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3. Wesen, Entstehung und Ausbreitung der Kultur.

Aber was ist nun das Wesen des Unterschiedes, der die Natur- und Kulturvölker auseinander hält? Die Entwickelungstheoretiker treten uns bei dieser Frage keck entgegen und erklären sie für längst abgethan; denn wer könne zweifeln, daß die Naturvölker »die ältesten noch zu Tage stehenden Schichten der Menschheit« seien? Sie seien Reste der kulturlosen Perioden, worüber andere Teile der Menschheit, die sich im Kampfe um das Dasein zu höherer Begabung emporgerungen und sich reicheren Kulturbesitz erworben hätten, längst hinausgeschritten seien. Dieser Annahme gegenüber erheben wir die Frage: Woraus besteht denn dieser Kulturbesitz? Die Vernunft, von allem die Grundlage, ja die Quelle von allem, ist sie nicht Allgemeingut der Menschheit? Der Sprache und Religion muß man den Vorrang als gewissermaßen edleren Äußerungen vor den anderen geben und sie näher an die Vernunft anschließen nach jenem schönen Worte Hamanns: »Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion und ohne diese drei wesentlichen Bestandteile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft.« Gewiß ist, daß die Sprache einen unabsehbar mächtigen Einfluß auf die Heranbildung des menschlichen Geistes geübt hat, und nicht minder sicher faßt die in irgend einem Grade überall verbreitete Religion der kulturarmen Völker alle Keime in sich, die später den herrlichen, blütenreichen Wald des Geisteslebens der Kulturvölker bilden sollen. Sie ist Kunst und Wissenschaft, Theologie und Philosophie zugleich, so daß es nichts von noch so ferne her auf Ideales Hinstrebendes in diesem armen Leben gibt, das nicht von ihr umfaßt würde. Von den Priestern dieser Völker gilt es im wahrsten Sinne des Wortes, daß sie Bewahrer der göttlichen Geheimnisse sind. Die später wachsende Ausbreitung dieser Geheimnisse durch das Volk hin, die Popularisierung im größten Sinne, ist aber das deutlichste und tiefstreichende Merkmal des Kulturfortschrittes.

Was die politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen anbelangt, so bemerken wir in den Naturvölkern sehr große Unterschiede des Kulturbesitzes; wir haben also bei ihnen nicht nur die Anfänge, sondern auch einen sehr großen Teil der Fortentwickelung der Kultur zu suchen, und es ist ebenso sicher, daß jene Unterschiede weniger auf abweichende Begabung als auf große Verschiedenheit der Entwickelungsbedingungen zurückzuführen sind. In der Entwickelung hat aber der Austausch seine Rolle gespielt, und unbefangenen Beobachtern ist oft angesichts der Dinge selbst mehr Übereinstimmung als Unterschied entgegengetreten. »Es ist erstaunlich«, ruft Chapman bei Betrachtung der Sitten der Damara aus, »welche Ähnlichkeit in den Sitten und Handlungen der menschlichen Familie über die Welt hin herrscht! Selbst die Damara üben hier Gebräuche, die ganz mit denen der Neuseeländer übereinstimmen, wie das Ausschlagen der Vorderzähne und das Abschneiden des kleinen Fingers.« Da nun das Wesen der Kultur einmal in der Anhäufung einer Masse von Erfahrungen liegt, dann in der Festigkeit, womit diese erhalten werden, und endlich in der Fähigkeit, sie fortzubilden oder zu vermehren, so heißt die erste Frage: Wie ist es möglich, daß sich die erste Grundbedingung der Kultur, nämlich die Anhäufung von Kulturbesitz in Form von Fertigkeiten, Wissen, Kraft, Kapital, verwirkliche? Man ist längst einig darüber, der erste Schritt dazu sei der Übergang aus der vollständigen Abhängigkeit von dem, was die Natur freiwillig darbietet, zur bewußten Ausbeutung ihrer für den Menschen wichtigsten Früchte durch eigene Arbeit, besonders in Ackerbau oder Viehzucht. Dieser Übergang eröffnet mit Einem Schlage alle die entferntesten Möglichkeiten der Kultur; dabei ist allerdings zu bedenken, daß es noch sehr weit von dem ersten Schritte bis zu der nur heute erreichten Höhe ist.

