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1. Lage, Gestalt und Größe der Menschheit.

Die Menschheit bewohnt die gemäßigten und warmen Länder und Inseln der Erde und einen Teil der kalten auf der Nordhalbkugel. Ihr Gebiet, die Ökumene, deren Oberfläche, ohne Meer, ungefähr 2,4 Mill. geogr. Quadratmeilen beträgt, läßt einen den unbewohnbaren Eiswüsten der Polargebiete zugewandten Nord- und Südrand und einen Ost- und Westrand unterscheiden, zwischen denen der Atlantische Ozean liegt. Die an diesen Rändern wohnenden Völker schauen ins Leere hinaus, sind von ihresgleichen nicht auf allen Seiten umgeben und befinden sich, wo ihre Wohnsitze weit hinausgeschoben sind, in der Isolierung, die eine Ursache ethnographischer Armut ist. Umgekehrt sind Völkergruppen an Punkte gestellt, wo ihnen der bedeutungsvolle Vorzug der Vermittelung zu teil wurde: im Stillen Ozean, besonders an seinem nördlichen Rande, in den mittelmeerischen Grenzgebieten, in Mittelamerika treten uns solche Posten entgegen. Es erhellt aus der Lage und Gestalt der Ökumene, daß die Nordhalbkugel einer größeren Anzahl von Menschen Wohnsitze gewährt als die südliche, daß sie ihnen breitere, vielseitiger sich berührende Gebiete von mannigfaltigerer Ausstattung und damit die Möglichkeit reicherer Entfaltung bietet, kurz, daß sie nach Lage, Gestalt und Raum für die Zwecke der Entwickelung der Menschheit von vornherein überlegen ist.

Die Verbreitung der Menschen beruht ebenso wie die der Tiere und Pflanzen auf dem Zusammenhang im Norden und der Trennung im Süden. Fassen wir die Menschheit als Ganzes ins Auge, so liegen ihre nördlichen Teile in breiter, wechselwirkender Verbindung, ihre südlichen in weiter Trennung vor uns. Blicken wir auf die Rassen, so gehören die Negroïden dem Süden, die Mongoloïden und Weißen dem Norden an. Die höchsten Kulturentwickelungen liegen nördlich vom Äquator.

Die tiefe Kluft, die der Atlantische Ozean in den ökumenischen Gürtel legt, auch sie schafft Randländer. Obgleich aber diese ein lebhafterer Verkehr in meridionaler Richtung, dichtbevölkerte Hinterländer und günstigere klimatische Verhältnisse bei weitem nicht so arm gelassen haben wie die des Südens und Nordens, so liegen doch die höheren Entwickelungen in Afrika im Osten, in Amerika im Westen, d. h. innen oder an den vom Atlantischen Ozean abgewandten Rändern. Sicherlich hängt Afrikas Bevölkerung eng mit der Asiens zusammen, zeigt aber keine Spur näherer Beziehung mit der Amerikas. Jener Zusammenhang reicht aber weiter, über den Ostrand des asiatischen Festlandes bis auf die großen asiatischen Inseln: er schafft zwischen den Randländern im Norden und Süden ein großes Kulturgebiet, das als westliches dem weiter nach Osten über den Stillen Ozean bis nach Amerika reichenden östlichen entgegengesetzt sein mag. Eisen und Nichteisen sind die Leitgedanken dieser Sonderung. Zwar greift das westliche Gebiet im Norden über das östliche über; aber es bleibt bis zum rechtwinkeligen Aufeinandertreffen dieser Grenze der zwischen Nord- und Südländern sich steigernde Gegensatz bestehen. In der Durchkreuzung spricht sich ein tiefer Altersunterschied zwischen jener vorwiegend anthropologischen und dieser ethnographischen Gruppierung aus. An der jüngeren Entwickelung der Völker hat das Eisen ohne Frage bedeutenden Anteil genommen. Die Grenze zwischen Eisen- und eisenlosen Ländern fällt zusammen mit den Grenzen anderer wichtiger ethnographischer Verbreitungsgebiete. Wo Eisen fehlt, ist auch die Viehzucht unbekannt, die sich auf Rind, Büffel, Schaf, Ziege, Pferd, Kamel und Elefant stützt; auch Schwein und Huhn werden im größten Teil des eisenlosen Landes nicht gezüchtet. Viel tiefer geht der Unterschied der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse: in Amerika, Ozeanien und Australien eine ältere Entwickelung, nämlich Gruppenehe, Exogamie, Mutterrecht und Familienstamm; in Asien, Afrika und Europa das patriarchalische System der Familie, die Paarungsehe, die Staatenbildung im modernen Sinne. Osten und Westen stehen sich also auch in der Menschheit gegenüber. Amerika ist der äußerste Osten der Menschheit, hier sind ältere Entwickelungen zu erwarten als in Afrika und Europa, dem äußersten Westen.

