Fritz Reck-Malleczewen
Bockelson
Fritz Reck-Malleczewen

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Urbs Dei

Eyn Christen hoert gein gelt tho hebben / et sei silver oder golt / et hoert dem einen sowol wie dem anderen.

            Aus einer Predigt Rothmanns.

Der Schmied Jakob, den die Reiter der westphälischen Landstände aufgegriffen haben, wird, ehe man ihn in der zeitüblichen Weise zu Tode bringt, gründlich verhört, erweist sich angesichts des Todes als trutziger und aufrechter Mann, bereut an seinen täuferischen Lehren auch nicht ein einziges Wort, nennt den Papst stramm den Antichristen und die Kindertaufe ein Greuel und enthüllt bei seinem Verhör ein gut Teil von der seltsamen Häretikerwelt, die nun hinter den münsterischen Mauern die Herzen bewegt.

Sie haben da ›nach der Prophetie des Zacharias‹ die Stadt in drei Teile geteilt, sie beginnen nun die alte Zeit auszutilgen, indem sie die Strassen umbenennen, sie haben auch, vorerst ganz im Hintergrunde, einen ProphetenGemeint ist Jan Matthys, der bis zu seinem bald darauf erfolgten Tode und bis zur Nachfolgerschaft Bockelsons der massgebende Prophet und damit der Herr der Stadt war. aus Leyden, dessen Namen der Meister aber nicht kennt . . . jedenfalls aber ist dieser Prophet ›ausgesandt wie Enoch . . .‹

69 Er selbst, Meister Jakob, ist aus der Stadt gelaufen, weil er seltsame Gesichte gehabt, von denen er nun hier ausserhalb der Stadtmauern Kunde geben wollte, und alle in der Stadt haben solche Gesichte, und von den Kanzeln herab verkünden die Propheten, es komme nun die Zeit, da werde Münster so volkreich sein, dass man bald den Domplatz bebauen, ja, dass man in den leeren Kirchen selbst Häuser errichten werde, nachdem man die Wohnungen der Emigranten natürlich längst beschlagnahmt habe.

Denn es sind, ihr Herren, die Gottlosen und alle die Anhänger Roms und Luthers von uns gewichen, mit Mühe und Not hat Knipperdolling verhindert, dass der geheimnisvolle Prophet aus Leyden sie nebst Weibern und Säuglingen durch das Schwert ausrottete ›als eine üble Ansteckung‹. Nun aber, am Freitag nach Invocavit, hat man sie aus der Stadt getrieben, und nur wenige haben sich im allerletzten Augenblick durch reichlich verspätete Annahme der Taufe das Recht zum Bleiben erkauft.

›Es ist‹, ergänzt später Meister Gresbeck aus Münster als Augenzeuge, ›ein bister wedder gewest von regen und schnigen, man sol up denselben fridagh nit einen hunt uth der stat gejagt hebben.‹ Und rings herum stand der Mob von Münster und schrie in Gresbecks Wiedergabe: ›Heruth gy gotlosen, Got wil einmail up 70 wacken un iw straffen.‹ Wobei denn der Leydener Prophet einer der Hauptschreier gewesen ist.

Dies aber ist wirklich ein übler Auszug gewesen, es waren gebrechliche Alte und kleine, jämmerlich weinende Kinder dabei, es regnete Püffe und Hiebe, es haben schwangere Frauen vor den Mauern im Schnee geboren. Man hat den Trägern der alten und allbekannten Patriziernamen die Kleider vom Leibe gerissen und sie nicht viel anders als nackt ziehen lassen, und dem greisen Probst Dungel, einem alten, ehrwürdigen Manne, hat der Prophet Matthys einen Speer auf den Leib gesetzt, ihn ›einen alten Possenreisser und Betrüger‹ genannt, ihn nach Kreuz und Faden ausgeplündert und ihn so ziehen lassen.

So also ist's inzwischen in Münster gegangen. Das aber, Meister Jakob, wissen wir hier draussen längst, da ja die also Vertriebenen inzwischen klagend und berichtend zu Seiner Bischöflichen Gnaden gekommen sind. Wie aber sieht es in euch selbst, will sagen in euren Herzen aus, und welch Teufel regiert nun euer Hirn, dass ihr, gestern noch fleissige und ehrbare Bürger, nun bei solchem Greuel angelangt seid?