Der Geist des Menschen, also auch der Geist ganzer Völker zeigt weites Auseinandergehen sowohl wegen verschiedenartiger Begabung als auch wegen der verschiedenen Wirkungen, die äußere Umstände auf ihn üben. Hauptsächlich schwankt der Grad des inneren Zusammenhanges und damit der Festigkeit oder Dauer des geistigen Besitzes. Die Zusammenhangslosigkeit, das Auseinanderfallen dieses Besitzes charakterisiert ebenso entschieden die tieferen Kulturstufen wie sein Zusammenhalt, seine Unentäußerbarkeit und seine Wachstumskraft die höheren. Wir begegnen auf tiefen Stufen einer Armut der Tradition, die diesen Völkern weder gestattet, sich selbst ein Bewußtsein ihrer früheren Schicksale für irgend beträchtliche Dauer zu erhalten, noch auch den geistigen Besitz durch die Erwerbungen einzelner hervorragender Geister oder durch Aufnahme und Pflege von außen kommender Anregungen zu stärken und zu mehren. Hier, wenn nicht alles trügt, liegt der Grund der tiefstgehenden Verschiedenheit der Völker. Man scheint ihn zu streifen, wenn man geschichtliche und geschichtslose Völker einander gegenüberstellt. Sind aber geschichtliche Thaten für die Geschichte deshalb verloren, weil sie die Erinnerung der Geschichtschreibung nicht aufbewahrt? Das Wesen der Geschichte besteht im Geschehen selbst, nicht in Erinnerung und Festhaltung von Geschehenem. Wir wollen lieber diese Verschiedenheit in den Gegensatz atomisierten und organisierten Volkstums zurückleiten, weil der innere Zusammenhang den tiefsten Unterschied zu bezeichnen scheint, den es auf dem Gebiete geschichtlicher That, also hauptsächlich auf dem geistigen Gebiete, gibt. So wie die gesellschaftliche und staatliche ist auch die geistige Geschichte der Menschheit in erster Linie ein Fortschreiten aus der Zersplitterung zum Zusammenwirken; und zwar ist es die äußere Natur in erster Linie, woran sich der menschliche Geist erzieht, indem er sich zu ihr in ein erkennendes Verhältnis zu setzen strebt, dessen letztes Ziel der Aufbau eines geordneten Abbildes der Natur in seinem Inneren ist, d. h. die Schaffung der Kunst, der Poesie, der Wissenschaft.

Nach Rassenzugehörigkeit so verschieden wie möglich, bilden die Naturvölker keine Völkergruppe in anatomisch-anthropologischem Sinne. Da sie an den höchsten Kulturgütern der Menschheit in Sprache und Religion teilnehmen, darf man ihnen auch nicht ihre Stelle an dem Grunde des Stammbaumes der Menschheit anweisen oder ihren Zustand als Urzustand oder Kindheitszustand auffassen. Es ist ein Unterschied zwischen der rasch reifenden Unreife des Kindes und der geringen Gereiftheit des in manchen Beziehungen stehen gebliebenen und stillestehenden Erwachsenen. Was wir Naturvölker nennen, ist diesem letzteren nahe, jenem fern. Wir nennen sie kulturarme Völker, weil innere und äußere Verhältnisse sie gehindert haben, solche dauernde Entwickelungen auf dem Gebiet der Kultur zu vollenden, wie sie Kennzeichen der wahren Kulturvölker und Bürgen des Kulturfortschritts sind. Doch würden wir nicht wagen, sie kulturlos zu nennen, da die primitiven Mittel zum Aufschwung auf höhere Stufen: Sprache, Religion, Feuer, Waffen und Geräte, keinem fehlen, und gerade der Besitz dieser Mittel und vieler anderer, worunter hier nur Haustiere und Kulturpflanzen genannt sein mögen, zahlreiche und mannigfaltige Berührungen mit echten Kulturvölkern bezeugt.