Die Verbreitung der Menschenrassen bietet kein so einfaches Bild. Zwar ist die negroide wesentlich eine Südrasse. Ihre Nordgrenze wird in Afrika durch die Wüste gebildet, setzt sich im südlichen Asien durch Hochgebirge fort, ragt nur im Induswinkel beträchtlich über den nördlichen Wendekreis hinaus und sinkt in Ozeanien unter den Äquator hinab. Wir haben also ein Südreich vor uns, wesentlich der Osthalbkugel angehörig, dessen geschlossene und größte Gebiete sämtlich in dem Tropengürtel und der südlichen gemäßigten Zone liegen. Zur südlichen Lage kommt der Einfluß der eigentümlichen, hier vorwaltenden Umriß- und Bodengestalten. Während sich der geographische Gegensatz zwischen Süden und Norden um die ganze Erde zieht, beschränkt sich der anthropologisch-ethnographische auf die sogenannte Alte Welt und ihre Ausläufer. Darin liegt ein großer Teil des Reichtums menschlicher Erscheinungen und Gebilde auf dieser Seite der Erde, die neben den höchsten Entwickelungen die niedrigsten umschließt. Wir haben in Amerika Eine Rasse im Norden und Süden, keine ethnographischen Unterschiede von der Größe, wie sie Nord- und Südafrika, Nord- und Südasien und Australien aufweisen. Amerika gehört in seiner ganzen Ausdehnung anthropologisch zu den Nordgebieten, ethnographisch in manchen Stücken.

Dagegen ist für Afrika und Asien die wichtigste Frage, wie sich ihre Südgebiete zu ihren Nordgebieten verhalten. Scharf unterscheiden sie sich hier in der verschiedenen Abgrenzung gegen Norden. Zwischen Neger- und Nordafrika liegt verkehrshemmend die Wüste; jedes ist groß und selbständig. Südasien besteht nur aus lockeren, vom Norden und der Mitte nicht scharf getrennten Anfügungen. Indien vor allem hat Einflüsse erfahren, die es von Afrika unterscheiden; anthropologisch und zum Teil auch ethnographisch bietet Afrika einen älteren, d. h. weniger veränderten Zustand desselben Ursprungs wie Indien dar; mit Madagaskar und Indien teilt endlich Malayenland das Hineinragen der Ausläufer von Nordvölkern in das indo-afrikanische Gebiet.

