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Am 2. August 1830 tritt Goethe dem jungen Soret entgegen mit den Worten: »Nun was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen«.
Soret meint: »Allerdings, eine furchtbare Geschichte« und spricht von der Vertreibung Karls X., von seiner Ersetzung durch den Bürgerkönig, Louis Philipp. Da aber macht der mehr als Achtzigjährige eine abwehrende Gebärde, indem er ausruft: »Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester, ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit, zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire!« Vgl. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 2. Aug. 1830.
Hier stehen wir auf der Scheidelinie zweier Zeitalter, hier stehen sie einander gegenüber, einander nicht verstehend, auf der einen Seite der größte Vertreter jener Idealkultur, jener im Absterben begriffenen klassisch-romantischen Welt, auf der anderen Seite der Jünger einer neuen Zeit, der ganz befangen in der Welt des Realen, mächtig ergriffen von den Geschehnissen der Zeit, jenes Erhabensein über alle Zeitlichkeit nicht verstehen kann.
»Wir scheinen uns nicht zu verstehen«, dieses Wort von Goethe, das er zu Soret sprach, hätte gesprochen sein können zu der ganzen Generation von 1830, zu der deutschen Jugend, die, längst ergriffen von einem neuen Lebensgefühl, die Julirevolution als den Sieg der neuen Welt über die Mächte der Vergangenheit begrüßte.
In der Tat betreten wir mit dem Jahre 1830 einen neuen Boden, aber in durchaus anderem Sinne als die Zeitgenossen, die noch ganz befangen waren in den Schranken der eigenen Zeit, es zu verstehen vermochten.
Wer versuchen möchte, die Signatur jener neuen Zeit anzugeben, könnte dies nicht besser tun als dadurch, daß er sie als antiromantisch definierte, aber bei tieferem Zusehen fühlen wir doch nur all zu sehr die Unzulänglichkeit einer solchen Definition. Gewiß, ein Gedankenorganismus, die Romantik, ist im Absterben, eine Gegenströmung macht sich bemerkbar, die mit jedem Tage kräftiger und mächtiger die Welt beherrscht, und dennoch wäre nichts weniger richtig, als wenn man diese Gegenströmung nur als Reaktion auf die vorangegangene Epoche, also als einen ganz neuen Ideenkomplex betrachtete. Es sei uns gestattet, dies noch näher zu verdeutlichen. In bewußtem Gegensatz zu der Aufklärung hatte die ältere Romantik sich entwickelt, und die jüngere Romantik ruft jetzt ihrerseits eine Gegenströmung ins Leben, die in weltanschaulichem Sinne der vorangegangenen Kulturepoche diametral entgegengesetzt ist. Es sterben um das Jahr 1830 die großen Alten: 1831 Hegel, 1832 Goethe, 1834 Schleiermacher, und mit dem Absterben jener Vertreter der ältern Epoche schließt auch das klassisch-romantische Zeitalter.
Den Klassikern und Romantikern gemeinsam war die Scheu vor der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. In dem damaligen Deutschland gab es auch keine große Wirklichkeit. Es ist also eine Flucht in die Utopie, wenn das Dichterherz in einer stilisierten oder erträumten Wirklichkeit seine Befriedigung suchte. Es war, wie Heine sagte, die Idee, welche auf dem Throne saß. Jetzt aber war eine neue Zeit angebrochen, in der die Gegenwart immer mehr die Aufmerksamkeit der Geister in Anspruch nahm. Hatten die Gebildeten aus dem philosophisch-ästhetischen Zeitalter, abgestoßen von der Wirklichkeit, sich eine neue Welt erbaut, sei es im Reich des schönen Scheins, sei es durch Projizierung des Ideals in eine romantisch verklärte Vergangenheit, so findet die Realkultur, auf deren Anfänge wir bereits hingewiesen haben Vgl. s. 18 ff., ihre Aufgabe gerade in jener Wirklichkeit. Im Gegensatz zur Idealkultur, zu jenem Zeitalter, das mit dem Namen Goethes bezeichnet wird, entsteht allmählich eine Kultur, die ganz in der Wirklichkeit wurzelt. Es vollzogen sich, wie wir im vorigen Abschnitt näher ausgeführt haben, nach und nach große wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen, die das Bild der Wirklichkeit dermaßen veränderten, daß in der jungen Generation die Ahnung einer neu entstehenden Welt aufstieg. Die Wirklichkeit ließ sich nicht abweisen. Die Naturwissenschaften drangen vor: 1826 errichtete Liebig in Gießen sein