Ursachen, warum sie diese Gaben nicht nützten, gibt es mancherlei. Geistige Minderbegabung pflegt in erster Linie genannt zu werden. Das ist bequem, aber mindestens nicht billig. Innerhalb der heutigen Naturvölker ist jedenfalls eine große Verschiedenheit der Begabung vorhanden. Doch darf man gelten lassen, daß sich im Laufe der Kulturentwickelung auch die um weniges höher begabten Völker mehr und mehr der Kulturmittel bemächtigt und ihrem Fortschritt Stetigkeit und Sicherheit angeeignet haben, während minder begabte zurückblieben. Aber die äußeren Verhältnisse sind hinsichtlich ihrer hemmenden oder fördernden Einwirkung deutlicher zu erkennen und abzuschätzen; sie zuerst zu nennen ist gerechter und logischer. Wir begreifen, warum die Wohnplätze der Naturvölker hauptsächlich an den äußersten Rändern der Ökumene, in den kalten und heißen Gegenden, auf abgelegenen Inseln, in abgeschlossenen Gebirgen, in Wüsten gefunden werden. Wir verstehen ihre Zurückgebliebenheit in Erdteilen, die für die Entwickelung des Ackerbaues und der Viehzucht so wenig Mittel darboten wie Australien, die Nordpolarländer und die nördlichsten und südlichsten Teile von Amerika. In der Unzuverlässigkeit unvollkommen entwickelter Hilfsquellen sehen wir eine Kette, die ihnen schwer am Fuße hängt und ihre Bewegungen in einen engen Raum bannt. Ihre geringe Zahl folgt daraus; und daraus wieder ergibt sich die geringe Gesamtmasse ihrer geistigen und körperlichen Leistungen, die Seltenheit hervorragender Menschen, die Abwesenheit des heilsamen Druckes, der auf Thätigkeit und Vorsicht des Einzelnen von den ihn umgebenden Massen ausgeübt wird und wirksam ist in der Schichtung der Gesellschaft in Stände und der Beförderung heilsamer Arbeitsteilung. Teilweise folgt aus jener Unzuverlässigkeit der Hilfsmittel auch die geringe Stetigkeit der Naturvölker. Ein Zug von Nomadismus durchdringt sie alle, erleichtert ihnen aber auch die ganze Unvollkommenheit ihrer unsteten politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen, auch wenn sie emsiger Ackerbau an die Scholle zu fesseln scheint. So entsteht trotz der oft reichlich zugemessenen und wohlgepflegten Kulturmittel ein zersplittertes, kräftevergeudendes, unfruchtbares Leben. Ohne inneren Zusammenhang ist dieses Leben auch ohne sicheres Wachstum, es ist nicht das Leben, worin sich die Kulturkeime erst herausbildeten, die wir schon im Beginne dessen, was wir Geschichte nennen, in mehrfacher Zahl herrlich aufgegangen finden, es ist vielmehr voll von Kulturabfällen und unklaren Erinnerungen aus Kulturkreisen, die teilweise weit hinter dem Anfange unserer Geschichte liegen müssen. Sollen wir zum Schlusse kurz zusammenfassend bezeichnen, wie wir die Stellung dieser Völker zu denen auffassen, denen wir angehören, so sagen wir: Kulturlich bilden diese Völker eine Schicht unter uns, während sie nach natürlicher Bildung und Anlage zum Teil, soweit sich erkennen läßt, uns gleich, zum Teil uns nicht fern stehen. Aber diese Schichtung ist nicht so zu verstehen, daß sie die nächst niederen Entwickelungsstufen unter uns bildet, durch die wir selbst hindurchgehen mußten, sondern so, daß sie sich ebensowohl aus stehen gebliebenen als zur Seite gedrängten und rückgeschrittenen Elementen ansammelt und aufbaut. Es ist also ein starker Kern positiver Eigenschaft in den Naturvölkern. Darin liegen Wert und Vorteil ihres Studiums. Die negative Auffassung, die nur sieht, was ihnen im Vergleich mit uns fehlt, ist eine kurzsichtige Unterschätzung.