Soweit sich auf der langen Strecke von der Nordwestspitze Afrikas bis nach Fidschi dunkle Rassen mit hellfarbigen berührten, sind Teile davon ineinander übergegangen. Solche Mischrassen des verschiedensten Grades bewohnen den Sudan, die Sahara, das nördliche und mittlere Ostafrika, Südarabien, Madagaskar, das südliche Vorder- und Hinterindien und Australien. Vereinzelte Spuren negroider Beimengung finden wir in Südeuropa und im äußersten Polynesien. In abgeschlossener Lage hat sich nur Eine wohl definierbare Rasse, die der Australier, entwickeln können. Dunkel, straff- bis kraushaarig und langköpfig, scheint sie aus einer Mischung papuanischer mit malayisch-polynesischen Elementen hervorgegangen zu sein. Das dem Ursprung nach unbekannte Eigentümliche im papuanischen Typus macht sich auch hier geltend; dazu kommt das pathologische Moment in den Spuren einer tiefen Kulturstufe und eines ärmlichen Lebens.

Die Wasserfläche der Erde erreicht allein im Meere nahezu drei Vierteile der Erdoberfläche; so ist alles Land Insel eines fast dreimal so großen Meeres. Die verschiedensten Teile der Menschheit mußten durch ihre geschichtlichen Bewegungen an das Meer geführt werden, und es gab eine Zeit vor der Erfindung der Schiffahrt, in der das Meer die Menschheit auf den Teil der Erde einschränkte, wo ihre Wiege gestanden hatte. Die Erfindung der Schiffahrt, deren erste Erzeugnisse längst verloren sind (in allen Teilen der Erde finden wir hohe Entwickelungen der Schiffahrtskunst hart neben der Unkunde), hat erst die Verbreitung der Menschen über fast alle bewohnbaren Teile der Erde hin möglich gemacht. Hohe Stufen von Schiffbau- und Schiffahrtskunst treten uns in den verschiedensten Teilen der Erde entgegen, am meisten im Stillen Ozean, am wenigsten im Atlantischen. Sie tragen in ihrer ungleichen Verbreitung das Merkmal, leicht vergessen werden zu können. Schließen wir also aus ihrem Fehlen und aus dem Mangel selbst der Erinnerung nicht zu rasch auf völlige, dauernde Passivität dem Meere gegenüber. Die heutige Größe der Ökumene ist insofern ein Beleg für das hohe Alter der Menschheit, als sie mit Ausnahme weniger entlegener und kleiner Inseln fast alles bereits umfaßt, was bewohnbar ist.

Die weite Verbreitung des Wassers hat dem Menschen reiche Nahrungsquellen eröffnet und dadurch die Bevölkerungen gerade an seinen Rändern verdichtet; sie hat den Fernverkehr, der in alten Zeiten quer durch überall von Feinden bewohnte Länder nicht möglich war, ermöglicht und höhere Kultur von den Küsten her landeinwärts wachsen lassen. Sie hat deshalb auch auf den Geist der Menschen die merkwürdige Wirkung geübt, daß der Meeres- oder Seenhorizont in fast alle Weltbilder hineinspielt, die ersonnen worden sind. Die meisten fassen die Erde als eine Insel im weiten Meere, und das Jenseits liegt weit im Meere. Daher muß die Seele ihren Weg über Wasser nehmen; daher auch die Kahnform des Sarges oder doch der Steinsetzung, das Bootbegräbnis, oder auch der kleine Kahn als Grabdenkmal der Dajaken.

