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Der schwerste Fehler des Krieges

1.

So tief sind wir in die schmerzlich schöne Leidenschaft unseres inneren Schicksals, Umsturz und Einebnung verstrickt, daß wir unser äußeres Schicksal vergessen.

Elsaß, dessen Unberührbarkeit wir fünfzig Jahre beschworen, dessen kleinster Zipfel genügt hätte, um Europa ewigen Frieden zu geben, wird uns jubelnd entrissen.

Der Rhein ist in den Händen triumphierender Feinde. Unsere Brüder im Rheinland und in der Pfalz gehorchen den Führern englischer, französischer, amerikanischer, neuseeländischer, afrikanischer Truppen. Die herrschen in Aachen, Köln, Mainz, Frankfurt, Trier und Mannheim.

Die See ist gesperrt, englische Admirale befehlen in den Häfen von Kiel und Wilhelmshaven.

Unsere Flotte, einstmals die zweite des Erdkreises, Schlachtschiffe und Unterseeboote, mußte in voller Wehr auslaufen und sich den Briten zu Füßen legen. In einer langen, sachlichen Beschreibung der Übergabe sagt die Times ganz nebenher: diese Flotte, die Erniedrigung der Zerstörung vorzog ( that preferred humiliation to destruction).

In Posen herrscht der Pole. Westpreußen, Oberschlesien und Niederschlesien liegt wehrlos vor den Horden der Polen und Tschechen.

Der Verkehr im Lande stockt. Fünftausend Lokomotiven und hundertfünfzigtausend Wagen werden ausgeliefert und vom Feinde bemäkelt. Wir bitten um Nachsicht und Aufschub. Unsere Nahrung geht zu Ende. Der Feind will uns nach seinem Ermessen ernähren. Wir bitten um Brot.

Täglich, in Spa und Trier empfangen wir seine Befehle. Erzberger unterschreibt, daß die Belgier Anspruch haben, sofort Erstattung des verlorenen und gestohlenen Gutes zu verlangen. Requisitionen sind nicht Verlust: also waren sie Diebstahl. Das Deutsche Reich erkennt schriftlich an, gestohlen zu haben.

Wir erbitten einen Präliminarfrieden. Man antwortet, daß man ihn diktieren wird. Im Endfrieden sollen wir Entschädigungen zahlen. »Als Strafe« und »bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit« sagen die feindlichen Staatsmänner. In den Völkerbund will man uns aufnehmen »nach einer Probezeit« oder »wenn wir Reue und Buße gezeigt haben«.

Leute, die früher alldeutsch waren und jetzt Demokraten sind, trösten uns. Das alles hat die frühere Regierung verschuldet. Es ist keine Schande, wo nicht eine Ehre, für die Verbrechen anderer gestraft und erniedrigt zu werden.

Was ist Ehre? sagen andere. Man hat Ehre, wenn man sie zu haben glaubt. Wer Großes geleistet hat, kann sich alles gefallen lassen, er wird davon nicht schlechter.

Wieder andere sagen: Es ist evangelisch, sich in Demut und Erniedrigung üben. Wir beneiden die triumphierenden Feinde nicht. Etwas widerspruchsvoll lassen sie durchblicken: wir kommen auch wieder an die Reihe.

 

2.

Seien wir ehrlich und hart. Blicken wir unserm grauenhaften Schicksal ins Auge.

Während wir unsere Revolution betreiben, die mehr und mehr vom Freiheitsgedanken zur Putscherei, zum Lohnkampf, zur Zersplitterung und zum Partikularismus abgleitet, während das gewohnte Leben der Arbeit und des Müßigganges, der Kämpfe und Genüsse seinen Gang geht, erleben wir, dem Volke unbewußt, doch mit Willen und Wissen seiner Führer, von unsern Feinden Schmach, Schande und Erniedrigung, wie weder unsere Vorfahren noch andere Völker sie erlebt haben.

