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Der Leser erinnert sich vielleicht noch der Beschreibung, die Hartmann Jonas, der Wucherer, bei dem Besuch auf dem Heimweg vom Sterbebett ihres Bruders der schönen Baronin Savelli zur Auffindung des roten Joël und seines Schützlings, des schönen Jack, gegeben.
Der dumpfe, widrige Nebel, der den größten Teil der riesigen Stadt früh und abends erfüllt, verstärkte die bereits hereingebrochene Dämmerung des Sommerabends, als ein schlanker Bursche in weiter schlichter Matrosenkleidung, den Wachshut tief ins Gesicht gedrückt, durch High-Street in White Chapel hastig dahinschritt, sich durch das Gedränge windend, das zu dieser Zeit die große Straße füllte, von dieser in Unions-Street einbog und den Weg durch Church-Lane nach dem engen Straßengewirr von Smithfield verfolgte. Eben bog er in die schmutzige Ellen-Street, als er zwei Männer an sich vorbeigehen sah, deren unerwartete Begegnung ihn zu erschrecken schien; denn er senkte den Kopf, daß der breite Hutrand sein Gesicht vollständig verbarg, und hielt zum Überfluß ein rotgeblümtes Taschentuch vor den unteren Teil, obschon die Vorübergehenden auch nicht im geringsten seiner Person achteten.
»Ich denke,« sagte der größere von den beiden, »Sie werden heute noch Gelegenheit haben, so viel von dem Treiben unserer Flüchtlings-Propaganda zu sehen, daß Sie ein genügendes Gefühl des Ekels bekommen, um Sie vor jeder näheren Verbindung zu bewahren. Es sind große, kühne, ehrenwerte Geister darunter, mit denen zu verkehren ein Hochgefühl ist, doch die meisten derselben fühlen sich selbst unglücklich, verloren in ihren Lebenszwecken, enttäuscht von ihren Erfolgen. Diejenigen aber, die die ärgsten Schreier sind, wissen am wenigsten, was sie wollen, und wenn sie es wissen, so verdienen sie am wenigsten einen Erfolg.«
»Sie urteilen hart,« sagte Walding, der deutsche Arzt, denn dieser und der Kapitän Ochterlony waren die beiden Wanderer. »Sie, der Sie selbst so mutig und unermüdlich für die Freiheit und die Rechte Ihres Vaterlandes streiten.«
»Für seine gesetzliche Freiheit, für seine vernünftigen Rechte – nicht für unsinnige Forderungen, die mit keiner Regierungsform Bestand haben können. Oder meinen Sie, daß es mit Ihrer republikanischen Freiheit und Proudhons Sozialismus in Frankreich lange dauern werde? – Es ist heute der Tag, an dem sich die Ausschüsse aller nationalen Komitees zu versammeln pflegen, um ihre gegenseitigen Pläne und Interessen auszutauschen. Sie werden daher einen Blick in das ganze Getriebe werfen und die deutsche kommunistische Schwärmerei neben dem französischen Legitimitätsprinzip, den Karlisten neben dem exaltierten Italiener, den leicht erregten Polen und Russen neben dem ungarischen Trotz finden. Achten Sie auf alles und bemerken Sie alles, aber mengen Sie sich möglichst in keine Debatte, dann können Sie ohne Gefahr der Versammlung beiwohnen, so lange es Sie interessiert, auch wenn ich, wie gesagt, infolge eines Versprechens Sie binnen einer Stunde verlassen muß.«
Der junge Matrose hatte nur einen Teil der Worte gehört, aber die letzten verstanden und machte eine Bewegung, die beinahe die Aufmerksamkeit der Sprechenden auf ihn gezogen hätte, da der Kapitän in diesem Augenblick stehen blieb.
»Lassen Sie mich einen Augenblick mich orientieren,« sagte er, »dies Häusergewirr in Smithfield könnte selbst einen Policeman irre führen. Richtig, da drüben sehe ich die Laternen von New-Road und dort blinkt die rote Scheibe der Taverne von »Hammer und Amboß« – wir müssen sogleich zur Stelle sein.« Er bog nach der James-Street ein, die auf New-Road hinaus führt, und der Matrose sah die beiden in dem Eingang jener Taverne verschwinden, die zahlreichen Zuspruch zu haben schien, wie der lebhafte Verkehr an der Thür bewies.
Dann kehrte er zurück in das Gewirr der Gäßchen und suchte sich zurecht zu finden, aber er hatte in der Verfolgung der beiden Freunde des verstorbenen Nabob die Richtung oder die angegebenen Kennzeichen verloren und befand sich bald gänzlich ratlos und ohne Ausweg in den dunklen, engen und schmutzigen Gassen, in die kaum um Mittag ein Tagesstrahl bricht, und die nur selten selbst der Fuß des Polizeibeamten betrat.
Dunkle Gestalten, nur bei dem matten Lichtschimmer erkennbar, der aus den Spalten der Fensterläden einiger Souterrains schimmerte, huschten an ihm vorbei. Wildes Fluchen und Lärmen tobte aus einer dieser unheimlichen Wohnungen ihm entgegen, in denen oft so viel Menschen im furchtbarsten Elend zusammenhausen, daß sie nicht Raum genug haben, neben einander ausgestreckt auf dem feuchten, verfaulten Boden zu liegen. In den Lärm mischte sich Gläserklang, wildes Gebrüll eines zotigen Liedes, und das plötzliche Öffnen einer niedern Kellerthür goß einen Strom von Brandy- und Zwiebelgeruch, mattem Licht und stinkendem Tabak in die ohnehin verpestete Luft der engen Gasse. Ein Kerl von wüstem Aussehen taumelte heraus, gefolgt von einem noch jungen Weibe. Der Augenblick, in dem das Licht der Thüröffnung auf die beiden fiel, zeigte dem Matrosen ein wildes branntweingerötetes Gesicht, das durch ein großes schwarzes Pflaster über dem einen Auge scheußlich entstellt und von wirrem Haar und Bart umrahmt wurde. Das Weib, dessen Antlitz trotz der Blässe des Elends, der hohlen Augen und der erschreckenden Abmagerung noch unverkennbar Spuren der Jugend und Schönheit an sich trug, hatte Brust und Schultern nur dürftig mit einem zerrissenen alten Shawl bedeckt, den höchstens noch der Lumpensammler des Aufnehmens wert geachtet hätte. Sie klammerte sich fest an den Mann an, als er auf die Straße trat.
»Du sollst nicht fortgehen, Tom,« sagte sie heftig – »die gelbe Merry ist dort, ich weiß es, – oder Du mußt mich wenigstens mit Dir nehmen. Es kommt Dir nie Gutes, wenn Du in das verfluchte Haus gehst, und Du kommst stets schlechter und böser heraus, als Du hingingst.«
»Dummer Schnack!« murrte der Kerl. »Laß mich zufrieden und pack' Dich in das alte Nest, das die Ehre hat, unsre Wohnung zu heißen. Gott verdamm' Deine Augen, Dirne, ich werde doch noch hingehen können, wohin ich will!«
»Du hast genug dort unten getrunken, Tom. Willst Du mehr, so laß uns zurückkehren; aber geh' nicht zu dem Juden, er ist Dein Unglück.«
»Ich habe Geschäfte dort!«
»Schöne Geschäfte – Mord und Einbruch! Bin ich darum durch Dich geworden, was ich bin, verflucht und verstoßen von den ehrlichen Bürgersleuten, meinen Eltern, ein Schatten und dem Grabe verfallen, jeden Augenblick zitternd für Dich und mich, daß ich jetzt der gelben Mulattenvettel noch weichen soll, Tom Bur …«
Ein hohler Schlag, ein gellender Schrei und ein Fall auf den Boden unterbrach die Rede. »Willst Du mich noch an den Galgen bringen mit Deinem schwatzhaften Maul, schlechte Hexe?« zischte der Kerl halbleise. »Da liege meinetwegen, bis Du zur Vernunft gekommen! Goddam! ich wünschte, der Teufel holte alle Weibsleute!«
Der Matrose hörte den Unmenschen forttaumeln und drückte sich, um ihm nicht zu begegnen, an den feuchten und schmutzigen Wänden der hohen, oft mit Balken gegeneinander gestützten Häuser hin.
Kindergeschrei – Schelten – der Streit zankender Stimmen – das heisere Gejohl eines Betrunkenen und dazwischen entsetzliche Jammerlaute, wie von einem in unsäglichen Schmerzen sich windenden Kranken, das waren die Töne, die von der andern Seite der Gasse her ihm entgegenklangen, als er sich an den Wänden fortgriff, um, tief im Innersten vor Furcht und Entsetzen schaudernd, einen Ausweg aus diesem Labyrinth des Elends und des Verbrechens zu gewinnen. Aber er schien sich immer tiefer hinein zu verwickeln, und eisig lief es über seine Glieder, als er jetzt ein klägliches, trauriges Stöhnen neben sich hörte und eine kalte Hand die seine berührte.
»Bei der Barmherzigkeit Gottes,« flehte eine Stimme, die der Seemann bereits gehört zu haben glaubte, »gebt mir einen Sixpence, um Gin zu kaufen, sonst dulden sie mich nicht an dem verfluchten Orte, und ich muß hin, muß ihn sehen!«
Ihr Flehen war so rührend, so herzerschütternd – der schwache Schein eines Talglichts, der neben ihnen aus einem kleinen vergitterten Fenster brach, zeigte ihm die jammernde Gestalt und ließ ihn die junge Frau erkennen, die der Mann vorhin zu Boden geschlagen, daß der junge Matrose sofort beschloß, die Begegnung zu seinem Zwecke zu benutzen. »Ihr sollt einen Schilling haben, Weib,« sagte er, aufs neue Mut gewinnend, »wenn Ihr mir auch einen Dienst erweist. Ich suche die Schänke zum blutigen Arm, die ein gewisser Joël Löwenthal halten soll. Könnt Ihr mich dahin führen?«
»Dahin?« stammelte das Weib – »das ist gerade der Ort, wo ich hin muß. Ich will sie Euch zeigen, wenn Ihr mir den Schilling gebt. Aber Ihr scheint jung an Leben und Leiden, nach dem Klang Eurer Stimme zu urteilen. Geht nicht in die Höhle des Wolfes – wer in die Klauen des roten Joël fällt, der ist verloren für Zeit und Ewigkeit!«
»Ich habe Geschäfte dort, Frau, und muß hin!«
»So sagte er auch! – Geschäfte! Daß Gott erbarm. – Doch was kümmert Ihr mich! Kommt, faßt meine Hand und folgt mir, sonst möchtet Ihr schwerlich finden. Aber gebt mir zuvor das Geld, denn sie lassen mich nicht hinein, wenn ich nicht Geld zeige!«
Er drückte ihr eine Krone in die Hand und sie zog ihn fort durch verschiedene Gassen und Gäßchen, durch welche er ohne Führer unmöglich den Weg gefunden hätte, bis in eine durch den trüben Schein einer Öl-Laterne wenigstens auf einen kleinen Umkreis beleuchtete Straße. Gerade unter der Laterne befand sich ein altes, großes und schmales Haus mit spitzem Giebel, der durch einen starken Balken vom Boden aus gestützt wurde. Eine schwere Eichenthür zeigte sich in der Mitte des Hauses, mit großen Eisennägeln beschlagen und verschlossen, wie die Fensterläden zu beiden Seiten. Über der Thür hing an einer verrosteten Eisenstange, in die Straße hinausgestreckt, ein im Luftzug knarrendes Holzschild, das die Form eines mit einem nicht mehr erkennbaren Gegenstand bewaffneten Armes hatte und rot angestrichen war.
Der Matrose fühlte, wie die Hand des armen Weibes in der seinen zitterte, als sie sich der Spelunke näherten. Aber die Frau schien jetzt so entschlossen, wie er selbst. »Das ist der Ort,« sagte sie, »er hat viele Eingänge, aber wir müssen durch diesen passieren, denn da Ihr ein Fremder seid, würde man Euch auf den andern Wegen nicht zulassen.«
Damit trat sie dicht an die Thür heran und klopfte dreimal in Zwischenräumen auf eine besondere Weise an.
