Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Das zu den Restbeständen einer lange im Osten verbliebenen Kavalleriedivision gehörige Dragoner-Regiment Harrach, das in jenen Tagen den Vorstoß der in Kurland eingefallenen Roten Armee auffing, war in den letzten Wochen ein ziemlich wunderliches Gebilde geworden. Den Kern bildeten natürlich die alten Stammannschaften, es kam nur eben in diesen Tagen allerhand wunderlicher Zuzug. Es kamen junge Balten und es kamen auch lettische Freiwillige, die nicht gewillt waren, ihre Heimat in der roten Ueberschwemmung ertrinken zu lassen, es kamen aus bayerischen Reiterregimentern schwäbische Bauernsöhne, denen die verängstigte Regierung des jungen lettischen Staates in ihrer Bedrängnis Land versprochen hatte, und es kamen endlich von einem ostpreußischen Reiterregiment eines Tages zwei Schwadronen, deren 103 Chefs, genau wie Prack, sich mit dem Frieden und der deutschen Revolution nicht befreunden konnten und mit ihren Ulanen eines schönen Tages einfach nach Kurland abgeritten waren. Dann war da noch ein russisches Kontingent, das mit Einwilligung der ostpreußischen Provinzialregierung zusammengestellt worden war aus freigelassenen Gefangenen. Das aber waren keineswegs die dürftigen und ausgemergelten und verhetzten Burschen der späteren Kriegsjahre, es waren die allerersten Kriegsgefangenen aus den Tagen von Gumbinnen und Tannenberg, es waren des toten Zaren ehemalige Gardesoldaten, und sie hatten nicht viel übrig für das neue Rußland und fanden sich nun zusammen in gesonderten Regimentern mit wunderlichen Namen. Es gab da nun ein Regiment vom »Heiligen Michael«, obwohl ja dieser Erzengel in jenen Tagen in Moskau eine nur wenig beachtete Persönlichkeit darstellte, es gab auch »Dragoner des Großfürsten Alexej«, obwohl dieser kleine Thronfolger, des ermordeten Zaren krankes Söhnchen, ja schon seit fast einem Jahre nebst Eltern und Geschwistern verschwunden war in einem verschollenen Massengrabe bei der Stadt Jekaterinburg.

104 So waren denn diese russischen Truppen der werdenden Baltikum-Armee unter all den bunten und seltsamen Bestandteilen des Heeres fast der seltsamste. Wie sie über Nacht zu Pferden kamen, wußten nur die Bauern, die eines Morgens in einen über Nacht leer gestohlenen Stall gekommen waren, die Soldaten aber lachten und behaupteten, es seien »Geschenke der dankbaren Bevölkerung«. Von der Aufstellung dieser russischen Kontingente aber war Kunde gedrungen bis Petersburg und Moskau, sie hatte sich herumgesprochen bei den drangsalierten kaisertreuen Offizieren, und überall, wo der Zarenadler noch nicht vergessen war. So kamen Zuzügler aus allen Teilen des großen Rußland, sie kamen als Bettler verkleidet und hatten sich viele hundert Kilometer über vereiste Straßen geschlichen, aber unter dem Rock trugen sie die sorglich geborgenen Seiden alter kaiserlicher Feldzeichen und im Herzen trugen sie seit diesem Mordwinter bitterliche Erinnerungen: dem einen waren die Eltern verschwunden im blutigen Strudel der Revolution, die andern wußten sie, die ihren, in den Mordkellern der Roten, allen lag im Auge noch der Widerschein von miterlebten Schrecken, und keiner hatte viel mehr mitgebracht als diese peinigenden 105 Erinnerungen und den wütenden Drang nach Vergeltung. So war das. Wer um den Hader der Menschen weiß und um die Ausbrüche ihrer Leidenschaften und um des alten Europa furchtbare Verwirrung und Zerrissenheit, der erneuert jene Erinnerungen nicht zur Entfachung neuen Haders. Sondern er führt sie noch einmal herauf, um zu erzählen von jenem seltsamen Landsknechtheere, wie es seit Wallenstein und seit Tillys Tagen nicht mehr da war. Und er erzählt eine Geschichte von jenen Menschen, deren Seelen der Krieg gefressen hatte, und nun fanden sie nicht mehr zurück in die Heimat. Sondern zogen hinter dem Kriege her und suchten ihn, wo sie ihn eben fanden. Das sei vorausgeschickt zum Verständnis dessen, was ich hier noch zu erzählen habe. –