Die Einheit des Menschengeschlechts ist das tellurische oder planetarische Merkmal, das der höchsten Stufe der Schöpfung ausgeprägt ist. Man hat das Recht, im wissenschaftlichen Sinne von der Einheit des Menschengeschlechts zu sprechen, wenn man unter Einheit nicht die Einförmigkeit, sondern die durch Zeugnisse auf allen Gebieten des Völkerlebens bewiesene Gemeinsamkeit einer viele Tausende von Jahren umfassenden Geschichte sowie die von der Natur gegebene Gemeinsamkeit des Naturbodens versteht. Hat sich das Tempo des Kulturfortschritts in den letzten geschichtlichen Perioden teilweise so sehr beschleunigt, daß gewisse Völkergruppen weit über die Masse anderer vorrückten, so ist dennoch ein großer Rest von dem gemeinsamen Besitz in den höchsten wie den tiefsten Schichten der heutigen Menschheit zu finden. Fragt man nach dem Ursprung dieses Gemeinbesitzes, so darf wieder darauf hingewiesen werden, daß rastlose Bewegung die Signatur der Menschheit ist. Im Vergleich zu deren Stärke und Dauer ist die Erde klein; tausend Geschlechter, die uns vorhergingen, vermochten sie von dem Moment an wandernd zu umkreisen, auch ohne es zu wollen, da Schiffe zur Durchkreuzung der Flüsse und Meere erfunden waren. Dieser Moment aber liegt weit zurück. Daß in den 400 Jahren seit der Entdeckung Amerikas die Europäer sich und ihre Haustiere, ihre Nutzpflanzen, Waffen und Geräte, ihre Einrichtungen und vor allem ihren Glauben weithin ausgebreitet haben, kann nur eine kurzsichtige Überhebung als einen nie erreichten Höhepunkt der Weltgeschichte bezeichnen. Nicht bloß Normannen haben Amerika vor Columbus entdeckt. Diese Welt, die wir anspruchsvoll die »Neue« nennen, mußte von Westen her mehr als einmal entdeckt worden sein, ehe die Blaßgesichter als letzte und endgültige Entdecker von Osten her an ihre Küsten kamen. Wenn sich die Malayen nach Madagaskar und der Osterinsel durch 200 Längengrade in einer Zeit ausgebreitet haben, die, wie die Sprache und Sonstiges beweist, nicht viele Jahrhunderte gedauert hat, wenn sich seit der europäischen Entdeckung in Amerika einzelne Stämme 500 Meilen von ihren Sitzen entfernt haben, wenn sich über halb Afrika innerhalb 40 Breitengraden eine dialektisch nur, wie etwa Hoch- und Niederdeutsch, gespaltene Sprache ausdehnt, so wird man zugeben müssen, daß nicht erst die europäische Kultur die Welt umspannt hat. Nur darin liegt ein großer Unterschied, daß heute mit Bewußtsein geschieht, was in früheren Jahrtausenden ein dunkler Trieb bewirkte, der welthistorisch in Alexander und Columbus, unhistorisch in Tausenden vorher thätig gewesen ist.

Eng hängt die Zahl der Menschen mit ihrem Boden zusammen, weil er große Wirkungen auf ihre innere Entwickelung, Ausbreitung und Beziehungen ausübt. Die heute auf etwa 1500 Millionen zu schätzende Gesamtzahl haben wir als Produkt einer früher nicht erreichten Entwickelung anzusehen. In viel höherem Maße, als man glaubt, ist die Entwickelung der heutigen Zustände von der vermehrten Bevölkerungszahl abhängig. Die Organisation der Völker außerhalb der europäisch-asiatischen Kulturkreise läßt keine dichte Bevölkerung zu. Kleine Gemeinden, einen engen Fleck der Erde bebauend, sind durch weite leere Räume, die entweder Jagdgebiete sind oder nutzlos leer liegen, voneinander getrennt. Sie schränken den Verkehr nach Möglichkeit ein; bleibende größere Ansammlungen von Menschen sind unmöglich. Jägervölker, die keinen oder verschwindenden Ackerbau treiben, wohnen oft so dünn verteilt, daß nur ein Mensch auf die Quadratmeile kommt, nicht selten noch dünner. Wo etwas Ackerbau dazu kommt, wie bei vielen Indianerstämmen, Dajaken, Papua, finden wir 10-40, bei höher entwickeltem Ackerbau in Innerafrika und dem Malayischen Archipel 100-300; küstenbewohnende Fischervölker sitzen im Nordwesten Nordamerikas bis zu 100 auf der Quadratmeile, in ähnlicher Dichtigkeit Hirtennomaden. Wo Fischfang und Ackerbau zusammentreffen, finden wir auf den ozeanischen Inseln bis zu 500. Dieselbe Zahl erreichen in vorwiegend steppenhaften Ländern die aus Nomaden und Ansässigen gemischten Vorderasiaten. Damit haben wir bereits den Schritt über die Schwelle einer anderen Kulturform gemacht, die in ihrer indisch-ostasiatischen Ausprägung über 10,000, in der europäischen unter Zusammenwirken der Industrie und des Verkehrs 15,000 auf der Quadratmeile ernährt.