Sofort wurde die Thür von einer unsichtbaren Hand aufgethan und die beiden traten in einen kleinen Hausflur. Ein großer Neger in einem roten Matrosenhemd und einem schmutzigen ledernen Beinkleid, den krausen Kopf in eine baumwollene Zipfelmütze gesteckt, an einer Schnur eine Bootsmannspfeife um den Hals, und ein breites Schiffermesser in lederner Scheide im Gürtel, saß auf einem Schemel in der Nähe einer zweiten Thür.
»Jäsus!« sagte der Schwarze, »Missus Sally wollen doch nich Mann holen? Serr sehre gut aufgehoben drin! Trinken Old Tom Gin von etwas besserer Qualität. mit seinen Freunden. Billy dürfen nicht stören lassen die Gentlemen in ihrer Vergnügung von die Madame Weiber. Missus dürfen nicht reinlassen. Verzehren doch nichts.«
»Narr,« sagte die Frau – »siehst Du nicht das Geld, hier? Ich will meinen Grogk trinken, so gut wie der Lüderjan, mein Mann!«
»Das andere Sache sein, wenn Missus Geld haben. Billy nix mehr dawider. Aber wer das sein?«
»Ein Herr, der mit Joël Geschäfte hat. Was fragst Du lange? ist der ›Blutige Arm‹ nicht ein spirith-shop, Branntweinschänke. den jedermann betreten kann?«
Der Neger grinste verschmitzt. »Ist keine Besorgnis vor arme Bill, wenn Missus jemand führen. Wissen den Weg und gehen vorwärts. Der Gentleman sein sehr jung, aber haben vielleicht zwei, drei, sechs Pence vor arme Neger zum Trinken?«
Der Matrose warf ihm einen Schilling zu und drängte die Frau, die ihn im Licht der Lampe zum erstenmal mit prüfenden Blicken betrachtete, zum Vorwärtsgehen.
Der Neger öffnete die Thür, neben der er saß und die Frau ergriff wiederum seine Hand und führte ihn in einen Gang, der lang und schmal und nur sehr spärlich erleuchtet war. Als sie etwa dreißig Schritte gegangen waren, hörten sie vor sich den gedämpften Schall von vielen sprechenden Stimmen. Sally, wie der Mohr sie genannt, warnte den Matrosen vor einigen Stufen, die am Ende des Ganges abwärts führten, dann blieb sie einige Augenblicke stehen und stieß die vor ihr befindliche Thür auf.
Eine Wolke von Licht, Tabaksqualm und Branntweingeruch quoll ihnen entgegen, als sie in den ziemlich weiten Raum des Parlour einer Schenke der untersten Sorte eintraten.
Der Lärm war so betäubend, der Qualm von allerlei Ausdünstungen so dicht und erstickend, daß der junge Mann sich anfangs, trotz der ziemlich hellen Beleuchtung durch Öl-Lampen, nicht orientieren konnte.
Erst nach und nach vermochten seine Augen, die Gestalten zu erkennen oder den Raum zu überschauen.
Das Parlour war um eine Stufe gegen den etwa zweimal so großen Raum des thap oder der eigentlichen Schenke erhöht, deren sämtliche Tische und Bänke von trinkenden und spielenden Gruppen, worunter auch Frauenspersonen nicht fehlten, eingenommen waren, während im Parlour etwa vier oder fünf Personen an zwei Tischen saßen. Das Kontor – the bar – des Schenkladens, durch ein ziemlich hohes und festes Gitter aus Eisenstäben, in dem sich nur eine breite, fensterartige Öffnung zur Bedienung durch Schenkmädchen befand, von den beiden Räumen abgesondert, war auf einer Seite an der Stelle, wo das Parlour und die thap zusammenstießen, so daß der Besitzer beide Räume zugleich übersehen konnte. Zwei höchst frech aussehende Dirnen und ein schmutziger buckliger Bursche besorgten die Bedienung der Gäste.
Der Eintritt des jungen Matrosen hätte vielleicht weniger Aufmerksamkeit erregt, wenn der Mann der Frau, die ihn bisher geführt, mit seiner Koncubine nicht in der Nähe des Eingangs gesessen hätte, so daß ihm die Eintretenden sogleich in die Augen fielen. Das verworfene Frauenzimmer, das auf seinem Schoß saß und mit ihm aus einem Glase Whiskeypunsch trank, war eine Mulattin, die einst von großer sinnlicher Schönheit gewesen sein mußte; denn noch jetzt, obschon, wie alle ihrer Rasse, rasch verblüht, zeigte sie noch viele Spuren der üppigen berauschenden Reize und die funkelnden, verzehrenden Augen hätten noch einen andern Mann zu umstricken vermocht, als den betrunkenen Tom.
Der Kerl schlug, als er sein Weib erblickte, mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser in die Höhe sprangen. »Der Teufel verdamm' ihre Seele! Was thut die heulende Hexe hier, wo sie nicht hingehört?«
»Ich kann Gin oder Brandy so gut hier trinken, wie Du!« sagte die Frau trotzig und dennoch an allen Gliedern zitternd – »ich habe Geld und mir einen eigenen Liebhaber mitgebracht!«
»Der Satan hole das Milchgesicht, ich will doch sehen, wie der Bursche sich unterfangen kann, andrer Leute Weiber hierher zu schleppen!«
Er erhob sich wild und streifte den Ärmel seiner Jacke in die Höhe, zwei kräftige braune Fäuste zeigend. Merry, die Mulattin, flüsterte ihm etwas zu, das ihn noch mehr in Wut brachte, und bereits näherten sich mehrere der Umsitzenden, auf den Zank aufmerksam geworden, in der Hoffnung, eine kleine Faustkollation mit ansehen zu können.
Der Matrose war indes eilig an das Kontor getreten, hinter dessen Öffnung der Wirt mit Einschenken der verschiedenen Spirituosen eifrig beschäftigt war.
Joël Löwenthal, der rote Joël genannt und bei den Londoner Polizeigerichten wohl bekannt, obwohl man nie seiner Schlauheit hatte beikommen können, war von mittlerer Größe, schien durch die gebückte Haltung seines Körpers aber kleiner und älter, als er in Wirklichkeit war. Eine schmutzige runde Kappe bedeckte den fast haarlosen Schädel bis tief in die niedere Stirn, von der eine durch eine Hiebwunde tief geteilte Schnabelnase vorsprang. Das Gesicht war lang und schmal, der eigentümlichste Teil desselben aber der Unterkiefer, der fast zwei Zoll weit, wie die Bildung des Fuchskopfes, zurücksprang. Die Augen waren grau, aber rattenartig funkelnd und lebendig. Ein dünner roter Backenbart zeigte sich auf beiden Wangen. Besonders auffällig war das Mißverhältnis der Arme zu diesem anscheinend ziemlich schwächlichen Körper. Sie schienen nämlich eher einem Riesen, als dem kleinen Juden zu gehören, und er konnte damit, aufrechtstehend, bequem bis unter seine Knie langen. Entsprechend diesen Armen waren die Hände, breit und klauenartig, mit langen Fingern und Nägeln, ein mit roten Haaren bedecktes Gewebe von Muskeln und Sehnen, und es war unter den Dieben und Verbrechern aller Art, die in der Spelunke verkehrten, wohl bekannt, daß die Kraft dieser Arme furchtbar war und der rote Joël mit einem Schlage seiner Faust auch den kräftigsten Wettkämpfer oder den kühnsten Burker niederzustrecken vermocht hätte.
Überdies trug Joël in der Tasche seines schmutzigen talarartigen Rockes einen starken, kurzen aber elastischen Fischbeinstock mit einer lederumhüllten Bleikugel am Ende, der in solcher Hand mit einem einzigen Schlage den Schädel eines Ochsen hätte zerschmettern können und in Wahrheit schon mehr als einen Arm oder ein Schulterblatt im Handgemenge zerbrochen hatte, dessen Schauplatz von Zeit zu Zeit das thap war.
So schmutzig und der Umgebung entsprechend die obere Kleidung des würdigen Wirtes erschien, so reinlich und bürgerlich anständig war dagegen die untere Bekleidung, aus weißem Halstuch, seidener Weste und schwarzen wohlgebürsteten Kniehosen bestehend, die, gleich den Schuhen mit silbernen Schnallen befestigt waren. Eine schwere Uhrkette von gleichem Metall baumelte aus der Leibtasche und trug mehrere nußgroße Petschafte.
»Ich will den Dalles haben,« sagte der Jude, »wenn ich kenne das schmucke Gesicht. Wo kommt der Herr her, womit kann ihm dienen der Schwächer? Schänkwirt. Woll'n Sie trinken 'n Glas Blauen oder,« fuhr er flüsternd fort, »haben Sie ä Geschäftche mit dem alten Joël, so können Se schmusen Sprechen. im Vertrauen.«
»Bringen Sie den Mann dort zur Ruhe,« flüsterte der Matrose – »ich komme, um Sie nach Jack Slingsby zu fragen.«
Die süßliche Miene des Juden veränderte sich wie mit einem Zauberschlag. »Main – wie kommt mir der Herr vor? Will er mich aufthun? Ausspionieren. Was weiß ich von dem Spitzbuben, dem Jack Slingsby, soll mer Gott strafen, wenn ich den Namen gehört in meinem Leben!«
»Wird der verdammte Wassertreter hervorkommen?« brüllte Tom. »Wo ist der verfluchte Haifisch, daß ich ihm das Kreuzen auf anderer Segelstrich mit einem Hieb auf den Schädel verleide? Hat der Kerl Angst?«
Ein höhnisches Gelächter von den nächsten Tischen belohnte die Prahlerei – aus dem ganzen thap begannen sich Männer und Frauenzimmer näher zu drängen.
»Was schreien Se, Master Tom!« rief der Jude, »wenn Se suchen den jungen Burschen, der sich geschlichen hat herein, um ehrliche Leute zu chabolen Verderben. – hier ist er!« Damit versuchte der Wirt, den jungen Mann von der Schenke fortzustoßen, aber dieser hielt sich krampfhaft an den Eisenstäben des Gitters.
»Ich komme von Hartmann Jonas,« sagte er leise, »er schickt mich zu Ihnen.«
Der Jude sah ihn erstaunt und aufmerksam an. »Der Baur soll mer helfen Der Schöpfer soll mir helfen! – warum sagen Sie das nicht gleich? Aber es kann sprechen jeder so, der ein chesser Junge Eingeweiht in die Spitzbubengeheimnisse. ist. Was können Se mer geben für eine Bürgschaft? Haben Se bei sich ein Zeichen?«
»Ich habe es – aber befreien Sie mich zuvor von dem Menschen hier!«
Die rohe Faust Toms hatte ihn bereits beim Kragen gefaßt und versuchte ihn in die Mitte des Parlour zu ziehen, um dort einen Boxergang mit ihm zu machen. »Nun, mein Jüngelchen,« schrie der Kerl, »jetzt mach' Dich fertig, binnen hier und fünf Minuten Deine Knochen im Schnupftuch nach Hause zu tragen.«
»Bravo, Tom Walker! Einen ehrlichen Gang mit der Seekrabbe!« brüllten die Zuschauer.
In diesem Augenblick fuhr die rechte Faust des Juden aus der Öffnung des Verschlages und traf so gewaltig den Kerl auf die Magengegend, daß er mit einem Schrei des Schmerzes der Länge lang rücklings auf den Boden stürzte. Zugleich sprang in der Wand des Eisengitters durch einen Federdruck von innen eine dort angebrachte Thür auf, der rote Joël erschien in der Öffnung, erfaßte mit der Linken den jungen Matrosen und schob ihn hinein, während er sich schützend vor ihn stellte.
» Creagh! Will der betrunkene Schuft mer vertreiben die Gäste. Wer mer kommt zu nah dem Herrn von der Marine, der soll haben eine regular row, Prügelei. daß ihm die Knochen weh thun acht Tage lang. Fort mit Euch, Ihr Geschmeiß, oder Ihr sollt kennen lernen den alten Joël. Hier is nichts vor solche Chesse zu dibbern!«
Die würdige Gesellschaft, die den Juden vollkommen kannte, und von seinem Einfluß beherrscht wurde, zog sich scheltend und lachend zurück und nahm ihre Vergnügungen und Gespräche da wieder auf, wo sie dieselben abgebrochen. Selbst Tom Walker, obgleich er sich den Kopf bei seinem Fall ziemlich derb zerschlagen hatte und davon nüchtern geworden war, wagte weder gegen den ganz unerwarteten Angriff eine Einsprache, noch gegen sein Weib eine Drohung, sondern zog sich, seinen Groll und Haß hinunterschluckend, mit Miß Merry, der Mulattin, in den untern Raum der Schenke zurück, wo beide, ohne die geringste Scham und Rücksicht auf ihre Nachbarschaft ihre Unterhaltung fortsetzten.