Sie, die beiden Kameraden, sie hatten viel erlebt seit jenem Tag, da sie, in ihren weißen Schafspelzen litauischen Bauern ähnlicher denn Soldaten, bei ihrem Truppenteil eingetroffen waren. In Beissagola hatte sie ein erleuchteter Bürgermeister als Spione aufgreifen und in einen Hundestall sperren lassen, und Trips hatte davon gefabelt, daß sie nun eigentlich, um den Stil zu wahren, auch noch bellen müßten . . . weiter nördlich, wo sie sich in Nacht und Nebel 106 verfahren hatten, wären sie um ein Haar mitten in die Roten hineinkutschiert, in ihrem dritten Etappenort aber nächtigten sie bei einem verstörten und offenbar wahnsinnigen polnischen Grafen, der bei Tisch seiner vor vier Jahren von russischen Marodeuren ermordeten Frau an leerem Gedeck servieren ließ und an die Tote das Wort richtete, als sei auf dem Stuhl mehr als leere Luft. Die Front aber empfing sie sofort mit Kampfesgetöse: mit ihnen kamen, auf anderen Wegen, Verstärkungen aus Deutschland, und ein schweres Gefecht warf die über Mitau bis fast nach Frauenberg vorgestoßene Vorhut des roten Prack bis Doblen zurück. Einmal, als der weiße Prack Gefangene – harmlose, von den Roten zwangsläufig eingezogene Bäuerlein – verhörte, fragte er nach dem roten Vetter. »Prack njetu, Prack w'Mitawa.« Der Herr Vetter war also nicht persönlich anwesend, der Herr Vetter saß als Kommandierender der Vorposten in Mitau und machte, nach den etwas unzulänglichen Vorstellungen seines weißen Cousins, vermutlich jeden Abend blau und warf die leergesoffenen Flaschen in Kristallspiegel . . .

Seltsamer Gedanke, ihn hier in der Nähe zu haben, es war ganz gut, daß man nicht viel 107 zum Nachdenken kam. Am nächsten Tag hatten die noch immer dünnen, eigentlich nur aus den Besatzungen der verstreuten Bauerngehöfte bestehenden deutschen Linien den Ansturm eines aus Studentinnen und Fabrikarbeiterinnen zusammengestellten roten Frauenbataillons zu bestehen. Trips riß natürlich anzügliche Witze und versprach, noch diesen Abend mit dem Bataillonskommandeur von drüben zärtlich zu soupieren, und das Lachen verging ihm erst, als er am nächsten Tage, dem dritten ihrer Anwesenheit, die Leichen der Leute sah, die diesen Weibern in die Hände gefallen waren. Ja, das waren keine Weiber, vom Weibe geboren – es waren grausame Schinder und Hyänen. Es war ein wilder, ein durchaus unzeitgemäßer Krieg, ein Indianerspiel ohne Pardon, mit wilden Patrouillenritten, wie in den versunkenen allerersten Kriegswochen Anno 1914. Im Grunde eine herrliche Angelegenheit und durchaus nach Pracks Geschmack. Und an diesem vierten Tage faßte ihn das große Abenteuer an.

Er war nun Führer der dritten Eskadron, er saß am Abend dieses Tages tief im Wald in seiner Behausung, die in Wirklichkeit ein alter, mit Kartoffelsäcken verhangener Kabeltank war, er empfing, als er sich gerade zum 108 Essen setzen wollte, den Besuch des Kommandeurs. Der Kommandeur aber brachte eine große Nachricht: Ueberläufer waren gekommen und hatten berichtet, daß im Laufe des Tages auch Doblen geräumt sei, daß in der Stadt nur noch betrunkene und mordende Banden stünden und daß die Gelegenheit da sei, das Nest überraschend zu nehmen und die Bevölkerung vor weiteren Ausschreitungen zu schützen . . . Prack sollte den Handstreich führen, das Gros sollte um neun Uhr abends in der Stadt eintreffen. »Die Pferde bringen wir Ihnen mit, lieber Prack, Ihnen habe ich armierte Schlitten bereitstellen lassen, Sie kommen so rascher und unauffälliger an das Nest heran. Und was ich noch sagen wollte, lieber Prack . . .«

