufführung beizuwohnen, und die sich jetzt wenigstens außen die heranrollenden Karrossen und den Aufzug der Kaiserlichen Majestäten ansehen wollten. Bald nach acht Uhr ward dem Polizeiinspektor, der an jenem Abend den Dienst im Opernhause hatte, durch eine reitende Ordonnanz rapportiert, die allerhöchsten Herrschaften dürften binnen kürzester Zeit eintreffen. Wirklich hatte der kaiserliche Cortége bereits die Tuilerien verlassen und in gemächlichem Trab die Boulevards passiert, um dann in die Straße Le Peletier einzulenken, wo damals noch das alte – seitdem nach dem Boulevard des Capucines verlegte – Opernhaus stand. Drei Equipagen bildeten den kaiserlichen Wagenzug, den eine aus achtundzwanzig Garde-Lanziers formierte Abteilung unter dem Kommando eines Leutnants eskortierte. Der Glaswagen des Kaisers war die hinterste der drei Equipagen; am rechten Kutschenschlag ritt der Leutnant der Kavalleriebedeckung, drüben zur Linken der zugführende Wachtmeister. Die zwei vorderen Wagen, in denen höhere Hofbedienstete plaziert waren, entledigten sich, vor dem Opernhause angelangt, ihrer Insassen – dann fuhr der in kurzem Abstand nachfolgende Wagen des Kaisers vor und bog nach dem pavillonartigen Anbau hin, von wo eine besondere Treppe zur kaiserlichen Loge emporleitete. In begreiflicher Neugierde drängte sich die umstehende Gaffermenge soweit heran, als es der raschgezogene Kordon von Polizeiagenten, deren an diesem Abend nahezu hundert zur Stelle waren, gestattete.
Im Lichtschein der Gaskandelaber konnte man leicht das Innere des Wagens überblicken und den Kaiser, ihm zur Seite die Kaiserin, deutlich erkennen. Auf dem Vordersitze, den Majestäten gegenüber, zeigte sich der General Roguet, eine hagere, altersgraue Soldatenfigur, seit dem blutigen Staatsstreich den Parisern wohlbekannt, zugleich auch seitdem persönlicher Adjutant und Vertrauter des Imperators. Der Jahreszeit angemessen, steckte das souveräne Ehepaar bis an den Hals herauf in kostbarem Pelzwerk und nur der bürgerliche Zylinderhut auf dem Kopfe des Kaisers ließ erraten, daß Louis Napoleon – der bekanntermaßen mit Viktor Emanuel die persönliche Abneigung gegen den knappen, zugeknöpften Militärrock teilte – in gewohnter Weise Zivilkleidung trug.
» Vive l'Empereur! Vive l'Imperatrice!« schrie es aus ein paar Dutzend Kehlen und dankend nickten die Majestäten. Soeben hatte der Wagen den Perron erreicht und mit einem leichten Zügelruck parierte der Leibkutscher seine zwei feingeschulten Orloffrappen, während die Ulaneneskorte sich seitwärts zu einem Peloton in zwei Gliedern rangierte – – da gibt es mit einemmal einen klatschenden Schlag, wie der Widerprall eines auf das Straßenpflaster geschleuderten Metallkörpers – in braunrotem Farbenschiller flammt es auf wie ein Wetterleuchten – – hinterdrein, im Bruchteil einer Sekunde, erdröhnt ein betäubender Knall, und ein Hagel von Eisensplittern sprüht rings nach allen Seiten hin!! …
Unter dem Luftdruck des explodierenden Donnerschlags waren sofort in der ganzen Umgebung die Gasflammen erloschen und die Fensterscheiben klirrend zersprungen. Eine nicht nach Schießpulver, sondern nach irgendeinem chemischen Präparat riechende Dunstwolke umschleierte den kaiserlichen Wagen.
Gnade Gott! Ehe noch das taumelnde Gehirn einen Gedanken fassen, flammt's schon zum zweitenmal durch die Finsternis hin und zum zweitenmal ein schmetternder Krach mit seinem prasselnden Eisenregen.
Und zum dritten glüht's und sprüht's, als wolle sich in Feuer und Erdbeben die Hölle spalten!!! … Dann verstummte die furchtbare Batterie.
Jetzt erst löste sich die allgemeine Erstarrung in einen unbeschreiblichen Tumult auf, den das nächtliche Dunkel nur noch grausiger gestaltete. Reiterlose Ulanengäule jagten durch das Getümmel und hinterdrein stürmten, die halbzertrümmerten Fuhrwerke mit sich fortschleifend, schreckenstolle Gespanne, die sich durch keinen Zügel mehr meistern ließen und alles, was ihnen in den Weg kam, unter ihren Hufen und Rädern niederrissen. Ein wirrer, kreischender Knäul von Mann, Weib und Kind – Kommandorufe – rings das Wimmern und Stöhnen von verwundeten Menschen und Pferden … Mit Fackeln und Laternen kam die im Opernhause stationierte Pompiersbrigade herbeigestürzt und beleuchtete den blutigen Schauplatz eines diabolischen Verbrechens. Daß das Attentat dem Kaiser gegolten, war offenbar. Das erste Sprenggeschoß hatte sich mitten zwischen der Ulaneneskorte entladen; die zwei nachfolgenden waren von festerer Hand geschleudert worden, denn während die eine Bombe dicht vor den Wagenpferden des Kaisers explodierte und die beiden Rappen mitsamt ihrem Kutscher schwerverwundet niederstreckte, war das dritte und letzte Projektil direkt unter dem Wagen geborsten. Wie sich späterhin ergab, hatten mehr als siebzig Sprengstücke das Holz- und Lederwerk zerfetzt, waren aber an dem schußfesten Eisenpanzer, der innen den ganzen Kutschenkasten garnierte, schadlos abgeprallt. Selbstverständlich hielt es die Polizei für ihre allererste Aufgabe, sich mit der Person ihres hohen Brotherrn zu beschäftigen. Ein Dutzend Fackeln und Laternen leuchtete nach dem Wagen hin, den die Wucht der Explosion halb aus seinem Vordergestell gehoben und quer über das Trottoir geschlenkert hatte. Bleich und regungslos hielt sich Louis Napoleon in die Wagenecke gedrückt – dicht an ihn hingeschmiegt, hatte Eugenie ihre Arme um den Gemahl geschlungen. Den gegenübersitzenden General Roguet hatte ein durch die Glasscheiben des Wagens hereingespritztes Sprengstück im Nacken getroffen und schwerverletzt war der alte Haudegen halb umgesunken. Durch eine zertrümmerte Scheibe des Glaswagens streckte sich ein von Blut überströmtes Gesicht herein: von ihrem Sitze emporschnellend, stieß die Kaiserin einen lauten Schrei aus, denn in ihrem namenlosen Entsetzen mochte sie glauben, es sei der Mordgeselle, der sein Werk vollenden wolle.
Der Kaiser aber hatte schon in dem Manne einen schirmenden Helfer erkannt: er war der Korse Alessandri, Brigadier der Geheimpolizei – derselbe Leibwächter, der am 28. April 1855 in den Elyseischen Feldern dem Kaiser das Leben gerettet hatte, indem er, seine eigene Haut in die Schanze schlagend, dem Meuchelmörder Pianori den Revolver entriß, der bereits auf sein Opfer zielte …
Hinter dem Brigadier tauchten Uniformen und noch andere bekannte Gesichter auf und gaben dem so wunderbar dem Tode entronnenen Herrscherpaar die Beruhigung, daß zunächst nichts mehr zu befürchten sei. Polizeiagenten, die unverletzt gebliebenen Reiter der Eskorte, ein von der nächsten Wache herbeigeeiltes Infanteriepikett, Lakaien und sonstige Vertrauenspersonen bildeten mit ihren Leibern sozusagen, eine Böschung, hinter welcher der Kaiser und die Kaiserin ausstiegen und sich zunächst in das Bureau des im Opernhause diensttuenden Polizeikommissars begaben. Im Gefolge befand sich auch Dr. Larrey, der Leibarzt des Kaisers. Larrey konstatierte, daß die Kaiserin bei der Katastrophe ganz und gar heil davon gekommen war. Dem Kaiser hatte ein durch das Wagenfenster hereingeflogenes Sprengstück den Hut durchlöchert und gleichzeitig hatte ihm ein Glassplitter die Stirn blutig geritzt. Das war alles und ein englisches Heftpflästerchen deckte den ganzen Leibschaden zu. – Schlimmer hatten die drei Bomben nach anderer Richtung hin gehaust! Nicht weniger als Einhundertsechsundfünfzig Personen – Männer, Weiber und Kinder – waren von den Sprengstücken getroffen worden, darunter nahezu vierzig Polizeiagenten. Die Ärzte konstatierten die Gesamtzahl von Fünfhundertundzehn Verletzungen und Verstümmelungen. Ein Lancier hatte allein siebenundzwanzig Blessuren aufzuweisen; ein junger Mensch aus dem Zivilstande zweiundzwanzig. Auch die Pferde der eskortierenden Ulanen waren nur bis auf vier unverletzt geblieben.
Dennoch – und das ist gewiß das Merkwürdigste – hatte die ganze furchtbare Katastrophe unmittelbar nicht ein einziges Menschenleben gekostet! Erst im Verlauf der nächsten Tage starben acht Personen an Wundfieber u. dgl.
Aus dem Bureau des Polizeikommissars waren mittlerweile die Majestäten in ein passenderes Gemach geleitet worden. Seiner äußern Haltung nach zu schließen, hatte Louis Napoleon ganz das kalte Phlegma wiedergefunden, das den eigentlichen Grundzug seiner Natur bildete; auch die Kaiserin war inzwischen Herrin über ihre erschütterten Nerven geworden und wandte jetzt ihre teilnahmsvolle Sorge den Verwundeten zu, die draußen zusammengesucht und nach den verschiedenen Spitälern geschafft wurden. Der Polizeipräfekt und die anwesenden Würdenträger der Regierung erwogen die Frage, was zunächst zu tun sei: ob die Majestäten direkt nach dem Schlosse zurückkehren, oder aber der Vorstellung beiwohnen und sich dem Publikum zeigen sollten. Der Kaiser und die Kaiserin entschieden sich sofort für letzteres und betraten ihre Loge.
Diesmal war es wohl zum größten Tell ein aufrichtiger und herzlich gemeinter Jubel, der den Imperator und seine Gemahlin empfing, denn die rein menschliche Teilnahme hieß momentan Reflexionen des Verstandes schweigen. Noch im Theater empfing Louis Napoleon einen Rapport über die vorläufigen Feststellungen der Polizei. Der Bericht erachtete es als zweifellos, daß das Attentat von Mitgliedern des italienischen Carbonaribundes geplant und ausgeführt worden sei; die Polizei glaube übrigens, in allerkürzester Zeit den oder die Urheber ausfindig und dingfest machen zu können. Der Kaiser hatte offenbar in dem Mordanschlag nur die Ausgeburt eines einzelnen tollen Kopfes erblickt: die aufklärende Notiz, daß es sich hier um ein regelrechtes Carbonarikomplott handle, erschütterte sichtlich den bisherigen Gleichmut Louis Napoleons und es entging seiner Umgebung nicht, daß er bei dieser Kunde unwillkürlich erbleichte. Die Bedeckung von Militär oder Polizei kurz, fast barsch abweisend, fuhr er düster und gedankenvoll nach den Tuilerien zurück; kaum beachtete er unterwegs die Grüße und Hochrufe des zahllos angesammelten Publikums, bei welchem es inzwischen wie ein Lauffeuer ruchbar geworden war, das Attentat gehe von Italienern aus; das beleidigte französische Nationalgefühl ergriff sofort die Gelegenheit, dem tausendstimmigen » Vive l'Empereur« einen demonstrativen Akzent zu geben. – – – Noch in der gleichen Nacht löste die Polizei ihr dem Kaiser gegebenes Versprechen ein und bevor der Morgen graute, saßen die Urheber der Bluttat auch schon hinter Schloß und Riegel. Es waren die Italiener Carlo de Rudio, Antonio Gomez, Giuseppe Pieri und als Vierter – zugleich als Autor und Regisseur der Mordtragödie – der Graf Felix Orsini.
Von London aus hatten sich die vier zuerst nach Brüssel und dann nach Paris begeben, um das von Orsini geplante Attentat, das Italien von der Napoleonischen Bevormundung befreien sollte, gemeinsam in Ausführung zu bringen. Und so behutsam, in so schlauer Weise waren sie zu Paris an ihr Werk gegangen, daß die sonst so scharfen Augen und Ohren der Kaiserlichen Polizei sich bis zur letzten Sekunde hatten düpieren lassen. Unangefochten, einen englischen auf den Namen Thomas Alsopp ausgestellten Reisepaß präsentierend, war Orsini auf das französische Gebiet gelangt. In gleicher Weise seine drei Komplizen. Mit ihnen passierten auch die zu Birmingham fabrizierten, einstweilen noch auseinandergeschraubten Wurfbomben – fünf an der Zahl und nach einer Zeichnung Orsinis konstruiert – unter der harmlosen Signatur eines neu erfundenen Gasapparates unbehelligt die Zolllinie. Erst zu Paris wurden die Bomben zu ihrem mörderischen Zweck hergerichtet und mit ihrer Sprengladung gefüllt. Statt gewöhnlichem Schießpulver sollte Knallquecksilber dienen, das Orsini gleichfalls von England herübergebracht und in einem Reisesack bei sich geführt hatte, auf das Risiko hin, daß das ungemein leicht entzündliche Präparat jeden Moment explodieren und ihn selber in die Luft sprengen könne …
Was aber von Orsini als die sicherste Garantie des Gelingens erachtet worden war, sollte sich gerade im entscheidenden Augenblick als ein Fehlschlag erweisen. Der Verschwörer hatte sich nämlich von der wissenschaftlich und praktisch konstatierten Erwägung leiten lassen, daß die Sprengkraft des Knallquecksilbers die des Schießpulvers mindestens um das Dreißigfache übersteigt. Und dennoch lag just in diesem explosiven Übermaß eine um eben so viele Prozente reagierende Abschwächung des von Orsini erhofften Effektes! Schießpulver hätte den eisernen Bombenkörper in wenige, aber desto wuchtigere Bruchstücke zerrissen: das Knallquecksilber dagegen verkrümelte – eben vermöge seiner enormen Sprengkraft – die Bombenhülse gewissermaßen zu einem Schrothagel.
Auf diese Weise erklärt es sich zugleich, wie mehr als hundertfünfzig Personen getroffen werden konnten, ohne daß eine einzige direkt den Tod dabei fand.
Die ferneren Details des Attentates und des sich daran knüpfenden Kriminalprozesses dürften dem Leser bekannt genug sein und greifen hier auch nicht weiter in die Szenerie unseres Romanes ein. Aber nach anderer Richtung hin beansprucht Felix Orsini unser Interesse und wenn das Charakterbild der Fürstin Camilla von Bentivoglio – die in diesem Buche eine so eminente Rolle spielen wird – in all seinen, oft rätselhaften Zügen uns verständlich werden soll, so müssen wir notwendigerweise zugleich auch dem Vorleben des zu so trauriger Berühmtheit gelangten »Bombengrafen« eine nähere Betrachtung widmen.
* * *
Graf Felix Orsini – geboren im Jahre 1819 zu Medola im Kirchenstaate – war schon als achtzehnjähriger Jüngling der päpstlichen Polizei verdächtig geworden und in ihren Listen und Registern figurierte er als rebellischer Tollkopf. Mit neunzehn Jahren trat er zu Bologna in den von Mazzini gestifteten Geheimbund des »jungen Italiens«. Im Jahre 1843, bei der Revolte zu Bologna, focht er an der Seite seines gleichgesinnten Vaters gegen die päpstlichen Schweizer und Gendarmen. In einem Blutbad, wie es später Murawieff zu Warschau anrichtete, ließ der heilige Vater den Aufstand ersticken; durch einflußreiche Verwendung wurden die beiden Orsini von der als Kriegsgericht fungierenden Sacra Consulta zu lebenslänglicher Galeerenhaft »begnadigt«. Felix stand damals im Alter von fünfundzwanzig Jahren. Vater und Sohn wurden im Bagno an eine und dieselbe Kette festgeschmiedet und den gemeinsten Verbrechern und Mördern beigesellt. Drei Jahre lang erduldeten die beiden ein Martyrium, das sie alle nur erdenkbaren Qualen kosten ließ und schon hatten sie sich mit dem Hinblick, an ihrer Kette zu sterben, vertraut gemacht – – da leuchtete mit einemmal ein Sonnenstrahl in ihren düstern Kerker!
Gregor der Sechzehnte, der erbarmungslose Tyrann im Priesterkleide, war durch den Tod vor einen höhern Richter geladen worden und Pius der Neunte hatte die Nachfolge in der Statthalterschaft Christi angetreten. Mit einer Amnestie weihte er sein Regiment ein und sein Pardon sprengte auch die Kette der beiden Orsini. Vater und Sohn mußten übrigens zuvor ein Schriftstück unterzeichnen, worin sie dem Papste und seiner Regierung Treue gelobten. Man weiß, daß Graf Felix diesen Zwangseid bald darauf gebrochen hat. Gegen die Vorwürfe, die ihm deshalb gemacht wurden, verteidigte er sich mit dem Einwande: Aug' um Aug', Zahn um Zahn! Mit der ihm eigenen Energie begann Orsini in dem angrenzenden Toskana zu agitieren; die toskanische Polizei, die begreiflicherweise keine Lust hatte, sich ihre absolute Omnipotenz durch die Paragraphen einer Konstitution beschneiden zu lassen, packte den Verfassungsapostel fest. Ter Großherzog Leopold der Zweite war es selber, der das Haupt Orsinis dem Henkerbeile entzog; der persönlich ungemein humane und aufgeklärte Fürst mochte für sich die Überzeugung haben, daß in seinem Staate vieles faul und daß die politische Regeneration nicht durch einen Beilstreich des Scharfrichters abzuwenden sei. Auch dem Verlangen der Camarilla, den Rebellen mindestens auf Lebenszeit einzusperren, gab der Monarch kein Gehör: um der gesetzlichen Form schlecht und recht zu genügen, ließ er den Agitator über die Landesgrenze schaffen.
