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Siehe es fliegt ein vierjähriger Krieg und mit dem Kriege ein ganzer Staat in Splitter, und die Splitter sausen den Menschen um die Ohren und die Menschen denken, es sei die ganze Welt in Splitter gegangen und finden sich nicht mehr zurück in den Frieden und in die Arbeit und denken, daß alles keinen Sinn mehr hat. Und müssen dennoch zurück zu Urvater Adams Arbeit und müssen neu ihre Häuser bauen und dürfen nicht daran denken, daß die Welt wieder einmal könnte in Splitter brechen. Sondern müssen glauben und nochmals glauben und müssen ihre Schwermut und alle die dunklen Bilder ihres wirren Lebens einmal zum Teufel schicken und immer wieder anfangen . . .
Ein Krieg flog in Splitter und die Menschen konnten sich nicht gewöhnen an den Frieden, und in allen Winkeln der Welt brummten die 222 Kanonen und konnten ihren Heldenbariton nicht stoppen. Trips, der war im Februar bei Goldingen gefallen, aus Mitau waren die Bolschewiken endgültig herausgeworfen und aus Riga mittlerweile auch, und ein Säbelhieb über die Stirn heilt in ein paar Wochen und eine Lungenentzündung sogar heilt bei jungem Blut in ein paar Tagen, und nachher hatte in der alten ehrlichen »Kreuzzeitung« in aller Form die Verlobungsanzeige des Rittmeisters Prack mit Fräulein Maria von Alt-Dostheim aus dem Hause Prekalns gestanden . . .
Ach, das war ja nun alles eigentlich so gleichgültig, und was sollte das eigentlich mit dem »Hause Prekalns«, wenn von dem Hause Prekalns, seit im März noch einmal der Krieg darüber hinwegging, schließlich nur noch ein Trümmerhaufen übrig war und im zerstampften Garten ein frisches Grab und außerdem ein Spiel Karten, mit dem ein alter Mann seine letzte Patience gelegt hatte?
Ach nein, es war ihnen beiden ja auch nicht zumute nach großen Redensarten, sie waren ein stilles und ernstes Brautpaar gewesen und hatten ihre Erinnerungen, und als auf der Hochzeit in Königsberg der alte Harrach, der nun mit seinem Rheuma auch nach Hause ging, den Bräutigam 223 nach seinem roten Namensvetter gefragt hatte und wissen wollte, was aus dem wohl geworden sei, da hatte der weiße Prack so gemacht, als habe er die Frage überhört . . .
Und hatte dem alten Onkel Roger Budberg, der ihm gegenüber saß, einen kleinen Tip gegeben für Hofgeschichten von der seligen Großfürstin Maria, die der Onkel allerdings schon zehnmal erzählt hatte . . .
Und er selber, der weiße Prack, hatte vor sich hin gelächelt und hatte sein Glas voll gegossen und leer getrunken zum Andenken eines Mannes, der unter den Trümmern von Lievenbärsen schlief . . .
Ging leider nicht an, armer Kerl, daß solche Burschen wie wir in doppelter Ausgabe herumliefen . . . war nur für einen Platz auf der Welt, und du mußt es schon verstehen, daß ich den Platz für mich beanspruchte . . .
So ungefähr. Sie waren ein ernstes Brautpaar gewesen, und sie hatten ihre Erinnerungen und von vornherein ihre Sorgen. Alt-Anzen, mit Verlaub, war ein Trümmerhaufen . . . weswegen, zum Donnerwetter, hatte man sich auch nicht darum gekümmert, als es noch Entschädigungen gab für zerschossene ostpreußische Güter?
224 Ja, warum! Damals hatte ihn der Krieg in den Fängen gehabt und hatte ihn beinahe gefressen, und jetzt – jetzt mußte man sehen, wie man wieder zurückfand! Im März, während sie in Wiesbaden ihre Genesung beschloß, war er in Alt-Anzen gewesen mit seinem Stirnverband, hatte mit dem Verwalter hin und her gerechnet, hatte das, was er noch besaß, eingesetzt, und festgestellt, daß es entweder zum Inventar oder zum Bauen, keineswegs aber zu beiden langte.
Ach, er hatte ja seine Sorgen für sich behalten, er hatte im Café Bauer in Königsberg die Zeitungen auf Farmangebote studiert und Auswandererpläne gewälzt . . .
Und war dann durch die schwere süße Luft dieses frühen Frühlings marschiert und war hängen geblieben bei der Feststellung, daß man entweder in den Krieg oder eben in dieses weite einsame Land paßte, in dem es Platz gab und weit hinausgeschobene Horizonte und Raum für Leute, die Herren bleiben wollten, jawohl . . .
Man konnte nicht übersiedeln in ein Land, wo die Menschen vom Erdinhalt einer Zigarrenschachtel leben und alles aufgeteilt ist in Gemüsebeete, und man kann dort keine großen Gedanken mehr denken vor lauter Zäunen und Ricks. Hiergeblieben, Prack, werden schon sehen, 225 wie es wird . . . irgendwie muß es am Ende gehen.