Schon diese Aufzählung zeigt auf dem unteren Striche der Skala Völker der verschiedensten Zonen und Länder. Alle Naturvölker wohnen in dünner Verteilung; höhere Kultur bringt höhere Dichtigkeitsgrade mit sich. Jene sind von der Natur des Bodens abhängiger als diese; in Gebieten ähnlicher Ausstattung wohnen sie im allgemeinen gleichmäßiger verteilt. Die Unterschiede der gut bebauten, aber dünn bevölkerten, weiten Getreideflächen und der gartenartig angebauten, dichtbevölkerten Gebiete ergeben sich aus der Kultur.

In der dichten Bevölkerung liegt nicht bloß Stetigkeit und Bürgschaft kräftigen Wachstums, sondern auch unmittelbare Förderung der Kultur. Je näher sich die Menschen berühren, desto mehr teilen sie einander mit, desto weniger Kulturerwerbungen gehen verloren, desto höher steigert der Wettbewerb die Bethätigung aller Kräfte. Die Vermehrung und Befestigung der Volkszahl steht im engsten Zusammenhang mit der Kulturentwickelung; dünne Bevölkerung auf weitem Gebiet: niedrige Kultur; in alten und neuen Kulturzentren: dicht zusammengedrängte Volksmassen. China und Indien zählen über 600 Millionen Menschen, aber ein entsprechender Raum des dazwischen liegenden innerasiatischen Nomadenwinkels der Mongolei, Tibets und der östlichen Turkvölker noch nicht den sechzigsten Teil davon. Sechs Siebentel der Bevölkerung der Erde gehören den Kulturländern an.