Es sind zu manchen Zeiten Staaten unterworfen, Länder und Städte zerstört, Völker gemordet, zerstreut, in Sklaverei geschleppt worden. Wir müssen in freiwilliger Wehrlosigkeit uns von selbstbewußten, unbeugsamen Feinden züchtigen und verstümmeln lassen.

Wir haben uns von Machtidealen losgesagt. Machtideal und Ehrgefühl sind nicht das gleiche.

Haben wir dies Schicksal verdient?

Ein hartes Schicksal haben wir verdient.

»Das reifste Unrecht unserer Zeit aber besteht darin, daß das fähigste Wirtschaftsvolk der Erde, das Volk der stärksten Gedanken und der gewaltigsten Organisationskraft, nicht zugelassen wird zur Regelung und Verantwortung seiner Geschicke. Nicht äußere Verhältnisse und Konstellationen, sondern innere Gesetze, sittliche und transzendente Notwendigkeiten führen unser Schicksal herbei. Unser zähes Volk ist mit dem gleichen Mittel erzogen worden, mit dem es seine Kindes zu erziehen liebt, mit Schlägen. Früher hat der Trotz der Herrschenden die Schicksalsschläge herbeigezogen, nun gesellt sich zu diesem Trotz die Indolenz des Landes, das nicht um seine Verantwortung kämpfen will und daher um seine Sicherheit wird kämpfen müssen. – In einer Stunde stürzt, was auf Äonen gesichert galt; was heute vermessene Forderung scheint, wird selbstverständliche Voraussetzung.«

So schrieb ich 1913. »Indolenz des Landes, das nicht um seine Verantwortung kämpfen will.« Damals war die Zahl der deutschen Demokraten und Revolutionäre noch sehr klein, selbst unter den Sozialisten. Den Liberalen graute selbst vor dem Parlamentarismus.

Unser Unrecht war schwer; ein Unrecht des Charakters: der Abhängigkeit, Unfreiheit, Leichtgläubigkeit, geistigen Trägheit. Wir büßen es durch verlorenen Krieg und Verarmung, wir machen es gut durch Revolution und Befreiung.

Die Buße der Erniedrigung des wirtschaftlichen Ruins war nicht durch unsere Schuld geboten. Wir erleiden sie durch das Mißgeschick einer Stunde, durch ein Mißgeschick, das dereinst als das monumentalste aller Versehen gelten wird.

Meist werden große Geschicke durch die Gesetzmäßigkeit großer Kräftegruppen entschieden, sehr selten durch ein einzelnes Versehen, das nachweisbare Mißgeschick eines Momentes. Hier ist es geschehen.

Noch vor zwei Monaten hielten wir mit zehn Millionen Menschen Europa scheinbar die Wage. Die Schale begann sich zu neigen, doch der Krieg war nicht verloren – wenn wir wollten, nicht in Jahren zu beenden. Es war recht, ihn zu beenden; er hätte längst beendet werden müssen und beendet werden können. In dieser Lage hatten wir noch immer Anspruch auf billige Verständigung mit mäßigen Opfern, nicht Anlaß zur Unterwerfung auf Gnade und Ungnade.

 

3.

Statt einmal Frieden zu schließen, schließen wir ihn dreimal. Statt eines Friedens der Verhandlung, unter Waffen, der Kapitulation, einen Frieden des Diktats, der Wehrlosigkeit, der Unterwerfung. Statt mit den objektivsten unserer Gegner zu verhandeln, den Amerikanern, und ihren Einfluß zu stärken, haben wir ihren Einfluß geschwächt und empfangen unser Diktat von den subjektivsten unserer Gegner, den Franzosen.

Der Grund: das monumentale Versehen der dunkelsten Stunde des Krieges und der deutschen Geschichte.

Am Nachmittage des dritten Oktober erschien Hindenburg mit einem Major beim Reichskanzler Prinz Max und seinen damaligen Ministern. Ludendorff war abwesend.

Der Major hielt Vortrag. Zweifelhaft sei, ob man die Front Tage oder Stunden halten könne. Sofort müsse Waffenstillstand erbeten werden. Gleichviel ob von der alten oder der neuen Regierung.