So kam das »tolle« Jahr 48 heran. Zu Venedig und Mailand ging der Spektakel gegen die Österreicher los und überall war Felix Orsini dabei. Hauptmann in der famosen Freischar Zambeccaris, schlägt er sich bei Vicenza, Treviso und Mestre wie ein Löwe.
Pius der Neunte hat inzwischen sein demokratisches Programm, als »schätzbares Material«, in den Papierkorb geworfen und über die Bajonette seiner Söldnerregimenter hinweg erklärt er den Geistern, die er rief, jetzt sei es des »Freiheitsschwindels« genug. Das Rad war aber nun einmal im Rollen und der Pontifex, der sich dagegen stemmen will, muß die Flucht ergreifen und sich nach der Festung Gaëta salvieren. Zu Rom konstituiert sich die Nationalversammlung, und Felix Orsini gehört ihr als Mitglied an. Hier nun, im Jahre 1849, begegneten sich zum erstenmal der adelige Rebell und die Fürstin Camilla, die, gleichfalls einem alten Grafengeschlecht entsprossen, damals übrigens noch unverheiratet und ein Mädchen von kaum siebenzehn Jahren war. Orsini zählte – im bessern Sinne des Wortes – zu den Löwen des Tages. Von der Nationalversammlung zum Sicherheitskommissar ernannt, hatte er mit eiserner Faust und gewohnter Todesverachtung die Brigantenhaufen niedergeschlagen, die im Solde der Reaktionspartei die Umgegend von Terracina und Ancona mit Mord und Brand erfüllten. Südliche Phantasie feierte in Bild und Lied den Sieger und seinen romantischen Feldzug. Der nebenbei auch noch körperlich imposante, in der Vollkraft seiner dreißig Lebensjahre stehende Volkstribun war also ganz dazu angetan, auf Camilla, die junge feurige Romagnolin, einen tiefen Eindruck zu machen. Die Eltern des Mädchens waren bereits gestorben und eine zu Rom wohnende Tante, die Marchesa ***, hatte die junge Waise zu sich genommen. Die Mutter Orsinis war eine intime Freundin der Marchesa gewesen und diese Empfehlung erschloß ihm auch diesmal wieder das Haus der liebenswürdigen alten Dame, trotzdem sie keineswegs die politischen Gesinnungen ihres Gastes teilte. In zwanglosester Weise verkehrte der Tribun mit dem körperlich und geistig ungewöhnlich entwickelten Mädchen und die Gefahren einer sinnlichen Verirrung mochten bei zwei so vulkanischen Naturen nahe genug liegen. Trat aber an Orsini wirklich die Versuchung heran, so hat er sie jedenfalls siegreich überwunden und bis zu seinem blutigen Tode ist das Freundschaftsverhältnis zwischen ihm und Camilla ein ritterlich-fleckenloses geblieben. » Sorella« hatte er sie in einer weihevollen Stunde genannt und eine treue, zärtliche Schwester ist sie ihm gewesen. Mehr nicht! – – Inzwischen rückte die politische Katastrophe immer näher heran.
Mit Österreich verbündet, flocht das republikanische Frankreich den Henkerstrick, der das revolutionäre Italien erwürgen sollte. Die Rothosen marschierten auf Rom los. Wie ein Heros der Homerischen Iliade focht Orsini an der Seite Garibaldis. Erst nach wochenlanger Belagerung pflanzten die Römer auf der Engelsburg die weiße Fahne auf und am 3. Juli 1849 ergab sich die Stadt auf Gnade und Ungnade an den französischen General Oudinot. Noch in der Nacht zuvor war Garibaldi mit seiner Legion abgezogen, um anderwärts die letzten Schanzen der Freiheit zu verteidigen. Orsini wandte sich nach Genua, wohin ihn eine Order Mazzinis berief. Vor seinem Scheiden empfing noch Camilla von ihm sein Bild und einen Ring – jene beiden Pfänder der Erinnerung, die auf den einleitenden Blättern dieses Kapitels näher beschrieben worden sind. »Schwester, auch dich ruft das Vaterland.« Dies war das Lebewohl, das der scheidende, aufs neue dem Tod entgegengehende Agitator dem schmerzgebeugten Mädchen in die Seele flüsterte.
Wir können hier die Lebensbahn Felix Orsinis nur in großen Sprüngen durcheilen, denn in unserm Buche ist er ja keine mithandelnde Persönlichkeit und sein blutiger Schatten soll darum auch nur so weit heraufbeschworen werden, als er in die Gedankenwelt und spätere Rolle der Fürstin Camilla eingreift.
Zu Genua hatte, nach Niederwerfung der römischen Republik, der Exdiktator Mazzini seine Emissare zu einem geheimen Kriegsrat versammelt und denselben mit den Worten eröffnet: »Wenn ein Volk durch stärkere Gewalt zu Boden gedrückt worden ist, so darf es in seiner Niederlage ein großes Unglück erblicken – aber es gibt noch ein größeres Unglück: die dumpfe und stumpfe Ergebung in das momentane Schicksal! Ein Volk, das unter dem blutigen Schwerte des Siegers einschläft, läuft Gefahr, Nitz wieder zu erwachen – eine solche Ruhe ist der Tod … Wir müssen Italien, diese schmerzenreiche Niobe, wach erhalten, die müde Märtyrerin darf nicht in einen lethargischen Schlaf versinken! Von den Alpen bis hinab zum Ätna muß der Volksgeist auf dem Kriegsfuß verbleiben – elektrische Schläge, von da und dort hervorzuckend, müssen dem Feinde klar machen, daß der revolutionäre Gedanke noch lebt und webt, daß seine Träger und Apostel des Henkers und der Standrechtskugel spotten!« Der tätigste und gewandteste dieser Apostel war fortan Felix Orsini.
Ruhelos saß er wie ein neckischer Kobold den Österreichern im Nacken, da und dort zettelt er Putsche an, er ist überall und nirgends. Es sind nur Wespenstiche, die er austeilt, aber sie erreichen ihren Zweck: sie beschäftigen den Geist und die Unterhaltung der Italiener und das ist alles, was Mazzini vorläufig begehrt.
Fast fünf volle Jahre trieb Orsini das gefährliche Spiel, den österreichischen Koloß mit einem Strohhalm unter die Nase zu kitzeln. Hundertmal schlug der Menschenfresser nach dem dreisten Däumling und – hundertmal entwischte dieser dem grimmigen Streiche. Ein ganzes Buch ließe sich füllen mit all den bald romantischen, bald humoristischen Bravourestücken, die Orsini mitten im Lager des Todfeindes ausführte.
Nur ein einziges Mal hatte er, seit der Trennung zu Rom, Camilla wiedergesehen. Es geschah dies am Genfer See. Eine rege, durch vertraute Mittelpersonen beförderte Korrespondenz war aber das Band, das die beiden in patriotischer Ekstase erglühenden Seelen umschlungen hielt – auch nachdem Camilla, der Staatsraison der Tante sich opfernd, einem neapolitanischen Krösus, dem Fürsten von Bentivoglio ihre Hand – nicht ihr Herz – dargereicht hatte …
Endlich erreichte das Schicksal auch den kühnen Sturmglöckner der Revolution: am 28. August 1855 ward Orsini zu Mantua von der österreichischen Polizei ergriffen und unter einem wahren Triumphgeheul der »Kaiserlichen« nach dem Kastell San Giorgio – dem Gewahrsam für die schwersten Verbrecher – geschleppt, aus der er später auf ans wunderbare grenzende Weise entwich.
Zunächst ist aber die Sache in ihrem allgemeinen Verlauf denn doch zu bekannt und zweitens hat, aus den schon oben angeführten Gründen, auch diese Lebensepisode Orsinis für unser Buch nur so weit Bedeutung, als die Fürstin Camilla dabei handelnd auftritt. Trotzdem soll uns die Mantuanische Leidenszeit Felix Orsinis die Gelegenheit bieten, hier ein Kapitel zu berühren, das der Mehrzahl unserer Leser minder bekannt sein dürfte.
Wir schaudern, wenn wir von den Qualen und Martern hören, die weiland in den Kerkern der Inquisition zur Anwendung kamen – und dennoch hat, Jahrhunderte später, das österreichische Säbelregiment in der Lombardei eine Gefängnisdisziplin geschaffen, die den politischen Ketzer fast genau die gleichen Grausamkeiten kosten ließ, wie sie vormals von den Folterknechten des »Heiligen Offiziums« gegen die religiösen Sektierer verübt worden sind.
Das Jahr 1848 hätte den Österreichern die ganze Ungerechtigkeit ihrer Fremdherrschaft in dem sogenannten Lombardisch-Venetianischen Königreich klar machen können; mehr als dreißig Jahre lang war ja mit einer Art von boshafter Lust der große Staatskünstler Fürst Metternich darauf bedacht gewesen, alles zu tun, was die Erbitterung der Italiener reizen und nähren mußte. Wie in Ungarn, so suchte er auch in der Lombardei jede nationale Regung mit eiserner Faust zu erwürgen: die demütigsten Bitten um die bescheidensten Reformen wies er mit Hohn und verschärfter Strenge zurück. Der Aufstand der Lombarden im Jahre 1848 begann als Epos und endete als Tragödie. Mit Pulver und Blei sprengte Radetzky die »Malefizdemokraten« auseinander und von den Zinnen Mailands herab berichtete der greise Soldat à la Julius Cäsar nach der Wiener Hofburg: Veni, vidi, vici.
Die Brutalität der österreichischen Polizei feierte jetzt einen wahren Hexensabbat. Raubmörder oder sonstige Verbrecher der gemeinsten Gattung waren in den Augen der Kaiserlichen Landpfleger schuldlose Osterlämmer, im Vergleich mit so einem verfluchten »Revoluzzer«, der sich in seiner Frechheit einbildete, Italien gehöre den Italienern. Wo selbst für die eigenen Landeskinder in Waffen der Korporalsstock florierte, da konnte es solch ein welscher Rebellenhund wahrlich doppelt und dreifach in der Ordnung finden, wenn er beim geringsten Aufmucken in den österreichischen Wachtstuben mit Peitsche und Prügel blutig geschlagen wurde.
Der Delinquent wurde bis auf die Haut entkleidet, den einen Arm bekam er fest an den Leib gebunden und ebenso das eine Bein in die Höhe geschnallt, so daß er nur noch auf seinem einen Fuße stand. Um das Handgelenk des freigelassenen Armes legten die Peiniger eine dünne, aber starke Schnur, die über eine an der Zellendecke befindliche eiserne Rolle lief und an welcher der Arm so hoch gezogen wurde, daß zuletzt das Opfer dieses barbarischen Spieles nur noch mit den Zehenspitzen den Boden berührte. In dieser Position – einer Skala der schmerzvollsten Muskelkrämpfe und Blutstockungen – ließ man den Züchtling stundenlang hängen, oder richtiger bezeichnet: schaukeln und sein Röcheln fand in dem schallenden Gelächter der Henker ein erbarmungsloses Echo …
Noch ein anderes Hausmittelchen gab's in den lombardisch-venetianischen Kerkern, um einen renitenten Gefangenen »zahm« zu machen, oder ihm irgendwelche Geständnisse über seine politischen Führer und Parteigenossen zu erpressen.
Hier kommen wir wiederum zu Felix Orsini, der diese Zähmungsprozedur im Kastell San Giorgio praktisch absolviert hat.
Bald nach seiner Ergreifung zu Mantua war Orsini durch einen österreichischen Polizeibediensteten auf die infamste Weise insultiert worden. Die seiner Person geltenden Schmähungen nahm der Gefangene mit stoischer Ruhe hin – als aber der Scherge seinen brutalen Hohn auch gegen Italien und das italienische Volk richtete, da schmetterte ihn der Agitator mit einem Faustschlag zu Boden.
Racheschnaubend taumelte der gezüchtigte Unhold aus der Zelle.
Das war morgens geschehen.
Am Nachmittag erschienen ein Dutzend Gefängniswärter, Polizisten und Soldaten, die den Rebellen in die Mitte nahmen und nach einer andern Zelle brachten. Seine enorme Muskelkraft war den Österreichern schon von früher her bekannt und demzufolge hatte es der so summarisch abgefertigte Polizeiaktuar für rätlich befunden, sich mit einer genügenden Sicherheitstruppe zu umgeben. Orsini ahnte sofort, daß seine plötzliche Dislozierung mit dem am Morgen stattgefundenen Intermezzo in direkter Verbindung stehe, nur konnte er nicht wissen, was ihn eigentlich erwarte. Ein Rundblick zeigte ihm, daß die vier Wände der Zelle mit einem Getäfel von Blech bekleidet waren; das hoch oben angebrachte, stark vergitterte Fensterchen hatte innen noch einen besondern Drahtschirm, der Fußboden bestand aus Backsteinen, die Türe war von oben bis unten dick mit Eisen beschlagen. Als einziges Mobiliar befand sich in der Zelle ein an die Wand befestigter Holzblock.
Noch fragte sich Orsini, was diese Umquartierung wohl bezwecken solle, als auch schon zwei Kerkerknechte einen Kasten hereinbrachten, den sie mitten in der Zelle niederstellten. Mit einem Ruck riß einer der beiden Kerle den Deckel des Kastens auf und – – quiekend entsprang der geöffneten Pandorabüchse ein ganzes Rudel großer Ratten. Wenigstens vierzig bis fünfzig Stück. Scheu flüchtete sich das häßliche Ungeziefer in die Ecken der Zelle. Diesen Moment benutzten die beiden Knechte, um sich mit dem jetzt leeren Kasten durch einen Türspalt hinauszuzwängen. Beim Anblick der Ratten hatte Orsini sofort erraten, was ihm bevorstehe und sein erster Impuls war es gewesen, nach der Türe hinzustürzen. Doch ein ebenso rascher Gedankenblitz hemmte seine Füße. Der Aktuar war jedenfalls gesonnen, sich sein Rachewerk nicht vereiteln zu lassen und an der Übermacht seiner Helfershelfer mußte jeder etwaige Widerstand des Gefangenen scheitern. Mit roher Gewalt hätten sie ihn in die Zelle zurückgestoßen. Die stolze Seele des Agitators wollte es auf eine solch gemeine Rauferei nicht ankommen lassen: stumm, mit einem verächtlichen Lächeln die Arme über die Brust kreuzend, blieb er mitten in der Zelle stehen.
»Gute Unterhaltung!« riefen ihm die herzlosen Gesellen lachend zu – dann flog die Pforte dröhnend in Schloß und Riegel.
Orsini war mit seinen scheußlichen Gesellschaftern allein …
Noch hielt die Ratten ihr menschenscheues Naturell in die Ecken der Zelle zusammengekauert, aber spätestens mit Einbruch der Dämmerung mußte dieser Bann brechen. Das Dunkel gab dann dem Ungeziefer seine ganze Dreistigkeit zurück. Orsini benutzte den kurzen Waffenstillstand, um über seine kritische Situation nachzudenken. Ein nochmaliger Blick auf die ganze Einrichtung der Zelle machte ihm klar, daß sie speziell für die ihm zugedachte Tortur getroffen war. Die Blechvertäfelung der Wände sollte jeden Bohrversuch der Ratten verhindern und ihr ganzes Augenmerk auf den Gefangenen konzentrieren. Um andererseits diesem jede Verschanzung gegen das ekelhafte Gezücht unmöglich zu machen, war die Zelle ganz und gar leer, bis auf den zum Sitzplatz angewiesenen Holzblock.
Orsini mußte sich sagen, daß eine wahrhaft diabolische Raffinerie diese Marterkammer hergerichtet hatte. Er selber war absolut wehrlos und zu seiner Verteidigung rein auf seine Hände angewiesen.
Mit dem Rücken an die Eisenpforte der Zelle gelehnt, fixierte er seine Plagegeister, um sie durch den Zauber, den ja das Menschenauge auf die Tierwelt ausübt, so lange als möglich im Schach zu halten. Das bißchen Tageshelle, das durch den Fensterspalt in die Zelle hereinfiel, zerfloß mehr und mehr in ein großes Zwielicht.
Gelangweilt und durch die Regungslosigkeit des Gefangenen ermutigt, begannen schon einzelne der abscheulichen Langschwänze aus einer Ecke in die andere zu huschen; noch ließen sie sich durch ein Fußstampfen oder einen Stimmlaut momentan einschüchtern, aber in immer kürzern Zwischenpausen begann wieder das Gehusche, und die Demarkationslinie, die das Ungeziefer bisher eingehalten hatte, schob sich stets weiter vor, je tiefer es in dem Raume dunkelte. Die überreizten Nerven Orsinis forderten ungestüm irgendeine Tätigkeitsäußerung: er begann in der Zelle auf und abzugehen – mit jedem Schritt durchzuckte ihn das Gefühl, jetzt müsse er auf den weichen, schlüpfrigen Körper einer Ratte treten und in unsagbarem Ekel und Schauder ließ er seinen Fuß in das Dunkel hineintasten.