Und Meister Jakob, also gefragt, beginnt zu reden. Von dem Strafgericht, das zwischen Fasten und Ostern (also erschrecklich bald, ihr Herren!) über die ganze Welt kommen werde, und nicht der zehnte Mensch 71 werde hier draussen ihm entgehn, und nur Münster, Gottes eigene Stadt, werde verschont bleiben . . .

›Der Prophet regiert das Volk und lehrt es Gottes Wort und lehrt es in Tugend zu leben und prophezeit, wie die Welt gestraft werden soll.‹ So der Schmiedemeister, ehe man ihn, sozusagen in allen Ehren, mit glühenden Zangen zu Tode zwickt. Wir haben aus späteren Zeiten ausführlichere und gelehrtere Ideologien des Gottesstaates, wir wollen gleichwohl bei diesem ersten Dokument verweilen. Gericht, Strafe, Busse, Weltuntergang, Tugend, Gute Werke . . . ja, steckt denn in diesem Betonen des irdischen Wandels und in dem Verschweigen der Erlösung im Tode nicht die Synagoge mit Gesetzestafel und Jawehs roten Posaunen und einem trostlosen Gehenna? Und ist denn wirklich über dieser Täuferwelt mit ihrem gestrengen Belohnungs- und Straftarif unser gotisches Ringen um die Erlösung in Christus vergessen und ist es am Ende kein Zufall, was Kerssenbroch von der Zerstörung der Münsterer Kathedralen berichtet; dass man dabei alle Christusbilder zerstörte, während man alle Bilder von Juden und jüdischen Königen verschonte?

Es ist kein Zufall. Es sind 1534 noch keine sechzig Jahre her, dass der unbekannte Meister des Peringstörffer Altars die Vision des Heiligen Bernardus malte, und auf den Knien vor dem Gekreuzigten lag die sündige Kreatur und schrie und rang mit dem gemarterten 72 Gott, bis er dennoch vom Kreuz sich löste und niedersank in die fleischernen Arme des Menschen. Dies ist, wie gesagt, noch nicht ganz sechzig Jahre her, und diese sechzig Jahre überbrücken eine ähnlich umwälzende Zeitwende, wie die Zeit um 1789 eine ist oder – wie wir sie, die Renaissance abschliessend, eben mit ganz anderen Zielen und anderer Willensbildung erleben. Die Gotik hatte ein Kollektiv, aus dem die Dome wuchsen, und dieses Kollektiv ging um Gott – der Renaissancemensch, von der höheren Hand für vierhundert Jahre zum Herrn des Erdballs bestimmt, gründet sich auf die eigene Diesseitigkeit, und auf diesem Boden wächst alles, was wir hier erleben: die ideologische Notwelt der ›guten Werke‹, jene vereiste Tugendhaftigkeit, die wir gleichzeitig bei dem Zeitgenossen Calvin, und zweihundertfünfzig Jahre später bei Calvins jüngstem Nachfahren finden, der da Robespierre heisst und schliesslich paradoxerweise um der Tugend willen das Leben selbst vernichten wird. Das alttestamentlich verbrämte Kollektiv von Münster, aus der Abkehr von der deutschen Mystik geboren, zeigt frühzeitig alle jene Symptome, die sich aus der Verdiesseitigung des Lebens ergeben. Nicht zuletzt auch den terroristischen Machtanspruch des Massenmenschen, nicht zuletzt die ihm eigene Geistesfeindlichkeit und den herostratischen Hass gegen alle Tatsachen, die sich seinem Machtanspruch und der 73 Unfehlbarkeitslehre des Magen-Darm-Kanals entziehen. Der Abstand, der jenen geheimnisvollen Peringstörffer Meister von den münsterischen Täufern trennt, ist, obwohl zwischen ihm und ihnen nur wenige Jahrzehnte liegen, ungleich gewaltiger, als der vierhundertjährige, der sich zwischen dem münsterschen und dem moskauischen Zion mit seiner BesboschnitschestwoBesboschnitschestwo = die bolschewistische Gottlosigkeit. spannt. Als die Täufer das Diktat der guten Werke und der Tugendhaftigkeit aussprachen und an die Stelle des Meister Eckhart das Buch der Richter setzten, da verleugneten sie jenen heldisch-frommen Mut zum Torso und zum Evangelium des Unvollendbaren, das gerade in den prangendsten Früchten des mittelalterlichen Geistes immer als Kern gefunden werden wird. Wir aber mussten wohl zweihundert Jahre durch die Lauge des Encyklopädismus waten, ehe von neuem uns diese Erkenntnis zu dämmern begann.