Auf dem Stuhl, den sie im Parlour eingenommen, vor dem Glas Branntwein, das man ihr gebracht und das sie stumm bezahlt, blieb das unglückliche Weib sitzen, den Kopf regungslos in die Hand gestützt.
Als der Jude den Gitterverschlag wieder verschlossen, der durch eine besondere Lampe erhellt war und selbst das Schankfenster durch einen Schieber abgesperrt, wandte er sich zu seinem Besuch, indem er ihn mit halb neugieriger, halb drohender Miene musterte. »Ich will hoffen, daß der junge Gojim nicht hat gefoppt den Joël Löwenthal mit einer Lüge,« zischte er heftig, »es würde sein dem Barjeh Junge Bursche. besser, er hätte angefaßt glühendes Eisen. Heraus mit dem Zeichen.«
Der Matrose, der aus tiefer Brust Atem holte, gleich als fühlte er, daß er einer bedeutenden Gefahr entgangen sei, holte aus seiner Tasche das ihm von Hartmann Jonas übergebene gezeichnete Geldstück und reichte es dem Wirt, der es genau besichtigte. Die Prüfung schien jedoch das beste Resultat ergeben zu haben, denn seine Miene wurde äußerst freundlich, und er wandte sich mit schmeichelndem Benehmen zu seinem Besuch. »Als es doch hat seine volle Richtigkeit mit dem Zeichen,« sagte er, »Hartmann Jonas, mein Freund, der is ein vornehmer Mann, während ich geblieben bin en armer Bal-spiese, Schänkwirt. wird mir nicht senden mit dem Stück jemand, dem er nicht schenkt volles Vertrauen. Der Herr sieht nicht aus wie ein Matros,« fuhr er mit einem listigen Blick auf das Gesicht des jungen Mannes fort, »die Patschken sind zu weiß und weich, er kann auch nicht sein von der Chewrusse, dazu sieht er aus zu jung und zu vornehm. Der Herr hat also ein Geschäft, 'nen kleinen Auftrag für uns. Darf ich fragen, mit was ich kann dienen?«
Der Seemann nahm aus der Tasche zehn Guineen und legte sie auf den Tisch. »Nimm das als Handgeld,« sagte er jetzt, jeder Besorgnis bar, mit fester Stimme, »eben so viel erhältst Du, wenn Du thust, was ich verlange und mir in aller Weise behilflich bist. Ich habe mit Jack Slingsby zu sprechen, also schaff' ihn mir zur Stelle und bring' uns an einen Ort, wo wir uns, ohne Gefahr belauscht zu werden, unterreden können.«
»Soll mer Gott,« erwiderte der Jude mit einem bezeichnenden Faunenblick in das bartlose errötende Gesicht und auf die gerundeten Brustformen des verkleideten Seemanns, – »der schöne Jack hat verteufeltes Glück beim schönen Geschlecht! Aber verzeihen Sie, ich kann nicht schaffen den Jack zur Stelle, ehe er nicht kommt von selbst, denn er muß sich nehmen sehr in acht vor den Policemen. Aber ich thu' erwarten ihn ganz bestimmt in kurzer Zeit und will Sie führen bis dahin an einen Ort, wo Sie sein ganz sicher vor allem Baldowern, Bespähen. so gut wie in Abrahams Schoß.«
Der Jude zündete eine Lampe an, nachdem er gierig das Geld eingestrichen, schob einen alten Vorhang im Hintergrund beiseite und öffnete eine Thür, hinter der eine schmutzige Treppe in die Höhe führte. Er winkte dem jungen Mann zu folgen, und stieg unbekümmert um das Pochen und Lärmen an dem bar nach neuem Getränk, die Stufen hinauf. Der junge Matrose sah sich am Ende der Treppe in einem kleinen niederen Zimmer, das über dem Parlour der Schenke zu liegen schien, ein mit Läden fest verschlossenes Fenster und außer der Thür nach der Treppe weiter keinen Ausgang hatte. Es war einfach aber ziemlich reinlich möbliert, enthielt eine große, eiserne Kiste, ein Himmelbett und an der Wand einen Vorrat von allerlei Männer- und Weiberkleidern, sonst aber durchaus nichts Auffälliges.
Der Wirt setzte die Lampe auf den Tisch, betrachtete noch einmal mit schlauem Blick seinen Besuch und bat um Entschuldigung, daß er ihn hier einstweilen sich selbst überlassen müsse, da er unten in der Schenke unentbehrlich sei. Auf seine Frage, ob er irgend eine Erfrischung herbringen solle, verneinte der Fremde, und befahl nur, sobald er eingetroffen, den schönen Jack zu ihm zu führen.
Es gehörte ein nicht geringer Mut dazu, so allein und abgesperrt von jeder Hilfe in diesem abgelegenen Gemach der berüchtigten Diebesschänke zuzubringen, doch schien der Person, die der Diebeswirt hier eingeschlossen, dieser Mut trotz ihres unmännlichen Aussehens nicht zu fehlen. Sobald sie sich allein sah, warf sie den großen Wachshut auf den Tisch, und die etwas bleichen aber entschlossenen Züge Georgas, der schönen Baronin Savelli, kamen zum Vorschein.
Die verkleidete Dame zog aus der Brusttasche ihrer weiten Matrosenjacke einen sehr zierlich gearbeiteten fünfläufigen Revolver, prüfte ihn mit sachverständiger Miene und sah sich dann im Zimmer nochmals um. Da sie nichts fand, was ihr Interesse oder ihre Besorgnis erregen mochte, setzte sie sich auf ein im Winkel stehendes altes Kanapee und versank in tiefe Gedanken.
Diese mochten ihr aber bald lässig und unangenehm werden, denn sie warf nach einiger Zeit ihre Blicke aufs neue umher, mit dem Verlangen, alle Gegenstände an diesem eigentümlichen Ort sorgsam zu prüfen, und da das einzige, was ihre Aufmerksamkeit einigermaßen verdiente und dem Charakter einer Gauner- oder Spitzbubenschenke entsprach, die Sammlung von Kleidern an der Wand war, so betrachtete sie diese genauer und schob sie mit einer Feuerzange, die im Zimmer lag, hin und her.
Der Vorrat bot eine seltsame Mischung, wie sie nur eine Trödlerbude oder eine Maskengarderobe zeigt. Der Talar des Advokaten hing neben einer alten Soldatenuniform, ein polnischer Schnürrock bei Schifferkleidern und Kutschermänteln, ein schmieriger Pelz neben dem roten Frack eines Sportsman, der Mantille und dem ziemlich eleganten seidenen Damenkleid. Die Baronin überlegte, ob sie in dem Kram Versatzstücke oder eine absichtlich angelegte Gaunergarderobe vor sich habe, als ein seltsamer Umstand ihre Aufmerksamkeit fesselte. Bei dem Umherschieben der Kleider war es ihr vorgekommen, als ob an der dunklen Wand hin und wieder ein schwacher Lichtstrahl leuchtete, und als sie die Lampe holte und mehrere Röcke beiseite zog, zeigte sich der schmale Spalt einer geöffneten geheimen Thür in der Wand.
Sie mußte offenbar nur durch Zufall oder Vergessenheit offen geblieben sein und hätte auf andere Weise unmöglich entdeckt werden können. Denn so vorzüglich täuschend und genau der Wand entsprechend war die ganze Arbeit gefertigt, daß auch jetzt, wo sie die Thür geöffnet hielt, die Lady weder Schloß noch Angeln entdecken konnte. Die Indierin machte sich durchaus keine Skrupel, den geheimen Gang aus der Höhle des Juden näher zu untersuchen, die Thür vollends zu öffnen und in den Raum zu treten, zu dem sie führte. Er war lang, schmal und dunkel, mit Ausnahme verschiedener Stellen an beiden Wänden in Gesichtshöhe, aus denen Lichtschein auf die gegenüberliegende Fläche von unten herauf fiel. Die Mauern schienen massiv und hatten das Aussehen wie äußere Giebelwände und bei weiterer Besichtigung erkannte die Baronin, daß der Raum sich zwischen den Steinmauern zweier Häuser befinden müsse und auf sehr sinnreiche und zweckmäßige Weise wahrscheinlich durch alle Etagen hindurch zu einem geheimen Versteck eingerichtet worden war. Eine Masse der verschiedenartigsten Gegenstände, zweifellos geraubtes Gut, hing an den Wänden, oder war in Regalen und Kisten aufgehäuft. Der Schein der Lampe, welche die Baronin in der Hand trug, fiel auf Silberwerk, goldene Uhren und Geschmeide neben hundert anderen wertvollen Dingen, zwischen Waffen, Masken, Perücken und Schränkwerkzeugen Werkzeuge zum Einbrechen. deren Form und Gebrauch ihr größtenteils ganz unbekannt und rätselhaft war.
Offenbar bildete das Versteck die geheime Hauptniederlage der Bande, deren Hehler und Helfer der Jude war. Der Raum schien übrigens viel besucht und benutzt, denn er war keineswegs modrig oder dumpf, sondern luftig und reinlich gehalten, und nur durch die oben erwähnten Löcher, durch welche der Lichtschein fiel, zog ein häßlicher Tabaksqualm in das Gemach.
Die Neugierde der Baronin richtete sich jetzt auf diese Öffnungen, die sie, nachdem sie vorsichtig die Lampe niedergestellt, näher untersuchte. Es waren auf beiden Seiten Licht- und Schalllöcher, die aus unteren Gemächern in die Höhe führten, und deren Öffnungen in jenen an den Borden der Plafonds als Ventilationsvorrichtungen angebracht oder durch andere Verzierungen verdeckt waren. Sie gewährten von oben her einen vollständigen Einblick in die betreffenden Räume und waren zugleich so sinnreich angelegt, daß sie auch als Hörröhre dienten, welche den Schall der Gespräche aus den unter ihnen belegenen Abteilungen in die Höhe und deutlich an das Ohr des unbemerkten Lauschers führten.
Solcher Öffnungen befanden sich in dem ziemlich langen Gange auf jeder Seite vier. Die zur Linken führten in den thap der Schenke zum blutigen Arm. Vier jener kleinen abgesonderten und offenen Kabinetts oder Verschläge, die man in England gewöhnlich in den Austern- oder Weinkellern findet, lagen gerade unter diesen vier Öffnungen, aus denen man übrigens auch die gegenüberliegenden Abteilungen und den ganzen, mit einzelnen Tischen und Gesellschaften besetzten Mittelraum übersehen konnte.
Die Öffnungen auf der Seite rechts führten in einen ähnlichen, nur anständiger und besser dekorierten Raum in dem Nebenhause. Es war eine Schenke der höheren Art, mit parlour, bar und thap, aber auf Leute anderen Schlages berechnet, als Spitzbubengesindel, und die Lady schloß daher nicht mit Unrecht, daß beide Häuser nach verschiedenen Straßen mündeten und nur mit den Hinterwänden aneinander stießen, zwischen denen das zum Lauerposten nach beiden Seiten eingerichtete Versteck lag. Diese Annahme fand ihre Bestätigung, als die Baronin, durch eine der gleichfalls zum Hör- und Sprachrohr eingerichteten Öffnungen hinunterblickend in den offenen, mit Porter- und Alekrügen, Rum- und Weinflaschen ausgestatteten bar, die Figur des Juden erkannte, der in einem anständigen schwarzen Rock und mit einem grünen Sammetkäppchen auf dem kahlen Schädel die sehr zahlreich versammelten Gäste durch zwei oder drei Kellner bedienen ließ.
Die Versammlung in der Gentlemen-Schenke bot übrigens gleichfalls einen ziemlich gemischten Charakter, was Tracht und Aussehen betraf. Dicke, verwilderte Backen- und Schnurrbärte, gegen die englische Sitte, verkündeten bei den meisten, daß sie Ausländer seien. Jedes Alter, jede Nation, jeder Stand schien vertreten. Italiener, Franzosen und Deutsche schienen offenbar die Mehrzahl zu bilden. Der Anzug, von der feinen Salontracht des Gentleman, der eben vielleicht von einem Diner in West-End gekommen, bis zur rußbedeckten Bluse des Arbeiters, zeigte in hundert Abstufungen und kleinen Kennzeichen, wie Wohlstand oder Sorge und Mühe im Kampf um die bloße Existenz ihr Los sei. Eine wahrhaft babylonische Sprachen-Verwirrung schlug aus den verschiedenen Gruppen zu dem Ohr der zufälligen Lauscherin, so daß sie nur nach einiger Gewöhnung und mit scharfer Aufmerksamkeit einzelne Unterhaltungen verstehen konnte.