Wohl mochten die Tiere zunächst kein Verlangen haben, mit ihrem Mitgefangenen in Berührung zu kommen und so suchten sie ihm möglichst auszuweichen. Aber es waren ihrer zu viele und der Raum war zu eng: das Ungeziefer mußte also notwendigerweise auf die Dauer in Verwirrung und zugleich, infolge der beständigen Hetze, in eine grimmige Aufregung geraten. Auf diesen Moment hatten just die österreichischen Barbaren gerechnet: sie wußten, daß die umhergejagten Ratten zuletzt zur Attacke übergehen würden. Und so kam es auch! Mit einemmal zuckte Orsini in jähem Schmerz zusammen – – zwei Reihen scharfer Zähne hatten sich über dem Knöchel in seinen Fuß eingedrückt. Mit einem wilden Ruck schleuderte er das scheußliche Geschöpf von sich und sprang auf den Holzklotz, um wenigstens für einen Moment eine Zuflucht zu finden. Wie ein Hammer klopfte das Herz in seiner Brust und in siedendem Strom drängte ihm das Blut zu Kopf … Wie so manchmal in seinem sturmbewegten Leben hatte er mit stoischer Ruhe der Kugel und dem Henkerstrick getrotzt – und jetzt schüttelte ihn namenloses Entsetzen und auf seiner Stirn perlte der helle Angstschweiß! Ein paar Minuten lang ließen ihn auf seinem erhöhten Standpunkt die Ratten wirklich in Frieden; er hörte, wie sie quiekend und pfeifend im Dunkel umhertollten und sich, nach ihrer zänkischen Art, untereinander herumbissen. Nur zu bald aber wandte sich ihre Aufmerksamkeit wiederum dem ihnen aufgedrungenen Gesellschafter zu. Das Blut, das aus seiner Fußwunde sickerte, lockte sie heran und reizte in ihnen die wilde Gier des fleischfressenden Tieres.
Horch! Schon klettert es links und rechts an dem Klotz herauf: unter den Fußtritten des halbwahnsinnigen Mannes fliegt die eine und andere der blutdürstigen Kreaturen mit gellendem Geschrei in die Weite – aber ebensoviele füllen wieder die Lücken der Sturmkolonne und an ihrer Masse entzündet sich ihr Mut. Und immer enger und enger zog sich der Belagerungsring.
»Der König von England,« sagte Orsini später: »bot seine Krone für ein rettendes Pferd; in meiner Lage hätte er sie wohl für ein Stümpchen Talgkerze hergegeben, denn wenn mich die Ratten auffressen sollten, so doch wenigstens bei Beleuchtung. Die Finsternis, die mich nichts sehen ließ, war meine ärgste Höllenqual.«
Mit Fußtritten, die ihrer Kraft nach einen Stier der Campagna hätten umwerfen können, focht Orsini gegen seine unsichtbaren Feinde – aber es war umsonst! Flink kam's an seinen Beinen heraufgeklettert, instinktiv fuhr seine Hand nach dem dreisten Scheusal, schon folgte ein zweites, drittes, viertes. Ein Finger seiner zugreifenden Hand war bis auf den Knochen durchgebissen, doch die Faust hielt ihre Beute fest und schmetterte sie in wirbelndem Schwung auf den Steinboden der Zelle. Mit einem wilden Satz stürzte der gepeinigte Mann nach der Türe hin: mit der Riesenstärke eines Simson rüttelte und schüttelte er an der Eisenpforte, die all seiner Wut spottete. Keuchend, in Schweiß gebadet, taumelte er zu dem Klotze zurück, auf den er, von seinen Blutwallungen halb erstickt, niedersank.
Aber das ekle Geschmeiß kannte kein Erbarmen! Der warme Lebenssaft, der aus Orsinis Wunden niedertropfte, reizte mehr und mehr den Appetit der lüsternen Nagetiere: sie wollten Fleisch und Blut haben. Dutzende waren es jetzt, die an dem Menschenbraten hinaufkletterten und ihre Zähne und Krallen in ihn eingruben. In heller Raserei warf sich das Opfer einer fluchwürdigen Barbarei nieder und wälzte sich auf dem Boden, um die an seinem Leibe hängenden Ratten los zu werden – laut aufbrüllend, schlug er mit den Fäusten um sich, dann sprang er wieder in die Höhe und stürmte abermals nach der Türe der Schreckenskammer hin.
Vor seinen Augen sprühte es auf wie elektrische Funken, noch hatte er das dumpfe Gefühl, als sei ihm das Hirn zerschellt – – dann verlor er das Bewußtsein …
In seiner vorigen Zelle erwachte er wieder, unter der Pflege eines Chirurgen. Sein ganzer Leib war mit Bißwunden bedeckt. Der Chirurg war ein humaner Mensch und aus seinem Munde erfuhr auch Orsini die übrigen Details dieses grausigen Schinderfestes. Ohne daß er es geahnt hatte, waren in einer angrenzenden Zelle die Schergen Ohrenzeugen seiner Tortur gewesen, teils um sich an seinen Qualen zu weiden, teils aber auch, um im letzten Moment abwehrend beispringen zu können, denn auf den Tod des Gefangenen durften sie es doch nicht ankommen lassen. Er sollte ja nur einen gehörigen Denkzettel davon tragen, er sollte »zahm« gemacht werden. So ließen sie ihn all die hier geschilderten Schrecknisse kosten, bis zu dem Moment, wo, wie oben erwähnt, dem Opfer das Bewußtsein geschwunden war. Auch dafür gab der menschenfreundliche Chirurg seinem Patienten eine Erklärung. In seiner bis zur Tollwut gesteigerten Aufregung war nämlich Orsini mit dem Kopfe an die Eisenpforte hingerannt und zwar mit solch furchtbarer Wucht, daß ihn der Anprall ohnmächtig zurückgeschleudert hatte. Der dröhnende Stoß und die plötzliche Stille des Delinquenten belehrten die nebenan lauschenden Unmenschen, daß es die höchste Zeit sei, den wutentbrannten Ratten ihr Beutestück aus den Zähnen zu reißen. In die Zelle eindringend, fanden sie denn auch wirklich den Gefangenen besinnungslos auf dem Boden hingestreckt – rings um ihn das Ungeziefer, das sich anschickte, an dem Haftgenossen ein grausiges Festmahl zu feiern. Mit Knüppeln zwischen die scheußliche Brut schlagend, befreiten die Wärter den bewußtlos daliegenden Delinquenten und trugen ihn in seine Zelle zurück. Nur langsam konnte sich Orsinis starke Konstitution von dieser furchtbaren Nervenprobe erholen und verschiedene seiner Wundnarben hat er später mit sich ins Grab genommen.
Der Gefängnisdirektor, dem er den bestialischen Vorgang zur Anzeige brachte, antwortete kurz, es solle eine Untersuchung eingeleitet werden. Bei dieser Phrase blieb's und wie wenig Orsinis Peiniger eine ernstliche Strafe befürchteten, erhellt am besten aus einer Äußerung, die der Oberwärter gegen den Gefangenen fallen ließ: »Nur fein artig sein, Herrchen, und nicht aufmucken, sonst geht die Rattenzwickerei nochmals los – diesmal aber länger!«
Es würde uns zu weit ablenken, wollten wir hier Orsinis Entweichung aus dem Kastell San Giorgio in ihrer Vorbereitung und endlichen Ausführung schildern: die Fürstin Camilla war es, die – nicht durch plumpe Bestechung, sondern durch weibliche List – dem Freund das rettende Werkzeug in die Hände spielte. Sie war es auch, die den wütenden Österreichern noch ein zweites Schnippchen schlug, indem sie dem Flüchtling ein für alle Polizeinasen unfindbares Versteck und dann eine sichere Überfahrt nach England verschaffte. – –
Wir überspringen die folgenden zwei Jahre und gelangen damit wieder zu dem Ausgangspunkte dieser flüchtig skizzierten Biographie, wie sie – gleich einer gespenstigen Vision – dort vor der Träumerin am einsamen Kaminfeuer sich Blatt um Blatt entrollte. Wir hören an jenem düstern Abend des vierzehnten Januar 1858 vor dem Pariser Opernhaus die mörderischen Bomben krachend explodieren – der Kaiser, den sie zerfetzen sollten, bleibt verschont und schon früh am nächsten Morgen ist Orsini mit seinen drei Komplizen in den Händen der Polizei …
Die Kunde von dem Attentate erreichte die Fürstin Camilla zu Kairo, wo sie damals ihrer angegriffenen Gesundheit wegen weilte. Vor den Augen der Welt war sie zu jener Zeit noch an ihren unwürdigen Gemahl gekettet, während sie tatsächlich bereits jeden Verkehr mit dem zynischen Wüstling abgebrochen und sich ihre volle Unabhängigkeit errungen hatte. Schon wurde damals in weitern Kreisen ihrem Namen eine politische Bedeutung beigelegt und wirklich hatte sie auch mit verschiedenen Häuptern der italienischen Freiheits- und Einheitsbewegung Verbindungen angeknüpft. Wie die Nachricht von Orsinis Gefangennahme auf die Fürstin wirkte, bedarf kaum einer langen Ausmalung. Es handelte sich um den Kopf des Freundes! Nur einer konnte ihn vielleicht noch dem Scharfrichter entreißen und den Imperator zur Begnadigung zwingen. Dieser eine hieß – Mazzini. Mazzini konnte vielleicht dem Attentäter den Gang zur Guillotine ersparen: ob er es aber wollte – das blieb eine andere Frage.
Mazzini und Orsini, die beiden Hochmeister des Geheimbundes der italienischen Carbonari, waren inzwischen aus einmütigen Freunden zu erbitterten Feinden geworden. Nach Orsinis Entweichung aus Mantua hatten sich die beiden Männer zu London getroffen, wo Mazzini schon seit einiger Zeit weilte. Hier kam es zwischen ihnen zu Meinungsdifferenzen bezüglich der Art und Weise, wie fortan der Kampf zur Befreiung Italiens zu führen sei. Es handelte sich dabei um eine rein taktische Frage, denn dem großen Endziel gegenüber harmonierten die beiden Agitatoren nach wie vor. Nur die Wege, von denen jeder den seinigen für den besten hielt, liefen auseinander. Orsinis Kraftnatur, durch die Leidenshaft zu Mantua noch mehr gedrängt und getrieben, wollte im Sturm das Problem lösen – er wollte, sozusagen, mit Hurra und blankem Bajonett auf die feindliche Schanze losgehen. Ein zündender Appell an das italienische Volk sollte dieses zum Massenaufstand elektrisieren und wie eine flammende Wetterwolke sollte es sich zusammenballen von den Alpen bis hinab zum Ätna. Sieg oder Tod!
Mazzinis staatsmännische Besonnenheit sträubte sich gegen ein derartiges wild verwegenes Hasardspiel, das den Gewinn oder Bankerott an eine einzige Karte knüpfte. Keineswegs hielt er es für unmöglich, daß der nationale Zorn zu einem heroischen Gewaltstreich zu provozieren sei; aber der kühl erwägende Geist des Agitators blickte schärfer, als das heiße, ungeduldige Blut des Condottiere.
Und der Kopf durfte sich nicht durch das Herz bemeistern lassen. Unter den vorliegenden Verhältnissen erachtete Mazzini einen Volksaufstand für eine ebenso erfolglose wie frevelhafte Kraftvergeudung. Mazzini ging in seiner Auffassung der Situation sogar noch weiter; er erklärte dem mantuanischen Flüchtling, für die nächste Zeit müsse, gerade zum Heil Italiens, die Parole lauten: »Ruhe, absolute Ruhe!« Genug der Putsche, der Anzettelungen und Handstreiche. Gewehr bei Fuß! Der Gedanke soll jetzt arbeiten. Bis heut oder morgen die Kanonen donnern, muß der Sieg schon im voraus errungen sein – der Sieg der Idee. Orsini war sein Leben lang ein glühender Patriot und furchtloser Kämpe: in diesen beiden Eigenschaften lag aber auch seine ganze individuelle Bedeutung. Ihm mangelte die Sehweite, um die höhere Strategie eines Mazzini erfassen zu können und so begriff er auch nicht den tiefdurchdachten Schachzug, den dieser tat, indem er plötzlich eine scheinbar retrograde Bewegung machte. Orsini war übrigens nicht der einzige, der die von Mazzini neuerdings dekretierte »Politik der Ruhe« als eine durchaus verkehrte Operation taxierte: seine Anschauung ward von verschiedenen Mitgliedern der italienischen Flüchtlingskolonie lebhaft geteilt und diese beipflichtenden Stimmen waren es auch, die das beginnende Zerwürfnis zwischen dem »General« und seinem »Leutnant« – so charakterisierte einmal Cavour in seiner schlagfertigen Weise das politische Rangverhältnis der beiden Agitatoren – mehr und mehr zur Katastrophe zuspitzten. In einer Versammlung der zu London weilenden italienischen Carbonari erklärte mit der ihm eigenen vornehmen Gemessenheit Mazzini, wohin eigentlich seine »Politik der Ruhe« abziele: Allianz des um das Kreuz von Savoyen gescharten revolutionären Italiens mit dem Kaiser Louis Napoleon gegen Österreich. Der bloße Name des Imperators rief bei der Orsinischen Fraktion ein stürmisches Hallo hervor. Noch am gleichen Tag fand eine Privatexpektoration zwischen den beiden Widersachern statt. In kühlen Worten erörterte Mazzini nochmals, dem renitenten Leutnant gegenüber, sein Programm und dessen Zweckmäßigkeitsgründe. In flammender Leidenschaftlichkeit bezeichnete Orsini die Verbündung mit den französischen Bajonetten als einen »Verrat an Italien und seiner republikanischen Zukunft«. Ein ironisches Lächeln spielte um die dünnen Lippen Mazzinis. » Piccolo cervello!« Kleines Gehirn. nickte er vor sich hin und deutete dabei mit dem Finger nach der Stirne seines Gastes. Späterhin hat Mazzini das herbe Wort bereut – nicht in dessen innerer Begründung, aber in seiner äußern Klangform. Todesbleich entfernte sich Orsini – zwischen ihm und seinem bisherigen Partisan war das Tischtuch zerschnitten bis auf den letzten Faden. Als der Flüchtling von Mantua die Schwelle des Hauses überschritt, hatte er bereits seinen verhängnisvollen Entschluß gefaßt. Das Attentat des vierzehnten Januar war die Antwort auf Mazzinis bittern Hohn …
Und jetzt begreift der Leser, warum wir oben schrieben: Mazzini konnte vielleicht dem Attentäter den Gang nach der Guillotine ersparen; ob er es aber wollte – das blieb eine andere Frage.
Um sich nicht durch die Mißbilligung der Freundin ins Schwanken bringen zu lassen, hatte Orsini in sorgsamster Geheimhaltung seinen düstern Plan zur Ausführung gebracht. Die Schreckenspost von dem Attentate traf also selber wie ein Bombenschlag die zu Kairo krank daniederliegenden Fürstin. Aber nur der erste Moment konnte die heroische Frauenseele beugen – schon im nächsten raffte sie sich wieder zur energischen Tat empor. Jetzt war keine Zeit zum Kranksein! Schon am folgenden Tage schiffte sie sich in Alexandria nach London ein. Wer könnte sie schildern diese Schmerzensfahrt vom Nil zur Themse!
Wie so qualvoll langsam für das fieberhaft zuckende Frauenherz kroch der Dampfer durch die blaue Meeresöde! Welche Pläne, welche Hoffnungen und Befürchtungen wälzten sich durch den sinnenden Kopf – vergleichbar den Wogen, die schwellend und zerschellend das Schiff umrauschten! Es war ein schwerer Bittgang, den die Fürstin Camilla angetreten hatte. Mazzini war ihr persönlich nicht unbekannt; mehrfach hatte sie ihn gesehen und reden hören, zur Zeit, als er die Diktatur der römischen Republik bekleidete. Der Eindruck, den er damals auf das Mädchen machte, war keineswegs ein sympathischer gewesen – ist es, nebenbei bemerkt, auch für die Folge nicht geworden. Aber die individuelle Abneigung wurde für die junge Frau nicht soweit maßgebend, daß sie darüber die nationale Bedeutung dieses Mannes verkannt hätte. Ihr scharfer Verstand bewunderte rückhaltlos die eminente Geisteskraft Mazzinis und bei allen persönlichen Vorzügen, die sie dem Freund Orsini einräumte, ließ sie sich keinen Moment in ihrem Urteil über das intellektuelle Höhenmaß der beiden Agitatoren beirren. Ganz wie es Cavour bezeichnet hatte: der eine war General, der andere Leutnant – sicherlich ein schneidiger, strammer Leutnant, aber immer doch nur, wenn und so lange ihn die Instruktionen eines stärkern Kopfes leiteten. Und gerade weil in ihrem glühenden Patriotismus die Fürstin Camilla den ritterlichen Freund zur vollsten Verwertung seiner Bravoureseiten anspornen wollte, rangierte sie ihn unter die geistige Superiorität Mazzinis. Noch am gleichen Abend, wo Mazzinis grausam spottendes » Piccolo cervello« zum entscheidenden Würfel geworden war, hatte Orsini, mitten im Aufruhr seines kochenden Blutes, an die Freundin geschrieben und ihr die erlittene Beschimpfung berichtet. Wenn irgend jemand das volle Weh dieser stolzen Natur zu erfassen vermochte, so war es gerade die Fürstin Camilla. Sie gerade kannte am besten die aufopfernde, mühevolle Tätigkeit, die Orsini jahrelang der Mazzinistischen Bewegung gewidmet hatte und die unter keinerlei Umständen es verdient, mit einer kränkenden Injurie schnöd abgelohnt zu werden … Ein wilder Haß gegen Mazzini loderte durch die empörte Seele der Fürstin. Und dennoch teilte sie keineswegs Orsinis politische Anschauungsweise in allen Punkten.
Orsini, wie schon bemerkt, erstrebte die italienische Zukunft unter der staatlichen Form einer Republik. Die Fürstin Camilla ihrerseits erachtete gerade diese platonische Hülse ohne Kern als ein Unglück für Italien. Sie liebte das wetterfeste Haus Savoyen und hielt es aus historischer Notwendigkeit dazu berufen, die Oberherrschaft im nationalen Einheitsstaate zu führen. Aber nach anderer Seite hin harmonierte sie durchaus mit dem Freunde: sie teilte seinen Abscheu gegen die von Mazzini projektierte Allianz mit Louis Napoleon …
Dies alles müssen wir uns vergegenwärtigen, um die ganze seelische Pein zu erfassen, die sich für die Fürstin mit ihrer Fahrt nach London verknüpfte.