chemisches Laboratorium, 1821 wurde das Gewerbeinstitut in Berlin begründet, 1825 die Technische Hochschule in Karlsruhe als die erste in Deutschland Franz Schnabel, Deutschland in den weltgeschichtlichen Wandlungen des letzten Jahrhunderts, Berlin, Teubner, 1925, S. 117.. In England wird die Lokomotive gebaut, die 3 Jahre nach Goethes Tode als erste in Deutschland von Nürnberg nach Fürth fährt. Im Jahre 1834 wird der Zollverein gegründet, wodurch die Schranken, die bis jetzt eine freie Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens verhinderten, aufgehoben wurden. Ein ungeheurer Aufschwung der Technik und des Verkehrswesens kennzeichnet die Epoche, in welcher der Agrarstaat sich allmählich in den Industriestaat verwandeln sollte. Immerhin sind die kapitalistischen Formen der Wirtschaft noch lange nicht zur Dominante geworden, aber wie Levin Schücking es bereits im Jahre 1839 ausdrückte: »Man fühlte, wie die ganze Zeit eine praktische Richtung genommen habe, wie materielle Tendenzen zur alleinigen Herrschaft gekommen seien, man fühlte die Notwendigkeit, dieser Richtung zu folgen, ihr Zugeständnisse zu machen und, um nicht in die Gefahr gänzlichen Verdrängtwerdens zu geraten, das Unpraktischeste von Allem, die Poesie praktisch machen zu müssen. So ist die jetzt herrschende Literatur pragmatisch geworden Levin Schücking, Rückblicke auf die schöne Literatur seit 1830 (Jahrbuch der Literatur 1839, S. 171.)«. Levin Schücking vergleicht dann die Romantik mit einer Kirche, die nicht auf Felsen, sondern auf Nebelschichten und Wolkenzüge gebaut worden sei. Sie liege mit all ihrem Glanz und Himmelschmelz, die zu wenig wesenhaft und erfaßbar seien für unsere durch Fabrikarbeit vergröberten Hände, unnahbar fern.
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»Gegenwärtig hat das ungeheure politische Interesse alle anderen verschlungen – eine Krise, in der alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint« Vgl. Georg Steinhausen, »Die deutsche Kultur vom 18. Jahrhundert bis zum Weltkrieg«, Leipzig, 1920, S. 136.. So urteilte Hegel im Dezember 1830 über den Geist seiner eigenen Zeit, und wir, die wir dank der historischen Perspektive zu sehen vermögen, was der wirkliche Inhalt jener Epoche des Julikönigtums gewesen ist, wir können nur den Scharfblick bewundern, indem Hegel schon verstanden hatte, daß es sich hier um eine geistige Bewegung handelte, die weit über das Politische hinausging. »Alles was sonst gegolten war problematisch gemacht«, eine alte Welt schien zu versinken, um einer neuen Platz zu machen. Ohne Zweifel erlebten die Zeitgenossen das Politische als das eigentlich Wichtige, es ging ihnen nicht die Erkenntnis auf, daß das politische Geschehen nur die äußerlich sichtbare Erscheinungsform einer gesellschaftlichen Umwälzung war, die nicht nur für die politische Geschichte, sondern für das soziale Leben überhaupt, von eingreifender Bedeutung sein sollte. Und auch die oppositionellen Elemente unter der jungen Generation waren die Geisteskinder des philosophisch-humanistischen Zeitalters. Sie vermochten nicht anders als ideell zu denken; im Strudel der politischen Ereignisse konnten sie nicht zu der Einsicht gelangen, daß es sich hier um etwas viel Wichtigeres handelte als um die Frage Monarchie oder Republik, daß vielmehr die Julirevolution als der Anfangspunkt der eigentlichen sozialen Bewegung anzusehen ist und daß als deren Folge auch eine geistige Umstellung in die Erscheinung trat, die uns berechtigt zu sagen: 1830 ist ein Grenzjahr, 1830 markiert die Scheidelinie zwischen dem klassisch-romantischen Zeitalter und dem des geistigen Realismus. Das philosophische Zeitalter ging zu Ende, die Beschäftigung mit dem Objekt verdrängte die Beschäftigung mit der Idee. Es ist daher nicht übertrieben zu sagen, daß der Uebergangsprozeß, der von der Romantik zum Realismus führte, in geistesgeschichtlichem Sinne viel einschneidender, in seiner Wirkung viel revolutionärer ist als der Uebergang von der Aufklärung zur Romantik, denn bei der Wendung zum Realismus handelt es sich um die Durchsetzung eines dem ideellen Denken entgegengesetzten Prinzips, während doch der Romantiker ebenso wie der Rationalist ideell zu denken pflegte.