Mit dem Worte Kultur bezeichnen wir gewöhnlich die Summe aller geistigen Errungenschaften einer Zeit. Indem wir von Kulturstufen, von hoher und niederer Kultur, von Halbkultur sprechen und Kultur- und Naturvölker einander gegenüberstellen, legen wir an die verschiedenen Kulturen der Erde einen Maßstab an, den wir von der Kulturhöhe hernehmen, die wir selbst erreicht haben; denn unsere Kultur ist uns die Kultur. Aber jedes Volk hat geistige Gaben und entwickelt Geistiges in seinem Leben. Jedes nennt eine Summe von Wissen und Können sein, die seine Kultur darstellt. Der Unterschied zwischen diesen »Summen geistiger Errungenschaften« liegt aber nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in ihrer Wachstumskraft. Um ein Bild zu gebrauchen, erscheint uns ein Kulturvolk wie ein mächtiger Baum, der sich jahrhundertelangem Wachstum zu Größe und Dauer über die Niedrigkeit und Vergänglichkeit kulturarmer Völker erhoben hat. Es gibt Pflanzen, die alljährlich hinsterben, und andere, die aus Kräutern kräftige Bäume werden. Der Unterschied liegt in der Erhaltung der Wachstumsergebnisse jedes einzelnen Jahres, ihrer Ansammlung und Befestigung. So würde selbst dies vergängliche Wachstum der Naturvölker, die man auch als Völkergestrüpp bezeichnet hat, Dauerndes erzeugen, jedes neue Geschlecht höher der Sonne entgegentragen und ihm festere Stützen in dem vom vorhergegangenen Geleisteten bieten, wenn in ihm ein Trieb der Erhaltung und Befestigung wirksam wäre. Aber dieser fehlt; und so geschieht es, daß alle jene zu Größerem bestimmten Pflanzen am Boden bleiben und elend verkommen, um Luft und Licht streitend, das sie oben in Fülle genießen könnten. Die Kultur ist ein Erzeugnis vieler Menschenalter.

In der Beschränkung, der räumlichen wie zeitlichen, die ebenso die Hütten, Dörfer, Völker wie die aufeinander folgenden Geschlechter isoliert, liegt die Verneinung der Kultur; in ihrem Gegenteil, im Zusammenschluß der Miteinanderlebenden und dem Zusammenhang der Aufeinanderfolgenden, liegt die Möglichkeit ihrer Entwickelung. In der Vereinigung der Mitlebenden wird die Erhaltung, im Zusammenhang der Generationen die Entfaltung der Kultur gesichert. Kulturentwickelung ist ein Schätzesammeln. Die Schätze wachsen von selbst, sobald erhaltende Kräfte darüber wachen. Auf allen Gebieten menschlichen Schaffens und Wirkens werden wir im Zusammenschluß den Grund jeglicher höheren Entwickelung sehen. Nur durch Zusammenwirken, durch gegenseitige Hilfe, sei es unter Zeitgenossen, sei es von Geschlecht zu Geschlecht, ist es gelungen, die Stufe der Gesittung zu erklimmen, wo die höchsten Glieder der Menschheit jetzt stehen. Von der Art dieses Zusammenschlusses und seiner Ausdehnung hängt dieses Wachstum ab. So haben sich ihm weniger günstig die zahlreichen kleinen, gleichwertigen Verbindungen der Familienstämme erwiesen, wo das Individuum nicht frei wurde, als die größeren, den individuellen Wettkampf befördernden Gemeinden und Staaten der modernen Völker.

Wir bezeichnen als das Wesentliche der höchsten Kulturentwickelung den größtmöglichen und innigstmöglichen Zusammenhang aller Mitstrebenden untereinander und mit den vergangenen Geschlechtern und die daraus sich ergebende größte Summe der Leistungen und Erwerbungen. Zwischen den Extremen liegen alle Zwischenstufen, die wir unter dem vieldeutigen Namen Halbkultur zusammenfassen. Dieser »Halbwegsbegriff« verdient auch einige Worte. Wenn wir in der höchsten Kultur der energischen Bethätigung sowohl der erhaltenden als der weiterbauenden und weiterbildenden Kräfte begegnen, so sind es in der Halbkultur wesentlich jene, die zu größter Thätigkeit aufgerufen werden, während diese zurückbleiben und dadurch die Inferiorität der Halbkultur bedingen. Die Einseitigkeiten und Unvollkommenheiten der Halbkultur liegen auf der Seite des geistigen Fortschritts, während auf der wirtschaftlichen Seite die Entwickelung früher einsetzt. Vor 200 Jahren, als Europa und Nordamerika noch nicht durch Dampf, Eisen und Elektrizität ihren riesigen Aufschwung genommen hatten, versetzten China und Japan durch ihre Leistungen im Ackerbau, Gewerbe und Handel, ja selbst durch ihre heute in tiefen Verfall geratenen Kanäle und Straßen die europäischen Reisenden in das größte Erstaunen. Die Europäer aber und die europäischen Tochtervölker in Amerika und Australien haben in den letzten 200 Jahren diesen Vorsprung nicht nur eingeholt, sondern sind längst darüber hinausgegangen. Hier erkennt man, worin das Rätsel der chinesischen Kultur, ihres Höhestandes und Stillstandes, überhaupt aller Halbkultur liegt. Was anderes als die Lust des freien geistigen Schaffens hat den Westen so weit den Osten überholen lassen? Voltaire trifft den Punkt, wenn er sagt, die Natur habe den Chinesen die Organe gegeben, alles zu finden, was ihnen nützlich sei, aber nicht, darüber hinauszugehen. Im Nützlichen, in den Künsten des praktischen Lebens sind sie groß geworden, während wir ihnen nicht einen einzigen tieferen Blick in den Zusammenhang und die Ursachen der Erscheinungen, keine einzige Theorie verdanken.