So also verhält es sich damals in Münster. Da die Stadt sich nicht wie ein gleichgiltiger Stein heraushebeln lässt aus den damals im Grunde noch immer gotischen Mauern des Reiches, so holt das Reich zum Schlage aus, und da man von den Stadtmauern aus seine drohend erhobene Faust sieht, so wappnet man sich eifrig. Als wir aus den geplünderten Kirchen die Märtyrergebeine auf die Friedhöfe schleppten und für 74 den Staatsschatz die goldenen Geräte beschlagnahmten, da holten wir uns zur Panzerung der Bastionen auch die Grabplatten der toten Bischöfe, da gossen wir (genau wie 1793 die Schänder der Königsgruft von St. Denis) ihre bleiernen Särge zu Kugeln um, da gruben wir auch (genau wie später die Pariser Sansculotten) in den Friedhöfen und Ställen und Abortgruben nach Salpeter, da bauten wir endlich in den leeren Kirchen Pulvermühlen und Geschützgiessereien und fertigten Kriegsmaschinerien selbst in jenen schönen Häusern am Prinzipalmarkt, wo unsere Richter und Propheten wohnen und unser Jan Bockelson – der zweite Heilige nächst Matthys – vom Hause des Herrn Melchior von Büren Besitz ergriffen hat.

Denn es ballen sich nun vor unseren Mauern des Bischofs Gewalthaufen, und mit so schweren Kriegssteuern schröpft er nun seine Hintersassen, dass es im August in Bocholt zu Unruhen kommen wird. Er beginnt die Belagerung, indem er rings um die Wälle sozusagen eine zweite Festung errichtet, und zuerst fünf, später gar sieben Gegenwerke mit Geschütz und Bastionen anlegt. Seine Landsknechte, die keineswegs gut diszipliniert sind und aus purem Mutwillen beim Anmarsch zwei Plettenbergische (also feudale!) Familiengüter verbrennen, lachen beim Anmarsch über das kleine Münster und meinen wohl etwas voreilig, ›es sei ein solch klein Dörflein doch nicht soviel 75 Kriegsmaschinen und solch mageres Süpplein doch nicht soviel Feuer wert‹ . . . sie sagen's und haben sich doch ein wenig verrechnet, die frommen Knechte: gleich in den allerersten Tagen gibts einen blutigen Ausfall, bei dem sie auf dem Felde viele Tote und in der Städter Hand einen ihrer Trommler lassen, dessen abgehauener Kopf dann nebst seinem Instrument prompt auf dem Walle erscheint . . .

Noch gibt es zwischen hüben und drüben alle die etwas derben und doch beinahe jungenhaften Begrüssungszeremonien, mit denen das Mittelalter solche langen Belagerungen gern begann – Münster hat ein sorgfältig verpichtes Weinfass nicht etwa mit Wein, sondern mit ganz anderer und wenig appetitlicher Ware gefüllt und es wohl verspundet, es schickt nun das Angebinde, sozusagen mit einem schönen Gruss, ins bischöfliche Lager hinüber . . .

Wo man denn das Fass, begierig auf den Wein, zerschlägt und vor der ›Blume‹ sich tagelang hinterher die Nase zuhalten muss.

Innen aber, in den Mauern der Heiligen Stadt, da geht es freilich sehr viel ernsthafter zu, und Münster bläst gewaltig die Backen auf. Es wird wohl eine harte Katzbalgerei geben mit diesen rabiaten Heiligen. Kibbenbrock und Knipperdolling haben eine gewaltige Rede gehalten und haben dabei vorerst weniger an die täuferische Ideologie, als eben an den münsterischen 76 Lokalpatriotismus und vor allem an die der Zeit bereits eigene Abneigung gegen ›grosse Hansen‹ appelliert.

Denn wer ist schon dieser Bischof? Wie alle seines Zeichens ein feudaler Herr, der die Ahnenprobe bestanden, in der Wiege schon Städtertum und städtische Freiheiten gehasst hat und kaum nur um der Lehre willen zu Felde zieht, und, wie alle seiner Art, ja doch nur an eure Freiheiten tasten will . . .