Bittend sollte sie dort das Knie vor einem Manne beugen, gegen den sie zunächst nur Haß empfinden konnte. Von Fieber durchglüht, erreichte die leidende junge Frau das Babylon an der Themse. Ohne nur ihre Reisekleidung zu wechseln, suchte sie einen der Anhänger Orsinis auf; der Carbonaro gab ihr verschiedene Aufschlüsse über das Attentat und berichtete ihr, was seitdem über den weitern Verlauf der Untersuchung in die Öffentlichkeit gedrungen war: dann holte er eine Droschke, um die Fürstin bis zur Wohnung Mazzinis zu geleiten.
Der große »Erzverschwörer« führte damals in einem kleinen, hinter den Bäumen des Bedford-Square halbversteckten Hause ein wunderliches Leben. Die frommen Bet- und Klatschschwestern der Nachbarschaft, die an dem unheimlich stillen Häuschen scheu wie an einer Teufelsherberge vorübertrippelten, bezeichneten diese Lebensweise als » most shocking and scandalous«.
* * *
Zu der Zeit, die uns hier beschäftigt, stand Giuseppe Mazzini, seinen Jahren nach, bereits im Herbste des menschlichen Lebens; die schlanke, sehnige Figur hatte sich aber noch ihre volle Elastizität zu wahren gewußt und immer noch glühte in dem wunderbar schönen, tiefschwarzen Auge jenes elektrische Feuer, an dem sich nicht bloß Millionen von Männerseelen entflammt, sondern auch ungezählte Frauenherzen entzündet haben. Ist ja Mazzinis ganze Erscheinung stets ein Appell an die weibliche Romantik gewesen – schon in jenen Tagen, wo er, durch die Polizei ins Exil gestoßen, arm und der Weltgeschichte noch unbekannt, zu Marseille in einer Dachstube hauste als Redakteur und zugleich Expedient eines kleinen Zeitungsblättchens, das den Titel führte: »Das junge Italien« und nur auf dem Wege des Schmuggels seinen Abonnenten zugestellt werden konnte, so wie später in Frankreich Rocheforts »Laterne«. Jede Nummer, die Mazzini über die Alpen warf, war eine Brandrakete, die zündend und leuchtend in Italien niederfiel: schon der bloße Titel des Blättchens war eine Sturmglocke, die den Despotismus auf den italienischen Thronen erbeben und den erwachenden Volksgeist hoffen ließ.
Damals geschah es auch, daß eines Tages in der Dachstube des jungen Redakteurs ein junger Matrose erschien, um – gleichsam ein Sendbote des italienischen Volkes – dem rebellischen Journalisten den schlichten Tribut seines Dankes darzubringen. An Bord der genuesischen Briggantine »Clorinda« hatte auf der Fahrt von Konstantinopel nach Marseille der Matrose – ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren – einige Nummern des »jungen Italien« gelesen, die ihm zu Stambul von einem befreundeten Steuermann geschenkt worden waren. Der in diesen zerknitterten, halbzerrissenen Blättern wie eine frische Seebrise wehende Gedanke: ein einiges und freies Italien zu schaffen, hatte mit solch zauberischer Macht den jungen Matrosen ergriffen, daß er, kaum zu Marseille gelandet, nach der Redaktionsstube geeilt war, um den so gewaltig predigenden Täufer und Traumdeuter von Angesicht zu Angesicht zu schauen.
»Wo bist du her, mein Freund?« erkundigte sich der gerührte Journalist.
»Von Nizza.«
»Und dein Name?« fragte der Zeitungsschreiber.
» Giuseppe Garibaldi!« antwortete der Matrose …
Obgleich aus naheliegenden Gründen Mazzini, außerhalb der italienischen Flüchtlingskolonie, zu London sehr wenigen gesellschaftlichen Verkehr pflog, so hatte er dennoch im Salon einer englischen Familie, die längere Zeit in Italien gewesen war, die Bekanntschaft zweier jungen Damen gemacht, die ihm durch ihre reizvolle Erscheinung und nicht minder durch ihre geistreiche Konversation ein ungewöhnliches Interesse boten. Wenn Mazzini wollte, so konnte er, besonders dem schönen Geschlechte gegenüber, von einer wahrhaft hinreißenden Liebenswürdigkeit sein; ihn unterstützte dabei ein Stimmorgan von wunderbarem Wohllaut. Wenn er auch damals die Mittagslinie des menschlichen Lebens bereits passiert hatte, so war er doch immer noch das Bild ungebrochener Kraft und aristokratischer Eleganz. Sein geheimnisvolles Leben und Weben als Häuptling eines revolutionären Bundes gab seiner Persönlichkeit noch einen weitern magischen Anstrich und durch das Zusammenwirken dieser einzelnen Faktoren kam es, daß die beiden jungen Mädchen sich Knall und Fall in den so hochromantischen Gast – verliebten. Beide waren geborene Engländerinnen und Töchter sehr respektabler Familien – dabei, wie schon erwähnt, von geradezu blendender Schönheit. Die eine, – mag sie hier Miß Alice heißen – repräsentierte den echten Frauentypus der anglosächsischen Rasse: goldblondes Haar und tiefblaue Augen. Die andere – nennen wir sie Miß Lydia – charakterisierten die brünetten Farbentöne des gälisch-irischen Blutes.
Die Doppelflamme, die Mazzini entzündet hatte, konnte ihm um so weniger verborgen bleiben, als die beiden Bewerberinnen um sein Herz aus ihrer Liebesglut gar kein Hehl machten.
Den Agitator lockten also die Scheidewege des Herkules: hier Blond – dort Brünett. Der seltsame Wettkampf zwischen den beiden verliebten Ladies ward bald in der italienischen Kolonie ruchbar. Man lachte und witzelte darüber – natürlich nur en petit comité; von seinen speziellen Vertrauten bekam Mazzini diese humoristischen Glossen wieder zugetragen, auch in noch andern Gesellschaftskreisen Londons gab das pikante Thema zu reden: die Aufmerksamkeit, die sich auf ihn lenkte, ward dem Agitator unbequem und er brach seinen Verkehr mit Blond und Brünett zugleich jählings ab. Gerade damit hatte er aber nur noch Öl ins Feuer gegossen! Die beiden Ladies waren Freundinnen gewesen, dann waren sie in ihrem Kampf um mein und dein zu erbitterten Feindinnen geworden; jetzt, wo keine von beiden den Vorrang haben sollte, machten sie wieder Frieden und einigten sich zu einem Kompromiß, wie er exzentrischer und abenteuerlicher kaum gedacht werden kann.
Zu London predigte damals ein Sendbote der Mormonen, um für seine Sekte Rekruten zu werben. Die zwei versöhnten Gegnerinnen wandten sich an diesen Apostel der Vielweiberei und ließen sich von ihm taufen. Mit noch nassem Kopfe setzten sich die beiden Täuflinge in eine Droschke und fuhren selbander direkt zu – Mazzini.
Was sich im Verlauf der folgenden Stunde zwischen dem Trio abspielte, wird vielleicht niemals seine volle Aufklärung finden. Mazzini selber ist einer nähern Interpellation stets ausgewichen und seitdem hat ihm der Tod vollends die Lippen geschlossen. Ebensowenig haben die beiden Damen den eigentlichen Hergang dieser kuriosen Entrevue klargestellt und so läßt sich nur aus dem Endresultat das Rätsel lösen.
An Gerüchten, was in jener geheimnisvollen Stunde eigentlich zwischen Mazzini und seinen beiden rabiaten Anbeterinnen vorgefallen sei, hat es in der italienischen Kolonie zu London allerdings nicht gemangelt. Es hieß, der Häuptling habe sich keineswegs so mir nichts, dir nichts dazu verstanden, die Rolle eines Brigham Young zu spielen und das ist begreiflich genug, denn leicht konnte ja Mazzini das Hallo voraussehen, das bei einer derartigen Mormonenhochzeit losgehen mußte. Er habe denn auch – so hieß es – weiter – den reizenden Schwärmerinnen gebührend die Folgen ihres Schrittes ausgemalt, sei aber von den beiden Houris des Mormonenhimmels unisono versichert worden, das alles hätten sie bereits bedacht, sie seien volljährig, ihrer Familie also keine Rechenschaft mehr schuldig und für sie gebe es jetzt nur noch ein einziges Gebot: Go ahead!
Immer noch habe der neue Hylas gezögert, sich von den lockenden Nixen in das Brautbett à deuxhinabziehen zu lassen: da sei – Relata refero – von den schmollenden Schönen die letzte Batterie demaskiert worden!
Das Argumentum ad hominem, das die beiden Ladies als letzten Trumpf ausgespielt haben sollen, läßt sich schwer beschreiben. Wir können uns hier nicht verständlicher machen, als indem wir auf jene famose Gerichtssitzung hinweisen, wo Phryne, die durch Geist und Schönheit gleichberühmte Hetäre des antiken Athens, mit gerolltem Mantel einen Prozeß gewann, den ihr Rechtsanwalt Hyperides bereits verloren hatte …
Sei dem aber, wie ihm wolle. Für uns kommt ja überhaupt dieser ganze mormonische Liebesroman nur so weit in Betracht, als seine tatsächlichen Konsequenzen in unser Buch hinübergreifen.
Noch am selben Tage, wo sie die Mormonentaufe empfangen hatten, nisteten sich die beiden girrenden Turteltauben mit Sack und Pack in dem Häuschen am Bedford-Square ein. Der Lärm war groß, als die Kunde von dieser skandalösen Tripelallianz erscholl. Die empörten Familien der beiden Sünderinnen rannten schnurstracks nach der Polizei, um die sofortige Auslieferung der leichtfertigen Schönen und die exemplarische Züchtigung ihres gemeinsamen Buhlen zu fordern. Der Polizeidirektor zuckte gelassen die Achsel, erklärte sich im vorliegenden Falle für machtlos und gab den guten Rat, die Sache irgendwie auf gütlichem Wege zu arrangieren. Auch dieser Versuch scheiterte.
Die beiden Tollköpfe erklärten, sie seien volljährig und fest entschlossen, ihr Mormonenprivileg geltend zu machen; ihr zweischläfriger Abgott bereite ihnen den Himmel auf Erden und wenn man sie gewaltsam von ihm trennen wolle, so würden sie, aller Welt zum Trotz, immer und immer wieder unter sein Dach zurückkehren. Auf ein solch unzweideutiges Ultimatum hin blieb den schwer blamierten Familien nichts mehr übrig, als zwischen sich und den beiden verstockten Rebellinnen das Tischtuch für immer zu zerschneiden.
Die Mormonenhaushaltung Mazzinis fand bei der italienischen Kolonie zu London und weiter bei der ganzen Carbonariverbrüderung eine scharfe Kritik. Eine Minorität meinte zwar, der freie Mann dürfe auch der freien Liebe pflegen; die überwiegende Majorität aber mißbilligte entschieden eine derartige kaum verblümte Haremswirtschaft. Auch Orsini hatte diese letztere Anschauung geteilt und so läßt sich der bald darauf erfolgte Bruch zwischen ihm und Mazzini immerhin bis zu einem gewissen Grade mit dem von dem Parteioberhaupte provozierten Ärgernis in Zusammenhang bringen.
Vom psychologischen Standpunkte aus wird stets die Eintracht zu bewundern sein, womit sich die beiden Odalisken in das Schnupftuch ihres Paschas geteilt haben. Von dem Tage an, wo diese kommunistische Wirtschaft begann, ist zwischen den zwei »Engeln« – wie Mazzini sie zu bezeichnen pflegte – niemals eine Eifersüchtelei oder sonst eine egoistische Dissonanz bemerkt worden, wie man dies just hier von der Frauennatur so bestimmt hätte erwarten dürfen. Gerade diese seltsame Anomalie erweckte auch in Mazzinis engerem Freundeskreise den ersten Verdacht, als seien die beiden Ladies weniger verliebte Schwärmerinnen, als recht abgefeimte Komödiantinnen, die sich den alternden Tribunen dazu auserkoren, das Paradepferd ihrer eigenen Eitelkeit zu spielen. Der poetische Sommernachtstraum hat denn auch wirklich einen höchst prosaischen Ausgang genommen: den Galanterien und – blanken Goldstücken eines gewissen Gesandten gelang es nämlich, daß ihm die biedern »Engel« aus Mazzinis Archiv die Abschriften verschiedener wichtiger Dokumente verschafften. Sie bestätigten durch ihre Infamie den alten Erfahrungssatz, daß die Engländerin par excellence dazu befähigt ist, eine Intrige in großem Stil anzuzetteln und den sonst scharfsinnigsten Mann am Narrenseil spazieren zu führen.
Doch das hat sich erst später gezeigt! Zu jener Zeit, um die es sich hier zunächst handelt, steckte Mazzini noch bis über die Ohren in seinem süßen Taumel und ließ sich vertrauensselig von seinem Engelduett hätscheln und tätscheln.
Der Bannkreis, den die beiden Kirken um ihn zogen, isolierte den Häuptling mehr und mehr und ließ ihn in gleichem Maße die Fühlung mit seiner Partei verlieren. In das Serail am Bedford-Square fanden ja nur noch solche Gäste Zutritt, die den zwei Sultanas genehm, d. h. die ihnen absolut ergeben waren; jeder Carbonaro, der sich in dieses übermütige Pantoffelregiment nicht fügen, der nicht anbetend Knie und Nacken beugen wollte, ward kurzweg aus dem Venusberge hinausgeschwefelt und Mazzini in seinem geistig-sinnlichen Opiumrausch ließ es ohne Widerrede geschehen. Der sonst so mißtrauische Häuptling ließ sich in den weichen Armen seiner Dulcineen sogar soweit einschläfern, daß er sie zu seinen Sekretärinnen machte und ihnen dadurch den vollen Einblick in sein politisches Kartenspiel und die Aktenstücke seines Geheim-Archivs gewährte. Weiter oben ist bereits angedeutet worden, in welcher Art und Weise die beiden Engel schließlich ihr Wissen fruktifiziert haben. Fürwahr, zu keiner Zeit seines wechselvollen Lebens hat Mazzinis Stern so trüb geleuchtet, wie damals zu London, wo er in sardanapalischem Taumel, von zwei schlauen Hetären ausgesogen, die tragikomische Rolle eines neuen Ritters von Gleichen spielte – zur Beschämung seiner Freunde, zum Spott seiner Feinde! …
* * *
Um die Mittagszeit war die Principessa Camilla zu London gelandet und, wie schon erzählt, ohne jeden Aufenthalt oder Toilettenwechsel zu einem Freunde Orsinis geeilt, um zunächst aus dessen Munde Genaueres über das Parier Attentat und seine Folgen zu erfahren. Bis der Carbonaro seinen Bericht erstattet und dann eine Droschke herbeigeholt hatte, um die Fürstin auf ihrer traurigen Fahrt bis zu Mazzinis Wohnung zu geleiten, war die Dämmerung bereits eingebrochen und ein echt englischer, schwermutsdüsterer Februarabend senkte sich mit feuchtkalten Schwingen auf das unermeßliche Themse-Babel herab.
Von dem Vorstadtsquartier, worin, seinen bescheidenen Finanzen gemäß, der Geleitsmann der Fürstin hauste, ist's ein weiter Weg nach dem eleganten Bedford-Square: der fieberhaft erregten Frauenseele durfte es eine erdrückende Ewigkeit dünken. Ein feiner Sprühregen prickelte an die Fenster der Droschke – links und rechts auf den schmierigen Trottoirs glitt wie in einem Schattenspiel ein Gewimmel von menschlichen Figuren dahin und dazwischen erschollen tausend verworrene Töne und Laute.
Das Gerassel von Fuhrwerken aller Art gestattete nur stellenweise der Fürstin und ihrem Begleiter, ein Gespräch anzuknüpfen; zuletzt verstummten beide ganz und hingen, in die Ecken der Droschke gedrückt, ihren eigenen Gedanken und Betrachtungen nach. Soeben lenkte der Kutscher um die Gott weiß wievielte Ecke: im Kampfe zwischen Nebel und Gaslicht weitete sich ein Platz mit Gruppen von Bäumen und Gebüsch. »Bedford-Square!« unterbrach der Carbonaro das Schweigen und deutete nach der Oase hin, dann bog er sich zum Wagenschlag hinaus und rief dem Kutscher ein paar Worte zu. » Very well, Sir!« brummte der Cabman zurück – gleich darauf parierte er seinen Gaul vor einem kleinen Hause, das in seiner Erscheinung und Architektur den stereotypen Charakter des Londoner » Family-house« trug. Eine nüchterne, rauchgeschwärzte Backsteinfront von vier breiten Fenstern, Souterrain mit Küche und Dienstbotenraum, Parterre und Bel-Etage. Vor dem Hause ein kleiner, umgitterter Rasenfleck. An sämtlichen Fenstern, bis zur Küche hinunter, waren die Läden sorgsam geschlossen: man hätte glauben können, das Gebäude sei unbewohnt. » Ecconoi, Altezza!« Die Stimme des Carbonaro hatte sich unbewußt zum Flüsterton gedämpft, als er mit dem Finger nach dem stillen Hause hinwies. Fast im gleichen Moment lachte er leise auf. »Sehen Sie dort drüben den Burschen, Durchlaucht?« wandte er sich an seine Begleiterin. Sie blickte nach der bezeichneten Richtung hin.
Jenseits des Gitters, das die Gartenanlagen des Square umschloß, kam, einen Gassenhauer vor sich hinpfeifend, ein Mensch herangeschlendert, den man, soviel sich unterscheiden ließ, für einen Fabrik- oder Hafenarbeiter halten konnte. Ohne sich anscheinend um die Droschke und ihre Insassen zu kümmern, pfiff er gleichmütig sein » My lady is sweet like molasses« weiter.
»Für was halten Sie wohl diesen lustigen Musikanten, Altezza?« fragte der sachkundige Carbonaro, indem er die Bewegungen des Menschen verfolgte.
Die Fürstin machte ein unschlüssige Gebärde.