Während die Geschichte der europäischen Völker seit Jahrhunderten dieselbe entschiedene Wachstumstendenz zeigt, der wir bereits in der Geschichte des Altertums begegnen, bieten die Naturvölker Beispiele von Schwankungen und Rückgang, wie wir sie bei jenen nicht oder nur kurze Zeit unter dem Einfluß zufälliger Umstände, wie Kriege oder Seuchen, finden. Schon in der dünnen Bevölkerung an sich liegt ein Anlaß ihrer Hinfälligkeit; ihre kleinen Zahlen werden leichter zum Schwinden und Verschwinden gebracht. Rascher Verbrauch der Lebenskräfte ist ein Merkmal aller Völker tieferer Kulturstufen. Die wirtschaftliche Grundlage ist schmal und lückenhaft, die Genügsamkeit streift nur zu oft an Armut, Mangel ist ein häufiger Gast, und es fehlen alle Vorsichtsmaßregeln, womit die Heilkunde unser Leben umgibt. Im Kampfe mit den übermächtigen Naturgewalten der Arktis und der südhemisphärischen Steppengebiete steigert sich häufiges Unterliegen besonders an der Grenze der Ökumene oft bis zur vollen Aufreibung, bis zum Tode eines Volkes. Das vielberufene Aussterben der Naturvölker hat man fälschlicherweise nur als Folge der Berührung mit der überlegenen Kultur aufgefaßt. Bei näherer Betrachtung erkennen wir aber zwei Fälle: die Selbstzerstörung und das Aussterben unter dem Einfluß der überlegenen Kultur. Beides wirkt in der Regel zusammen; keins würde ohne die Mitwirkung des anderen sein Ziel so rasch erreichen. Die Grundlage des gesunden Völkerwachstums ist die annähernde Gleichzahl der Geschlechter; bei den Naturvölkern ist diese in der Regel gestört, die Kinderzahl meist klein. Das »zuvorkommende Hemmnis« Malthus' ist dem Menschen eigentümlich, dessen Blick in die Zukunft sieht. Aber in der menschlichen Gesellschaft ist es nicht einer höheren Schicht vorbehalten, die vorbeugend »durch Aufopferung eines temporären Vergnügens permanentes Wohlbefinden erkauft«, sondern alle Mittel, die die Vermehrung hemmen können, werden auf den tiefsten Stufen in großer Ausdehnung angewendet, vor allen Krieg, Mord und Menschenraub. Der Wert des Menschenlebens steht hier tief: Menschenopfer und Menschenfresserei sprechen laut dafür. Endlich sind die Naturvölker weit entfernt von der idealen Gesundheit, die man ihnen angedichtet hat; nur die Neger Afrikas können als eine sehr robuste Rasse bezeichnet werden. Dagegen sind Australier, Ozeanier und Amerikaner Krankheiten viel mehr unterworfen als die Kulturmenschen und akklimatisieren sich schwer. Es ist keine Frage, daß diese schon vor der Berührung mit den Europäern in manchen Gegenden im langsamen Hinsiechen begriffen waren. Die Kultur bringt dann aber die Störung bis an die tiefsten Wurzeln, indem sie den Raum einengt, auf dessen Weite die eigentümlichen gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen der Naturvölker zugeschnitten waren. Sie führt Bedürfnisse und Genüsse ein, die mit der Lebensweise und Arbeitsleistung dieser Menschen nicht im Einklang stehen; sie bringt ihnen vorher unbekannte, in dem jungen Boden schrecklich wuchernde Krankheiten und dazu unvermeidlich Streit und Krieg. In größeren Gebieten: Nordamerika, Australien, Neuseeland, war der Erfolg des zivilisatorischen Fortschritts die räumliche Verdrängung der Eingeborenen in die ungünstigsten Gebiete und, damit Hand in Hand gehend, der Rückgang ihrer Zahl. In kleineren Gebieten, besonders auf den ozeanischen Inseln, aber auch in Cuba und Haïti, sind sie teils ausgestorben, teils durch Mischung aufgesogen, jedenfalls verschwunden. Wo sich bei größerer Zähigkeit der tiefer Stehenden und unter günstigeren Naturverhältnissen der Prozeß verlangsamt hat, wie in manchen Teilen Afrikas, im nördlichen Amerika, in Mexiko, ist eine Mischung im Gange, die endlich ihr Ziel, die Vernichtung der Eingeborenen in ihrer Eigenart und Selbständigkeit, erreichen wird. Bereits sind große Verschiebungen eingetreten, andere sind im Werden, und in weiten Gebieten sind schon wegen dieser passiven Bewegungen die Völker nur in Bewegung zu denken. Nordamerika hat bis zum 95.° westl. Länge nur noch traurige Trümmer von Indianerstämmen aufzuweisen, in Victoria und Neusüdwales gibt es kaum noch 1000 Nachkommen der Eingeborenen, und die Europäisierung von Nordasien, Nordamerika, Australien, der Inseln Ozeaniens ist nur noch eine Zeitfrage.