Man kann wohl sagen, dass diese bürgermeisterlichen Reden just so wirken, wie die, die in ganz ähnlicher Lage 1792 in Paris gehalten werden, als auf den Vogesenpässen die Preussen stehn. Münster organisiert seine Heerhaufen, wählt Hauptleute und Fähndriche, es verbittet sich, nachdem es in seinem rabiaten Puritanismus schon vorher alle Flöten und Geigen und Lauten und Lottospiele und Pochbretter zerbrochen hat, allen Ernstes bei seinen Truppen die gottlosen Pfeifen und Trommeln, und erst durch sachgemässe Zitierung des Alten Testamentes und einen ernsthaften Hinweis auf Davids Harfe und die Posaunen von Jericho gelingt es den Behörden, den städtischen Gewalthaufen ihre Feldmusiken zu erhalten. Münster gibt, wie einst schon Carthago, in diesen Tagen auf seinem winzigen Bezirk ein erstes Beispiel für den ›totalen Krieg‹, indem es die Knaben und sogar die Weiber zu Schiessübungen heranzieht, die Mädchen 77 im Sieden von Pech und Herabschütten von ungelöschtem Kalk unterweist und der ganzen Bevölkerung, klein und gross und alt und jung, Alarmplätze auf den Wällen anweist und jedweden Ungehorsam mit dem Tode bedroht.

Wir haben nun einen Feuerlöschdienst, dem niemand sich entziehen darf, wir haben als Vorläuferin der Pariser Lärmkanone auf unseren Wällen eine vom Feinde leider recht häufig angeschossene Alarmglocke riesigen Ausmasses, wir halten auch öffentliche Belobigungen bereit für die Erfindung neuer Kriegsmaschinen und haben leider nur mit einer solchen Neuerung, einem Mittelding zwischen Lasso und Wurfmaschine, rechtes Malheur: die Bischöflichen nämlich, als das Ding zum ersten Male geschleudert wird, sind, statt sich zu fürchten, unverschämt genug, auf dem Lasso, das sie doch fangen sollte, mit ihren gottlosen Füssen herumzutreten und uns ausserdem noch auszulachen.

Inzwischen, während wir Schanzen bauen, fordern wir die Bürger auf, eifrig auf Verräter in ihrer Mitte und auf Feinde des Gottesreiches zu achten, und als wir inzwischen alle Wappen und Gedenktafeln und alle sonstigen Erinnerungen an die alte Zeit zerhämmert und endlich auch die gottlose Dombibliothek nebst allen erreichbaren alten Urkunden verbrannt haben, da erlässt der von Gott selbst zu uns gesandte Prophet Jan Matthys (›ein groet langh man un hadde 78 einen groten swarten bart un was ein Hollender‹, nach Gresbeck) . . . item, da erlässt also unser Hohepriester eine Verordnung, die zum Umsturz aller gewohnten Begriffe nachgerade noch gefehlt hat: er beschlagnahmt alles in Privathänden befindliche Edelmetall und auch alles gemünzte Geld. Und bei dieser Massnahme gibt es zum ersten Male so etwas wie ein Aufbegehren in der Heiligen Stadt.

Irgendein Schmied, der bei den berichtenden Zeitgenossen hie und da Truteling, meist aber Hupert Rüscher genannt wird, hat sich lange über die ewigen Plackereien beim täglichen Wachtdienst geärgert, hat, nachdem er früher den Bischof ankrakeelt hat, die nunmehrige Beschneidung der persönlichen Freiheit benörgelt und dabei schamloserweise behauptet, unser Prophet sei, wenn überhaupt einer, so jedenfalls ein ›propheta cacans‹ . . . ein Scheissprophet zu Deutsch, und es möge an ihn, einen unwissenden Bäckergesellen aus Holland, glauben, wer da wolle, er, der Schmied, glaube jedenfalls nicht an ihn . . .

Diese Aeusserung fällt beim Kartenspiel in der Wachtstube, die es hören, schweigen betreten, und da unter ihnen natürlich ein paar gesinnungstüchtige Denunzianten sind, erfährt es innerhalb vierundzwanzig Stunden ›de langhe man mit den swarten barth‹, den man eben so beschimpft hat. Und da steht es denn freilich schlecht um unseren Schmied.