Und der Kommandeur putzte umständlich sein Monokel und zog dann aus einer Wachstuchtasche ein Aktenbündel. »Die Nachrichtenabteilung versorgt uns glänzend . . . die Herrschaften drüben haben ja allerhand groben Unfug im Lande angerichtet . . . wir haben hier also ein sehr zuverlässiges Verzeichnis von allen Zivilpersonen, die sich seit dem November an Morden und Brandstiftungen und Plünderungen beteiligt haben. Sie finden hier alles . . . Namen und Delikte, Sie werden also wissen, 109 was Sie zu tun haben. Dann aber noch etwas . . .«

Und der Oberstleutnant machte eine Kunstpause und druckste an etwas herum, was ohne Peinlichkeit sich wohl nicht sagen ließ und klopfte mit dem Reitstock seine Stiefelschäfte, und dann endlich kam es. »Sie werden ja wohl wissen, lieber Prack, daß da drüben jemand kommandiert, der . . . wie soll ich mich da ausdrücken . . . der also Ihren Namen führt?«

»Ja.«

»Schön; wie derlei zustande kommt, wissen wir beide. Alter Berufsoffizier, und die Roten fragen da nicht lange, ob einer mitmachen will oder nicht. Aber in diesem Falle, lieber Prack, liegt die Sache noch komplizierter, sie liegt so, daß ich Ihnen diese Unterredung beim besten Willen nicht ersparen kann. Wir haben«, und der Kommandeur faßte in die innere Manteltasche, »wir haben uns natürlich für alles, was drüben an höherer Stelle kommandiert, interessiert. In der kaiserlichen Armee gab's nur einen Herrn Ihres Namens, und der war Garde à cheval, und die Garde à cheval hat vor dem Krieg bei der Jahrhundertfeier für 1813 unseren zweiten Gardekürassieren in alter Waffenbrüderschaft ein Prachtalbum mit den 110 Photos ihres Offizierkorps geschenkt. Wenn Sie sich also mal überzeugen wollen . . .«

Damit reichte er Prack das Bild. Da war es also. Der Mann drüben war vielleicht noch etwas massiver, der Haaransatz tiefer, die Stirn niedriger – im übrigen aber war er sein vollkommenes Ebenbild. Sein Doppelgänger! So sehr, daß es ihn grauste . . .

»Tolle Sache«, sagte der Prack und bemühte sich um einen möglichst unbefangenen Ton.

»Tolle Sache«, sagte auch der Kommandeur und nahm das Bild wieder an sich. Und schnob sich in sein rotes, schäbiges Taschentuch und redete dann noch viel von penetranten Aehnlichkeiten, die in einer Familie viele Generationen überspringen und sogar in der Vetternschaft auftauchen könnten. »Der Teufel hole derlei Geschichten, lieber Prack . . . man mußte Sie ja wohl auf die Sache aufmerksam machen . . . könnte ja nicht gerade angenehm für Sie sein, mit Ihrem Herrn Doppelgänger verwechselt zu werden . . . nie zu übersehn, was aus solchen Lausegeschichten werden kann . . .«

So ungefähr. Dann zog der Alte die Uhr. »Tja, lieber Prack, wenn's Ihnen dann gefällig wäre . . . Treffpunkt und 111 Befehlsempfang Punkt neun Uhr auf dem Chateau an der Mitauer Straße . . . Prekalns heißt das Ding ja wohl. Schön, lieber Prack, Wiedersehn.« Es war um dreiviertel sieben Uhr, der schon ziemlich ramponierte Halbmond im Untergehn. Bei dem Wezkaln-Gesinde warteten die armierten Schlitten. Trips begleitete ihn dorthin, brummend, weil nicht er den Befehl bekommen hatte. Um viertel nach sieben brach Prack auf.

Und nun war die ungeheuere Ebene da mit den fernen Feuerscheinen und dem pechschwarzen Himmel und dem funkelnden Großen Bären und den bohrenden durcheinander wirbelnden Gedanken . . .

Kärnten. Zusammenbruch. Heimfahrt. München . . .

Schwermut, Suff, Heimatlosigkeit . . .

Eine Frau, die aus dem Dunkeln gerade zur rechten Zeit gekommen schien und im Dunkeln wieder verschwand . . .

Der Herr Vetter, diese Aehnlichkeit, diese plötzlich nach Jahrhunderten sich einander nähernden und beinahe schon sich schneidenden Wege, das Schicksal, das ihn am Kragen gefaßt hatte und jederzeit ihm den Hals abdrehn konnte, wofern er sich nicht beizeiten wehrte . . .