Ist dieser Mangel einer Lücke ihrer Begabung entsprungen, oder liegt er in der Starrheit ihrer sozialen und politischen Organisation, die das Mittelmäßige begünstigt und das Geniale niederdrückt? Da er sich in allen Wandlungen ihrer Organisation erhielt, müssen wir uns für die Lücke in der Begabung entscheiden. Daraus allein ist auch die Starrheit ihrer sozialen Gliederung zu erklären. Die entscheidende Antwort kann freilich erst die Zukunft erteilen; denn es wird sich vor allem zu zeigen haben, ob und wieweit diese Völker auf den Kulturwegen fortschreiten werden, die Europa und Nordamerika ihnen so eifrig zeigen. Denn daß sie sie betreten wollen oder müssen, unterliegt längst keinem Zweifel. Man wird aber zur Lösung dieser Frage nicht kommen, wenn man sich auf den Standpunkt der Ganzkultur stellt, die in den Unvollkommenheiten Chinas, Japans etc. Zeichen einer durchgehends niedrigeren Stufe des ganzen Lebens und häufig zugleich Zeichen einer vollständigen Hoffnungslosigkeit aller Aufschwungsversuche erblickt. Sollten in ihnen selbst nur die Fähigkeiten zur Halbkultur liegen, so wird das Fortschrittsbedürfnis durch Zuwanderung aus Europa und Nordamerika kräftigere Organe an die Spitze bringen und langsam die Volksmasse umgestalten. Dieser Prozeß mag manches der heutigen Kulturvölker erst zu seiner Höhe geführt haben. Wir erinnern an die Russen und Ungarn, und daran, daß Millionen von deutschen und anderen Einwanderern diesen Halbmongolen unter den Europäern Förderungen mancher Art geboten haben.

Die Summe der Kulturerrungenschaften jeder Stufe und jedes Volkes setzt sich aus materiellem und geistigem Besitz zusammen. Es ist wichtig, beide auseinander zu halten, da sie von sehr verschiedener Bedeutung für den inneren Wert der Gesamtkultur und vor allem für ihre Entwickelungsfähigkeit sind. Sie werden nicht mit den gleichen Mitteln, nicht gleich leicht, nicht gleichzeitig erworben. Dem geistigen Kulturbesitz liegt der materielle zu Grunde. Geistige Schöpfungen kommen als Luxus nach der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse. Jede Frage nach der Entstehung der Kultur löst sich daher in die Frage auf: Was begünstigt die Entwickelung der materiellen Grundlagen der Kultur? Hier ist nun in erster Linie zu betonen, daß, nachdem in der Benutzung der Mittel der Natur für die Zwecke des Menschen der Weg zu dieser Entwickelung gegeben ist, nicht der Reichtum der Natur an Stoffen, sondern an Kräften oder, besser gesagt, an Kräfteanregungen es ist, der die höchste Schätzung verdient. Diejenigen Gaben der Natur sind für den Menschen am wertvollsten, durch die die ihm innewohnenden Quellen von Kraft zu dauernder Wirksamkeit erschlossen werden. Dies vermag selbstverständlich am wenigsten jener Reichtum oder jene sogenannte Güte der Natur, die ihm gewisse Arbeiten erspart, die unter anderen Umständen notwendig wären, wie die Wärme in den Tropen das Hüttenbauen und das Sichkleiden so viel leichter macht als in der gemäßigten Zone. Vergleichen wir das, was die Natur zu bieten vermag, mit dem, was an Möglichkeiten dem menschlichen Geist innewohnt, so ist der Unterschied gewaltig und liegt vorzüglich in folgenden Richtungen: Die Gaben der Natur sind an sich in Art und Menge auf die Dauer unveränderlich, aber der Ertrag der notwendigsten schwankt von Jahr zu Jahr und ist unberechenbar. Sie sind an gewisse äußere Umstände gebunden, in gewisse Zonen, bestimmte Höhen, an verschiedene Bodenarten gebannt. Der Macht des Menschen darüber sind ursprünglich enge Schranken gezogen, die die Entwickelung seiner Geistes- und Willenskraft zu erweitern, aber nie zu durchbrechen fähig ist. Die Kräfte des Menschen dagegen gehören ganz nur ihm; er kann nicht bloß über ihre Anwendung verfügen, sondern sie auch vervielfältigen und verstärken, ohne daß darin wenigstens bis heute eine Grenze zu ziehen wäre. Nichts lehrt schlagender die Abhängigkeit der Naturausnutzung vom Willen des Menschen als der über alle Teile der Erde hin, durch alle Klimate, über alle Höhenstufen gleiche Zustand der Naturvölker.