79 Denn wohin soll es auch führen, wenn in dem neuen Zion der von Gott selbst gesandte Prophet mit solchen Worten apostrophiert wird und man ihn ungestraft einen Scheisspropheten nennen darf ? Der Schmied also wird verhaftet und krumm geschlossen, der Prophet hält auf dem Domplatz vor einer Versammlung der ganzen Gemeinde eine furchtbare Strafpredigt, lässt den Gefesselten, der jämmerlich zittert, in die Mitte des Versammlungsringes schleifen, nennt ihn einen Gottlosen und Friedensstörer und Brecher des Heiligen Bundes, der ausgerottet werden müsse.

Was das bedeutet, ahnt wohl jeder, der neulich neben der Trommel den Kopf des gefangenen Landsknechtes auf den Wällen sah . . . er ahnt es, zumal nun auch Bockelson, vorerst der zweite Heilige, zu schreien beginnt und mit einer Hellebarde herumfuchtelt. Tilbeck und Redeker, in denen nun wohl endlich ein wenig münsterische Lokalopposition gegen die beiden hergelaufenen Holländer erwacht, legen sich ins Mittel, werden aber, da mittlerweile auch der Prophet selber einen neuen Wut- und Schreianfall bekommt, von Matthys' Tappedürs, ohne die der streitbare Mann sich selten zeigt, ihrerseits verhaftet und abgeführt. Da nun aber die Bahn frei ist für weitere Entladungen, sticht Bockelson mit seiner Hellebarde tapfer auf den Gefesselten ein, kann ihn zu seinem Leidwesen nicht recht durchbohren, nimmt die Büchse, schreit, ›dass die 80 Gnadentür geschlossen sei‹, nimmt eine Hakenbüchse und schiesst dem Mann, der jämmerlich schreit und um sein Leben bittet, durch den Leib.

Tödlich verwundet wird der Schmied in sein Haus gebracht, bei dem Propheten selbst aber schlägt nach diesen Ejakulationen der Roheit und des Blutdurstes die Stimmung plötzlich um. Bockelson nämlich besieht sich den Verwundeten, ruft plötzlich, als habe er eine neue Eingebung: ›Er genest‹, und schenkt ihm daraufhin grossmütig das Leben. ›Aber‹, berichtet Gresbeck, ›in dem achten dage war der borger doed.‹

Das aber, liebe Brüder, ist erst der Anfang des Terrors. In Münster wagt seither niemand mehr, zu murren und aufzubegehren. Und die verlassenen Häuser der Emigranten haben wir natürlich längst beschlagnahmt, samt allem Geschmeide und zurückgelassenem Hausrat . . . nun aber, wo den unglücklichen Schmied unser Blitz getroffen hat und wir auch den in der Stadt Verbliebenen die Ablieferung ihres Bargeldes und ihres Edelmetalls zumuten, nun bekommen wir in unserem im Rathaus aufgestapelten Staatsschatz tatsächlich so ziemlich alles zusammen, was an wirklichen Werten in der Stadt liegt. Will es aber dem Menschen von heute nur schwer eingehen, dass ein hergelaufener Unterweltler von heute auf morgen und ohne Widerspruch eine wohlhabende Stadt ausplündern konnte und dass dies alles am Ausgange der mittelalterlichen 81 Welt mit ihren strengen Unterschieden zwischen mein und dein und der für den simplen Diebstahl bereitgehaltenen Todesstrafe geschah, so bedenke man, dass zweihundert Jahre zuvor, wenngleich ohne Zion und ohne Propheten, in Nürnberg sich ganz ähnliche Zustände anbahnten. Dass man auch dort die Grossbürger vor die Stadt trieb, dass innerhalb der Mauern von der Armut der ersten Christen und auch der alte Irrwahn von der Gleichheit aller Menschen gepredigt wurde. Und dass Nürnberg damals so etwas wie eine christlich fundierte Generalprobe zur Pariser Kommune war und dass es einer mehr oder minder getarnten Reichsexekution bedurfte, um die alten Zustände der städtischen Oligarchier wieder herzustellen. War es also in Münster nicht genau so, dass hier in einer wirren und turbulenten Zeit nur etwas an die Oberfläche drängte, was unter ihr zu allen Zeiten geschlummert hat?