112 Schließlich machte er dem Grübeln ein Ende. Eine Nebelbank war vom Bach her über die Ebene gekrochen, die Sterne waren verschwunden, und verschwunden war auch der Schattenriß der Stadt. Er ließ halten, krakeelte mit der Nachhut, die zu weit zurückgeblieben und in dem Nebel vom richtigen Wege abgekommen war, knipste vorsichtig Licht, sah nach der Karte, konnte mit der Karte nicht viel anfangen und ließ wieder anfahren . . .

Fuhr ein paar Minuten weiter, sah eben noch einen dunklen Schatten über den Weg huschen und sah die Pferde bäumen und lag im gleichen Augenblick samt dem umgestürzten Schlitten im Schnee. Fluchend erhob er sich. Im Wege lag, schon angeschnitten von allerlei Raubzeug, ein Pferdekadaver, und der Hund, den sie da bei seiner Mahlzeit aufgestört hatten, heulte in der Ferne. Eigentlich kein gutes Vorzeichen. Vielleicht auch eine Warnung. Er ließ den Schlitten aufrichten, nahm sich den Vizewachtmeister Christen und zehn Mann mit und ging, weil man in diesem Nebel sonst um jede Richtung kam, nach vorn. Jawohl, es war eine Warnung gewesen: vierhundert Meter vor ihnen war mit senkrechtem Abfall das Flußbett, drüben pellte sich langsam aus dem Nebel der 113 lichtlose Schattenriß der Stadt mit der unförmlichen Silhouette der Burgruine. Sie waren im Nebel viel zu weit nach rechts abgekommen und waren auf dem besten Wege gewesen, über den Abhang hinauszufahren. Der Zugang zur Stadt war fünfhundert Meter weiter links. Er ließ die Schlitten nachkommen.

Einen Plan von diesem Lausenest hatte das Regiment ihm nicht mitgeben können, er mußte eigentlich auf gut Glück handeln. Links flußaufwärts war eine Fahrbrücke, dort beließ er mit den beiden Maschinengewehren den Haupttrupp, schickte Christen mit einer Umgehungskolonne nach links, verabredete die Kirche als Treffpunkt und marschierte mit seinen eigenen Leuten aufs Geratewohl – und etwas anderes gab's hier ja wohl nicht – die nächste beste vom Fluß aufwärts führende Gasse entlang.

Ungemütliche Angelegenheit. Ein enger, lichtloser Schlauch, alles wie ausgestorben, nach hundert Meter Tappen in der Finsternis ein Mensch, der quer über der Straße lag und nach Fusel stank und einfach besinnungslos betrunken war. Ein paar Häuser weiter hinter dunklen Fenstern eine Weiberstimme, die auf lettisch nach der Melodie »Befiehl du deine Wege« einen Choral sang, und endlich dort, wo diese 114 Dachsröhre in eine breitere Straße mündete, im Eckhaus ein Lichtschimmer. Zwei junge Frauenzimmer hockten bei einem Talglichtstumpf beisammen, gaben aber auf Befragen keine Auskunft. »Sucht, sucht nur . . . wer viel sucht, findet«, höhnten sie in ihrem Lettisch-Deutsch, sie sahen frech aus und ließen sich mürrisch abführen. Die Straße lag im übrigen dunkel und leblos, Prack war froh, als er endlich den Markt erreicht hatte. Christen mit seinen Leuten war schon da. –

Der Vizewachtmeister, Mecklenburger, von den Ludwigsluster Dragonern und sonst die Ruhe in Person, kam ihm in einer Gemütsverfassung entgegen, die auf eine schwere Erschütterung der Christenschen Welt schließen ließ. Er war die Libauische Straße entlang gekommen, er hatte ein paar verdächtige Mannsbilder festnehmen lassen und soweit war ja wohl alles in Ordnung, und außer Rand und Band waren nur die beiden Pommern, die den Kirchenplatz abgesucht hatten . . .

»Herr Rittmeister, das is ja woll . . . zu doll is ja das.«

»Menschenskind, nun red' doch mal.«

»Herr Rittmeister, Sie tanzen da.«

»Wer?«

115 »De Düwel und sin Kinner«, sagte Krischan Gau aus Anklam und war dabei in seinen heimatlichen Dialekt verfallen vor lauter Schreck. Prack besah sich den Mann. Der war ehrlich verstört. »Wo, Krischan?« fragte Prack.

»In der Kirche, Herr Rittmeister!« sagte an Krischan Gaus Stelle sein Kamerad. Da mußte man sich doch wohl selbst mal den Schaden besehn . . .