Ein englisches Wort, eine bekannte Stimme, die an ihr Ohr traf, wendete ihre Aufmerksamkeit auf die Kabine, die sich gerade unter ihr befand; sie erkannte mit Überraschung in dem dort ruhig und beobachtend bei einem Porterkrug Sitzenden den Kapitän Ochterlony, das Mitglied des Unterhauses, und seinen neuen Freund, den deutschen Arzt Walding, die beiden von ihrem verstorbenen Bruder ernannten Testamentsvollstrecker.
Die Worte, die sie auf der Straße von dem Kapitän gehört, gaben ihr sofort Aufklärung über die Versammlung. Sie befand sich, – beide belauschend – zwischen dem gefährlichsten Verbrecher-Schlupfwinkel Londons und der Versammlung des europäischen Central-Komitees der republikanischen Propaganda.
Das Central-Komitee ist kein Hirngespinst der festländischen Polizei, sondern war schon damals eine in ganz London wohlbekannte Sache. Wie die aktenmäßigen Ermittelungen ergeben haben, korrespondierte das Central-Komitee direkt mit Paris, Brüssel, Genua, Lugano, Rom, Livorno, Neapel, Palermo, Malta und Zürich und jeder dieser Hauptorte hatte wieder seine bestimmten Unterkreise, die es namentlich in Frankreich und Italien zu einer sehr ausgedehnten Organisation gebracht hatten. Außerdem existierten in London verschiedene Spezial-Komitees, von denen einige, z. B. das Sizilia-Komitee, nicht unbedeutende Summen in der Londoner Bank hatten.
Die Neugier der Lady war von der Scene auf beiden Seiten so erregt, daß sie kaum an eine Überraschung durch den roten Joël dachte, und abwechselnd lauschte sie mit Auge und Ohr an den verschiedenen Öffnungen.
Um einen Tisch in der mittleren Kabine im »Blutigen Arm« saßen fünf Personen, deren echte Galgenphysiognomieen oder verkommenes Äußere über ihren Beruf und Charakter keinen Zweifel lassen konnten, obschon sonst ihr Aussehen und ihre Kleidung wenig Ähnliches hatte. Eine schmutzige Schüssel, hochaufgetürmt mit Austern, ein Krug mit Old-Tom, dem starken Gin, und ein anderer mit Porter, nebst mehreren Blechbechern, sowie ein Teller mit gerösteten Hammelschnitten standen auf dem Tisch und alle Fünf langten wacker zu.
Die Gesellschaft bestand aus drei Männern und zwei Frauen. Eine der letzteren war noch nicht über die Kinderjahre hinaus und konnte kaum vierzehn zählen. Dennoch bewiesen ihr flitterhafter Aufputz in einem an vielen Stellen schadhaften seidenen Kleid von schreiender gelber Farbe, ein halb zerknickter rosa Hut mit einer schäbigen Feder, vor allem aber die hektisch geröteten Wangen, die tiefen dunklen Ringe um die Augen und der freche, jeder Kindlichkeit längst entbehrende Ausdruck derselben, daß das unglückliche Wesen schon in so früher Jugend zu der großen Gemeinschaft der verworfenen Dirnen gehörte, die in London zur Schande der christlichen Civilisation ungescheut sich fortwährend aus dem zarten Kindesalter rekrutieren dürfen.
Ihre Gefährtin, ein stattliches Mädchen von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren, war fast elegant gekleidet und hätte den Eindruck einer Dame gemacht, wenn nicht eine gewisse wilde Fahrlässigkeit in dem Tragen und Zustand ihrer schönen Garderobe, ein kecker herausfordernder Blick und ein überaus boshafter Zug um den kleinen vollen Mund sofort jede Täuschung unmöglich gemacht hätte. Ihre Gesellschaft nannte sie ihres zarten Teints wegen die »weiße Jenny«. Neben ihr, den Arm zuweilen um ihren schlanken Leib legend, oder ihr von den schweren Getränken einschenkend, denen sie anscheinend ohne die geringste Erregung ziemlich häufig zusprach, saß ein Mann von etwa 30 Jahren mit schlauem, keckem, aber nicht unschönen Gesicht, in einen bis zum Hals zugeknöpften grünen Frack gekleidet, den er durch das Vorbinden eines Tuches gegen die Befleckung der Austernbrühe zu schützen versucht hatte. Ein feiner, wahrscheinlich an irgend einem öffentlichen Ort eingetauschter Castorhut, nebst einem gelben modernen Sommerpaletot hing hinter ihm am Nagel, vor ihm auf dem Tisch aber lag, neben gelben Glacé-Handschuhen, eine goldene oder vergoldete Brille, an deren Armen ein Paar sehr künstlich gearbeitete und durch einen Schnurrbart verbundene Backenbärte befestigt waren.
Dem Paar gegenüber saß ein großer, in einen langen bürgerlichen braunen Rock gekleideter Mann von etwa fünfzig Jahren von athletischem Gliederbau, dessen von den Pocken zerrissenes Gesicht durch ein Paar merkwürdig schielende Augen noch abscheulicher wurde. Das fünfte und letzte Mitglied der würdigen Gesellschaft war ein höchst zerlumpt aussehender Bursche von siebzehn bis achtzehn Jahren, in dessen Physiognomie sich die abgefeimteste Frechheit mit Scharfsinn und List auf merkwürdige Weise verband.
So kordial die würdige Gesellschaft auch miteinander zu stehen schien, so war doch an allen anderen Gliedern eine gewisse Scheu vor dem Mann im braunen Rock bemerkbar, wenigstens vermieden alle, bis auf das junge Mädchen, ihm zu widersprechen oder ihn zu reizen.
»Wißt Ihr, daß Jack Kelbury von der Polizei gefaßt ist und den Diebstahl gestanden hat, Hampton?«
»Was meinst Du, William?«
»Ei, was anders als die Kofferabschneiderei von dem Wagen der Gräfin von Ellesmere,« erwiderte halb verwundert der Stutzer. »Die Polizei macht ja einen Höllenlärm darüber, und aus einfältiger Angst haben die Bursche die kostbaren Edelsteine auf den Feldern weggeworfen, wo sie vielleicht ein nichtswürdiger Bauer findet. Der Koffer soll einen Wert von fünfzehntausend Pfund gehabt haben.«
»Wenn Dir doch auch einmal ein solcher Streich gelänge, William,« meinte das ältere Mädchen, »das würde sich der Mühe lohnen, und wir könnten eine Reise aufs Festland machen!«
»Sprich nicht so albern, Jenny,« fuhr der Braune sie an, »oder Jack Keth, der Henker soll mich holen, wenn ich Dir die Gedanken nicht vertreibe. Wir brauchen Dich hier wie das liebe Brot, um fremde Gimpel zu rupfen, deren die Ausstellung genug hierher zieht. Wißt Ihr, wer das Halsband gekauft?«
William wies mit dem Daumen über die Achsel nach der Schenke.
»Für wie viel?«
»Bare zweihundert. Es war bereits in der dritten Hand, – aber er macht immer noch ein sehr gutes Geschäft.«
Das Gesicht des Braunen zog sich zusammen. »Er muß verteufelt viel schon auf die Seite gebracht haben,« murmelte er giftig.
»Er hat zwei große Häuser in der Oxford-Street,« mengte sich der junge Bursche in das Gespräch. »Ich weiß es bestimmt, ich habe es von Popkins, dem Schreiber beim Doktor Duncombe, gehört, der mich manchmal zu Gängen braucht.«
»Verdammt! Das ist eine gute Bekanntschaft. Vielleicht kannst Du etwas Ordentliches ausbaldowern in dem Hause. Der Federfuchser soll große Legate in seinen eisernen Kisten verwahren?«
Jenny sah ihn verächtlich an. »Für was hältst Du mich denn? Bin ich etwa ein Kind, wie die kleine Beg dort, oder versteh' ich mein Handwerk? Wenn's an der Zeit ist, daß die Chawrusse Diebesbande. gebildet wird, soll kein Schloß im Hause sein, zu dem ich nicht das Wachs habe!«
Das kleine Mädchen rutschte auf den Schoß des Braunen, zupfte ihn am Ohr und sagte: »Ich will fort zum Theater, Alter, Ihr seid langweilig hier und zu trinken habt Ihr nichts Süßes für mich! Ich werde Dich gar nicht mehr lieb haben, Rich, und der Polizei anzeigen, daß Du die Toten stiehlst, wenn Du so geizig bist.«
Das häßliche Gesicht des Blatternarbigen wurde schwarz wie die Nacht und ein grimmiger drohender Blick schoß auf die Unvorsichtige, indem er sie so fest am Arm packte, daß sie laut aufschrie.
Ein langer Kerl, der eben, eine kurze holländische Pfeife im Mund, den zerdrückten Hut auf das eine Ohr gesetzt, mit einem Frack und viel zu kurzen Beinkleidern, vorüberging, blieb stehen und schaute herüber.
»Was giebt's denn? Hat der Balg wieder die Krämpfe?«
»Die Krämpfe selbst auf Deinen verfluchten Schädel, Würger!« Würger nannte man Verbrecher, die Leuten, bei denen sie Geld vermuteten, Kassenboten etc., im Nebel oder am Abend, ja selbst bei Tage auf offener Straße von hinten die Schlinge um den Hals warfen, sie so zu Boden rissen und beraubten. schrie der Leichendieb, indem er die schwere, zinnerne Kanne nach dem Elenden schleuderte.
Der Lange bückte sich, daß sie über ihn wegflog, und das schwere Gefäß traf ein Weib, das gegenüber mit zwei Männern saß, so heftig an die Brust, daß der Unglücklichen ein Strom von Blut aus dem Munde schoß und sie leblos zu Boden stürzte.
Der Mann – ein blasser, hohlwangiger Bursche – der neben dem Frauenzimmer gesessen, sprang auf und ein Messer blitzte in seiner Faust, als er sie mit einem wilden Fluch drohend gegen den Braunen streckte. Aber die athletische Gestalt, die sich jetzt erhoben, schien ihm Furcht einzuflößen und leise vor sich hinschimpfend, schleppten die beiden Männer das verletzte Weib nach dem Parlour.
»Thörin!« sagte der Leichendieb zu der Kleinen, »wie kannst Du es wagen, solche Dinge zu sprechen, von denen Du nichts weißt und verstehst!!«
Der Schmerz der Mißhandlung hatte jedoch das Mädchen wütend gemacht. »Der Teufel auf Deine Seele, schändlicher Dick! Glaubst Du, ich wüßte nicht, wie Du neulich dem Fremden, den die weiße Jenny zu Dir gelockt, das Pflaster auf den Mund gedrückt und ihn geburkt hast, oder wohin das junge Mädchen aus Rotherhill gekommen wäre? Wage es noch einmal, mir weh zu thun und ich will …«
»Ist die Dirne toll?« schrie William und hielt ihr mit Gewalt den Mund zu, während ihre ältere Genossin und Jenny sie auf die Bank niederzerrten. »Wenn Du nicht schweigst, Nickel, wird Hampton Dich kalt machen im Augenblick!«
Aber der furchtbare Burkes Burker oder Ressurrektions- (Auferstehungs)-Männer waren Verbrecher, die Leichen von den Kirchhöfen stahlen, um sie zum Sezieren zu verkaufen. Sie begingen auch Morde zu diesem Zweck. war bleich wie die Kalkwand bei der wütenden Drohung des Mädchens geworden und dachte nur daran, sie zu beruhigen. »Sei still, Beg, einfältiges Ding,« sagte er schmeichelnd, »es war meine Absicht nicht, Dir wehe zu thun, und Du sollst einen neuen Hut dafür haben. Aber sei vernünftig und rede kein dummes Zeug. Du weißt, daß ich Dich lieb habe und Dir alles zu Gefallen thue.«
»Ich will etwas Süßes trinken! Champagner!« schmollte das Kind trotzig. »Der Gin verbrennt mir die Brust!«
Hampton, der ebenso geizig als habsüchtig war, schnitt ein Gesicht, aber die Macht der Kleinen über den alten nichtswürdigen Sünder war zu groß, als daß er gewagt hätte, ihr etwas abzuschlagen.