» Ebbene,« lächelte der Carbonaro: »Sie haben gleich hier Gelegenheit, Durchlaucht, einen kleinen Polizeischerz kennen zu lernen, denn ich will wetten, der pfeifende Geselle dort ist nichts mehr und nichts weniger als ein englischer, französischer, österreichischer oder vielleicht auch italienischer Geheimagent, der es sich zum Zeitvertreib macht, den Baustil dieses Hauses da zu studieren und sich nebenbei die Leute zu betrachten, die zur Türe ein- und auspassieren. Aber die Geschichte hat ihren Humor, denn irgendwo in der Nähe befindet sich jetzt in ähnlicher Vermummung ein zweites, ein drittes oder viertes Individuum, die ihrerseits ein Vergnügen daran finden, dort den pfeifenden Biedermann aufs Korn zu nehmen und nicht bloß ihn, sondern auch wieder untereinander sich auf Schritt und Tritt verfolgen. Zwischen den Kundschaftern Mazzinis und den Agenten der verschiedenen Kabinette besteht ein förmlicher Indianerkrieg, bei dem es keinen Waffenstillstand gibt und wo auf beiden Seiten Kniffe und Pfiffe angewendet werden, die der listigsten Rothaut zur Ehre gereichen könnten. Geradezu bewundern muß man die unglaubliche Virtuosität, womit die Kerle es verstehen, sich im Handumdrehen zu maskieren und das dazu passende Gesicht zu schneiden. Vielleicht ist schon in der nächsten Stunde dort der pfeifende Blusenmann ein salbungsvoller Methodistenpastor; sein Mazzinistischer Gegner aber, der möglicherweise jetzt die Rolle eines pomadisierten Ladenschwengels spielt, wird dann – –«
» There we are, Sir!« ertönte die heisere Stimme des Kutschers, der in seinen ungelenken Filzstiefeln unterdessen mit echt englischem Phlegma von seinem Bock herabgeklettert und an den Wagenschlag getreten war.
Schon auf dem Wege hatte die Fürstin mit ihrem trostsamen Begleiter das weitere vereinbart; in dem Hotel, wo sie abgestiegen war, um rasch ihr Gepäck abzugeben, sollte der wackere Sprachlehrer – als solcher ernährte er sich zu London kümmerlich, nachdem er vormals an der päpstlichen Universität zu Perugia den Talar eines Konrektors getragen hatte – ihre Rückkunft abwarten. Als Mitglied der »Fraktion Orsini« stand er bei Mazzini und den zwei Engeln auf der schwarzen Liste, und so hätte es dem Vorhaben der Prinzessin nur nachteilig sein können, wenn er sie bis über die Schwelle des grollenden Parteihäuptlings begleitet hätte. Droben an der Ecke des Square befand sich ein Droschkenhalteplatz, und somit konnte nach beendigter Audienz die Prinzessin leicht den Heimweg nach dem Hotel finden …
Der Verabredung gemäß blieb der Professor in der Droschke sitzen, seine Begleiterin stieg aus. » Avanti con Dio!« flüsterten ihre Lippen wie in einem kurzen Gebete und jeder Nerv in ihr schien sich straff zu spannen. Die Droschke machte Kehrt. Noch einen Moment blickte die Fürstin um sich: drüben am Gitter des Square, von dem Schatten eines Baumes gedeckt, lehnte, immer noch sein Leibstück » My lady is sweet« pfeifend, der Pseudoarbeiter. Mit ein paar raschen Schritten stand die Dame vor der Türe des Hauses. Nach englischer Sitte vertrat ein kupferner, blankgescheuerter Klopfring die Stelle unserer kontinentalen Klingel: die Hand der Fürstin legte sich auf den Löwenkopf, in den der Ring auslief, und dumpf dröhnte er auf seine metallene Unterplatte. Mehrere Minuten vergingen, ohne daß sich innen im Hausflur etwas rührte und regte; schon wollte die Principessa zum zweitenmal den Knauf in Bewegung setzen, als plötzlich, wie aus dem Holz der Türe heraus, die Frage ertönte: »Was wünschen Sie, Madame?«
Es war die Stimme eines Mannes, er hatte seine Frage in englischer Sprache gestellt, jedoch mit unverkennbar italienischem Akzent. Ganz und gar geräuschlos war, wie die Fürstin jetzt erst bemerkte, mitten in dem Schnitzwerk der Türe eine Rosette verschoben worden und durch diese kleine Öffnung hatte der Pförtner die Frauengestalt jedenfalls zunächst gemustert, bevor er seine Anfrage tat. Wie schon erwähnt, war er seinem Akzente nach ein Italiener, und so gab die Fürstin in der heimatlichen Sprache die Antwort zurück: »Ich wünsche in dringender Angelegenheit Signore Mazzini zu sprechen.« Abermals verstrich eine Minute. Vielleicht waren es die trauten Klänge der Muttersprache an und für sich, vielleicht auch noch dabei das tiefe Weh, das mühsam verhalten aus der Frauenstimme hervorzitterte – genug, der zugeknöpfte Ton des Fragestellers hatte jetzt eine etwas freundlichere Resonanz, als es durch das Guckloch herausscholl: » L'ora si fa tarda, Signora!«
»Mann,« flehte draußen die Frau: »ich konnte nicht früher kommen! Mach auf, es handelt sich um Leben oder Tod eines Italieners und Patrioten!«
» Potrei pregarla del suo nome, Signora?« inquirierte der zähe Türhüter.
Der Professor hatte die Fürstin auf dieses Examen vorbereitet. » Ecco la mia carta!« In nervöser Hast griffen ihre Finger in das Portefeuille.
Hinter der Tür ließ sich ein Laut hören, als schnelle eine Sprungfeder zurück: im nächsten Moment zeigte sich neben dem Löwenkopf ein schmaler Spalt.
»Belieben Sie, Signora,« beschied die Stimme: »Ihre Karte hier hereinzuschieben und wollen Sie gefälligst meine Meldung erwarten.«
Die Karte glitt in den Spalt, der sich sofort schloß. Und dann wiederum tiefste Stille, wie sehr auch das scharfe, jetzt doppelt gespannte Frauenohr hinhorchte. Noch lauschte sie in qualvoller Erregung, als innen mit einemmal ein wuchtiger Riegel klirrte; die Türe drehte sich in ihren Angeln und auf der so mißtrauisch gehüteten Schwelle zeigte sich jetzt die bisher unsichtbar gewesene Figur des Pförtners.
Obwohl in bürgerlicher Kleidung, verriet seine ganze Erscheinung den alten Unteroffizier, der in der strammen Befolgung der ihm erteilten Instruktionen das A und das O seines Lebenszweckes erblickt. Offenbar hatte er, bevor er die Karte weiterbeförderte, einen neugierigen Blick darauf geworfen, denn er verbeugte sich ehrerbietig vor der hohen, aristokratischen Frauengestalt. » Di grazia, Altezza!«
Mit einer feierlichen Handbewegung, wie sie dem Italiener eigen ist, bedeutete er den distinguierten Besuch, einzutreten. Eilfertig schloß sich dann wieder die Höhle Sesam. Jetzt ward es der Fürstin klar, warum trotz allem Horchen kein Lebenszeichen in ihr Ohr hatte dringen können: innerhalb der Eingangstür befand sich noch eine zweite nicht minder massive Türe, die der alte Soldat hinter seiner Begleiterin ebenso sorgsam wieder verriegelte. Ein dicker Teppich spannte sich über den Boden des hellerleuchteten Korridors hin und verschlang jeden Schritt. Eine fast gespenstige Stille umfing die Fürstin; trotz all dem Mut, der sonst ihr Wesen charakterisierte, durchrieselte sie zwischen diesen lautlosen Mauern ein unheimliches Gefühl – zugleich ein Empfinden unendlichen Verlassenseins.
Eine gleichfalls teppichbelegte Treppe führte zu der obern Etage empor.
Ein noch jüngerer, elegant gekleideter Herr erwartete hier bereits die Fürstin.
Wie ein Märchengeist verschwand der Pförtner, dessen Mandat an dieser Grenzscheide erlosch. Mit einer diplomatisch glatten Verbeugung begrüßte der zweite Geleitsmann den Besuch. »Bitte, Durchlaucht,« lispelte er im zeremoniellen Ton eines Kämmerlings: »verzeihen Sie gnädigst die etwas umständliche Art und Weise, womit man in dieses Haus gelangt, aber – –«
» A la guerre comme à la guerre,« ergänzte die Fürstin mit einem flüchtigen Lächeln: »wie Sie sehen, Signore, entspricht auch mein Kommen, ja selbst meine Toilette« – sie deutete auf ihre Reisekleidung – »dem Zwang der Umstände.«
»Altezza werden zu jeder Zeit willkommen sein!« Der Ziviladjutant – um diese Titulatur zu gebrauchen – öffnete mit einer abermaligen Verbeugung die Türe eines Vorzimmers. Im selben Moment, als die Prinzipessa diesen Raum betrat, den eine Portiere von dunkelrotem persischem Damast abschloß, glaubte sie jenseits dieser Scheidewand das leise, eilige Rauschen eines Frauengewandes zu hören – – schon glitt aber auch wie in einem Zaubertheater der Vorhang auseinander und in halblautem Tone meldete die Stimme des Adjutanten: »Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin von Bentivoglio.« Dann verschwand er gleich einem Schatten. Geheimnisvoll schob sich hinter ihm die Portiere wieder zusammen, draußen im Vorzimmer schloß sich leise eine Türe.
Die Fürstin Camilla stand am Zielpunkt ihrer traurigen Fahrt.
* * *
Der Flammenkranz eines Gas-Lüstre erhellte einen Raum, der seiner Einrichtung nach sich als Salon bezeichnen ließ, während der mit Büchern und Skripturen bedeckte große Tisch dem sonstigen Arrangement wiederum einen strengern – gewissermaßen einen bureaukratischen Anstrich gab.
Gleichzeitig mit dem Eintritt der Fürstin hatte sich an diesem Tische der Hausherr von seinem Sessel erhoben, um dem Besuch entgegenzugehen. Giuseppe Mazzini – wie schon bemerkt – war damals ein Mann von dreiundfünfzig Jahren; vielleicht lag es aber gerade in dieser Altersperiode, daß sie den aristokratisch-vornehmen Grundton seiner Erscheinung mit ganz besonderer Schärfe markierte. Wie vordem sein genuesischer, durch Schiller dramatisierter Landsmann Fiesco, so war auch Mazzini eigentlich nur Demokrat par distance; selbst seine Toilette – der Gegensatz zum Schlapphut und roten Wollhemd Garibaldis – gab diesem angeborenen » Odi profanum vulgus« Ausdruck …
Wie fast immer, war auch an diesem Abend Mazzini in Schwarz gekleidet; von Samtrock bis herab zu den zierlichen Lack-Bottinen spiegelte sich in diesem harmonischen Ensemble die durchaus nicht mit geckenhafter Eitelkeit zu verwechselnde Eleganz, die in allen Lebenslagen ein individuelles Bedürfnis seiner Natur gewesen ist. » Gradita a Londra!« grüßte er mit seiner sonoren Stimme, die wie Musik klingen konnte; sich niederbeugend, führte er mit ritterlicher Galanterie die Fingerspitzen der Fürstin an seine Lippen, dann geleitete er sie an der Hand zu einem Fauteuil.
» S'accomodi, Altezza! Nehmen Sie Platz am bescheidenen Herdfeuer eines vom Katarrh geplagten Themistokles, der in seinem Zustand doppelt den brutalen Unterschied zu fassen vermag zwischen den nebeligen Gestaden der Themse und den sonnigen Ufern des Nil.«
Mit dem Eintritt in den Salon war jählings die heroische Selbstbeherrschung gewichen, womit sich die gemarterte Frauenseele bisher aufrecht gehalten hatte: schwere, heiße Tränen rieselten aus den Augen der Fürstin – sie wollte reden und dennoch fühlte sie, daß ihr erstes Wort, in krampfhaftem Schluchzen ersticken müsse.
Ohne scheinbar diesen Kampf zu bemerken, hatte der Agitator fröstelnd nach dem Schürhaken gelangt, um die Kohlenglut des Kamins aufzustochern. Leise lehnte er sich dann in seinen Sessel zurück; die Arme über die Brust kreuzend, richtete er jetzt seine wunderbar schönen, tiefschwarzen Augen – die so dämonisch zu zürnen, so zauberisch zu lächeln, so adlerscharf zu forschen wußten – gedankenvoll auf die ihm gegenübersitzende gramgebeugte Frauengestalt.
»Ich habe Sie schon seit einer Stunde erwartet, Altezza!« begann er leichthin.
Die Gemütsbewegung der Fürstin machte unwillkürlich der höchsten Überraschung Platz. »Sie erwarteten mich, Signore?!« entfuhr es ihren zuckenden Lippen.
» Di fatto!« nickte der Agitator ruhig: »Der ägyptische Postdampfer Pharao landete heute mittag in den Catharinadocks, von da begaben Sie sich nach dem Kosmopolitanhotel, um dort Ihre Kammerzofe und Ihr Gepäck zu installieren; die gleiche Droschke brachte Sie dann zu dem Professor Bandinelli, der Ihnen bis vor meine Türe seine Begleitung gab. Hätte Bandinelli zu dieser Fahrt ein besseres Droschkenpferd ausgesucht und wäre der Kutscher in dem dicken Nebel rascher vorwärts gekommen, so konnten Sie, Altezza« – er warf einen Blick nach der Stutzuhr, die auf dem Kaminsims ihr leises Tiktak pickte – »um nahezu eine Stunde früher hier eintreffen.«
Schon Orsini hatte in seinen Briefen an die Freundin von dem wirklich wunderbaren Späh- und Kontrollapparat berichtet, den sich Mazzini aus den gewandtesten und zuverlässigsten Partisanen organisiert hatte und der ihm gestattete, von seinem Sessel aus, mit den hundert Augen eines Argus nicht nur die dunkeln Maulwurfsgänge der hohen Politik zu verfolgen, sondern auch die unwichtigeren Neuigkeiten des Tages zu erfahren. Auf diese Weise war ihm die Ankunft der Fürstin signalisiert worden.
Ein beiderseitiges Schweigen war eingetreten.
Durch den imponierenden Beweis seiner Polizeikontrolle, den der Agitator soeben gegeben hatte, war die Fürstin in einen entsprechenden Gedankenkreis gedrängt worden und sie suchte sich zunächst den verblüffenden Coup d'éclat zu erklären.
Die Stimme Mazzinis unterbrach die momentane Stille. »Ich weiß, Altezza, was Sie vom Nil hierhergeführt hat!« Die ehernen Züge seines Gesichtes waren weich geworden und in tiefer Gemütsbewegung ergriff er die fieberheiße Hand des gramgebeugten Weibes. »Vieles ist geschehen, Camilla, seitdem wir uns vor Jahren zu Rom begegneten und wir beide haben inzwischen verschiedene Stunden durchlebt, die uns, wie es in der Schrift heißt, nicht gefallen!«
In einem herzbrechenden Schluchzen löste sich der Aufruhr der Frauenseele. Es waren wohltätige Tränen, denn in ihnen entlud sich die Konvulsion der überreizten Nerven. Geräuschlos hatte sich der Agitator von seinem Sitze erhoben und in ernstem Sinnen durchschritt er den Salon. Eine Bewegung der Fürstin rief ihn aus seiner Gedankenwelt zurück: seinem Blick begegneten zwei Augen, die ihn mit einem geisterhaften Ausdruck fixierten. »Signore,« tönte es in sein Ohr: »verzeihen Sie der Frauennatur, die sich von der Schwäche ihres Geschlechtes anwandeln ließ!«
Eine fast gebieterische Geste ihrer Hand nahm dem Agitator das Wort von den Lippen weg. » Abbastanza, Signore! Unsere Zeit, Signore, ist kostbar, wir müssen jetzt denken und handeln, denn es gilt einen Kopf zu retten, den Italien heute oder morgen noch brauchen kann« … Mit einem wildenergischen Ruck hatte der heroische Organismus der Fürstin sein ganzes Weh abgeschüttelt, sowie im entscheidenden Moment ein Soldat sein lästiges Gepäck abwirft, um besser kämpfen zu können.
Aber auch auf Mazzini mußte dieser jähe Stimmungswechsel in gleicher Weise zurückwirken und ihn an die prosaischeren Zielpunkte seiner Rolle erinnern. Schon der nächste Moment gab diesem Erwägen Ausdruck. Seinen Sessel näher an die wärmende Kaminglut hinschiebend, hatte er wiederum der Fürstin gegenüber Platz genommen. Noch eine Weile blickte er schweigend in das Spiel der züngelnden Flammen: dann richtete er sich langsam auf und jetzt war er nur der kühle Staatsmann, der die Menschen und Dinge nicht an der schwanken Stufenleiter des Gefühls, sondern an der straffen Richtschnur der Vernunft bemißt. Seine eben noch weiche Stimme klang herb und scharf, als er sagte: »Sie reklamieren, Altezza, einen Kopf, von dem zunächst konstatiert werden muß, daß er sich nach eigenem Willen die Schlinge um den Hals gelegt hat! Ich weiß es, Altezza, zwischen Ihnen und Felix Orsini besteht eine seltene Freundschaft, aber das kann mich nicht veranlassen, mein Urteil über ihn zu mildern. Ich weiß ferner, Altezza, daß ich niemals Ihre persönliche Sympathie besessen habe – vielleicht darf ich gerade darum doppelt an Ihre Gerechtigkeit appellieren« … Er machte eine Pause. »Was verstehen Sie eigentlich unter der Rettung Orsinis?« sprang er über, indem er einen forschenden Blick auf die Fürstin heftete.