Als sie wiedergekommen war, hatte sie sehr bald bemerkt, wo der Schuh ihn drückte, und dann war sie für ein paar Tage verreist und hatte sehr geheimnisvoll getan, und als sie wiederkam, hatte sie ihn zu einem Trip an den Strand gebracht und in Rauschen, wo im Kurhaus alte Herren ihren Grog tranken, hatte sie plötzlich erklärt, daß heute abend noch ein Zug nach Masuren gehe, und sie hatte darauf bestanden, daß man diesen Abendzug benütze, und daß sie nun endlich einmal Alt-Anzen zu sehen bekäme . . .
Und es hatte kein Einwand gegolten, und es hatte zu nichts genützt, daß er ihr von Alt-Anzen Schauergeschichten erzählte, und daß man dort nur in einer Wagenremise wohnen könne, und schlafen könne man allenfalls auf den Polstern des alten grünen Jagdwagens, auf dem früher immer die Gouvernanten abgeholt wurden, und immer seien sie weinend angekommen, weil die Polster so hart gewesen seien . . .
Half nichts, wurde nicht gehört, und sie fuhren wirklich. Unterwegs erzählte sie ihm, daß sie in Prekalns einen ovalen Rokokosalon gehabt hätten mit Möbeln, die der Kaiser Paul 226 geschenkt habe. Nun aber war's aus mit Rokoko und Kaiser Paul, und wenn's sein müsse, so würde man in Zukunft nicht vierter Klasse fahren, sondern sagenhafte fünfte, wo man die Beine durchstecken und hübsch mitlaufen muß. So, Maria-Mütterchen, hattest du damals herumgealbert im Zuge, und wie soll man erschrecken über einen ollen grünen Jagdwagen und harte Polster, wenn man in Mitau auf der kalten Erde geschlafen hat im verlausten Keller zwischen Elend und Todesangst und Flecktyphus? Die beiden elenden Kunter erwarteten sie auf der Station wie damals, als sie im tiefen Winter ihn und Trips abgeholt hatten, aber als sie nun den Birkenwald hinter sich hatten und sich dem näherten, was hier einmal der Gutshof gewesen war, da war nichts mehr zu sehen von Schutthaufen und verbogenen Maschinentrümmern und verkohlten Balkenresten. Die Trümmer von 1914 waren fortgeräumt und hinter dem alten Tennisplatz, auf dem jetzt Königskerzen und Brennesseln wucherten, arbeitete mit Latte und Schnur und Theodelit der Landmesser, und dahinter gruben zwölf Mann an Fundamenten . . . ach ja, sie hatte in Dresden, wie sie sagte, »noch ein klein Geldchen« stehen gehabt, das Geldchen hatte Pa 227 schon lange vor dem Kriege angelegt, »für den Fall des Falles«, wie Pa gesagt hatte . . .
Und der Fall, der war ja nun wohl eingetreten, und das also, Maria-Mütterchen, hat hinter der Geheimnistuerei der letzten Wochen und hinter deinen Reisen gesteckt . . .
Sie wehrte allen Dank ab. Es gab nun kein Schloß Prekalns mehr, es gab keinen Rokokosalon. Das »Geldchen«, das wurde nur Wohnhaus, Scheune, Stall, das Geldchen wurde »Neu-Anzen« . . .
Ach nein, nicht das alte – das alte hatte der Krieg gefressen, und es kam nicht wieder. Und nichts kam wieder, was mal gewesen war.
Und das Haus hier, das wurde ja auch kein Palast, das Haus wurde nur ein Haus für Menschen, die müssen sich schinden ihr Leblang und müssen jeden Morgen, wenn sie aufwachen, fest daran glauben, daß sie es irgendwie schon schaffen werden . . .
Auch dann, wenn sie tief verzagt sind und im Grunde auch mal daran verzweifeln, daß es sich schaffen läßt. –
Und über der alten Hofstätte brach das Gewitter nieder, und die Welt wurde ein gottloser Wassersturz, und der Wassersturz wurde zum Hagelschlag. Und sie saßen bei dem Verwalter 228 und rechneten. Zum Inventar langt's. Und einen Hof bekommen wir nun auch. Und aushalten können wir bis zur übernächsten Ernte. Und dann muß es gehen. Eigentlich sind wir reiche Leute. –
Dann, als es vorübergezogen war, gingen sie durch den verwilderten Garten und durch die Felder bis zum See. Hier also hatte man in den Buchenstamm das Monogramm seiner Tanzstundenliebe geschnitten, und hier seinen ersten Hasen geschossen – man hatte alles, Bäume und Entfernungen und Häuser, viel größer und weiter in Erinnerung, und nun war es so gekommen, wie's wohl immer geht, wenn man lange sein eigenes Jugendland nicht gesehen hat: es war alles ein bißchen zusammengeschrumpft, es war alles ein bißchen kleiner und bescheidener geworden. Es ist nun einmal so, es geht damit so, wie mit den Menschenträumen und mit den Menschenplänen. Und man schickt sich drein und lächelt darüber . . .