Wir haben im Obenstehenden absichtlich einige Male von »Uebergang« gesprochen, denn nichts wäre weniger richtig als in simplizistischer Weise das Jahr 1830 schlechthin als das Anfangsjahr des Realismus zu bezeichnen. Große Ideologien behalten ihre Kraft lange nachdem die realen Verhältnisse, aus denen sie aufgeblüht, der Vergangenheit anheimgefallen sind. Die Gegenströmung besteht also aus den neuen Elementen und aus solchen aus dem zerfallenden Körper, welche noch lebensfähig sind. So wird auch die Generation, in der sich ein neues Lebensgefühl mit elementarer Kraft durchsetzt, dennoch unbewußt das Alte in sich herumtragen. Gerade dadurch vermissen wir in ihrem Wesen, in ihrem Leben und Streben, jene Einheit und Geschlossenheit, die nur eine harmonische Zeit ihren Kindern zu schenken vermag.
Es ist diese Zweispältigkeit, dieser Geist des Widerspruchs, dieser Konflikt zwischen Vergangenheit und Zukunft, Illusion und Wirklichkeit, die auch den besten Vertretern der Generation von 1830 die tragische Physiognomie des Uebergangsmenschen aufgeprägt hat.
Für eine richtige Beurteilung der politisch-literarischen Tätigkeit Börnes und Heines, für eine gerechte Würdigung ihrer Fehler und Schwächen, ist es also unbedingt erforderlich, immer vor Augen zu behalten, daß sie zwar als die Vertreter des neuen Zeitalters des Realismus angesprochen werden dürfen, daß sie aber dennoch auch die Geisteskinder des philosophischen Zeitalters sind.
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Für uns ist die Julirevolution, wie gesagt, in dem Uebergangsprozeß der Moment, in dem das zum Durchbruch kommt, was schon längst im Schoße der Zeiten keimte. Ebenso wie die Knospen im Frühling schwellen, bis die Hülle reißt, und das Neue mit elementarer Gewalt ans Licht des Tages tritt, verwandelte sich die Jahrzehnte lange Evolution in eine Revolution. Es war die Geburtsstunde des realistischen Zeitalters. Die junge, zukunftsfrohe Generation war sich gewiß der historischen Tragweite jener Ereignisse nicht bewußt, aber der Kanonendonner von Paris klang ihr in die Ohren als die Botschaft ihrer nahen Befreiung aus den Banden der geistigen und politischen Reaktion.
»Es ist nicht ohne Interesse, die Uebergänge welche in dem akademischen Leben der deutschen Jugend gezeitigt wurden, zu zeichnen«, so schreibt Gutzkow, einer jener Jungdeutschen, deren ganzes Leben durch die Julirevolution Ziel und Richtung erhielt, im Jahre 1839 in seinem Aufsatz »Vergangenheit und Gegenwart« Jahrbuch der Literatur, Hamburg, 1839, S. 1-111.. »Aus einem allgemeinen und von leeren Ueberlieferungen befruchteten Idealismus wurden die jugendlichen Gemüter plötzlich auf ein bewegtes Feld unmittelbarer Tagesaufregungen versetzt, wo, wenn auch nicht zunächst eine gemeinschaftliche Quelle mit dem eignen ideologischen Drange zu sehen war, doch eine Verwandtschaft und Anwendung des einen aufs andere sich unmittelbar später aufdrängte. Ja, als die täglich sich mehrenden politischen Eindrücke selbst auf deutsche Verhältnisse verwirrend übergingen und es im südlichen Teile des Vaterlandes fast das Ansehen hatte, als wenn diese plötzliche Neuerung gerade die organische Frucht der noch nicht ganz erstorbenen deutschtümelnden und demagogischen Saat wäre, da mußte sich dem bisherigen allgemeinen träumerischen Tasten ins Blaue hinein eine von den Tagesumständen bedingte Präzision und Sicherheit mitteilen, die den ganzen Ideenkreis, der der deutschen Jugendbildung vor 1830 zum Grunde lag, erweiterten und ihm zu Radien und Durchmessern neue Begriffe und dem französischen und englischen Staatsleben entnommene Vorstellungen gab. Das Mittelalter mit seinen buntfarbenen Lichtern verlor sich immer mehr in ferne Dämmerung«.
Recht bezeichnend für die allgemeine Stimmung jener Tage ist auch das, was Gutzkow weiter sagt, um so bezeichnender, weil von neuern Historikern oft die Meinung verkündigt wird, daß die Ruhe des Kirchhofs in Oesterreich und Preußen so tief gewesen sei, daß hier selbst die französische Julirevolution keine Erregung gebracht habe Fritz Wuessing, Geschichte des deutschen Volkes, Berlin, 1921, S. 74.. Natürlich darf man die Äußerungen in der Presse nicht zum Maßstab nehmen, denn bei den elenden Zensurverhältnissen war jede freie Berichterstattung unmöglich.