Die Kirche war schwach erleuchtet, aus dem Inneren kam Orgelgedudel. Keineswegs fromme Choräle, sondern ganz andere Melodien . . . »Puppchen, du bist mein Augenstern«, spielte die Orgel. Prack wußte Bescheid.

In Windau nämlich hatte das Regiment vierzehn Tage vor seiner Ankunft den Pöbel in der Kirche bei einem ähnlichen Siegesfest erwischt . . . derlei schien hier Sitte zu sein. »Sperren Sie alles ab, Christen«, sagte Prack und ging mit zwanzig Mann auf das Hauptportal zu und öffnete vorsichtig die Tür. Da lag denn die Bescherung vor ihm. –

Ein tolles Bild! Die Bänke waren beiseite geräumt, der riesige Raum unter den gotischen Gewölben lag zu drei Vierteln im Dunkeln, erleuchtet war nur der Platz vor dem Altar unter 116 dem brennenden großen Kronleuchter, und dieser verhältnismäßig enge Bezirk war der Schauplatz einer netten kleinen Orgie: der Altar nämlich war mit Schnapsflaschen und Barschemeln zur Theke umgewandelt, auf den samtenen Stufen schnarchten mit offenem Munde Betrunkene . . . Liebespaare in zärtlicher und teilweise auch allzu zärtlicher Umarmung lümmelten sich rechts und links auf den zusammengerollten Teppichen. In dem hellen Lichtkreis unter dem Kronleuchter aber tanzten zur Orgelmusik Masken. Pierrots, Rokokokavaliere, Dominos. Prack stand und schaute.

Wirklich ein tolles Bild! Und das Tolle waren nicht so sehr die Masken – die hatte der Pöbel sich zusammengestohlen aus den geplünderten Läden und den Sammlungen der ausgemordeten Schlösser . . .

Das Tolle war dieses seltsame Licht . . .

Der enge Lichtkreis, der in der umgebenden Finsternis beinahe ertrank, auf den weißen Wänden das verschlungene Schattenspiel . . .

Die Tänzer, rings umgeben von Finsternis, die Masken, die kraft des trennenden großen Kirchenraumes so seltsam klein erschienen und so starr und marionettenhaft sich bewegten wie auf 117 einer tönenden Jahrmarktsorgel die bunten Figuren . . .

»Panoptikum«, dachte Prack.

»Totentänzer«, dachte Prack und dachte daran, was diesem Gesindel hier bevorstand und kam sich vor wie der Tod selbst, der auf dem Karneval erscheint. Dann trat er ein. –

Niemand schien ihn bemerkt zu haben, nur ein Mensch, der den kalten Luftzug zu spüren und an einen verspäteten Tanzgast zu glauben schien, schrie auf deutsch, man solle gefälligst die Tür wieder schließen. Im übrigen ging der Tanz weiter, die Orgel, unsichtbar und kenntlich nur durch einen trüben Kerzenschein im dunklen Chor, dröhnte. Da nahm Prack die Trillerpfeife und schickte in das Gedudel einen langen schneidenden Pfiff, und da brach mit kläglichem Miauen die Orgel ab. »Hände hoch!« rief Prack. Da standen auch die tanzenden Paare still.

Zwischen ihnen aber und ihren achtlos auf die Bänke geworfenen Waffen standen Pracks Leute . . . es kreischten die Weiber und es fuhren durch die Kirche lettische Flüche. Widerstand aber wagte keiner. Da standen sie mit trotzigen Gesichtern und hielten die Hände in die Höhe – über Taft und Brokat die unrasierten Stachelbärte und zu Seidenstrümpfen und 118 Samtwämsern die Holzpantinen und die verfleckten Tuchhosen machten sie noch grotesker und gespenstischer. Prack zog die Liste aus der Tasche. –

Ihm war nicht wohl zumute. Was hier Feste feierte, das war nicht einmal Rote Armee, es war feiges Marodeur-Gesindel, das im Lande gebrannt und gemordet und jüngst in Windau eine liegengebliebene Kompanie deutscher Landstürmer feig abgeschlachtet hatte: Lumpenproletariat, Landstreicher, Flintenweiber, entsprungene Verbrecher, Straßendirnen. Immerhin . . .

Immerhin war man doch kein Kriegsgerichtsrat, hatte keine Uebung in solchen Dingen! So also beschloß er, die Sache kurz und bündig und für seinen Teil einen kurzen Bericht zu machen und alles weitere dem Feldgericht zu überlassen. Und so stand er auf den Altarstufen, rief zunächst nach seiner Liste die Namen auf . . .