»Signore,« antwortete sie mit fester Stimme: »Ich verstehe darunter eine Pression auf den Kaiser Louis Napoleon, die ihn bestimmt oder geradezu zwingt, das Todesurteil auf dem sogenannten Gnadenwege in eine beliebige Kerkerhaft umzuwandeln.«
»Altezza,« wandte der Agitator gelassen ein: »Sie bemerkten soeben, Italien könne den Grafen Orsini heut oder morgen noch brauchen – halten Sie Napoleon für galant genug, daß er in diesem Fall mir nichts, dir nichts den Kerker seines Bombardeurs aufschließen und ihn per Extrapost den Italienern zuschicken würde?«
Die Fürstin machte eine verneinende Bewegung. » In niun modo, Signore!«
» Ebbene, Altezza« – eine leise Ironie lag in seinem Tone – »was würde dann der Notschrei Italiens helfen?«
»Zeit gewonnen, alles gewonnen!« erklärte die Fürstin ruhig: »die festesten Mauern haben einen Ausweg, und wären sie selbst noch strenger gehütet als das Kastell San Giorgio zu Mantua! Wie Orsinis Flucht diesmal zu bewerkstelligen wäre, das soll meine Aufgabe bleiben: Ihnen, Signore, fällt nur die Prämisse zu, dem Scharfrichter rechtzeitig in den Arm zu greifen.«
»Also die weitaus schwerere Rolle!« bemerkte der Agitator trocken. »Wenn, wie Sie glauben, Altezza, Italien den Kopf Orsinis noch notwendig brauchen kann, so dürfen Sie nicht vergessen, daß es in Frankreich verschiedene Leute gibt, die diesen Kopf nicht minder kategorisch beanspruchen! Der Kaiser, obgleich es zunächst um seine Haut ging, ist, soweit es seine persönliche Stimmung betrifft, gar nicht einmal besonders auf eine blutige Sühne erpicht … Herodes ist es ja aber auch nicht gewesen und dennoch hat ein Tanz genügt, um das Haupt des Täufers vor die Füße der Herodias zu legen.«
Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Haß und Verachtung zugleich spiegelte sich in den Gesichtszügen der Fürstin. »Also Eugenie will ihren Leichenschmaus haben?« Sie blickte den Agitator fragend an, als fordere sie volle Gewißheit.
Mazzini nickte. » Dio mio!« warf er mit einem kühlen Achselzucken hin: »auch die Spanierin ist hier nur eine Marionette und die Schnur, an der sie tanzt, wird von andern Händen in Bewegung gesetzt – von Händen, die sich ihre Beute nicht werden entreißen lassen … Mazas und La Roquette Die beiden großen Kriminal-Gefängnisse zu Paris. sind besser bewacht als das Kastell San Giorgio! Lassen Sie, Altezza, nach dieser Richtung hin alle Illusionen fahren, denn sie sind eitel. Auch Orsini selber gibt sich keinen trügerischen Hoffnungen hin, er weiß, daß sich seine Zelle nur zum Todesgang öffnen wird und in männlicher Fassung hat er mit dem Leben abgeschlossen.«
Erbleichend zuckte die Fürstin zusammen. Von seinem Sessel aus griff Mazzini nach dem Tische hin und nahm unter den umherliegenden Papieren ein Blatt zur Hand. Und mit eherner Ruhe sprach er: »Auf falschem Wege dem großen Ziele entgegenstrebend, das auch der Polarstern meines Lebens ist, wird Orsini mit seinem Blute seinen verhängnisvollen Irrtum sühnen und in dem Herzen des italienischen Volkes – für dessen vermeintliches Heil er sein Attentat plante – wird er einen gnädigern Richter finden, als das frostige Gesetzbuch, und ein geweihteres Pantheon, als das Armsündergrab!« Seine Finger entfalteten langsam das Papier; es schien der Entwurf eines Briefes oder sonstigen Schriftstückes zu sein, denn da und dort hatte der Autor Streichungen und Korrekturen vorgenommen.
Mazzini hielt der Fürstin das Blatt entgegen. »Erkennen Sie, Altezza, die Hand, die diese Zeilen geschrieben hat?« Er ließ das Licht voll auf das Manuskript fallen. Ein dumpfer Aufschrei war die Antwort – – auf den ersten Blick hin hatte ja die Fürstin die charakteristischen Lettern und den markigen Namenszug des Freundes erkannt. Oben auf dem Blatte stand der Titelsatz: Mein Testament.
Wie von einem Wetterstrahl getroffen, sank die Fürstin in ihren Fauteuil zurück. Einen Moment ließ der Agitator sein Auge sinnend auf der geknickten Frauengestalt ruhen – dann erfaßte er leise ihre Hand. »Camilla, zeigen Sie jene altrömische Seelenstärke, die Orsini stets so begeistert an Ihnen zu rühmen wußte! Würde er vielleicht in Ihrer Achtung steigen, wenn er feig um sein Leben winseln wollte? Nein, Camilla, um den Preis einer solchen Demütigung sehen Sie ihn lieber das Schafott erwählen und durch den Tod sein Andenken verklären.«
Sie nickte wie in einem tiefen Traume vor sich hin. »Signore,« murmelte sie mit einem gespenstigen Lächeln: »Sie sehen, die Seelenstärke, die Sie von mir fordern, gehorcht Ihrem Appell! … An wen hat Orsini sein Testament gerichtet?«
»An den Mann, dem am Abend des vierzehnten Januars seine Bomben galten!« gab Mazzini ruhig zurück. Wie vom Stich einer Schlange berührt, fuhr die Fürstin empor. »Der Kaiser?« entrang es sich ihren Lippen.
Der Agitator machte eine bejahende Bewegung. »Der Kaiser Louis Napoleon, oder wenn Sie, Altezza, lieber wollen: der fahnenflüchtige Carbonaro, der in den Sporenstiefeln seines Onkels den Franzosen den ausgestopften Schimmel von Austerlitz und Jena vorreitet« … Er legte die Hand auf seine Augen, wie er es zu tun pflegte, wenn er irgendeinen bedeutsamen Gedanken erwog. Mit einemmal ließ er rasch die Hand sinken. »Fragen Sie nicht, Altezza, wie und auf welchem Wege dieses Schriftstück Orsinis in meinen Besitz gelangt ist – ich könnte Ihnen keine Antwort darauf geben. Noch ist das Testament ein Geheimnis, das der Kaiser einstweilen selbst seiner nächsten Umgebung gegenüber zu hüten sucht. Trotzdem bin ich bereit, Ihnen, Altezza, den vollen Wortlaut dieses Schreibens zu eröffnen, wenn Sie mir auf den Namen Felix Orsini schwören wollen, so lange gegen jedermann zu schweigen, bis ich Sie Ihres Gelübdes entbinde, oder bis, ohne Ihr Zutun, das Schriftstück sonstwie publik wird. Wollen Sie mir diesen Eid leisten?«
Die Fürstin hob einen Finger empor, an dem ein einfacher Goldreif glänzte. »Bei diesem Ring und beim Namen dessen, der ihn mir gab, schwöre ich unverbrüchliches Schweigen!« Tränen erstickten ihre Stimme. Eine Weile verharrte Mazzini in teilnahmsvollem Abwarten, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Altezza, deuten Sie es nicht als Gefühllosigkeit, wenn ich Sie bitte, sich sammeln zu wollen, aber die unerbittliche Zeit drängt mich dazu, denn in aller Bälde wird hier ein Besuch erscheinen, den ich mit dem besten Willen nicht antichambrieren lassen kann … Darf ich beginnen?«
»Ich bin bereit, Signore!« preßte die Fürstin hervor.
Mit einer Verbeugung griff Mazzini zu dem Papier, dem der Gefangene an der Schwelle des Todes seine letzten Wünsche und Gedanken übertragen hatte … Auf dem Sims pickte die Stutzuhr ihre monotone Weise, im Kamin knisterte leise das Feuer – – sonst ringsum feierliche, geisterhafte Stille. Das Weinen der Fürstin war verstummt: es galt, den Passionsgang zu vollenden.
Und mit seiner klangvollen Stimme, die er zu bemeistern wußte wie ein Saitenspiel, begann der Agitator das merkwürdige Schreiben vorzulesen, das Orsini als sein Testament an den Kaiser Louis Napoleon gerichtet hat.
* * *
Sire! Wir zitieren das »Testament« streng nach dem uns vorliegenden Originaltexte. (D. Verf.)
Die Aussagen und Zugeständnisse, die ich vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben habe, sind hinreichend, um mich in den Tod zu schicken und ich werde keinen Versuch machen, eine Milderung meiner Strafe auf dem Gnadenwege zu erflehen. Aus zwei Gründen nicht. Zunächst möchte ich mich nun und nimmer vor dem Manne beugen, der die keimende Freiheit meines unglücklichen Vaterlandes niedergetreten hat; andererseits ist meine eigene Lage eine solche, daß sie mir den Tod als eine Wohltat erscheinen läßt. Nichtsdestoweniger will ich an der Endstation meiner irdischen Laufbahn noch ein letztes für Italien tun – für das Land, dessen Befreiung mich jede Gefahr verachten und jedes Opfer darbringen ließ. Italiens Wiedergeburt ist mein stetes Sinnen und Trachten gewesen und als letzter Gedanken soll es diese Zeilen durchglühen, die ich an Ew. Majestät richte.
Wenn Europa im Gleichgewicht bleiben soll, so muß Italien entweder auf eigene Füße gestellt, oder aber müssen die österreichischen Sklavenketten, in denen es sich windet, noch fester geschmiedet werden. Sie fragen vielleicht, Sire, ob ich von den Franzosen verlangen darf, daß sie für Italiens Interesse ihr Blut vergießen? Nein! soweit geht meine Zumutung nicht – kaum auch die meiner Landsleute. Das italienische Volk fordert einzig und allein, daß Frankreich nicht feindselig gegen es auftrete und daß der Kaiser seinen souveränen Einfluß soweit geltend mache, um in dem Entscheidungskampfe – der über kurz oder lang zwischen Italien und Österreich losbrechen wird – die Neutralität der übrigen, insbesondere der deutschen Bundesstaaten zu erzielen. Und das, Sire, liegt in Ihrer Macht! Ihrem ernsten Wollen ist Italiens Heil oder Weh anheimgegeben – in Ihren Händen, Sire, liegt der Aufschwung oder Untergang eines Volkes, dem Europa zu einem großen Teile seinen heutigen Kulturstand verdankt …
Es ist mehr als eine Bitte – es ist ein heißes Gebet das ich aus der melancholischen Stille meiner Zelle an Frankreich und seinen Lenker richte; möge die Inbrunst, die mich erfüllt, meiner schwachen Stimme ein geneigtes Gehör erwirken!
Im Jahre 1849 hat, durch das Verschulden Frankreichs, Italien den Moment seiner Befreiung hinopfern müssen. Sire, ich beschwöre Sie: sühnen Sie das Unrecht von damals! Erinnern Sie sich, daß die Italiener – in deren Reihen auch mein Vater marschierte – freudig für den großen Korsikaner stritten und litten und ihm treu blieben bis zum Erbleichen seines Sternes! Erwägen Sie, Sire, daß Ihre persönliche Sicherheit und die Ruhe Europas so lange eine Chimäre sein werden, bis Italien seine nationale Einheit und politische Selbständigkeit errungen haben wird! …
Sire, lassen Sie diesen Appell eines Patrioten, der auf den Treppenstufen des Schafottes steht, nicht achtlos verhallen, erlösen Sie das Land meiner Väter, und der Dank von fünfundzwanzig Millionen freigewordenen Menschen wird Sie, Sire, auch für die Nachwelt fortleben lassen.
Im Gefängnis Mazas, 11. Februar 1858.
Felix Orsini.
* * *
Der Agitator faltete das Blatt leise zusammen.
Wieder war es in dem Salon still geworden. Beide Hände vor das Gesicht gedrückt, schien die Fürstin in eine Art von seelischer Erstarrung versunken zu sein. Sie beachtete es gar nicht, daß Mazzini sich von seinem Sessel erhoben hatte. Soeben beugte er sich zu der schmerzbetäubten Frauengestalt herab, um sie mit einem trostsamen Worte aufzurichten – im selben Moment lenkte eine Bewegung seinen Blick nach dem Eingang des Gemaches hin. Fast geräuschlos hatte sich die Portiere auseinandergeschoben, in dem Spalt zeigte sich ein Kopf – dann eine Hand, die in rascher Fingersprache irgendeine Meldung machte. Ein leichtes Nicken war die Antwort des Agitators und leise schloß sich wieder der Vorhang. Die Stimme Mazzinis erweckte die Fürstin aus ihrer Apathie; wie ein Fieberschauer rieselte es durch ihren Körper und mit dem Ausdruck eines dumpfen Grauens hefteten sich ihre großen Augen auf den Mann, der ihre letzte Hoffnung vernichtet hatte.
»Altezza,« sagte er mit einem traurigen Lächeln: »scheiden Sie nicht von hier in ungerechtem Haß gegen mich! Die nächste Zukunft soll Ihnen manches klar machen, was ich jetzt noch nicht enthüllen darf; eines aber kann ich schon zur Stunde geloben: das Testament Orsinis wird seine Vollstreckung finden – freilich nicht in der Form, die er als idealer Schwärmer erstrebte, dafür aber auf festerer Basis. Und in diesem Sinne wird aus Orsinis Blut ein Fruchtkorn hervorkeimen das als reifer Halm seine hundertfältige Ernte tragen soll!« Eine innere Glut rötete sein bleiches Antlitz und träumerisch sprach er vor sich hin: »Was bedeutet der leibliche Tod, wenn, über das Henkerbeil triumphierend, die unsterbliche Idee fortlebt. Mag ein Kopf fallen, wenn tausend andere Köpfe seine Gedankenarbeit weiterführen!«
Mit einer Handbewegung unterbrach er sich. »Altezza, wir werden uns morgen noch einmal sehen und wir werden dann als gute Freunde scheiden.« Er mochte in ihrem Blicke einen stummen Protest lesen und mit ruhigem Nachdruck wiederholte er: »Wir werden nicht aus Laune, sondern aus Notwendigkeit unsere Allianz abschließen, denn wir brauchen uns gegenseitig …« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging seine Stimme in einen andern Ton über. »Ihr leidender Zustand, Altezza, flößt mir Besorgnis ein – darf ich Ihnen wohl meinen Sekretär als Begleiter nach Ihrem Hotel zur Verfügung stellen?«
Dankend lehnte die Fürstin ab.
»Dann mag er wenigstens eine Droschke herbeischaffen,« bemerkte Mazzini. Seine Hand drückte auf einen kleinen, in der Wand angebrachten Metallknopf, der sich kaum sichtbar von dem Grund der Tapete erhob. Nichts rührte sich und dennoch hatte der im Salon unhörbare Signalapparat seinen Auftrag erledigt, denn schon nach wenigen Minuten rollte draußen auf der Straße ein Wagen heran und machte vor dem Hause Halt. »Altezza,« brach der Agitator das beiderseitige Schweigen: »Wir trennen uns also auf Wiedersehen. Möge die Menschennatur ihr ewiges Recht behaupten und Ihnen heute nacht die Ruhe aufzwingen, die« – er lächelte melancholisch – »auch ich notwendig brauchen könnte!« Mit einer Verbeugung bot er der Fürstin seinen Arm und geleitete sie in das Vorzimmer. Hier blieb er stehen. »Verzeihen Sie, Altezza, wenn ich Sie nicht weiter begleite, aber ich muß als Patient die Grenzen respektieren, die mir mein Arzt für heute noch gezogen hat … Morgen im Verlauf des Vormittags werde ich mir erlauben, bei Ihnen anfragen zu lassen, wann und wo Sie meinen Gegenbesuch empfangen wollen.« Er klopfte leise an die Wand und fast im gleichen Moment zeigte sich schon die geschmeidige Figur seines Sekretärs. »Giacomo, Sie werden die Ehre haben, die Frau Fürstin zu ihrem Wagen zu begleiten.« Der Sekretär machte eine stumme Reverenz. – – –
Mazzini war kaum aus dem Vorzimmer in seinen Salon zurückgekehrt, als sich unten auf der Straße schon die Droschke in Bewegung setzte. Fröstelnd an den Kamin gelehnt, verfolgte er das Rasseln der Räder, bis es sich in der Weite verlor. In seinem tiefen Sinnen hörte er gar nicht, wie sich im Hintergrund eine Tapetentüre leise öffnete: zwei Frauenköpfe – der eine blond, der andere braun – lugten durch den Spalt herein, dann verschwanden sie wieder ebenso geräuschlos. Die beiden Engel wußten aus Erfahrung, daß in solchen Momenten Schweigen Gold war … Der Agitator trat langsam an seinen Tisch hin und griff nach dem Testament Orsinis. Gedankenvoll wog er das Blatt in seiner Hand, als woll' er den Wert einer Ware taxieren. Mit einemmal ließ er das Papier auf den Tisch zurückfallen. »Nein!« sprach er mit kalter Ruhe vor sich hin. »Nein! Wenn ich auch seinen Tollkopf loskaufen wollte – der Preis, den es mich kosten würde, wäre viel zu teuer.« Seine Hand machte eine abschließende Bewegung. »Er mag sterben!« Wie der Schlag eines eisernen Hammers klangen die drei Worte durch die gespenstige Stille hin … Der Blick Mazzinis richtete sich auf ein chiffriertes Schriftstück; einen Bleistift ergreifend, warf er eine kurze Notiz auf den Rand. Dann trat er an den wärmenden Kamin zurück und rief halblaut: »Giacomo!«
Wie auf Katzenpfoten schlüpfte der Sekretär herein.
»Hast du meine Order ausgeführt?« fragte der Agitator.