»Geh an die Schenke, Jenny, nichtswürdiger Galgenvogel, Futter für die Raben,« murrte er; »sag' dem roten Joël er soll uns eine Flasche von dem Sprudelnden schicken für meine Rechnung, das Kind will trinken und Ihr habt noch eine Stunde Zeit, ehe die Theater schließen. Ich hoffe, Ihr Blutegel werdet's durch einen anständigen Fang wieder einbringen.«
Der Taschendieb war bereits fort nach dem bar des roten Joël. Während er diesem die Bestellung ausrichtete, erschienen durch eine Thür an dem hintern Ende zwei große und starke Männer, der eine in der rußigen Kleidung eines coalheavers oder Kohlenträgers, der andere in der noch schmutzigeren Tracht der dustmen oder Gassenkehrer.
Der erste blieb an einem Tische in der Nähe der Thür sitzen und ließ sich Brandy geben, der Dustman aber ging durch den ganzen Raum des Tap, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, doch die verschiedenen Gruppen scharf beobachtend, und ließ sich dann in der Nähe der Kabine nieder, in der Tom mit der schönen Merry, der Mulattin, in einer mehr als schamlosen Stellung saß, ohne anfangs auf die neue Nachbarschaft zu achten.
Bald darauf kam Jenny und der rote Joël selbst von dem bar her, der letzte in den Händen zwei Flaschen des verfälschten Getränks haltend, dessen Hauptbestandteile natürlich nichts anderes waren als Brausepulver und Zucker, und stellten sie vor die Gesellschaft in der Kabine.
»Wird das schmecken der jungen Chonte, soll mer der Böse strafen, 's is echter Wein aus Frankreich, er kostet mer selber bare acht Schilling die Flasche, und ich gebe ihn nur meinen Freunden vors ausgelegte Geld, aber Hampton is ä reicher Mann, ä verdient viel blanke Guineen und kann lassen was draufgehn vor sein Vergnügen, ohne daß die Kalle geit mit dem Chossen unter die Chuppe.« Ohne unter den Brauthimmel zu gehen, den Baldachin, unter dem bei den Juden die Trauung vollzogen wird.
Während des Geredes hatte er den Pfropfen gelöst und die Gläser, die Jenny mitgebracht, gefüllt. Das Knallen des Pfropfens erregte allgemeine Aufmerksamkeit und wandte viele neidische Blicke nach der Stelle.
Ein untersetzter Kerl von kräftigem Gliederbau und mit einem wahren Bulldoggengesicht schien sich besonders zu ärgern, schlug mit der Faust auf seinen Tisch, daß die Brandy-Gläser in die Höhe sprangen und begann giftige Stichelreden.
Unterdes hatte der Leichendieb eines der Gläser an den Mund gesetzt und getrunken, im nächsten Augenblick aber spie er das Getränk wieder von sich. »Hund von einem Juden,« schrie er erbost, »was hast Du uns für einen schlechten Stoff gebracht? Old Nick Der Teufel. mag das Zeug saufen, nicht ein Christenmensch!«
Beg aber strich sich behaglich den Leib. »Das ist süß,« sagte sie mit ihrer schrillen Stimme. »Das schmeckt. Es ist nicht wie Euer Blue-rin, der einen wie Feuer brennt. Schenk ein, Dick und sei artig!«
Auch der junge Spitzbube schien großes Gefallen an dem jämmerlichen Getränk zu finden und betrachtete mit großem Vergnügen die Schaumperlen.
William und die weiße Jenny dagegen nippten nur mit verächtlicher Miene.
»Was keifst Du?« meinte der Jude, »das Kind hat ä guten Geschmack! Es wird schon trinken de Flasche. Siehst Du nicht, wie sich ärgert der dicke Ralph, der Boxer, daß er nicht kann geben seiner Chonte ä gleich kostbares Getränk?« Er wies nach dem Mann mit dem Bulldoggengesicht, der mit der Faust herüberdrohte. »Wenn die Herrschaften wollen trinken eppes Feuriges – hier is ä echter Jamaika, den James, der Schmuggler, gebracht hat von de Westindia-Doks vor einer Stund.«
Der Burker griff nach der langhalsigen Flasche, die der Jude aus seiner Rocktasche zum Vorschein gebracht, und setzte sie, ohne ein Glas einzuschenken, an den Mund, wo sie lange in wagerechter Stellung schweben blieb.
»Deine Augen sollen verdammt sein, und Deine Gebeine Jack Ketch haben,« murrte er tief Atem schöpfend, »wenn das nicht das Beste ist, was ich seit einem Monat bei Dir getrunken. Aber dem Halunken dort drüben schlag' ich den Schädel ein, wenn er noch zu mucksen wagt. Ich glaube ohnehin, der Narr will sich an mir reiben und prahlt, daß er eine bessere Faust schlüge als ich – Laß den Pfropfen springen, Beg, und trink, mein Herzblatt!«
Jerry bemühte sich die zweite Flasche zu öffnen, und weil er für sein Leben gern Unheil stiftete, gab er derselben eine schiefe Richtung, so daß der springende Kork dem Boxer an den Kopf flog.
Dieser sprang mit einem Fluch auf, hielt die geballte Faust dem Leichendieb, den er für den Anstifter ansah, unter die Nase und stieß ein wildes Come up! heraus.
Ein Fußtritt gegen den Leib war die Antwort, der ihn bis an seinen Tisch zurückschleuderte. Damit war ein regulärer Faustkampf provoziert und die ganze Versammlung schrie ein beifälliges Hip! Hip! Hurra!
Während der Burker und der Boxer von Profession ihre Vorbereitungen zu einem Kampf von drei Gängen trafen – denn mehr waren nach den vom roten Joël streng aufrecht erhaltenen Gebräuchen des »Blutigen Arm« bei keiner Beleidigung gestattet – hatte sich der Wirt zu William und seiner Konkubine gesetzt.
Da plötzlich fiel sein Blick auf den Dustman, der in der Nähe von Tom und der Mulattin Platz genommen, die jetzt beide dem Faustkampf mit großem Vergnügen zuschauten und ein flüchtiges Erschrecken lief über sein Gesicht. Er nahm die leeren Flaschen vom Tisch und indem er sich damit beschäftigte, flüsterte er dem jungen Taschendiebe einige Worte zu, dann aber, ohne sich um die Prügelei irgend zu bekümmern, schlich er zwischen den Tischen hindurch und nahm seinen Weg mit dem leichten Tritt einer Katze nach dem bar zurück.
Als er an der Stelle vorbeikam, wo der Dustman stand, begegneten sich ihre Augen.
Der Blick des Gassenkehrers war scharf und durchdringend. Mit einer unmerklichen Gebärde winkte er nach Tom Walker hinüber. Der Jude nickte bejahend und verschwand dann hinter dem Gitter seines Kontors.
Das Duell der beiden Faustkämpfer hatte unterdes seinen Fortgang genommen, obschon es noch zu keinem entscheidenden Resultat geführt. Beide Männer waren berüchtigte Boxer und an Stärke und Kunstfertigkeit einander ziemlich gleich. In dem Augenblick jedoch, wo der Jude in seinem bar verschwand, gelang es dem professionierten Wettkämpfer, durch eine Finte den erhitzten Resurrektionsmann zu einem falschen Schlag zu verleiten, und indem er ihn, ohne zu parieren, mit seinem breiten Brustkasten auffing, versetzte er von unten herauf seinem Feinde einen so gewaltigen Gegenhieb an den Unterkiefer, daß man das Krachen der Knochen hörte und augenblicklich eine Menge Blut aus dem häßlichen Munde Hamptons strömte. Der Burker taumelte zurück und wurde von seinem Sekundanten aufgefangen, der ihn auf sein Knie setzte und nach Rum und Wasser rief. Mit einer Flut von Verwünschungen und Drohungen sprudelte der Verwundete Blut, Geifer und drei Zähne von sich, die ihm der furchtbare Hieb ausgeschlagen und wäre sofort auf seinen Gegner wieder losgestürzt, wenn ihn nicht seine eigenen Freunde zurückgehalten, um ihn erst nach den Regeln des Kampfes sich verschnaufen zu lassen.
Die Pause zwischen dem zweiten und letzten Gang verursachte einige Bewegung und einiges Drängen unter den Zuschauern und während desselben schlüpfte Jerry mit der Gewandtheit eines Aals durch die Menge bis zu dem wilden Tom.
»Eppel! Ein Ausdruck, mit dem sich die Diebe auf eine drohende Gefahr aufmerksam zu machen pflegen. mach daß Du fortkommst! Die Kärnerfetzer Die mit dem Einfangen der Verbrecher beauftragten Polizeibeamten. sind da!«
Die Stimme, welche die Warnung gab, war mehr ein leises Zischen, als ein wirkliches Reden, aber sie erreichte das Ohr dessen, für den sie bestimmt war.
Der wüste Mensch fuhr zusammen, und sein Gesicht wurde fahl. Er sah sich erschrocken nach dem Warner um, aber Jerry war bereits im Gedränge verschwunden, jedoch nicht, ohne daß die Augen des Gassenkehrers den Streich bemerkten, den er gespielt.
Diese begegneten jetzt dem ängstlich umherforschenden Blick des Gewarnten. Das Auge des fremden, schlecht gekleideten Mannes war so streng, so durchbohrend und sicher, daß der Verbrecher im Augenblick erkannte, wie er hier seinen Feind gefunden. Dennoch versuchte er, ruhig auszusehen, steckte die Hände in die Hosentaschen, sprach einige Worte mit der Mulattin und schaute dann aufs neue dem mit vermehrter Wut beginnenden Kampfe der beiden Boxer zu.
In diesem Augenblick hob, unbemerkt von Tom, der ihm jetzt mit absichtlicher Gleichgültigkeit den Rücken zuwandte, der Gassenkehrer den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe.
Augenblicklich erhob sich am anderen Ende der Schenke der Kohlenbrenner und stellte sich zwischen den » ring« und den Eingang, durch welchen beide gekommen.
Die Faustkämpfer hatten etwa drei Hiebe gewechselt, als in dem umgebenden Kreise ein wildes Drängen und Lärmen entstand. Über das alles erklang eine kräftige, ruhige, männliche Stimme: »Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!«
Man sah in der Öffnung, die sich bildete, den Gassenkehrer Tom am Kragen festhalten, indem er ein Papier in die Höhe hielt. »Wage es niemand, der Gerechtigkeit sich zu widersetzen, auf seine eigene Gefahr. Dieser Mann ist mein Gefangener!«
Zugleich drängte sich der Kohlenträger durch die Menge, faßte Tom an dem anderen Arm und zeigte seinen kurzen Konstablerstab.
Der Gefangene zitterte an allen Gliedern und war totenbleich; dennoch suchte er sich zu fassen und sagte trotzig: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Warum verhaften Sie mich?«
»Wer wir sind, mein Junge,« entgegnete lachend der coalheaver, »das weißt Du bereits so gut, wie wir selbst, und alle diese – Herren und Damen umher. Wir wünschen einzig und allein Deine Person, und deshalb mach' keine Flausen, sondern reich' die Hände her für die seidenen Bänder!«
Der Beamte hatte bereits die eisernen Ringe in der Hand, die, mit Federn zum Einschlagen versehen, den englischen Kriminalbeamten dazu dienen, die Verbrecher auf eine rasche und leichte Weise unschädlich zu machen.
Tom versuchte sich loszumachen, wiewohl vergeblich. »Was wollen Sie von mir?« wiederholte er; – »wessen klagen Sie mich an?«
»Des Raubmordes, begangen an der Person des Lederhändlers James Gringle in seiner Wohnung in der Herbert-Street in Islington am 26. Mai. Hier ist der Verhaftungsbefehl gegen Thomas Burke, ausgestellt vom Friedensrichter Wilkinson.«
»Aber ich bin nicht Thomas Burke!« schrie der Gefangene, – »ich heiße Tom Walker, es ist eine Verwechselung – die Leute hier werden es mir bezeugen!«
Der Beamte antwortete mit einem verächtlichen Achselzucken auf den Sturm von Miauen, Pfeifen, Heulen und Zischen, den die Bande umher erhob. Aber das Gesindel beschränkte sich, trotz der flehenden Blicke des Verbrechers, auf diese Zeichen seines Mißvergnügens, denn jeder von ihnen fürchtete allzusehr die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich zu ziehen, und sie wußten aus Erfahrung, daß in solchen Fällen selbst der rote Joel sich vollständig neutral hielt.