»Glasmann!«

»Te ir!«Hier!

»Purwit!«

»Te ir!«

Matut, Zirlulis, Riospel, Labrenz . . . fast alle waren sie da, es fehlte kaum einer. Die 119 Weiber, schon wieder frech geworden, kicherten über die fehlerhafte Aussprache der Namen, die Männer, wie beim Appell, schrien ihr »Te ir« und marschierten mit gesenktem Kopfe auf die andere Seite hinüber. Das Verhör konnte beginnen. –

Das Verhör war kurz und bündig und beschränkte sich auf vorläufige Feststellungen, alles Weitere war schließlich Sache des Feldgerichtes. Im übrigen lagen die Dinge ziemlich einfach: auf seiner Liste stand neben jedem Namen das zur Last gelegte Verbrechen und die Augenzeugen und Beweismaterial – ein paar von den Leuten trugen übrigens an den Fingern und in den Taschen die geraubten Ringe und Halsketten, und wenn Prack ihnen auf den Kopf zu sagte, daß sie gesehen seien bei der Ermordung des Kaufmanns Grüning und des Barons Wendthausen, dann zuckten sie die Achseln und brummelten unverständliches Zeug und nickten mit dem Kopf und gestanden . . .

Und ließen sich ruhig abführen. Frech waren eigentlich nur die Weiber und zum Schluß ein riesenhafter Bursche, der zwischen zwei angetrunkenen Frauenzimmern sich vor Prack stellte und beschuldigt war dreier viehischer Morde auf Schloß Perwelk . . .

120 Und es kaum zum Verhör kommen ließ und prahlend und zynisch und mit allen Einzelheiten sich seiner Untaten rühmte . . .

Ein Kerl wie ein Baum, die behaarten Pratzen eines Menschenaffen, die Fratze eines mittelalterlichen Folterknechtes. »Tut es dir leid?« fragte Prack. Da schickte der Mann einen Kotstrom von Flüchen in die Luft und riß sich die Mütze vom Kopf und warf sie Prack mitten ins Gesicht. Der Wachtmeister wollte mit dem Reitstock dreinfahren, Prack fiel ihm in den Arm. »Abführen«, sagte Prack. »Alles in die Sakristei!« Alles Weitere ging nur noch das Gericht an. Er hatte genug.

Er setzte sich auf die Altarstufen und schrieb seinen kurzen Bericht. Roheit, Vertierung, Mord, Schinderei. So stand es mit diesen Menschen. Er hob die Mütze auf. Die trug wohl den fünfzackigen Stern, war aber eine Feldmütze des alten Preobraschensk-Regimentes, und auf der herausgefallenen Papiereinlage, einer alten Petersburger Zeitung aus den ersten Kriegstagen, stand so etwas wie ein Hofbericht . . .

»Se. Kaiserliche Majestät geruhte, die Regimentsabordnungen mit einer Ansprache auszuzeichnen, ferner wurde Se. Majestät . . .«

121 An dieser Stelle war der Fetzen durchgerissen. Ferner wurde Se. Majestät vier Jahre später in Jekaterinburg abgeschlachtet. Jawohl, so stand es mit den Menschen. Prack lachte bitter und warf die Mütze fort. Die hereinklirrende Ordonnanz meldete das Eintreffen des Stabes.

Der vordem so leere Kirchenplatz war nun voller Menschen . . . Stahlhelmkolonnen hielten vor dem Rathaus, eine Batterie rumpelte über das Kopfsteinpflaster, auch die verängstigten Bewohner, die vorher sich so verkrochen hatten, waren nun wieder sichtbar. Prack sah es kaum . . .

Er ließ antreten, ritt mit seinen Leuten stadtauswärts auf dieses Schloß Prekalns zu, wo der Kommandeur ihn erwartete . . .

Ritt den gleichen Weg, den vor sechs Stunden ein anderer Mensch gekommen war . . . ein Menschenkind, das man zur Stunde in Mitau wie ein armes Schlachttier vom Schlitten lud – was wußte der Prack davon?

Ja, was denn? Schwermut plagte ihn, das Grübeln um die dunklen Zusammenhänge, die unsichtbar die sichtbaren Dinge verbinden . . .