Der Sekretär verbeugte sich. »Bartolomeo folgt in einer Droschke hinterdrein und wird das weitere Tun der Frau Fürstin mit der nötigen Diskretion beobachten.«
»Für heute dürfte die Kontrolle wahrscheinlich überflüssig sein,« brach Mazzini das momentane Schweigen: »Die arme Dame ist an Leib und Seele vollständig geknickt und wird in ihrem Hotel kaum noch etwas anderes verlangen, als ein Kissen, um sich darauf auszuweinen. Immerhin aber bleibt es geboten, Aug' und Ohr offen zu halten, denn jedenfalls interessieren sich verschiedene Leute für die Fürstin und ihre plötzliche Ankunft aus dem Lande der Pyramiden.« Er blickte nach der Uhr. »Der Franzose könnte schon hier sein,« sprang er kurz über. »Giacomo,« wandte er sich an den seitwärts stehenden Sekretär: »Wir haben es hier mit einem recht unheimlichen Gesellen zu tun – mit einem Burschen, dem man entschieden irgendeinen Gewaltstreich zutrauen darf.«
» Certamente!« antwortete der Sekretär: »der Mann ist ein halber Wilder, er hat jahrelang in den Pampas bei den Indianern gelebt und soll sich dort besonders in der Handhabung des Messers eine unglaubliche Virtuosität angeeignet haben.« Mit einer bittenden Gebärde trat er seinem Chef näher. » Capo, ich weiß, Sie kennen keine Furcht und verlassen sich am liebsten auf sich selber – machen Sie aber hier eine Ausnahme und gestatten Sie mir wenigstens, daß ich dort im Nebenzimmer mit drei oder vier – –«
Eine Handbewegung Mazzinis schnitt dem Bittsteller das Wort ab. »Beruhige dich, Giacomo, und alarmiere nicht eher die Löwengrube, als bis es wirklich Zeit sein sollte! Zunächst bin ich auf jede etwaige Extravaganz dieses Messervirtuosen vorbereitet.« Er schob ruhig auf dem Tische einige Papiere auseinander: im Lichtschein blinkte ein schußfertiger Revolver. Lächelnd ließ er die Waffe wieder unter ihrem harmlosen Deckmantel verschwinden – – – fast im selben Moment dröhnten, von einer wuchtigen Faust hervorgerufen, zwei rasch aufeinanderfolgende Schläge des Türklopfers durch das grabesstille Haus. Mazzini blickte fragend auf.
»Er ist's!« nickte Giacomo.
Zwei oder drei Minuten später betrat, einen zerknitterten Schlapphut in der nackten Faust schwingend, eine wahre Zyklopengestalt den Salon des Agitators. – – – »Alarmiere nicht die Löwengrube,« hatte Mazzini zu seinem Sekretär gesagt.
Um dem Leser diese Worte verständlich zu machen, müssen wir hier das geheimnisvolle Haus am Bedford-Square durch ein weiteres Streiflicht erhellen.
Es ist leicht begreiflich, daß ein Mann in der unendlich heikeln Stellung Mazzinis alle Ursache hatte, dem altenglischen Bürgerspruche beizupflichten: my house is my castle. Nur zwischen seinen vier Pfählen durfte sich ja der verfehmte Agitator einigermaßen dem Gefühl persönlicher Sicherheit hingeben. Wir sagen: einigermaßen, denn der Leser wird sogleich erfahren, daß die Kabinettsmeute, die ruh- und rastlos, unter allen möglichen Masken ihren Todfeind umkreiste, selbst bis in seine Wohnung einzudringen suchte. Handelte es sich doch nicht allein um die Person, sondern zugleich auch um das Archiv Mazzinis! Wie so manche Regierung hätte einen Einblick in diese Aktensammlung mit Millionen und Millionen bezahlt, denn hier in diesem mysteriösen Zentrum liefen all die Fäden zusammen, die in ihrer wunderbaren Verschlingung ein Netzwerk bildeten, das sich über halb Europa ausspannte … Die Verhältnisse zwangen also geradezu den Agitator, sein Haus zu einer Festung zu machen. Aber die Zitadelle brauchte auch eine Garnison, wenn die Abwehr wirksam sein sollte. Und so schuf sich Mazzini ein Trabantenkorps, das in Organisation und Disziplin als das Ideal einer Leibwache bezeichnet werden darf.
Aus den intelligentesten und energischsten Elementen der zu London weilenden italienischen Flüchtlingskolonie rekrutiert, zerfiel das Schuhkorps in zwei Abteilungen: der einen lag der äußere – der andern der innere Dienst ob. Die extreme Abteilung bildete die geheime Polizeibrigade und ihr Operationsgebiet war ganz London. Verließ Mazzini seine Wohnung, so hefteten sich, von der Türschwelle ab, drei, vier – manchmal noch mehr dieser Geheimagenten an seine Fersen und gaben ihm auf Schritt und Tritt ihr schirmendes Geleite.
Die zweite und numerisch größere Abteilung hingegen stellte die eigentliche Hausbesatzung. Jeden Tag zog ein Kommando von zehn Mann auf; im Souterrain war eine Wachtstube hergerichtet, ein Signalapparat verband die Gemächer des Agitators mit diesem Lokal. Den Tag über hielt sich die Garnison unsichtbar, erst nachts trat sie ihren Postendienst an und der Wachtmeister revidierte zu verschiedenen Malen Haus und Hof. Ein besonderer Vorfall hatte diese strenge Kontrolle veranlaßt. Kurz nachdem Mazzini in das Haus am Bedford-Square übergesiedelt war, hatte nämlich in einer stürmischen Nacht ein Individuum von einem anstoßenden Gebäude aus das Dach erstiegen und von dorther zunächst auf den Bodenraum – dann mit Dietrich und Sperrhaken in die unterhalb liegende Etage sich Zugang verschafft. Schon war der kecke Bursche unbehelligt bis in das Bibliothekzimmer gelangt: nebenan befand sich das Archiv. In einem kleinen Vorzimmer, das von der andern Seite her zu dem Archiv führte, schlief Mazzinis treu erprobter Kammerdiener Marco. Ein Geräusch erweckte den Schläfer: er horchte und stand schon im nächsten Moment auf seinen Füßen. Leise heranschleichend, erblickte er im Bibliothekzimmer den Eindringling, der mit einer Blendlaterne in dem Gemach umherleuchtete. Im Lichtschein der Laterne fiel Marcos Schatten auf die Wand und jählings fuhr der Einbrecher herum, während zugleich seine Hand rasch in die Tasche griff. Noch schneller aber hatte sich der behende Sarde auf den Gegner gestürzt und ihn mit eiserner Faust an der Gurgel gepackt. Wie ein Wetterstrahl schwirrte die blanke Klinge seines Stiletts herab – ein Blutstrom spritzte unter dem sich mitten ins Herz bohrenden Stahl empor und mit einem halberstickten Schrei taumelte der Unbekannte rücklings zu Boden. Klirrend war seiner Hand die Laterne entfallen, Marco raffte sie auf und schlug die Blendlaterne zurück: schon streckte sich krampfig eine Leiche …
Wie sich aus den bei dem Toten vorgefundenen Papieren ergab, war der Mann im Sold und Auftrag der ***schen Regierung nach London gekommen und im Hinblick auf den noch so rechtzeitig unschädlich gemachten Bravo durfte Mazzini jedenfalls sagen: Ihm ist wohl und mir ist besser! – –
Am folgenden Abend besorgte Marco mit ein paar Kameraden den Rest. In einen Sack eingenäht und mit einem Eisenklotz beschwert, wurde die Leiche in einer von Marco selber gelenkten Droschke an die Themse geschafft, hier in einen Kahn umgeladen und mitten im Wasser ohne Klang und Sang über Bord geworfen.
Der ***sche Gesandte – der an dem geplanten Einbruch ein leicht erklärliches Interesse hatte – wollte natürlich wissen, was aus dem verschwundenen Handlanger geworden sei und auf seine vertrauliche Interpellation hin ward eine Untersuchung eingeleitet. Die Londoner Kriminalpolizei echauffierte sich jedoch nicht sonderlich für den der betreffenden Regierung wenig zur Ehre gereichenden Kasus und ließ Gras darüber wachsen. Mazzini aber hatte aus diesem nächtlichen Besuch eine nützliche Lehre gezogen und seitdem gegen eine etwaige Wiederholung die entsprechenden Maßregeln getroffen. Die Löwengrube – wie er die Wachtstube in seinem Hause zu bezeichnen pflegte – ist damals von den Lohnschreibern einer feindseligen Presse zur Mördergrube gestempelt worden, in welcher Mazzini bei Nacht und Nebel seine Opfer abschlachten lasse. Die Infamie jener Verdächtigung bedarf kaum einer weiteren Abfertigung. Dagegen hatte Mazzini ebensowenig Lust, sich selber abschlachten zu lassen. Wer also in der Absicht das Haus am Bedford-Square betrat, der mußte sich zunächst darüber klar sein, daß die zehn Löwen, die unten wachten, keine Lämmer waren und daß der »bleiche Genuese« – der bis zur Abgötterei verehrte Herr und Meister – nur stumm zu winken brauchte zum erbarmungslosen Packen und Knacken. Und wäre es dann der leibhaftige Teufel gewesen – die Zehn hätten ihn zu einem stillen Mann gemacht.
* * *
Der Audienz, die auf den vorhergehenden Blättern geschildert worden ist, folgte am nächsten Tage eine mehrstündige Konferenz zwischen Mazzini und der Fürstin Camilla von Bentivoglio. Wir werden die Zielpunkte und Resultate dieser Besprechung in einem andern Kapitel erfahren. Es sei hier nur so viel bemerkt, daß die Entrevue ein Bündnis zwischen den beiden zustande brachte. Der Agitator hatte also die Situation treffend charakterisiert, als er am Abend zuvor zu der Fürstin, trotz ihres stummen Protestes, sagte: »Wir werden nicht aus Laune, sondern aus Notwendigkeit unsere Allianz abschließen, denn wir brauchen uns gegenseitig.«
Dem Vorhaben der Fürstin, sich nach Paris zu begeben und dort dem Attentatsprozeß beizuwohnen, widersprach Mazzini in resolutester Weise. Er sah den naturgemäßen Rückschlag einer derartigen Seelenmarter voraus und zugleich lag die Befürchtung nahe, das heroische Weib könne, wenn erst an Ort und Stelle, zur Befreiung Orsinis irgendeinen verzweifelten Gewaltstreich planen, der zweifellos mißlingen mußte, in seinen Konsequenzen aber möglicherweise den ganzen Schachzug Mazzinis verrückte. Nur durch den Hinweis, daß fortan ihr Leben und ihre Gesundheit dem Geheimbunde angehöre, ließ sich die Fürstin das Versprechen abringen, direkt nach Kairo zurückzukehren. Derselbe Dampfer »Pharao«, der sie nach London gebracht hatte, trug sie auch wieder an den Nil zurück.
Am 14. Januar hatte Orsini seine Bomben geschleudert; am 25. Februar erschien er mit seinen drei Genossen vor dem Schwurgerichtshof des Seine-Departements. Das Urteil Orsinis war schon im Voraus gesprochen und besiegelt, die öffentliche Gerichtsverhandlung hatte also nur noch die Bedeutung einer gesetzlichen Formalität. Aber hinter den Kulissen war in der Zwischenzeit Verschiedenes geschehen.
Das Attentat hatte den Kaiser in eine Aufregung versetzt, die er vergebens zu bemeistern suchte; er brauchte bloß seinen von einem Bombensplitter zerlöcherten Hut anzusehen, um die Gewißheit zu gewinnen, daß er nur durch ein reines Wunder dem ihm zugedachten Tode entgangen war. Und dabei durfte er sich nicht einmal dem tröstlichen Wahne hingeben, als sei Orsinis Gewaltstreich das Produkt eines vereinzelten Tollkopfes gewesen. Aus Gründen, die wir noch klarlegen werden, mußte vielmehr Louis Napoleon in dem furchtbaren Bombardeur nur den Zeichendeuter eines von höherer Hand an die Wand geschriebenen Mene tekel erblicken.
Kein zweiter hat wohl das Charakterlabyrinth des Imperators so genau gekannt, wie gerade Mazzini. Da gab es keinen noch so dunkeln und verborgenen Winkel, den nicht schon der scharfsinnige Genuese durchstöbert hatte; die verzwicktesten Schleichgänge, die geheimsten Schlupflöcher dieser unehrlichen und lichtscheuen Menschennatur waren für Mazzini ein ohnmächtiges Blendwerk und mit fast mathematischer Gewißheit konnte er voraussagen: Durch diese hohle Gasse muß er kommen.
Als die Kunde von dem Bombendrama das Haus am Bedford-Square erreichte, hatte Mazzini ruhig zu seinem Sekretär gesagt: »Paß auf, Giacomo, wir werden bald von Paris einen Besuch bekommen.« Und einige Tage darauf empfing auch schon der Prophet an seinem Kaminfeuer einen geheimen Emissar des – Kaisers. Der Sendbote sollte erforschen, ob und wieweit Mazzini an dem Attentat beteiligt sei; er erfuhr, der Wahrheit gemäß, daß Orsini nach eigenem Plan und auf eigene Faust operiert hatte. Mazzini aber war der Mann, der die nun einmal geschaffene Situation ausnützen wollte; die Bombenknallerei war nicht mehr ungeschehen zu machen, als vollendete Tatsache aber ließ sie sich zum Benefiz Italiens verwerten: es galt, das Eisen zu schmieden, so lange es noch warm war. Mazzini erklärte also dem Emissar, daß er persönlich allerdings nicht nach dem Leben des Kaisers trachte, daß er aber auch ebensowenig irgendeine weitergehende Bürgschaft übernehmen wolle oder könne. »Melden Sie,« sagte er zu dem Kaiserlichen Sendboten, »Ihrem Herrn und Meister, daß ich keineswegs gesonnen bin, meine Autorität nutzlos in die Schanze zu schlagen! Ich kann nicht der Wächter sein für jeden Dolch, der vielleicht soeben geschliffen – für jede Pistole, die vielleicht zur Stunde geladen wird, um Orsinis Unternehmen erfolgreicher durchzuführen. Der Kaiser ruht genau so, wie er sich selber gebettet hat, und ich sage ihm voraus, daß ihn seine ganze Phalanx von Polizeidienern nicht zu schützen vermag, wenn er nicht noch rechtzeitig dem Zorn des italienischen Volkes ein Ventil öffnet, durch das die gewaltsam komprimierten Gase entweichen können … Melden Sie,« so schloß der Agitator, »Ihrem Herrn, daß es jetzt nur noch ein Vorwärts gibt! Italien will frei und einig werden, Frankreich soll ihm zu dieser nationalen Umwälzung seine starke Hand bieten. Möge der Kaiser zu seinem eigenen Heil erwägen, daß ihn ein leidenschaftliches Volk für jedes längere Schwanken und Säumen verantwortlich macht.«
Mit diesem kategorischen Bescheid kehrte der Sendbote nach Paris zurück und überbrachte dem Kaiser das Schreiben, worin Mazzini seine Zielpunkte noch besonders formuliert hatte. Schon nach wenigen Tagen erschien der Emissar wieder zu London; der durch das Attentat mürbgeklopfte Imperator erklärte sich bereit, auf der in dem Schreiben bezeichneten Basis mit dem Agitator in Unterhandlung zu treten. Und jetzt führte der flinke Genuese Schlag auf Schlag eine Reihe von Schachzügen aus, denen selbst ein Bismarck – der Hochmeister der europäischen Diplomatie – seine offene Bewunderung gezollt hat. Die Weltgeschichte hat seitdem den Schleier gelüftet, hinter welchem Mazzini damals den Stoß vorbereitete, der ein Jahr später im Kanonendonner von Magenta und Solferino Europa erschüttern sollte …
Noch brütete in seiner öden Kerkerzelle Orsini über die Zukunft des heißgeliebten Vaterlandes, und schon, ohne daß er es ahnte, ging sein an den Kaiser gerichtetes Testament den ersten Stadien der Erfüllung entgegen.
Zwischen die summarischen Forderungen Mazzinis und die drohenden Dolche einer erbarmungslosen Rächerschar eingeklemmt, entschied sich Louis Napoleon für ersteres; er verpflichtete sich, dem Agitator gegenüber, längstens binnen Jahresfrist Österreich den Krieg zu erklären und der Bundesgenosse Victor Emanuels zu werden. Mit eiserner Hand rang Mazzini dem an die Wand gedrückten Imperator noch eine besondere Klausel ab. Wir wissen, daß Louis Napoleon aus begreiflichen Gründen das Schreiben Orsinis geheim zu halten suchte; Mazzini aber machte, es zur Conditio sine qua non, daß bei der öffentlichen Gerichtsverhandlung das Testament, als zu den Akten des Prozesses gehörig, in seinem vollen Wortlaut vorgelesen werden müsse. Der Agitator kannte seinen Mann und diesmal wollte er ihm jeden Rückzug abschneiden. Notgedrungen biß der Napoleonide in den sauren Apfel und Jules Favre – der Verteidiger Orsinis – erhielt die kaiserliche Autorisation, das Testament in sein Plaidoyer einflechten zu dürfen. Dieses Plaidoyer des berühmten Pariser Advokaten gehört zu den Meisterstücken forensischer Beredsamkeit. Die kaiserliche Zensur sorgte dafür, daß, in Frankreich wenigstens, das Plaidoyer nur in verstümmelter Form seinen Weg in die Presse fand.