Hier geht jedenfalls nach dem Tode des Schmiedes (der übrigens bei dem berühmten Telgter Ueberfall auf den Bischof einer der Hauptschreier gewesen sein soll!) alles glatt, und selbst die goldenen, mit Emaille verzierten Knöpfe, die man damals an den Gewändern trug, werden erfasst. ›Knöpff ab dem mentlen, ring ab den krägen‹, heisst es in einem alten Akt. ›Auch kunden sie nichts verborgen halten / denn es waren zwey medlin da, vom Teuffel besessen / die verrieten / was 82 man verborgen hatte.‹ Und Gresbeck, der solche ungemütlichen Zustände von der neuen Religion sicherlich nicht erwartet hatte, vollendet diesen empörten Bericht: ›Wo sie einen wies konden werden / der sein gelt / silver oder golt / hadde beholden / den strafden und heven irer ein deil die kepf af / dat do niemante nicht beholden dorste.‹

Im übrigen hat der Prophet Gesichte und Visionen, in denen Gottes Stimme ihn als den berufenen Verwalter des also zusammengetragenen Schatzes bezeichnet, und da es Gott dem Allmächtigen ausserdem gefällt, durch die gleiche Befehlsübermittelung die Bürger Kohues, Grueter, Kruse und Reyninck namentlich aufzurufen, so sehen wir fortan die genannten Herren als Diakonen des Amtes walten, die Bedürftigen besuchen und sie aus dem Ueberfluss der geflüchteten Reichen versorgen. Welche anfänglich sehr eifrige Fürsorge ja leider nicht von Dauer ist, da die Bürger, des göttlichen Auftrags vergessend, allmählich in ihrem Eifer erlahmen und es mit den Stadtarmen bald ebenso jämmerlich steht wie zuvor.

Im übrigen aber wird fleissig rationiert im neuen Zion. Nun haben wir auch eine strenge Bestandsaufnahme der vorhandenen Nahrungsmittel angeordnet, die alle Butter, alle Speckseiten, alle Rinder, Schweine und Hühner sogar erfasst, leider aber von keiner Reglementierung des Verbrauches gefolgt ist, da wir als 83 geborene niederdeutsche Fleischesser schon im ersten Jahre unseres Gottesreiches über tausend Rinder nebst den entsprechenden Massen an Fett, Butter und Eiern vertilgen, da ausserdem die Wallbesatzungen die guten, wenn ja leider auch etwas übelriechenden Salzheringe fortzuwerfen belieben, was sie später bitterlich bereuen werden. ›Met der tid‹, berichtet Gresbeck, ›hedden sie den heringk wol getten / den sie irst nicht mochten.‹ Und weil im ersten Jahr aus dem vollen gelebt wird, so sind auch die Tische unserer gemeinsamen Liebesmahle, von denen bald die Rede sein wird, bald etwas dürftig besetzt, und ›do moist ein jeder to huiss gain etten / der wat hadde. Mehr tho huiss hedden die nicht viel. Sie hedden ein ieder das sein genommen und konden nicht widderkriegen / do der hunger begunnt tho kommen.‹

So verhielt es sich mit der Lebensmittelrationierung und mit den gemeinsamen Mahlzeiten, die unter grünen Bäumen eingenommen werden und bei denen dann ein Kind ein Kapitel aus dem Testament, aus dem alten natürlich, verlesen muss. Mäkler werden nicht geduldet und Säufer schon ganz und gar nicht. Als zum Beispiel der Hauptmann ›Gert de Smoker‹, der von den Bischöflichen zu uns übergelaufen ist und seinen Beinamen von den ersten Zigarren hat, die er raucht und die vor vierzig Jahren Kolumbus in Amerika (sie waren damals beinahe ellenlang und gut und gern 84 zweifingerdick) vorgefunden hat . . . item als dieser an sich schon etwas schwer zu bändigende Hauptmann in einer Kneipe über den frühen Schankschluss krakeelt und die Wirtin gar eine Hure nennt und dem Wirt mit dem Bierkrug auf den Schädel schlägt, da fesseln wir ihn nebst seinen Saufkumpanen an die Linde auf dem Domplatz und erschiessen ihn. Ordnung muss eben sein, so will es der Prophet mit dem langen schwarzen Bart, und so wollen es die zwölf Aeltesten, die wir inzwischen als Senat gewählt haben und die im Rathaus nie tagen, ohne dass auf dem Tische das Testament, natürlich das alte, aufgeschlagen liegt: diese zwölf Gewaltigen, unter denen nun auch schon unser Jan Bockelson und der ebenfalls aus der Fremde zu uns gewanderte Heinrich Krechting sind.