Unterdes war es dem zweiten Beamten gelungen, dem erwischten Verbrecher die Handeisen anzulegen, und sie waren eben im Begriff, ihn trotz seines Sträubens, nach dem Ausgang zu schleppen, als eine Frau sich durch die Umdrängenden mit lautem Geschrei Bahn machte, und, sich an den Gefangenen klammernd, sein Wegführen verhinderte.
Es war Sally, die unglückliche Frau Toms, die herbeistürzte, um für den Verbrecher, den Mann ihrer Jugendliebe, der sie in ein Leben täglicher Mißhandlungen, des bittersten Elends und Kummers gestürzt hatte, zu bitten.
»Um der Barmherzigkeit Gottes willen,« schrie die Arme, »lassen Sie ihn los, Herr! Tom ist unschuldig – ich schwöre es Ihnen. Haben Sie Mitleid mit ihm – er ist ein unglücklicher, verführter Mann, der nur in dieser Höhle des Verbrechens leichtsinnig geworden. Er ist unfähig, einen Mord zu begehen! Sprich, rede, Tom, sage es ihnen, daß Du unschuldig bist!«
Aber der Blick auf das bleiche Angstgesicht des Verbrechers gab ihr die traurige Gewißheit, daß er nicht ohne Schuld verhaftet sei.
»Hindern Sie uns nicht an der Ausführung unserer Pflicht, Mistreß,« sagte der ältere Beamte höflich und nicht ohne Gefühl. »Dieser Mann verdient Ihre Zuneigung kaum – ich habe ihn noch eben selbst mit einer der berüchtigtsten Dirnen dieser großen Stadt beobachtet und er ist der Behörde längst als ein sehr gefährlicher Verbrecher bekannt, auf dem mancher schlimme Verdacht lastet.«
Das Weib strich sich verworren die Haare aus dem Gesicht, der Blick, mit dem sie umherstarrte auf die täglichen Genossen seiner Schlechtigkeit war wild, verzweifelnd. »Also fortführen wollt Ihr ihn?« schrie sie; »fortführen nach den feuchten Mauern von Newgate, wohin Ihr schon so viele geschleppt! und dann weiter – weiter – nach Tyburn! Großer Gott laß mich nicht wahnsinnig werden bei dem Gedanken! – Und Ihr, die Ihr von seinem Gelde geschwelgt, Ihr, die Ihr mit ihm geraubt, gestohlen, gemordet – Ihr steht hier und laßt ihn fortnehmen aus Eurer Mitte, ohne eine Hand zu heben für ihn? – Memmen, Feiglinge, die Ihr seid! Wißt Ihr nicht, daß es in der nächsten Stunde Euch ebenso gehen kann? – Nieder mit diesen Schergen der Gewalt – schlagt sie zu Boden und befreit Euren Kameraden, wenn Ihr Männer seid!«
Sie faßte die Fesseln des Gefangenen mit den abgemagerten Händen und zerrte verzweifelt daran, als vermöge ihre schwache Kraft den festen Stahl zu sprengen. Das Heulen, Schreien, Grunzen umher erneuerte sich mit verdoppelter Kraft, aus der äußersten Reihe schrie eine Stimme: »Schlagt sie tot, die Konstablerhunde! – Mistreß Sally hat Recht – Hurra, Tom for ever!« Fäuste ballten sich und hoben sich drohend – einer suchte den andern zum Ausbruch des Angriffs zu treiben, dessen Erfolg bei der Ungleichheit der Zahl und der blutigen Brutalität der Verbrecher zweifellos sein mußte.
Der Augenblick war kritisch für die beiden Beamten, aber sie schienen an solche Ausbrüche gewöhnt und keinen Augenblick unentschlossen. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatten beide aus der Brusttasche ihre Revolver gezogen und den Hahn gespannt, indes sie mit der andern Hand den Gefangenen festhielten.
»Platz, im Namen des Gesetzes!« donnerte die Stimme des ältern Beamten. »Wer eine Hand zu heben wagt, ist ein Kind des Todes. Seid vernünftig, Burschen, und wartet Eure eigne Zeit für den Galgen ab. Ich kenne Euch und Ihr kennt Harry Green und wißt, daß er sich nichts entreißen läßt, was er einmal gefaßt hat. Ein Signal von dieser Pfeife und ich habe zwanzig Hände zum Beistand!«
Der Mut der Auflehnung gegen das Gesetz war ebenso rasch verlodert, als er ausgebrochen war. Es ist merkwürdig, wie schon der bloße Name der Gesetzlichkeit den wildesten Verbrecher feig macht. Nicht die materielle Macht ist es, die das Gesetz schützt, sondern jener Nimbus der Autorität, die seinen Namen umgiebt, und von dem unwillkürlich der brutalste Charakter sich beugt.
Ohne ein weiteres Zeichen des Widerstandes, als ein langsames Auseinanderdrängen und ein drohendes Gemurmel, machte die schlimme Gesellschaft, von den sicher die meisten das Schicksal des gefangenen Mörders verdienten, Platz, und die Beamten schleppten über den Körper der ohnmächtig zu Boden gesunkenen unglücklichen Frau ihre Beute fort aus der Schenke.
Es war, als sei eine Last von allen genommen, als die Konstabler das Lokal geräumt, und ein ausgeschickter Späher verkündete, daß sie mit dem Gefangenen eine der größeren Straßen gewonnen hatten, wo ein Wagen ihrer geharrt. Man erschöpfte sich in Vermutungen, wer den Verräter gemacht, welche Beweise gegen Tom vorgebracht werden könnten, und ob er schon vor die nächsten Assisen gestellt werden würde. Ja, viele sprachen bereits von seiner Hinrichtung und wetteten, ob er sich auf dem Karren des Henkers und dem Schafott wie ein Mann betragen oder Feigheit und Reue zeigen werde.
Das alte Treiben war binnen wenig Minuten wieder in Gang. Von einer Wiederaufnahme des nicht beendeten Kampfes war nach einer solchen Unterbrechung natürlich nicht mehr die Rede. Hampton und der Boxer saßen jeder maulend in einer Ecke und badeten in Branntwein und Wasser der eine sein zugeschwollenes Auge, der andere sein gespaltenes Kinn. Die arme Sally war von einigen mitleidigen Frauenzimmern nach dem Parlour geschleppt worden, wo man sich lange vergeblich bemühte, sie ins Bewußtsein zurückzurufen.
Plötzlich änderte eine neue Erscheinung die Scene; durch den Eingang, durch den vor einer Stunde die Baronin Savelli in der Maske eines Seemanns eingetreten, kam ein Mann, in einen jener weiten blauen Röcke gehüllt, welche die seit 1839 eingeführten Policeman der City gewöhnlich zu tragen pflegten, eine Tracht, die den Augen der Gauner und Spitzbuben der Hauptstadt schon aus weiter Entfernung bekannt war. Der Wachstuchhut war tief in die Stirn gedrückt, die untere Hälfte des Gesichts in einen roten Shawl gesteckt, so daß eigentlich nur die Nase und ein dicker schwarzer Backenbart zu sehen war. Dagegen konnte über den Charakter der Persönlichkeit der mit großer Ostentation und aller Augen sichtbar in der Hand getragene Konstablerstab keinen Zweifel lassen.
Eine allgemeine Unruhe zeigte sich bei dem Erblicken des Beamten, Verwünschungen wurden laut auf Billy, den schwarzen Wächter, daß er eine solche Persönlichkeit, ohne ein Warnungszeichen zu geben, eingelassen, andere versuchten, sich möglichst unsichtbar zu machen; denn niemand wußte, wem dieses wiederholte kühne Eindringen der Polizei an einem Orte, den sie sonst nur selten und nur in den dringendsten Fällen zu betreten wagte, gelten könne.
Der Policeman schien sich aber um die allgemeine Überraschung wenig zu kümmern, er schritt gravitätisch bis in die Mitte des thap vor, ergriff einen vor Ralph, dem Boxer, stehenden Ginkrug, that einen tüchtigen Zug und sprach mit verstellter Stimme:
»Würdige Gentlemen und Myladys of the night! Ritter und Damen der Nacht. Edle Blüte des Galgens und des Rades! Edle Jungfrauen vorn Allerweltsorden, Verehrer fremder Geldbeutel, plagt Euch Old Harry, Der Teufel. Euer liebenswürdiger Gevatter, oder seid Ihr auf dem Wege, Euch in eine Quäkergemeinde aufnehmen zu lassen, daß Ihr also hier die edle Zeit versäumt, während binnen vierunddreißig Minuten jedes Theater dieser glorreichen Hauptstadt Alt-Englands seine gesegnete Flut von Aldermen, Lords, Richtern und Kaufleuten, Onkeln, Nichten und Tanten ausspeien wird, zu Eurer fixen Finger täglicher Nahrung und Notdurft?! – Auf Euren Posten, Jungens, am Adolphi und Prinzes-Royal, es ist die höchste Zeit!«
Ein brüllendes Gelächter verkündete die allgemeine Enttäuschung, in das der Neuangekommene laut einstimmte. Zugleich warf er den Überrock, den Hut und den Bart von sich und zeigte sich als ein hübscher junger Mann mit herausfordernder, kecker Miene, lockigem Haar und munter blitzenden Augen in der Kleidung eines Gentleman.
Ein allgemeines Geschrei: »Jack! – Ein Hip Hip Hurra für den schönen Jack!« erscholl, und Männer und Weiber drängten sich um den Gentleman-Spitzbuben.
»Myladys,« sagte Jack, »keinen Angriff auf meine Tugend! Sie wissen, ich bin fest darin. Aber im Ernst, was ist geschehen, daß Ihr Galgenvögel noch nicht auf dem gewöhnlichen Posten seid? Es wird auf Ehre gleich zu spät sein.« Er zog prahlend eine schöne goldene Uhr und zeigte sie umher. Das thap begann sich rasch zu leeren, denn die Diebe und Dirnen eilten davon, um noch rechtzeitig an die Eingänge der Theater zu gelangen, wo sie allabendlich ihre Ernte hielten.
»Ei, den Teufel – Jack muß Glück gehabt haben. Eine so prächtige Uhr!«
»Aber warum bist Du nicht selber bei den Theatern?«
»Pst – Will, mein Junge, Du weißt, daß ich mich nicht gern dahin wage. Aber die Uhr ist bar bezahlt und nicht gestohlen! Ich gebe Euch heute eine Bowle zum Besten, wenn Ihr zurückkommt.«
Die weiße Jenny reichte ihm die Hand. »Ich bleibe bei Dir, Jack – William mag allein sein Heil versuchen. Du bist wohl höllisch im Moos, mein Junge?«
Der schöne Jack schlug an die Taschen, wo es von Geld klang. »Wollt Ihr hören, wie man in Holborn auf leichte Manier zu achtzig Guineen kommen kann?«
»Vorwärts, Jack – laß schießen! Heraus mit der Geschichte!«
Der Dieb hatte sich auf einen Stuhl geworfen. Die weiße Jenny saß, sehr zum Verdruß ihres Liebhabers, auf seinem Schoß und begann mit gewandten Fingern seine Taschen zu visitieren.