Heute, den vollendeten Tatsachen gegenüber, erkennen wir, daß diese flammende Rede eine zwiefache Weissagung gewesen ist: sie prophezeite den blutigen Gerichtstag von Sedan und kündete den unaufhaltsamen Siegeszug des Kreuzes von Savoyen. Favre verabscheute den politischen Mord, seine Moral verdammte das Attentat Orsinis: aber der Rechtssinn des Advokaten unterschied zwischen dem verwerflichen Gewaltakt und dem idealen Grundmotiv. In Orsinis ganzem Leben und Streben spiegelte sich die Leidensgeschichte eines brutal unterdrückten Volkes und dieser unumstößlichen Tatsache gab Favre freimütig Ausdruck und Betonung. In seinem Plaidoyer adelte sich das Schafott, auf dem Orsinis Haupt fallen sollte, zu einem Opferaltar – und der Armsünder zu einem Schwärmer, der ein Verbrecher ward, weil er sein unglückliches Vaterland allzu heiß geliebt hatte …
»Meine Herren« – so wandte er sich an die Bank der Geschworenen – »die Mordwaffe ist noch niemals mein Symbol gewesen: ich gehöre zu denen, die jede Gewalttat verabscheuen und keinem Menschen räume ich die Ermächtigung ein, die nationale Wiedergeburt seines Volkes durch einen Meuchelmord einzuleiten. Wenn ein solches Volk sich unter der Faust eines Despoten windet, so wird nun und nimmermehr der Dolch eines Attentäters dazu berufen sein, die Rolle des Erlösers zu spielen. Die Tyrannen dieser Erde zerschellen an ihren eigenen Sünden und Missetaten, und Gott, der in seiner erhabenen Weisheit die Tage und Stunden dieser ungetreuen Statthalter zählt, weiß im richtigen Moment auf sie einen Wetterstrahl herabzuschleudern, der furchtbarer ist als die Explosion einer armseligen Mordmaschine! Das, meine Herren Geschworenen, ist mein unerschütterlicher Glauben und meine innerste Überzeugung. Und dennoch hat sich mein Ohr nicht taub abgewendet, als Orsini mich in seine Zelle rief, um mir seine Verteidigung anzuvertrauen. Ich ermaß den Frevel dieses Mannes, ich sah vor meinen Augen die zerfetzten und verstümmelten Menschen sich in ihrem Blute wälzen und ich schauderte. Aber ich mußte mir zugleich auch sagen, daß dieses ungeheuerliche Verbrechen unmöglich der Ausfluß einer bloßen Mordlust sein konnte und ich habe mich in meiner Vermutung nicht getäuscht, denn heute blicke ich klar in die Seele hinein, die ein düsterer Wahn sich zur gespenstigen Klause erkor – eine Seele, in welcher die Irrlichter einer fixen Idee flackern … Und ich habe zu Orsini gesagt: ›Ich verdamme deine Missetat und ich werde, wenn auch dein Rechtsbeistand, im Gerichtssaale meinem moralischen Abscheu offenen Ausdruck geben; aber ich darf mich durch dein Schicksal rühren lassen und ich darf die Energie und Opferfreudigkeit bewundern, womit du dich schon als Jüngling in den schweren Dienst deines unglücklichen Vaterlandes gestellt hast. Wär' ich Italiener, so hätte vielleicht auch ich für die heilige Scholle, die wir Heimat nennen, mein Leben gerade so in die Schanze geschlagen wie du! Ich hätte vielleicht in ganz gleichem Schritt und Tritt dieselbe Laufbahn durchmessen wie du! Eines aber würde uns zwei immer unterschieden haben: Ich wäre kein Mörder geworden … Jetzt ist dein unseliges Werk vollbracht, die beleidigte Menschheit fordert Sühne und ich werde in der feierlichen Stunde, wo deine Schuld gewogen wird, dir zur Seite stehen – nicht um mit advokatischen Kniffen und Pfiffen den Scharfrichter um deinen Kopf zu prellen – nicht um dich mit dem Rittermantel eines interessanten Romanhelden zu drapieren, sondern einzig und allein, um deinen Namen, dein Streben und dein Andenken gegen das falsche Urteil der Nachwelt zu schützen‹ … Mit dieser Mission beauftragt, stehe ich jetzt vor Ihnen, meine Herren Geschworenen! Ich werde in meinem Plaidoyer nichts zu entschuldigen suchen, aber ich will vieles erklären. Möge es meiner schwachen Stimme gelingen, zu einer Fackel zu werden, die mit ihrem Schein das Labyrinth einer eigenartigen Menschenseele aufhellt!«
Und nun entrollte Favre das wild melancholische Lebensbild Orsinis, wie es in seinen Hauptzügen bereits auf den vorgehenden Blättern dieses Kapitels geschildert worden ist. Mit eisernem Hammer, sozusagen, schlug der furchtlose Advokat das falsche Pathos des kaiserlichen Oberstaatsanwaltes Chaix-d'Est-Ange in Scherben und er gab diesem strebsamen Deserteur der Demokratie zu verstehen, daß es just ihm am wenigsten gezieme, die in allen Lebenslagen bewährte Überzeugungstreue und Uneigennützigkeit Orsinis ironisch zu bekritteln. Aber auch dem meineidigen Usurpator in den Tuilerien durften die Ohren klingen, denn in verblümter Redewendung stellte Favre den Bomben des Attentäters die Granaten des Volksmörders gegenüber, der an jenem grausigen 4. Dezember 1851 seinen Treubruch an der Republik durch ein Massenmassacre besiegelte und dann, noch von dem vergossenen Bürgerblut bespritzt, sich zum Kaiser von Gottes Gnaden salben ließ. Mehrmals hatte der Gerichtspräsident Delangle schon den Mund geöffnet, um den kühnen Redner zu unterbrechen – er mochte aber einen noch unliebsamern Rückstoß befürchten und so blieb der Ordnungsruf an seinen Lippen hängen. Wie einen Strom, der zwischen Felsen und Trauerweiden dahinrauscht, ließ Favre den leidensreichen Lebenslauf seines Klienten an dem Auditorium vorüberziehen. Sein Gesicht in die Hände gedrückt, folgte Orsini regungslos diesen chronologischen Etappen. Und jetzt griff der Advokat nach dem Testament, um mit bewegter Stimme dieses auf der Schwelle des Todes niedergeschriebene Kodizill zu eröffnen. Der Eindruck auf die Zuhörer war der einer allgemeinen Sensation, in manchem Auge sah man Tränen schimmern … »Dies, meine Herren Geschworenen« – so schloß Favre – »ist der letzte Gedanke dieses Mannes hier, es ist zugleich ein letztes Lebewohl, das er seinem heißgeliebten Vaterlande zuruft, und wenn er den schweren Gang antritt, der in das Dunkel des Jenseits führt, so wird ihn noch unter dem Beile die Hoffnung trösten, daß vielleicht sein Blut doch nicht umsonst fließen soll. Den Wortlaut dieses Testamentes näher zu erläutern, liegt außerhalb meines Bereiches, doch es bedarf auch gar keines Kommentars, denn das Schriftstück deutet sich selber. Meine Aufgabe ist also erledigt und ich trete beiseite, um andern Platz zu machen. Mein Mund muß jetzt schweigen; möge Ihnen, meine Herren Geschworenen, der Nachhall meiner Stimme in das Beratungszimmer folgen! Am Ende unserer irdischen Laufbahn erwartet uns alle ein Richter, der über Zeit und Raum erhaben ist; vor seinem Tribunal reiht sich der Paria an Kaiser und König und jeder hat sein Tun und Lassen selber zu verantworten, denn dort gibt es keine Advokaten, aber auch keine Höflinge und Schmeichler. Anklage, Verteidigung und Urteil schmelzen vor diesem Tribunal in eines zusammen – und dieser höchste Richter, der sich seinen Wahrspruch vorbehält, wird vielleicht dem Manne, der hier auf der Verbrecherbank sitzt, dann eine Milderung des Strafmaßes zugestehen, die den Menschen auf Erden nach ihrer Rechtsanschauung als unmöglich erscheint!«
In anderer Tonart wandte sich der Gerichtspräsident Delangle an die Geschworenen, bevor sie sich mit ihrem Fragebogen – der Einhundertdreiundsiebzig Punkte umfaßte – in das Beratungszimmer zurückzogen.
»Meine Herren, geben Sie keinem falschen Erbarmen Gehör! Denken Sie zunächst an die Menschenhekatombe, die Orsini seiner Blutgier geopfert hat – denken Sie aber noch vielmehr an das gesalbte Haupt, dem dieser verruchte Mordplan galt – denken Sie an dieses geheiligte Haupt, das dem Ruhm und dem Heil Frankreichs seine ganze phänomenale Leuchtkraft widmet! Meine Herren, ich appelliere nicht bloß an Ihre Gerechtigkeit, sondern an Ihre Dankbarkeit gegen den so wunderbar behüteten Lenker unseres Staatsschiffes!«
Gewiß durfte der Präsident im Namen der Gerechtigkeit den Kopf Orsinis fordern, aber diese gleiche Gerechtigkeit hätte auch im Munde des Redners den byzantinischen Lobgesang auf den modernen Cäsar um einen Ton niedriger stimmen dürfen, denn kaum hundert Schritte von dem Platz, wo Orsini seine Mordbomben schleuderte, hatte am 4. Dezember 1851 der treubrüchige Prinz-Präsident der Republik seine Mordgranaten gegen Mann, Weib und Kind spielen lassen. Und die Patrioten, die nicht seine blutigen Hände küssen wollten, ließ er nach Cayenne schaffen und dort in den Sümpfen verfaulen.
Eilen wir dem Schlußakt des Dramas entgegen.
Orsini wollte sterben und den Widerruf gegen sein Urteil, zu dem ihn Favre nachträglich aus politischen Gründen förmlich gedrängt hatte, betrachtete er nur als eine Art von Höflichkeitshonorar, womit er das Plaidoyer seines Verteidigers lohnte. Seine Sehnsucht nach dem Tode ward erfüllt, denn der Kassationshof verwarf in seiner Sitzung vom 11. März den Rekurs. Ein Gnadengesuch an den Kaiser wäre, wie wir wissen, für Orsini eine moralische Unmöglichkeit gewesen. Noch am gleichen Tage unterzeichnete Louis Napoleon das Todesurteil, das ebenso ungesäumt dem Delinquenten eröffnet wurde. Rudio und Gomez, die beiden Komplizen des Attentates, erfuhren zur selben Stunde, daß der Landesherr ihre Hinrichtung in lebenslängliche Galeerenhaft umgewandelt habe. Auch die Begnadigung Pieris, des dritten Mitschuldigen, war in Anregung gebracht worden, aber gerade mit diesem hatte der Kaiser ein spezielles Hühnchen zu pflücken. Zur Zeit, als sich der spätere Gesellschaftsretter noch als einfacher »Louis« in London umhertrieb, war er nämlich einmal nachts in einer Liebesgrotte mit Pieri – der gleichfalls als Flüchtling damals zu London weilte – zusammengetroffen. Pieri hatte die Gelegenheit benützt, um in gepfefferten Ausdrücken dem Prinzen seine Treulosigkeit gegen den Carbonaribund Bekanntlich war Louis Napoleon schon in seinen Jünglingsjahren dem revolutionären Geheimbunde der Carbonari beigetreten; allerdings leiteten ihn dabei die eigennützigsten Motive. vorzuwerfen. Ein Wort gab das andere und zuletzt ward der Napoleonide von dem wutentflammten Pieri weidlich durchgebleut. Der Imperator hatte diesen demütigenden Moment nicht verschmerzt und wenn er vielleicht geneigt gewesen wäre, dem Attentäter gegenüber Gnade walten zu lassen, so genügte die Erinnerung an die vor Zeugen empfangenen Prügel, um ihn zu einer grimmigen Abrechnung aufzustacheln. Pieris Kopf mußte fallen. – Am 13. März schlug die Sterbestunde für Orsini und seinen Schicksalsgenossen.
Das französische Gesetz schreibt vor, daß der zur Hinrichtung verurteilte Majestätsverbrecher den Gang nach dem Schafott barfüßig, das Haupt mit einem schwarzen Flor verhüllt, antreten soll. So geschah es auch hier mit den beiden Delinquenten.
Ungebeugt schritten sie dem Tode entgegen, aber dennoch war ihre Haltung eine sehr verschiedene: Pieri bot das Bild nervöser Überreizung – Orsinis imposante Figur war eine wandelnde Statue von Erz. Oben auf der Plattform der Guillotine stand eine schwarze Bank, auf welcher beide Platz nehmen mußten, während ein Gerichtsschreiber nochmals das Urteil publizierte. Pieri begann den Schlußvers jenes flammenden Sterbeliedes zu singen, das im Oktober 1793 die einundzwanzig Girondisten auf ihrem Todesgang zum Schafott angestimmt haben.
» Tranquillita! Tranquillita!« Ruhe! Ruhe! winkte Orsini.
Einen Moment später verstummte Pieri unter dem niederschmetternden Beilstreich. Orsini sah den blutigen Kopf in den Fallkorb rollen. Und dann kam die Reihe an ihn. Einer der Henkerknechte streifte ihm den Flor ab. Dicht hinter dem dreifachen Militärkordon, der das Schafott umgürtelte, hatte sich eine Gruppe von Italienern postiert. Sie weinten. Das scharfe Auge Orsinis hatte sie schon zuvor entdeckt; mit einer raschen Bewegung wandte er sich ihnen zu – ein geisterhaftes Lächeln flog wie ein letzter Traum über sein Gesicht hin.
» Evviva l'Italia!« grüßte er mit seiner mächtigen Löwenstimme.
» Vive la France!« rief er nochmals in die zahllose Menschenmenge hinaus, die wie ein wogendes Meer das Blutgerüst umdrängte.
Und dann fiel sein Kopf.
In einem offiziösen Abendblatt, das über die Hinrichtung referierte, stand zu lesen: »Mit dem Mut eines Theaterhelden drapiert, endete Orsini in korrekter Haltung. Es war dies das wenigste, was er tun konnte.«
Als die Fürstin Camilla, auf den Zuspruch Mazzinis hin, von London wieder direkt nach Kairo zurückgekehrt war, hatte ihr beim Scheiden der Agitator die Erfüllung einer Gegenbedingung gelobt und treulich war er seiner Verpflichtung nachgekommen. Durch Mittel und Wege, die ihm offenstanden, spielte er dem Gefangenen ein Billet der Fürstin in die Hände und dieselbe geheimnisvolle Post brachte das Lebewohl Orsinis und eine Haarlocke zurück, die der Freundin künden sollte: der Tod endigt nichts – er ändert nur!
* * *
Fünf Jahre waren seit jenem Abend des 14. Januars 1858 verflossen, wo Orsini durch einen Gewaltstreich die italienische Frage hatte lösen wollen.
Draußen auf dem Anger, in dessen ungeweihten Grund der Scharfrichter von Paris die ihm verfallenen Armsünder einscharrt, moderte jetzt die irdische Hülle des Geächteten und der Nachtwind, der zur Stunde sein ödes Grab umrauschte, heulte ihm ein gespenstiges Requiem … Gerade heute kündete der Kalender den fünften Jahrestag des Attentates und ihm galten die Erinnerungen, die, auf den vorgehenden Blättern dieses Kapitels chronologisch geordnet, wie Geisterschatten an der Fürstin Camilla vorüberflogen … Welche Erlebnisse und Ereignisse füllten den Zeitraum dieser fünf Jahre! Damals hatte die erste Nachricht von dem Attentate die Fürstin zu Kairo ereilt – – jetzt war ihr Wanderzelt an den Ufern der Seine aufgepflanzt und wo Orsini mit eiserner Faust seine Bomben geschleudert hatte, da knüpfte jetzt die feinere Frauenhand die Maschen eines Netzes, das dämonisch seine Beute umgarnte. Langsam hob sie den gedankenvoll gesenkten Kopf, der in Schnitt und Ausdruck den idealen Typus verkörperte, unter dem wir uns Medea, die zauberkundige kolchische Königstochter, vorstellen. Ein unheimliches Feuer glühte in ihren dunkeln Augen. Mit der Hand machte sie eine beschwörende Bewegung gegen das Bild Orsinis hin, das geisterhaft auf sie herabblickte. Und wie in einem Traume redete sie das Bild an: »Bruder, aus einer andern Welt herüber schaust du in meine Seele und du, den die Menschen mit ihrem Fluche belasten, bist nächst Gott mein höchster Richter! Ich kämpfe mit einer Waffe, die ich verachte, aber ich mußte sie ergreifen, denn sie allein verbürgt mir den Sieg … O, Vaterland!« sprach sie mit leiserer Stimme: »o, Vaterland – verschieden sind die Opfer, die auf deinem Brandaltar dargebracht werden und was ich dir als Weihgeschenk zu Füßen lege, ist kostbarer als mein Blut, denn um deinetwillen gebe ich meine Frauenehre preis!« Ein heißkalter Schauer schien ihre Glieder zu durchrieseln und krampfhaft drückte sie ihr Gesicht in die Hände …
Sie hörte nicht, wie sich hinter ihr eine Portiere leise auseinanderschob und wie eine stumme Beobachterin den Salon betrat. Das einfache schwarze Kleid und die zögernde Haltung ließen auf eine dienende Stellung schließen und dennoch mußte man sofort den Eindruck gewinnen, daß dieses Mädchen für die Gebieterin offenbar mehr bedeutete, als eine bloße Zofe. Noch kämpfte das Mädchen sichtlich mit einem Entschluß, als aus der Ferne das dumpfe Rollen eines Wagens erscholl. In scharfem Trab kam's näher und näher – dann, wie auf einen Ruck, standen vor der Villa der Fürstin die Räder still. Geräuschlos über den dicken Smyrnateppich nach einem Fenster hinhuschend, spähte die Zofe auf die Straße hinab. Mit zwei dampfenden Pferden bespannt, hielt unten am Portal ein einfaches Coupé. Ein neben dem Kutscher sitzender Lakai in einem ebenso einfachen Mantel war eilfertig herabgesprungen, um in ehrerbietiger Positur den Kutschenschlag zu öffnen. Dem Innern des Wagens entstieg etwas schwerfällig ein offenbar schon älterer Herr, der bis über die Ohren in einem dunkeln Pelzrock stak. Sofort wandte der Kutscher seine Pferde, der Lakai schwang sich wieder auf seinen Sitz und das Coupé rollte davon. Der Mann im Pelze aber schritt langsam auf das Tor zu, das sich wie in einem Geisterschloß vor dem nächtlichen Gaste öffnete und dann wieder leise hinter ihm zurückfiel. Kein menschliches Wesen trat ihm in den Weg, als er bedächtig die Treppe erstieg, die zu den Gemächern der Fürstin führte. Aber aus der Portierloge her folgten ihm die wachsamen Augen einiger diskreter Beobachter, die trotz ihrer Zivilkleidung den Polizeistempel nicht ganz und gar verdecken konnten …
Der Gast hatte die oberste Treppenstufe erreicht: der tief in die Stirne gedrückte Hut und der in die Höhe geschlagene Rockkragen ließen von seinem Gesichte nichts erkennen, als eine starke Nase und einen dicken, graumelierten Schnurrbart. Die Zofe war auf ihre Herrin losgeeilt. »Der Kaiser!« flüsterte das Mädchen und verschwand.