Ein strenger Rat, Gott weiss es! Dass niemand hinfort sich noch unterstehe, seine Haustür nachts abzuschliessen – darf es denn etwa solch ein Ding wie Misstrauen geben unter den Kindern Gottes? Und dass niemand es wage, auch nur einen einzigen Band zurückzubehalten, als wir im März alle Bücher, mit Ausnahme der Bibel, beschlagnahmen und sie öffentlich auf dem Markte verbrennen – darf es denn noch eine andere Lektüre geben als die der Heiligen Schrift, und ist nicht jedes andere BuchMünster scheint, gemessen an der Zeit, immerhin recht zahlreiche Bibliophile beherbergt zu haben, da Kerssenbroch den Wert der damals verbrannten Bücher auf 20 000 Goldgulden bemisst. Teufelswerk? Und wie, ihr Männer, 85 lieben Brüder, steht es eigentlich mit denen unter uns, die nicht aus freien Stücken, sondern erst nach Antritt unserer Herrschaft und unter unserem Druck und nur in ihrer erbärmlichen Angst um ihr Gut und Leben sich haben taufen lassen?

Die also sperren wir in die Lambertikirche, wo Jan Matthys ihnen furchtbar den Kopf wäscht, den nur aus Zwang Getauften Gottes Zorn und grimmen Tod ankündigt für den Fall, dass Gott ihnen nicht vergeben sollte, was er dem Bäckermeister aus Harlem in einiger Zeit persönlich mitteilen wird . . .

Mit welcher Mitteilung der Prophet sich denn wieder empfiehlt, die Kirchentür von aussen verschliesst und die Leute für sechs Stunden in entsetzlicher Todesangst allein lässt: Schreien und Heulen ist in der Kirche. Als aber nach sechs Stunden Matthys mit seinen Tappedürs wiederkommt, wirft er sich nieder, konferiert einige Minuten mit Gott, springt auf und kündigt den Zitternden die Vergebung des Vaters an.

Noch, so lange der schreckliche Schwarzbart lebt, ist es wenigstens ein halbwegs sauberes Gebilde, der Embryo einer modernen Räterepublik auf puritanischer Basis, mit der, wäre die Lehre von der Wiedertaufe nicht gewesen, auch ein Mann wie Calvin vielleicht ganz einverstanden gewesen wäre. Vor allem aber: ein Knallgasgebläse von guten Werken und von Trefflichkeit, ein mons sacer von guter Gesinnung und 86 Humorlosigkeit, obwohl Luther doch gerade in jenen Jahren gesteht, dass er mit einem lieben Gott, der nicht auch Spass verstünde, nichts wolle zu tun haben und obwohl doch auch ein Mann wie Matthys einmal als Kind in einer Wiege gelegen und nach einem Sonnenkringel gehascht hat. Vielleicht aber ist Humor wirklich nur eine Pflanze, die nur in fetten und satten Staaten gedeiht, nicht aber in einer Stadt der Häresien, gegen die nun das halbe Reich zu Felde zieht . . .

Münster aber glaubt keineswegs an einen Gott, der Spass versteht, der seine haust in den Wolken des Sinai und straft der Väter Sünden bis ins dritte und vierte Glied, und da Münster so tugendhaft ist und an Tugendhaftigkeit seinen Gott womöglich noch zu überbieten sucht, so erwartet es mit der Strafe nicht erst das dritte und vierte Glied, sondern fängt gleich beim ersten und bei den in flagranti ertappten Sündern selbst an und ernennt in einer seiner seltsamen Launen (damit hoch niedrig werde und der Patrizier und Bürgermeister das Handwerk des Henkers auf sich nehme) Knipperdolling zum Staatsscharfrichter und stattet ihn mit der Vollmacht aus, alle auf frischer Tat Ertappten ohne Gericht sofort zu köpfen: da also sieht man ihn, begleitet von vier Gewaltigen, mit geschultertem Schwert durch die Strassen ziehen und nach Opfern suchen.