»So hört und nehmt ein Exempel daran für Eure Schwachköpfe. Ich schlenderte in meinem Gentleman-Überzieher durch Holborn, als ich eine Dame bemerkte, die allein in dem Juwelier-Laden von Chancery-Lane um ein Paar Ohrringe handelte und sie eben sich einpacken ließ. Es war nur ein Goldschmied und ein Ladenmädchen im Magazin, das nach Cary-Street einen zweiten Ausgang hat. Die Lady hatte dem Juwelier eine Hundertpfundnote gegeben, und der Bursche zählte ihr in Banknoten und Guineen achtzig Pfund zurück. Einen Augenblick später, und sie wären eingesteckt und verloren gewesen. Aber in kritischen Augenblicken erkennt man das Genie. Ich war wie der Blitz im Laden, trat an den Tisch und gab der Lady – entschuldigen Sie, meine Damen, allein es blieb mir kein anderes Mittel übrig – ein Paar mächtige Ohrfeigen, indem ich sie anbrüllte: »Da also, Madame, kommt all mein Geld hin, das Sie mir abschwindeln! Der Teufel soll mich holen, wenn ich das länger dulde!« Die Lady war natürlich in Ohnmacht gefallen, ich aber strich ruhig das Geld ein, ehe der Juwelier zur Besinnung kommen konnte, ging schimpfend und fluchend aus der Thür und schlug sie klirrend zu. Wie sich meine Pseudo-Gemahlin mit dem Magaziner nachher verständigt, weiß ich nicht, und nur, daß ich um die Ecke war, ehe sie ein Wort mit einander sprechen konnten. – Aber Jenny, laß meine Taschen in Ruhe! Ehrlichkeit unter Spitzbuben! Dein Anteil soll Dir nicht entgehen, wenn Du vernünftig bist.«
Der Rest der Gesellschaft, der im thap zurückgeblieben war, klatschte der genialen That Jacks Beifall, doch die Stimme des roten Joël, der soeben in den Raum getreten, scheuchte sie an ihre Plätze, und seine starke Hand zog den galanten Dieb nach dem Gitterverschlag.
»Komm herein, Söhnchen,« flüsterte der Jude, »sollst Du schauen Dein Wunder über den vornehmen Besuch der is gekommen expreß, Dich zu sprechen!«
Jack Slingsby folgte ihm neugierig in die bar, deren Thür und Fenster der rote Joël sorgfältig verschloß.
Das Kaffeehaus oder die Gentleman-Schenke, in der das Central-Komitee der republikanischen Propaganda seine Versammlung hielt, war das S… Kaffeehaus, jedem politischen Flüchtling in London wohlbekannt.
Das englische Parlamentsmitglied saß, wie bereits erwähnt, mit dem deutschen Arzt in einer der Kabinen, die bewegte Scene umher beobachtend.
»Die Versammlung wird heute pikant genug sein,« sagte der Kapitän. »Sehen Sie jenen Mann dort, den mit dem hagern braunen Gesicht, den tiefliegenden Augen und dem ergrauenden Haar?«
»Er hat eine italienische Physiognomie.«
»Richtig. Es ist Massarenti, der Adjutant, die rechte Hand, das Faktotum der Propheten.«
»Wen verstehen Sie darunter?«
»Ei, wissen Sie nicht, daß Mazzini Mazzini, italien. Agitator, verbannt, gründete in Marseille das »Junge Italien«. 1833 zum Tode verurteilt, 1842 in London, 1849 Triumoir in Bern wieder flüchtig, Anhänger Garibaldis, 1870 nach Italien zurückgekehrt. Starb 1872 zu Pisa. D. H. unter seinen Anhängern so heißt? Es muß eine wichtige Nachricht eingegangen sein, sonst würde sich der General-Adjutant der italienischen Republik hier nicht blicken lassen.«
»So wird Mazzini nicht selbst kommen?«
»Ich zweifle. Er vermeidet so viel als möglich, in den Klubs und bei öffentlichen Gelegenheiten zu erscheinen. Sehen Sie jenen Mann, der mit Massarenti spricht?«
»Ein interessantes Profil, er scheint noch jung.«
»Anfang der Dreißig. Er heißt Felix Orsini, einer der thätigsten Agenten Mazzinis und ein geborener Revolutionär. Sein Vater war französischer Offizier und fiel bei dem Aufstand 1831 in Rom. Schon im Jahre 1845 wurde der junge Mann wegen Verschwörung zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt und bald darauf begnadigt – 1847 aus Toscana verbannt. Im Jahre 1849 war er Kommissar der republikanischen Regierungen in Ancona und Ascoli und bekannt durch seine wilde Energie. Bei der Wiederherstellung der päpstlichen Regierung flüchtete er nach London.«
»Ich zweifle nicht, daß er noch eine bedeutende Rolle spielen wird. Die beiden Männer neben ihm sind ein italienischer Sprachlehrer, Pierri, mit Namen, und ein Franzose, ein ehemaliger Marine-Arzt, Namens Bernard. Er ist ein überaus thätiger, aber vorsichtiger Propagandist, der unter den Engländern zahlreiche Bekanntschaften hat. Rechts von ihm, neben Mamiani, dem tapfern Verteidiger Roms gegen Oudinot, steht der Diktator von Venedig: Manin. Tibaldi und Bartolotti sprechen eben mit ihm.«
»Welche Fülle blutiger Erinnerungen in diesem kleinen Raume!«
Ein Franzose winkte dem Marine-Arzt.
»Haben Sie die heutige Indépendance gelesen, Monsieur Bernard?«
»Noch nicht. Aber die Rede von Pelletier gegen den Usurpator soll gut sein!«
»Bah – Strohfeuer ohne Kraft,« sagte der andere. »Die Montagnards sind nur der Schatten von ehemals. Sie zanken mit den Decembristen, der Partei Cavaignac und den Legitimisten der Rue Rivoli, statt sich jetzt sämtlich gegen das feigherzige Elysee zu verbinden und den Flüchtling von Ham Louis Napoleon, der spätere Kaiser, saß 1845/46 in Ham als Gefangener. D. H. zu vernichten. Cavaignac und Changarnier haben die Armee auf ihrer Seite und dennoch haben sie nur Worte. Sie sind ebenso gut Verräter, wie der Napoleone selbst. Es wäre ein Kinderspiel für sie, ihn zu stürzen.«
Der ehemalige Marine-Arzt schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir werden noch Wunderdinge von der Energie dieses Mannes erleben, Herr Ledru-Rollin. Ledru-Rollin, radikaler frz. Staatsmann, geb. 1808, 1848 Mitglied der zweiten Regierung und Minister des Innern, 1849-1870 in England. Gest. 1874 in Frankreich. Gegner Napoleons. D. H. Wenn nicht eine feste Hand ihn unschädlich macht, werden wir die Generale und den »Berg« Die äußerste Linke. sicher als Flüchtlinge in London sehen, ehe das Jahr um ist.«
Der ehemalige Advokat antwortete nicht. »Noch keine Nachrichten aus der Türkei?« wandte er sich an Massarenti. – –
In diesem Augenblick erregte eine allgemeine Bewegung unter den anwesenden Italienern die Aufmerksamkeit des Kapitäns und des deutschen Arztes.
Durch die Thür im Parlour waren mehrere Männer und eine junge Dame eingetreten.
»Es ist Mazzini,« sagte der Kapitän, indem er seinen Gefährten auf die imposante Erscheinung des Voranschreitenden aufmerksam machte.
Der vielgenannte Propagandist der europäischen Revolution zählte einige vierzig Jahre. Die einfache, aber elegante dunkle Kleidung, die er trug, paßte sehr gut zu dem vornehmen Eindruck seiner Persönlichkeit.
An der Seite dieses berühmten und berüchtigten Mannes des blutigsten Fanatismus ging eine junge Dame von etwa siebzehn Jahren. Gesicht und Gestalt waren von lieblicher Schönheit, ihre ganze Erscheinung so voll Anmut und zartem harmonischem Reiz, daß das Auge sich kaum von ihr abzuwenden vermochte. Ihr Haar hatte goldigen Glanz und aus ihren blauen Augen blickte eine gewisse exaltierte Schwärmerei. Ihr Anzug bestand in einem schwarzseidenen, ziemlich kurzen Kleide nach spanischem Schnitt mit dunkler Mantille, die in diesem Augenblick über ihren Hals zurückfiel und dessen blendende Weiße noch mehr hervorhob. Eine griechische Mütze mit langer goldener Troddel saß keck auf ihrem Scheitel, gleiche Gamaschen zeigten die feine, zarte Form ihres Fußes.
Neben der Dame ging ein Mann mit kühnem Ausdruck. Er trug einen breitkrempigen Italienerhut, die Brust offen und um den muskulösen Hals lose ein buntes Tuch geschlungen. Ein schwarzer Bart fiel bis auf die Brust herab und umrahmte sein gebräuntes Gesicht. Er trug einen kurzen schwarzen Rock und weite Manchester-Beinkleider. Sein dunkles Auge war ernst und befehlend. Als er mit seiner Gesellschaft an dem Parlamentsmitglied vorüberkam, grüßte er vertraulich und reichte dem Kapitän die Hand. Dadurch aufmerksam geworden, wandte sich die junge Dame gleichfalls nach ihm hin und eine leichte Röte überzog ihr reizendes Gesicht, als sie den Kapitän erkannte und mit einer lieblichen Bewegung des Kopfes begrüßte.
Walding, der dicht neben dem Irländer stand, bemerkte, daß bei dieser Begegnung der Blicke sein männlich schönes Gesicht etwas blaß wurde, und ein Zug von Trauer seine Züge überflog.
Obschon er eine Indiskretion zu begehen fürchtete, konnte sich der Arzt doch nicht enthalten, zu fragen, wer die Dame sei.
»Es ist Miß White, eine Engländerin,« antwortete sein Gefährte ihm ziemlich zerstreut, »die Tochter eines reichen Ingenieurs.«
»Aber wie kommt das junge Mädchen in die Gesellschaft solcher Männer?«
»Miß White ist in Paris im Institut der Madame Bason erzogen und schon als romantische Schwärmerin nach England zurückgekehrt. Ihre Schönheit bezauberte viele, sie aber wies alle Anträge zurück und schwärmte mit phantastischer Leidenschaft für den Helden der römischen Revolution.«
»Wie, jener Mann ist …«
» Garibaldi – der Diktator von Rom. Ich muß ihm jedoch das Zeugnis geben, daß er als Ehrenmann handelte, denn als er die Leidenschaft des unerfahrenen Mädchens bemerkt, suchte er, statt sie zu mißbrauchen, ihre kranke Seele auf alle Weise zu heilen und zu entzaubern, indem er nur von seiner ewig betrauerten Gattin sprach, vom glorreichen Rückzug nach dem Fall Roms durch die Heere der Verbündeten, von den Nächten, die sie in den mit Wasser gefüllten Gräben oder in der lecken Barke auf dem Adriatischen Meere mit ihm zugebracht, ohne ein Wort der Klage, bis sie erlag. Das zurückgewiesene, verschmähte Herz warf sich jetzt mit allem Feuer seiner jugendlichen Leidenschaft auf die Politik, sie sprach mit Erfolg auf mehreren schottischen Meetings und gehört seitdem zu den schwärmerischsten Verehrern Mazzinis. – Jener soldatisch aussehende Mann, der mit ihm gekommen und jetzt mit Orsini spricht, ist der Oberst Calvi, einer der Verteidiger Venedigs.« –
Inzwischen hatte der berühmte Propagandist, von seinen Anhängern umgeben, am Ende des großen Saales des Kaffeehauses Platz genommen und seine bilderreiche, einschmeichelnde Rede klang jetzt mit sonorem Ton Über die versammelte Menge.
Der Agitator sprach französisch, das er so geläufig wie seine Muttersprache redete, um von allen verstanden zu werden. In kurzen, schwungvollen Worten erklärte er, daß einige Nachrichten, die er eben erhalten, ihm so wichtig erschienen, daß er sogleich das Central-Komitee davon habe in Kenntnis setzen wollen. Der französische Gesandte in London, Drouyn de Lhuys, habe heute seine Abberufung erhalten, der Schritt stehe mit neuen Maßnahmen des Elysee gegen die Radikalen in Verbindung, wider die in Paris ein neuer Schlag vorbereitet werde. An der belgischen Grenze sei der Agent Kern mit tausend Stück Gewehren, die für Rechnung des Central-Komitees in Lüttich beschafft worden, um nach Ober-Italien gebracht zu werden, verhaftet worden. Die wichtigste Nachricht aber – der Redner wandte sich an die Magyaren – sei, daß der große Diktator von Ungarn, der bereits seit mehreren Wochen aus der türkischen Internierung in Kiutaja in England erwartet wurde, sich mit mehreren Anhängern in Yemlik auf einer amerikanischen Fregatte eingeschifft habe, um sich nach New-York zu begeben.
Die Nachricht erregte große Bewegung, und unter dem Vorsitz Massarentis, da Mazzini denselben ablehnte, wurde sofort die Absendung zweier Mitglieder an Kossuth beschlossen, mit der Mission, den Exdiktator zur baldigen Überkunft nach London zu bewegen, um von hier aus gemeinschaftlich wirken zu können.