Hindenburg milderte. Allein: »das Kriegsglück sei schwankend«. Waffenstillstand sofort.

Zwei Minister erbaten Aufschub. Vierzehn Tage, acht Tage. – Nein.

Darauf wurde das Angebot des Waffenstillstandes beschlossen und am nächsten Tage, dem vierten Oktober, nach der Schweiz telegraphiert.

Die richtige Antwort war diese: Die Bankerotterklärung haben wir vernommen. Fahren Sie zurück an die Front. In Stunden und Tagen können wir den Waffenstillstand nicht haben. Ihre Front bricht nicht. Bräche sie, so würde unser Telegramm nichts daran ändern.

Die Front war nach siebenundvierzig Tagen nicht gebrochen. Um einige Kilometer gewichen, doch nicht gebrochen.

Sodann mußte das Kabinett beraten. Nicht eine Bitte um Waffenstillstand, sondern ein Friedensangebot, und zwar an Wilson, auf Grund seiner vierzehn Punkte.

Die Beratung des Friedens hätte wenig länger gedauert als das Diktat des Waffenstillstandes. Im Verlauf dieser Beratung wäre ein Waffenstillstand von selbst zustande gekommen. Unsere Truppen wären nicht länger, sondern kürzer im Feuer geblieben. Wir hätten unter Waffen verhandelt; nicht wehrlos, unter feindlicher Besetzung, im Hunger und im Warten auf fremde Befehle.

Die Revolution wäre gekommen und hätte unsere Verhandlungslage nicht geschwächt, sondern gestärkt. Jetzt wird sie mit Mißtrauen betrachtet, ihre Regierung ignoriert.

Amerika wäre die stärkste Macht unserer Gegner geblieben, denn seine Truppen waren unentbehrlich. Jetzt ist es die schwächste, denn man will seine Truppen los sein.

Statt der Liquidation haben wir den Bankerott angemeldet. Aus falscher Angst vor Zeitverlust haben wir gehandelt wie einer, der glaubt, früher in Köln anzukommen, wenn er um acht Uhr morgens an die Bahn geht, während der Zug erst nachmittags um drei fährt.

Die Entente wollte an unsern Bankerott nicht glauben. Sie fürchtete eine Finte. Einer ihrer Staatsmänner hat zugegeben: man zog die Verhandlungen in die Länge, um sicher zu gehen. Man verlangte die volle Wehrlosigkeit, weil man noch immer einen Hinterhalt für möglich hielt.

Von denen, die diese Vorgänge näher kennen, habe ich noch keinen gesehen, der nicht die Ungeheuerlichkeit unseres Irrtums zugab.

Am Tage der Veröffentlichung des Waffenstillstandsangebotes schrieb ich den Aufruf: »Ein dunkler Tag.« Noch war es möglich, in Friedensverhandlungen umzulenken. Ich warnte vor den vorauszusehenden, unerhörten Bedingungen. Ich wies auf die noch vorhandenen Kräfte, auf die ungebrochene Front, die sich denn tatsächlich nach einigen Tagen kräftigte, so daß Ludendorff offen zugab, sich geirrt zu haben. »Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.«

Vergebens. Verleumder höhnten: Da seht den Pessimisten und angeblichen Kriegsgegner. Jetzt will er den Krieg verlängern.

Die Verleumder teilen die Verantwortung jener Staatsmänner, die in der dunkelsten Stunde des Krieges durch ihren Irrtum den Verlust in Ruin verwandelt haben. Wenn dereinst zu den harten Waffenstillstandsbedingungen die härteren Friedensbedingungen sich gesellt haben, wird man dieser Stunde gedenken.

Den Krieg mußten wir verlieren. Um frei zu werden, mußten wir im Verlust die Revolution durchschreiten. Das Schwerste steht noch bevor. Wann wird die Zeit kommen, wo das spät entfesselte Land beginnt, statt Irrtum auf Schuld zu häufen, die Säfte der Heilung, die Kräfte der Genesung zu entbinden?


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