Sichtbar, das waren alle die stürmischen Ereignisse der letzten Wochen . . . der Totentanz 122 heute in der Kirche, der gespenstische Doppelgänger drüben bei den anderen, diese Frau, die wie ein Schemen aufgetaucht und verschwunden war und trotzdem sich immer wieder eindrängte in seine Gedanken . . .

Welche Maschinerie aber arbeitete hinter diesem Vorhang und welche Hand schob ihn vorwärts?

Man wußte es nicht, man war am Ende nichts, als ein armer Stein in einer Hand, die man nie sehen würde. Ein Nachtkauz schrie, hinter dem Schloß, das düster zwischen den Wänden der Baumschneise lag, stieg eine Rakete, erfüllte die Nacht mit gespenstisch grünem Licht und erlosch . . . Brandgeruch kam mit dem Ostwind . . .

Fast zehn Uhr war es, als er Prekalns erreichte, dessen Rondell nun voller Pechfackeln, voller Kolonnenwagen und Feldküchen war. Ordonnanzen stampften durch die Halle, links in dem großen Saal, dessen Parkett nun fußhoch mit Stroh aus den Ställen bedeckt war, saßen die Leute der Nachrichtenabteilung mit den umgeschnallten Kopfhörern über ihren Papieren. »Ist der Herr Oberstleutnant da?« Nein, der war auf der anderen Seite. Bei Tisch. Hatte 123 übrigens schon nach Prack gefragt. Prack ließ sich durch die Halle hinüberführen.

Rehgeweihe an den Wänden . . . schöne starke Böcke darunter, die Jagd hier in Kurland war ja immer ausgezeichnet. Dann auf dem Tischchen ein Paar liegengebliebener Reithandschuhe, dann am Boden verstreute, bunte Bauernweiberröcke . . . weiß Gott, wie die hier in die Schloßdiele kamen. Dann aber an dem Hakenbrett rechts von der Tür ein Damenmantel, und der hing ein wenig in die Türfüllung hinein und man streifte ihn unversehens und witterte unwillkürlich noch das Parfüm der Besitzerin. Nuit de Paris. Irgend jemand aber aus seiner Bekanntschaft bediente sich doch dieses Parfüms und nun erinnerte es ihn an jemanden, auf den er im Augenblick nicht kommen konnte . . .

»Damen im Hause?« fragte er Trips, der eben vom Kommandeur kam, aber Trips, der doch sonst für derartige Fragen zuständig war, schüttelte verdrießlich den Kopf. Keine Spur von Damen . . . ganz im Gegenteil, nur der Alte, der drinnen beim Diner saß und wieder mal vom Kommißteufel gebissen war und von seinen Schwadronschefs wissen wollte, wieviel Einwohner der Mond hätte . . .

124 »Wirst schon sehen, der Alte hat noch was vor.« Damit war Trips verschwunden. Prack trat ein.

Das Zimmer, in dem vor dreißig Stunden Axel von Alt-Dostheim seine letzte Patience-Partie gelegt hatte, war nun, da die Roten vor ihrem Abzug im Kraftwerk die Dynamos zerschlagen hatten, nur mit einer Stallaterne erhellt, dahinter saß der Oberstleutnant bei einem Abendessen, das aus einem großen Rad litauischen Käses, Kommißbrot und einem Blechtopf mit Grog bestand. »Tag, Prack«, sagte der Kommandeur. »War's schön?«

Nette Frage nach dem Erlebten, der alte Herr nahm inzwischen einen Riesenschluck und trocknete sich unter der burgunderroten Nase den schlohweißen Schnurrbart. »Schon alles gehört, lieber Prack . . . haben die ganze Rasselbande in der Kirche erwischt, wird den Herrschaften nicht so ganz gut bekommen. Haben hier im Hause übrigens den Besitzer erschossen und vor ein paar Stunden die Tochter verschleppt, tolle Geschichte. Was ich noch sagen wollte, lieber Prack . . .«

Wenn der Alte »Was ich noch sagen wollte«, in die Lüfte sandte, dann hatte er, soviel wußte man nun schon, immer etwas Böses 125 im Schilde und dann war's meistens Essig mit der Nachtruhe. Und Prack hatte sich auch dieses Mal nicht getäuscht. Dem Kommandeur gefiel dieser russische Rückzug auf Mitau nicht. »Schätze, daß Ihr Herr Vetter . . . pardon, lieber Prack . . . keine gute Zigarre raucht und uns heute nacht an den Hals fahren will.« Sagte der Alte. Was er sonst noch sagte, kam auf eine Aufklärung in Richtung Mitau hinaus . . .