Schon heute lehren tausend Erfahrungen, daß in einem solchen Regen und Bewegen die Rassen nicht unverändert bleiben können, und daß selbst die größten, in Hunderten von Millionen vertretenen, nicht standhalten in der Brandung, die sie von allen Seiten umtost. Die Vermischung schreitet in vielen Teilen der Erde stürmisch vorwärts. Von Nord- und Ostafrika dringen Araber und Angehörige des Berberstammes gegen die Neger vor, deren entferntere Stämme bis zur Südspitze in ihren semitischen Zügen zeigen, wie lange schon diese Einflüsse an der Arbeit sind. An die Stelle der Hottentotten treten die Bastaards, Mischlinge mit Europäern. In Canada ist indianische Mischung Eigenschaft fast aller französischen Siedelungen, in Mittel- und Südamerika sind schon heute die Mestizen und Mulatten stärker als die reinen Indianer, in Ozeanien haben längst Malayo-Polynesier die pazifischen Neger durchdrungen, in ganz Innerasien herrschen mongolisch-chinesische und -europäische Mischungen, tief nach Europa reichen sie herein und beeinflussen den ganzen Osten und Norden unseres Erdteils. Die größere Masse, das raschere Wachstum, die Überlegenheit in den entscheidenden Künsten räumen in diesem Prozeß fast immer der höheren Stufe Vorteile ein, wo nicht das Klima entgegenwirkt, und wir können von einer Aufsaugung der niederen durch die höheren auch dort sprechen, wo diese zunächst nicht in der Mehrheit auftreten. Wenn es irgend etwas Tröstliches in dem allgemeinen Hinschwinden der Naturvölker gibt, so ist es die Gewißheit, daß ein großer Teil davon durch den Mischungsprozeß langsam gehoben wird. Man wiederholt zwar gern einen Satz angeblich alter Erfahrung, daß in den Mischlingen die schlechten Eigenschaften beider Eltern vorwiegend vertreten seien; doch genügt ein Blick auf das Völkerleben der Gegenwart, um zu sehen, daß Mulatten, Mestizen, Arabernegermischlinge in Nord- und Südamerika und in Afrika an der Spitze der Indianer und Neger marschieren. Die einmal begonnene Mischung führt immer weiter, jede neue Zufuhr vom Blut der höheren Rasse gleicht die Abstände nach der Höhe zu aus.

Wenn uns die Weltgeschichte eine zwar unterbrochene, aber dennoch fortschreitende Ausbreitung der Kultur über die Erde hin zeigt, so ist darin das naturgemäße Übergewicht der Zahl der Kulturvölker ein mächtiger Faktor. Indem das sich rascher vermehrende Volk auf die übrigen seinen Überfluß ergießt, überwiegt von selbst der Einfluß der höheren Kultur, die ja die Ursache oder Bedingung der stärkeren Vermehrung war. So erscheint uns die Ausbreitung der Kultur als ein sich selbst beschleunigendes Weiterwachsen kulturtragender Völker über die Erde hin, das die als Ziel und Aufgabe, Hoffnung und Wunsch vorausgesetzte Einheit des Menschengeschlechts immer vollständiger zu verwirklichen strebt.

Suchen wir zum Schluß die Wege rückwärts zu verfolgen, die die wichtigsten Teile der Menschheit gemacht haben, so finden wir als Ausgangspunkt das Nebeneinanderbestehen mehrerer Abwandlungen oder, wie Blumenbach will, Ausartungen der einen Menschenart, die erst an wenigen Punkten zusammenflossen, um sich dann bei zunehmendem Verkehr immer mehr zu berühren und sich zuletzt so ineinander zu schieben und zu vermengen, daß von den ursprünglichen Varietäten heute keine mehr in ihrer ehemaligen Besonderheit vorhanden ist. Ihre Reste aber führen zurück auf zwei große, in der heutigen Rasse noch lebendige Gegensätze zwischen Nordhalbkugel: weiße und mongoloide Rasse, und Südhalbkugel: Negerrasse. Sie umschließen die Gegensätze des kontinentalen Zusammenhanges und der ozeanischen Zergliederung, der tief in das nordpolare Gebiet verflochtenen und der von polaren Einflüssen durch den Ozean getrennten Welt. Die Negervölker können sowohl in Afrika als in Asien und im Stillen Ozean einst nördlicher gewohnt haben als heute, jedenfalls saßen sie immer südlich von dem Druck, der ihnen ihre heutigen Wohnsitze angewiesen hat.


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