Nicht zufällig hat das Wort Kultur auch noch den Sinn des Ackerbaues. Hier liegt seine etymologische Wurzel und auch die Wurzel dessen, was wir im weitesten Sinne unter Kultur verstehen. Das Hineinarbeiten einer Summe von Kraft in eine Erdscholle ist der beste, meistversprechende Anfang jener Unabhängigkeit von der Natur, die in ihrer Beherrschung durch den Geist ihr Ziel findet. Am leichtesten schließt sich hier Glied an Glied der Kette der Entwickelung an; denn in jährlich wiederholter Arbeit auf demselben Boden konzentriert sich Schaffen und festigt sich Tradition; und so werden hier die Grundbedingungen der Kultur geboten.

Die Naturbedingungen, die Ansammlung von Reichtum aus der Fruchtbarkeit des Bodens und der darauf verwandten Arbeit gestatten, sind also zweifellos von der größten Bedeutung für die Entwickelung der Kultur. Aber es ist dennoch unzulässig, mit Buckle zu sagen, es gebe kein Beispiel in der Geschichte, daß ein Land durch seine eigne Anstrengung zivilisiert worden wäre, wenn es nicht eine jener Bedingungen in einer sehr günstigen Form besaß. Für die erste Existenz des Menschen waren warme, feuchte, mit Fruchtreichtum gesegnete Länder ohne Frage am förderlichsten, und der Urmensch ist am leichtesten als Tropenbewohner zu denken. Wenn aber anderseits die Kultur nur als eine Entwickelung der Kräfte des Menschen an der Natur und durch die Natur zu denken ist, so konnte sie nur durch irgend einen Zwang geschehen, der den Menschen in ungünstigere Verhältnisse versetzte, wo er für sich selbst mehr sorgen mußte als in dieser weichen Wiege der Tropenwelt. Dies führt aber zu gemäßigten Ländern, die wir mit derselben Notwendigkeit als die Wiege der Kultur ansehen wie die tropischen als die Wiege des Menschen. Wir haben in den Hochebenen von Mexiko und Hochperu minder fruchtbare Länder als in den umgebenden Tiefländern; dennoch finden wir die größte Entwickelung in Amerika auf diesen beiden Hochebenen. Selbst heute erscheinen sie bei hoch gesteigerter Kultur so dürr und öde wie Steppen neben der ungemein üppigen und prachtvollen Natur der an vielen Stellen nur eine Tagereise weit entfernten Tief- und Stufenländer. In tropischen und subtropischen Ländern nimmt die Fruchtbarkeit des Bodens im allgemeinen mit starker Erhebung ab, und unter jeder Art klimatischer Bedingungen sind die Hochebenen niemals so fruchtbar wie Tiefländer, Hügelländer oder Gebirgshänge. Nun hatten diese amerikanischen Kulturen beide ihren Sitz auf Hochebenen: der Mittelpunkt der mexikanischen, die Hauptstadt Tenochtitlan (an der Stelle des heutigen Mexiko), lag in 2280 m Höhe, Cuzco in Peru in 3500 m Höhe. Von Hitze und Feuchtigkeit findet man in diesen beiden Ländern bedeutend weniger als in dem größten Teil des übrigen Mittel- und Südamerika.