Und dann saßen sie nebeneinander auf dem großen Granitfindling, schauten hinab in die ungeheure Ebene, schauten über die weiten Moore, hinter denen einmal das gewaltige Rußland begonnen hatte. Und sie saßen und waren ein ernstes Menschenpaar, das viel Schicksal gesehen 229 hatte und viel Menschenroheit und viel Menschengüte. Und vor ihren Augen huschte vorüber der freundliche Schatten eines kleinen Wesens, das hatte für seine Henker gebetet und die Henker hatten die Gewehre fortgeworfen, und wenn sich dadurch nicht alles verzögert hätte, säße man nicht auf einem Granitblock in Alt-Anzen und schmiedete Pläne von einem neuen Hof und einem neuen Leben und einem neuen Lande . . .
Ach, sie hatten den Brief des Mitauer Doktors gelesen, sie hatten manchmal davon gesprochen. »Eigentlich ist sie auch für uns gestorben.« Er streichelte ihre Hand. So mochte es wohl gewesen sein, Maria-Mütterchen, es soll das Herz nicht beschweren, und einmal wird man selbst soweit kommen, daß man nicht mehr an sich, sondern an andere denkt . . .
»Und der Mensch damals in der Kirche . . . Du warst es und warst es doch nicht, und ich möchte gern wissen, ob ich geträumt habe.«
Natürlich, geträumt.
Ein Mannsbild, kleine Maria, hat in seinem Herzen so ein paar Geheimbezirke, die betritt keine Frau. Auch die eigene nicht. Es ist schon besser so.
230 Und es ist, wenn man leben will, besser, man beschwört nicht die Schatten und sieht nach vorn und glaubt, daß es gehen wird.
Und sie gingen den Hügel hinab und gingen auf den Feldrainen. Es war der feuchtwarme Sommer 1919, die Ebene dampfte nach dem Regen, vor lauter Blühen und künftiger Trächtigkeit und Saft roch es jetzt, vor Pfingsten, wie in Mutter Naturs großer Wochenstube.
Und im Osten vermurrte das große Gewitter.
Ostpreußische Gewitter sind was anderes, wie die Gewitter über Wiesbaden und Darmstadt und Heidelberg, sie kommen dahergefahren mit blauschwarzen und eitergelben Wolken und blasen auf feuerroten Posaunen und sagen: »Wenn schon, denn schon«, und wenn sie nicht gleich mindestens drei Bauernhöfe anzünden, dann zerhauen sie doch wenigstens in fünf Minuten tausend Morgen Roggenernte mit ihren Eisschlossen, und hinterher kommt die Hagelkommission gefahren und schätzt den Schaden. Und setzt sich nachher im Gutshause zum kleinen netten Frühstück, und ißt zuerst Krebsfrikassee mit Huhn und dann Rehrücken in Rahm und dann Zimtröllchen mit Schlagsahne und begießt das Ganze mit einem kleinen leichten Moselchen, 231 und wenn sie nicht mehr ›Papp‹ sagen kann, wird sie auf den Wagen verladen und fährt wieder fort, und die Versicherung bezahlt die von dem Hagelwetter angerichtete Bescherung . . .
Wo aber sollen die Gewitter in Alt-Anzen eine Roggenernte zerschlagen, wenn auf den Feldern von Alt-Anzen nichts wächst wie Huflattich und Königskerze und Löwenzahn und Steinbrech, der auf lateinisch Saxifraga farfara heißt und auch sonst zum Linnéschen System gehört und leider zu nichts nütze ist?
Ach nein, er, der Prack, dachte nicht mehr an die Schatten von Mitau. Der Prack rechnete. Siebenhundertundfünfzig Morgen bekommen wir nächstes Jahr unter den Pflug, und übernächstes Jahr können wir auf elfhundert kommen und hier, auf dem Sand, fangen wir mit Kartoffeln an . . .
Es wird schon gehen und muß gehen.
Ein Krieg war über die Erde gerollt und war zersprungen, und seine Scherben hatten einen ganzen Staat zerschlagen und ein ganzes Volk, und man mußte wieder mal anfangen und glauben, daß es gehen werde.
Das Gewitter war nur noch eine dunkelblaue Bank und nach Thymian duftete es und streng nach Salbei.
232 Und die alte Erde war die alte Erde und schüttelte ab, was zu ihr nicht gehörte, und hielt fest, was ihres Blutes war.
Und mit allen Plänen und allen Sorgen und allen Erinnerungen und allen Schicksalsbildern ging Prack, ein ganz neues Deutschland zu bauen.