87 An Opfern aber wird es ihm bestimmt nicht fehlen, da wir unsere Bürger nunmehr mit einer wahren Stichflamme von Gesetzen und Verordnungen beglücken. Denn die Ephoren und Aeltesten, die wir im Februar wählten, die haben nunmehr den Codex veröffentlicht, nach dem der Bürger des Gottesstaates zu leben hat, und weit besser als aus den über die Mauer ins feindliche Lager geworfenen Traktätchen kann man aus ihm die wunderliche Welt erkennen, die man hier hinter den Stadtmauern sich geschaffen hat. Auf Gotteslästerung also steht Todesstrafe, und Todesstrafe demgemäss, da es sich ja um von Gott selbst berufene Beamte handelt, auf Kritik, die man an den Behörden übt. Den Kopf verliert, wer den Eltern nicht gehorcht, den Kopf verliert der ungehorsame Hausknecht und die maulende Köchin. Der Teufel holt den, der ›mit einem Trick‹ fischt, er holt ihn sogar, wenn er ein anderes als das in Münster übliche Gewand anlegt, und wer etwa bei der Erhebung der Lebensmittelvorräte eine Mandel Eier verschweigt, soll Knipperdollings Hand auf seiner Schulter fühlen. Das Schwert bedroht den Ehebrecher, das Schwert wartet auf alle, die nicht peinlich jene ein wenig heiklen hygienischen Gebote des Alten Testamentes über die Beziehungen der beiden Geschlechter befolgen, das Schwert trifft die alte Klatschbase und das Marktweib, das über die schlechten Zeiten mit der Nachbarin herumraunzt. Und 88 fassungslos mag man fragen, wer nach Einführung dieses Straftarifes in Münster überhaupt noch am Leben blieb und die Tore wieder offen und den Frühling sah, ohne dass die Menschen sich selbst peinigten mit ihren Sorgen um einen Gott, der am Ende auch ohne solchen Strafkatalog auszukommen gewillt ist . . .

›Wer sich nun mit diesen und ähnlichen, den heilsamen und gesunden Lehren Jesu Christi widrigen Sünden befleckt, der soll mit Bann und Schwert durch die von Gott gesetzte Obrigkeit aus dem Volke Gottes ausgerottet werden. Offenbarung XXII, Selig sind, die seine Gebote halten und zu den Toren eingehen in die Stadt, draussen aber sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Totschläger und die Abgöttischen und alle, die die Sünde lieben und tun.‹ Das steht unter der Verordnung. Denn Bibelsprüche und himmlische Visionen haben wir ja immer zur Hand, um unsere Massnahmen zu begründen, wenn sie auch aus einer alten behäbigen Stadt das letzte Restchen an Lebensfreude und an unbefangenem Lachen austilgen . . . steht etwas von Lachen und Lebensfreude in den eifernden und blutigen Schriften, die wir zum Staatsgrundgesetz gemacht haben?

So steht es mit Münster, als der ›grosse Mann mit dem schwarzen Bart‹ sein Prophet ist. Es rechte, wer da mag . . . es rechte, wer da will, auch mit den Paroxysmen und den Greueln des Bauernkrieges just 89 so, wie jemand mit den Phantasien eines Fieberkranken rechten mag.

Es hat doch der Himmel seine unabänderlichen Gewitter, es bebt, wenn es gerade so sein muss, selbst die festgegründete dauernde Erde – sollen wir es da erwarten, dass die Völker ihre Schicksalswenden erleben ohne Fieberdelirien und Raserei?

Es ist just uns bestimmt worden, den Ablauf jenes ›Renaissance‹ genannten Prozesses zu sehen, der damals begann, es ist heute uns bestimmt, zurückzuschauen auf einen grandiosen Versuch der Menschen, ohne Götter leben zu wollen, und vier Jahrhunderte erfüllten sie mit Getöse, und jetzt erst sehen wir, wie die Nachdenklichsten unter uns sich abkehren von diesem Versuch und zurückkehren zu den frommen Geboten ihrer alten Erde.

Da es nun so ist und da in solchem Aspekt unsere Augen sich soweit geöffnet haben: müssen nicht gerade wir ermessen, wie furchtbar die Deutschen in Fieber rasen mussten, als sie vor vierhundert Jahren hervortraten aus ihren Wunderwäldern und es müde waren, Dome zu bauen, die keines Menschen Hand vollenden konnte? 90

 


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