Während man die Wahl der Agenten vornahm, winkte der Agitator Calvi und Orsini zur Seite.
Sie traten an die Stelle, wo kurz zuvor der Irländer mit dem Arzt gestanden.
»Ihre Pässe, Signori,« sagte das Haupt der Verschwörer, »liegen bereit, sie sind von Lord Palmerston selbst unterzeichnet. Der Ihre, Felix, lautet auf den Namen Tito Celfi und ist auf Piemont, die Schweiz und die Lombardei ausgestellt, ein zweiter, auf den Namen Vernof, öffnet Ihnen die deutschen und slavischen Provinzen des österreichischen Tyrannen. Die Geldmittel liegen bereit mit allen Instruktionen. Das Wichtigste ist zunächst die weitere Organisation der ›Kompagnie des Todes‹. Hier ist die Liste derjenigen, welche der rächende Stahl erreichen muß. Sie werden sie an Ort und Stelle vervollständigen. Oberst Calvi wird seine Station in Genua nehmen und Sie von dort unterstützen, indem er mit mir in ununterbrochener Verbindung bleibt. Zugleich mit Ihnen begießt sich Oberst Pisacane nach Sicilien. Der erste, der fallen muß, ist …« – – – – – –
»As De sollst gehn kapores, verfluchte Goi!« Du sollst sterben, verfluchte Christin! keuchte eine Stimme dicht am Ohr der Baronin, die sich mit starker Faust gepackt und von dem Spähloch hinweggerissen fühlte. In dem matten Licht, das durch die Öffnungen in den Gang fiel, blitzte ein scharfes Messer über ihr.
Mit einer Geistesgegenwart und Gewandtheit, die man kaum einer Dame hätte zutrauen können, entschlüpfte die Indierin der Faust ihres Gegners, in dem sie mit einem Blick den roten Joël erkannte, und stürzte aus dem Korridor durch die halb geöffnete Thür in das Wohnzimmer des Juden.
Aber hier fand sie vor dem Ausgang nach der Schenke den »schönen Jack« stehen, der erstaunt bald auf die durch den Griff des Juden in Unordnung gebrachte und vorn zerrissene Kleidung des jungen Matrosen sah, die ihm jetzt die vollen Formen eines Frauenbusens verriet, bald auf den roten Joël, der mit erhitztem Gesicht und häßlich funkelnden Augen, Fluchworte ausstoßend, auf den schönen Flüchtling zustürzte, das blitzende Messer erhoben.
Die Baronin war hinter den Tisch gesprungen und streckte jetzt, im augenblicklichen Schutz dieser Verschanzung, den gespannten Revolver ihrem Verfolger entgegen.
»Einen Schritt weiter, Mann,« sagte sie entschlossen, obwohl mit keuchender Stimme, »und eine Kugel zerschmettert Dir den Kopf. Was willst Du von mir, warum versuchst Du mich zu morden?«
Der schöne Jack hatte den wütenden Juden am Arm gefaßt. »Wenn das die Person ist, die mich sprechen will, was fällt Dir ein, sie abzuschlachten wie ein Huhn, alter Gurgelabschneider?«
»Laß mer sein,« tobte dieser, »sie muß werden kappore gezawwert, Es muß ihr der Hals abgeschnitten werden. wenn wir nicht selber woll'n haben den Strick um den Hals. Sie hat gesehen zu viel, sie ist ein Schauter oder wird dibbern den Gausern!« Sie ist ein Spion oder wird uns an die Polizei verraten.
»Unsinn, Joël,« sagte der Gentleman aus Botany-Bay, ihn fester haltend, »was hat die Lady weiter gesehen, als einen Versteck für unsere Kleinigkeiten, und wenn sie hierher gekommen ist, um mit einem von uns Geschäfte zu machen, so wußte sie im voraus, daß das, was sie hier findet, nicht auf dem Markte gekauft ist!«
Der Jude schielte ihn von der Seite an; nur wenigen der Besucher der Diebeshöhle war das wohlangebrachte Versteck bekannt und unter diesen ahnte keiner die Horcheröffnungen, die für gewöhnlich durch eine besondere Vorrichtung verschlossen waren.
»Die Pest über sie! Wie hat sie gefunden das Versteck! Die Bar minons allein können nicht dibbern!« Die Toten allein können nicht schwatzen.
»Ich schwöre bei allem, was mir heilig,« sagte die Dame, »daß ich die Thür zu jenem Raum offen gefunden, und daß mich nur die gewöhnliche weibliche Neugier dahin geführt hat. Ich will mich mit jedem Eide verpflichten, nie mit einer Silbe von dem Dasein jenes Gemachs zu sprechen.«
»Das genügt und muß auch Dir genügen, roter Joël,« entschied Jack. »Steck' Dein Messer ein, alter Fuchs, und schneide keine so grimmigen Gesichter mehr, die Lady steht von diesem Augenblick an unter meinem Schutz. Wenn sie uns braucht, ist ihr Schweigen sicher genug. Seien Sie ohne Furcht, Mylady, und thun Sie den Puffer da weg, der Ihnen hier ohnehin wenig nützen würde. Wenn Sie ein Geschäft mit mir haben, so stehe ich zu Diensten.«
»Ich vertraue Ihrer Ehre und Ihrem Wort, mein Herr,« sagte die Lady, indem sie das Pistol in Ruh' setzte, und wieder in die Brusttasche schob.
»Das können Sie, Mylady,« schwor der Spitzbube geschmeichelt. »Ich würde von diesem Augenblick an jedem den Hals umdrehen, der Sie mit einem Finger anzurühren wagt. Soll ich diesen alten Schuft die Treppe hinunterwerfen, um mit Ihren reizenden Augen allein zu sein?«
»Mißverstehen wir uns nicht, Herr,« sagte die Lady kalt. »Bitte – bleiben Sie in der Entfernung, wo Sie sind, und wenn Sie jenen Mann entfernen können, so thun Sie es. Es ist nicht nötig, daß überflüssige Zeugen bei unsrer Unterredung zugegen sind, übrigens kann Ihnen dieser Mann da sagen, daß ich von einer zuverlässigen Person legitimiert bin, die mir gerade Sie bezeichnet hat. Hier ist der Rest des Goldes, das ich Dir versprochen!« Sie warf dem Juden zehn Souvereigns hin, die dieser begierig aufraffte, worauf er sich, nachdem er die Thür der verborgenen Galerie auf eine nur ihm bekannte Weise verschlossen hatte, so daß keine Spur mehr davon sichtbar blieb, mit einem schiefen und bösen Blick auf den Spitzbuben und die Dame entfernte.
»Ich habe Ihnen bereits angedeutet,« eröffnete die Dame sogleich das Gespräch, »daß Sie mir von einer vertrauten Person als ein ebenso gewandter, wie kühner Einbrecher bezeichnet sind, der vor keiner Schwierigkeit und keiner Gefahr zurückweicht.«
»Mylady schmeicheln mir,« sagte Jack mit zartem Erröten. »Ich thue, was ich kann, – indes für die Krone des schönen Geschlechts würde ich das Möglichste aufbieten.«
»Es handelt sich darum, aus einem verschlossenen Zimmer, ohne daß eine Spur äußern Einbruchs zurückbleiben darf, ein Paket Schriften zu entwenden. Ist dies möglich?«
»Haben Sie zunächst die Güte, Mylady, mir die Lage des Zimmers und die Art des Verschlusses mitzuteilen. Aber bitte, Mylady, nehmen Sie Platz. Sie sind unterm Schutz meiner Ehre und vollkommen sicher.«
»Das Zimmer,« sagte die Lady, »ist ein Eckzimmer nach vorn, in der ersten Etage, mit zwei Eingängen. Das hintere Nebenzimmer sieht auf einen kleinen Garten, der an einer ziemlich einsamen Square grenzt. Die Thür nach dem Hinterzimmer, das von außen leicht zugänglich, ist von innen mit einem Nachtriegel geschlossen, die zweite Thür nach der Zimmerreihe ist von außen doppelt verschlossen, und der Verschluß mit zwei Siegeln versichert. Diese dürfen unter keinen Umständen verletzt werden.«
»So bleibt uns also nur die von innen verriegelte Thür!«
»Aber wie diese öffnen?«
»Das ist meine Sache. Sind sonst keine Hindernisse vorhanden?«
»Es – liegt eine Leiche im Zimmer. Sie werden ihr Lager genau untersuchen müssen, ob darin Papiere verborgen sind. Sie scheuen sich doch nicht davor?«
Der schöne Jack zuckte die Schultern. »Ich habe mir einmal das Vergnügen gemacht, eine ganze Gruft zu plündern.«
»Es wird nötig sein, daß Sie für alle Fälle einen entschlossenen Begleiter haben. Ich hoffe, daß der Flügel des Hauses leer ist, aber es wäre möglich, daß einer der Diener, ein Indier, Ihr Unternehmen hinderte. In diesem Falle – ich muß die Papiere unbedingt haben!«
Um den hübsch geformten Mund des schönen Jack zeigte sich ein unheimliches Lächeln. »Seien Sie unbesorgt, Mylady, Sie werden erhalten, was Sie wünschen, nur müssen Sie mir dann überlassen, die geeigneten Mittel zur Abwendung eines Verdachts zu ergreifen. Aber die Zeit und der Ort?«
»Es muß noch diese Nacht geschahen, in höchstens zwei Stunden; zu dieser Zeit wird der Herr des Hauses, sein gefährlichster Hüter, abwesend sein. Sobald Sie mir die Papiere an den Ort bringen, den ich Ihnen bezeichnen werde, erhalten Sie fünfzig Guineen. Jetzt bin ich bereit, Sie selbst an Ort und Stelle zu führen und Ihnen über die Lokalität die nötigen Anweisungen zu geben. Lassen Sie uns sobald als möglich aufbrechen und diesen schändlichen Ort verlassen.«
Die Lady hatte ihre Kleidung wieder in Ordnung gebracht, während Jack mit lüsternen, frechen Blicken ihrer Toilette folgte und ihre schönen üppigen Formen maß. Dann wählte er aus dem umherliegenden Gerät einige kleine Gegenstände, steckte sie zu sich und, indem er die Thür zur Treppe öffnete, lud er mit einer höflichen Bewegung die Dame ein, zu folgen.
Der galante Dieb führte die Baronin durch die bar, die leer war, da der rote Joël wahrscheinlich seine Gentlemen-Gäste in dem Nebenhause bediente, und durch die Schenkstube, wo nur wenige Personen noch versammelt waren, weil die meisten sich an die Ausgänge der Theater begeben hatten. Jack Slingsby warf einen musternden Blick umher, und blieb dann vor dem Leichendieb stehen, der bei der Ginflasche zurückgeblieben war und sein geschwollenes Auge badete.
»Fang' die Kur morgen wieder an, Dick Hampton,« flüsterte der Spitzbube, »es giebt Arbeit für Dich heute Nacht, um zehn Pfund zu verdienen.«
Der Burker schielte ihn mit dem gesunden Auge grimmig an und machte eine bezeichnende Bewegung mit der Faust. »Dergleichen?« brummte er. »Ich bin gerade heute in der Laune!«
»Unsinn, Mann, Du weißt, daß ich mich mit dergleichen nicht einlasse, außer im äußersten Notfall. Es ist eine leichte Arbeit, und ich brauche nur einen entschlossenen Mann, um mich vor jeder Störung zu sichern. Entschließ Dich rasch oder ich muß mich nach Ralph, dem Boxer, umschauen.«
»Gott verdamm' Deine Augen,« brüllte der Burker. »Was der Kerl kann, kann ich auch. Vorwärts also – ich bin bereit!«
Der Dieb nahm ihn unter den Arm und führte ihn nach dem Ausgang, durch den er selbst eingetreten, indem er dem verkappten Matrosen einen Wink gab, ihnen zu folgen.
Sie hatten kaum die Thür geschlossen, als der Jude den Kopf aus dem Gitter seines Verschlages steckte und einem Frauenzimmer winkte, das bisher, mit dem Kopf auf dem Arme, wie schlafend an einem Tisch gekauert hatte.
Sie erhob sich sogleich, wechselte einen Blick des Einverständnisses mit dem Juden und war im nächsten Augenblick durch dieselbe Thür verschwunden, durch welche die drei die Schenke verlassen hatten.
Der rote Joël spuckte giftig hinterdrein und rieb sich mit einem grimmigen Kichern die kräftigen Hände.