Es führt dies zur Erkenntnis, daß, wenn auch die Kultur an ihrer Wurzel einen engen Zusammenhang mit der Kultur des Bodens besitzt, doch bei weiterer Entwickelung eine Beziehung zwischen beiden nicht notwendig ist. Indem ein Volk wächst, löst sich seine Kultur vom Boden los und schafft sich, je weiter sie sich entwickelt, immer mehr Organe, die nicht bloß dem Einwurzeln dienen. Man möchte sagen, dem Ackerbauer wohne eine natürliche Schwäche inne, die sich durch die Ungewohntheit der Waffen, durch seine den Mut, die Unternehmung schwächende Liebe zum Besitz und zur Ansässigkeit unschwer erklärt. Das höchste Maß politischer Kraftäußerung finden wir dagegen bei dem in vielen Beziehungen als natürlicher Antipode dem Ackerbauer entgegenstehenden Jäger und Hirten, vor allem bei dem Hirten, der mit der Beweglichkeit die Fähigkeit des massenhaften Auftretens und mit der Kraft die Disziplin vereinigt. Gerade das, was es dem Ackerbauer schwer macht, jene Kraft zu entwickeln, kommt hier förderlich zur Geltung: der Mangel der Ansässigkeit, die Beweglichkeit, die Übung der Stärke, des Mutes und der Waffengewandtheit. Und blicken wir über die Erde hin, so finden wir in der That die festesten Organisationen der sogenannten Halbkulturvölker durch Verschmelzung dieser Elemente hervorgebracht. Das so entschieden ackerbauende Volk der Chinesen beherrschen die Mandschu nach den Mongolen, die Perser stehen unter turkestanischen Herren, die Ägypter standen und stehen unter Hyksos, Arabern und Türken: alles herumschweifende Völker; in Innerafrika sind die nomadischen Wahuma die Gründer und Erhalter der festesten Staaten von Uganda und Unyoro, und im Staatengürtel des Sudan, der von Meer zu Meer zieht, ist jeder einzelne Staat von Einwanderern aus den Steppen und Wüsten gegründet; in Mexiko haben die rauhen Azteken das verfeinerte Ackerbauervolk der Tolteken unterworfen. In der Einzelgeschichte der Grenzstriche zwischen Steppe und Kulturland würde sich diese Regel noch in einer langen Reihe von Fällen bestätigen. Wir erkennen hier ein Gesetz der Geschichte. Nicht darum sind also die minder fruchtbaren Hochebenen und die den Hochebenen nächstgelegenen Striche überall der Entwickelung höherer Kultur, der Bildung von Kulturstaaten so förderlich gewesen, weil sie kühleres Klima und dadurch Nötigung zum Ackerbau boten, sondern weil sich hier die erobernde und zusammenhaltende Kraft der Nomaden mit der fleißigen Arbeit des in Kulturoasen zusammengedrängten, allein nicht staatenbildenden Ackerbauers vermählte.

Über die lokalen Begünstigungen und Hemmungen der Kultur durch den Einfluß der geschichtlich wirksamen Eigenschaften des Klimas hinaus wirken am eingreifendsten die verschiedenen Klimate durch die Erzeugung von großen Gebieten ähnlicher klimatischer Bedingungen, Kulturgebieten, die gürtelförmig um den Erdball angeordnet sind. Man kann sie Kulturzonen nennen. Nach den geschichtlichen Erfahrungen, worüber bis heute die Menschheit verfügt, ist die gemäßigte Zone die eigentliche Kulturzone. Nicht bloß Eine Gruppe von Thatsachen spricht hierfür. Die wichtigsten, organisch zusammenhängendsten, in diesem Zusammenhang und durch ihn am stetigsten sich fortbildenden, nach außen anregendsten geschichtlichen Entwickelungen der letzten drei Jahrtausende gehören dieser Zone an. Daß nicht zufällig das Herz der alten Geschichte in dieser Zone am Mittelmeere schlug, lehrt sehr deutlich das Verharren der wirksamsten geschichtlichen Entwickelungen in der gemäßigten Zone auch nach der Erweiterung des Geschichtskreises über Europa hinaus, ja selbst nach der Verpflanzung der europäischen Kultur nach jenen neuen Welten, die sich in Amerika, Afrika und Australien aufthaten. Zwar flechten sich unendlich viele Fäden in dieses große Gewebe hinein; aber da alles, was die Völker schaffen, am Ende auf dem Thun der Einzelnen beruht, so ist zweifellos das Folgenreichste davon einmal die Zusammendrängung einer möglichst großen Zahl möglichst leistungsfähiger Individuen in der gemäßigten Zone und dann die Aneinanderreihung und Zusammenfassung der einzelnen Kulturgebiete in einen Kulturgürtel, wo der Verkehr, der Austausch, die Mehrung und Befestigung der Elemente des Kulturschatzes die günstigsten Bedingungen finden, wo mit anderen Worten die Erhaltung und die Fortentwickelung der Kultur auf der größten geographischen Grundlage ihre Thätigkeit entfalten können.