Die Herren gehen also an die Karte. Die Karte aber liegt auf einem großen Wandtisch, über dem Tisch hängt das lebensgroße Oelbild eines jungen Mädchens in hellem Sommerkleid . . .

Auf dieses Bild aber fällt nun der Laternenschein und Prack, der das Licht trägt, bleibt plötzlich stehen . . .

Vergißt für ein paar Sekunden den Kommandeur, die Karte, die in Richtung Mitau geplante Aufklärung. Steht und starrt das Bild an . . .

»Haben Sie was, Prack?« fragt der Kommandeur.

Prack schweigt, schaut das Bild an, der Kommandeur bemerkt es, klemmt das Monokel ein, besieht sich seinerseits die strahlende Maria 126 von Alt-Dostheim dort oben, beginnt, so etwas mit der Redseligkeit älterer und rotweinfroher Herren, auszupacken . . .

Süperbes Mädchen, Tochter des Hauses, leider vor ein paar Stunden von der Canaille verschleppt . . . haben vorher hier ein altes Frauenzimmer, Bedienerin oder so was Aehnliches, angetroffen, die den ganzen Salat hier mit erlebt hat . . .

»Darf ich fragen, ob die Frau noch im Schloß ist?« fragt Prack.

»Leider nicht, lieber Prack . . . die hatte einen schweren Nervenzustand, hatte doch offenbar mehr mit ansehen müssen, als sie vertragen konnte, war total zusammengebrochen, war für uns nicht brauchbar in dieser Verfassung und wir haben sie ziehen lassen. Aber Sie, Teuerster . . . Sie sind so fabelhaft beeindruckt . . . darf ich fragen . . .«

Pracks Gesicht erstarrt. »Darf ich Herrn Oberstleutnant gehorsamst bitten, mir jedwede Frage zu ersparen.«

»Täte mir ja aufrichtig leid, wenn Sie persönlich durch die Sache betroffen wären. Wollen Sie nicht lieber heute . . .«

»Darf ich Herrn Oberstleutnant bitten, zu unserer Sache zu kommen.« Und Prack setzt die 127 Laterne auf den Tisch und beugt sich über die Karte. Der alte Herr, nun etwas unsicher, etwas betreten über die unerwartete Vereisung des Gespräches, trompetet mit starkem Getöse in sein Taschentuch, widmet sich seinerseits der Karte . . .

»Was ich also sagen wollte . . .«

Was der Oberstleutnant sagen will, kommt auf eine nächtliche Rauferei mit den Bolschewiken hinaus. Gewaltsame Erkundung nennt man so was ja wohl. »Sie nehmen außer der Ihren noch die vierte Eskadron, die Ihnen unterstellt wird für heute nacht, außerdem vier Maschinengewehre. Artillerie wird Sie bei dem Schnee nur behindern. Jede ernsthafte Gefechtsbindung bitte ich natürlich zu vermeiden.«

Na also. Nun wären wir mitten in der angenehmen Sachlichkeit drin . . . in jener Sachlichkeit, die jetzt den einzigen Halt gibt. Noch einmal versucht es der Alte übrigens mit der anderen Melodie . . .

»Gute Familie, nebenbei gesagt, diese Dostheims hier . . . Verwandte in Westfalen . . . täte mir doch aufrichtig leid, wenn die schmerzlichen Ereignisse hier auch Sie persönlich tangieren sollten.«

»Danke gehorsamst.«

128 »Wollen Sie nicht noch rasch 'n Happen mit mir essen?«

»Danke aufrichtigst.«

Prack geht. Gibt draußen Befehl für die beiden Schwadronen, trifft Trips, der eben aus dem Stall kommt . . .

»Kannst mitkommen, Kleiner.«

»Wohin?«

»Richtung Mitau.«

»In fünf Minuten bereit.«

Nach einer Viertelstunde stehen sie auf dem Podest der Freitreppe in der bitterkalten Nacht. Die Schwadronen warten. In Richtung Mitau steht ein gewaltiger Feuerschein. Prack sitzt auf.

»Darf ich übrigens in aller Bescheidenheit fragen, was denn nun eigentlich los ist?« fragt Trips.

»Der Deuwel ist los«, sagt Prack.

»Anreiten«, kommandiert Prack.

Lederzeug knarrt und Pferdeschnaufen und Hufschlag verklingt. Die beiden Schwadronen verschwinden in der kalten, kalten Nacht. 129

 


 


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