Alte Halbkulturen, deren Resten wir in den tropischen Ländern begegnen, gehören einer Epoche an, wo die Kulturarbeit keine so gewaltigen Forderungen an die einzelnen stellte, wo aber ebendarum die Kulturblüte vorübergehender war. Das Studium der geographischen Verbreitung alter und neuer Kulturen scheint zu lehren, daß sich mit dem Wachsen der Kulturaufgaben der Kulturgürtel nach den Gebieten der größten Leistungsfähigkeit in den gemäßigten Klimaten zusammenzog. Für die Urgeschichte des Menschengeschlechts und die Geschichte seiner Verbreitung, für die Deutung der Kulturreste in Tropenländern ist diese Erwägung wichtig. Eine andere Art von Kulturverfall lehren die Beispiele der Aufsaugung kulturlich höherstehender Völker durch tieferstehende, denen der Vorteil besserer Anpassung an schwere Lebensbedingungen zu gute kommt. Die verachteten Skrälinger haben die Normannen Grönlands in sich aufgenommen. Und hat sich nicht jede Gruppe von Europäern, die in die arktischen Eiswüsten vordrang, für die Zeit ihres Aufenthalts in jenen traurigen Gefilden an die Eskimositten gewöhnen, die Künste und Fertigkeiten der Arktiker erlernen müssen, um den Kampf mit den Naturmächten der Polarzone auskämpfen zu können? So liegt aber auch der Erfolg manches Stückes Kolonisation auf tropischem und polarem Boden im Herabsteigen zu den Bedürfnissen der Eingeborenen.

Die bei unvollkommenen Mitteln in sich geschlossene und vollendete Kultur ist doch ästhetisch und ethisch eine höhere Erscheinung, als wenn sie sich im Aufwärtsstreben und Wachsen zersetzt. Unerfreulich sind daher die ersten Folgen der Berührung einer höheren Kultur mit einer niedrigeren, die höhere getragen vom Abschaum einer Welt, die niedrigere von den durch Erfüllung eines engen Kreises im Engen Vollendeten und Befriedigten. Man denke an die ersten Ansiedelungen von Walfischfängern und entlaufenen Matrosen auf dem kunst- und überlieferungsreichen Neuseeland oder Hawaii und an die Wirkung der ersten Branntweinschenken und Bordelle auf diesen Inseln! Für Nordamerika hat zuerst Schoolcraft auf den schnellen Verfall hingewiesen, den alle einheimische industrielle Thätigkeit infolge der Einführung zweckmäßigerer Werkzeuge, Geschirre, Kleider etc. durch die Weißen erleiden mußte. Als der europäische Handel leicht mit allem versorgte, was lange fortgesetzte, mühselige Arbeit oft nur in unvollkommener Weise bisher herzustellen vermocht hatte, nahm die Thätigkeit der Eingeborenen nicht nur auf dem Felde ab, wo sie Bedeutenderes geleistet hatten, sondern sah sich überhaupt geschwächt, verlor das Gefühl der Notwendigkeit, des Vertrauens zu sich selbst, und mit der Zeit ging so die Kunst selbst verloren. Wir wissen heute, daß es in Polynesien, in Afrika und bei dem ärmsten Eskimo ebenso zugeht. Für Afrika ist es eine ausgesprochene Regel: an der Küste ein Zersetzungsgebiet, dahinter höhere Kultur, das Beste im unberührten Innersten. Selbst die so selbständige japanische Kunst ging beim Anblick der künstlerisch tieferstehenden europäischen Muster zurück.


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