Ein ganz anderes Bild tritt uns aber aus Gutzkows zeitgenössischer Schilderung entgegen: »Es sah in Deutschland aus, wie nach einer Ueberschwemmung. Wiegen hingen in den Bäumen, auf den Bergen sah man, was ewig nur in der Ebene gelebt hatte, Beamte waren Begeisterte geworden und ließen sich in Gesinnungen und Verbindungen betreffen, die ihnen, wenn nicht das Amt, doch die Beförderung kosteten. Die Hörsäle waren leer, die Schüler irrten zerstreut als Flüchtlinge, die Lehrer wanderten aus, weil sie es noch konnten.«
Zu den Lehrern der deutschen Jugend, die »auswanderten, weil sie es noch konnten«, dürfen wir vor allen Börne und Heine rechnen, sie waren die Altern, sie haben ihre mächtig auflodernde Begeisterung in die folgenschwere Tat des Auswanderns umgesetzt. Folgenschwer war dieses Auswandern aus Deutschland, nicht nur in bezug auf die Gestaltung ihres persönlichen Lebens, sondern auch für die sozialpolitische Beeinflussung der deutschen Jugend aus dem dritten Dezennium des vorigen Jahrhunderts. Bevor wir aber näher darauf eingehen, wollen wir das von Gutzkow entworfene, aber ganz allgemein gehaltene Stimmungsbild, noch durch einige persönliche Eindrücke vervollkommnen, da sie uns zeigen werden, daß die Begeisterung Börnes und Heines keine alleinstehende Tatsache war.
Aus seinem eignen Leben erzählt uns Gutzkow, wie am 3. August 1830, am Geburtstag des Königs, die feierliche Preisverteilung in der Aula der Berliner Universität stattgefunden habe, wie aber ein jeder mehr an die Vorgänge in Paris gedacht habe als an die belohnten Preisbewerber. »Der Kanonendonner von Paris dröhnte bis in die Aula nach.« Hegel nannte Gutzkows Namen, er hatte den Preis gewonnen in der philosophischen Fakultät, er aber schlug das Etui mit der goldnen Medaille nicht auf und lief davon.
»Die Stunde, wo die Staatszeitung desselben Abends erschien, währte mir unendlich lange; ich schämte mich, wenn man geglaubt hätte, ich wollte in den königlichen Geburtstagsfeierlichkeiten meinen Namen gedruckt lesen. Nein, ich wollte nur wissen, wieviel Tote und Verwundete es in Paris gegeben, ob die Barrikaden noch ständen, ob die Lunten brennten, ob der Palast des Erzbischofs rauchte, ob Karl seinen Thron beweine, ob Lafayette eine Monarchie oder Republik machen würde. Die Wissenschaft lag hinter, die Geschichte vor mir.«
Den jungen Laube hatte das theologische Studium in Breslau ganz unbefriedigt gelassen, er war deshalb der geistlichen Laufbahn abtrünnig geworden. Obwohl er auf literarischem Gebiete bereits einige Versuche gemacht hatte, tastete er unsicher herum, weil ihm eine neue Lebensaufgabe fehlte. Ebenso wie für Gutzkow, Börne und Heine sollte die Nachricht der Julirevolution auf seine künftige Lebensrichtung einen bestimmenden Einfluß haben. »Da kam«, so heißt es in den »Erinnerungen« H. Laube, Ges. Werke, herausgeg. von H. H. Houben, 50 Bde, Leipzig, Bd. 40, 1909, S. 213. Vgl. auch: Karl Nolle, Heinrich Laube als sozialer und politischer Schriftsteller, Bocholt, 1914, S. 12., »die Julirevolution, da kamen Tatsachen, Donnerschlag auf Donnerschlag, das wurde dramatisch, weckte die Aufmerksamkeit; nun fielen mir die vorhergehenden Motive ein, nun entstand ein Zusammenhang, nun erwachte mein Anteil, nun las ich plötzlich meine Zeitungen mit voller Aufmerksamkeit, und nun verstand ich die Anwendung auf die vaterländischen Zustände.«
Es könnte sein, daß man nicht mit uns einverstanden wäre, wo wir zur Typisierung der Wirkung der Julirevolution in Deutschland Männer wie Gutzkow und Laube als Kronzeugen anführen, weil sie doch ebenso wie Börne und Heine ihrer ganzen Veranlagung nach liberale Geister waren und daher den Zeitereignissen sympathisch gegenüber stehen mußten.
Wir wollen daher, ehe Börne und Heine selber zu Worte kommen, noch zwei Dichter zitieren, die man doch keineswegs als Jungdeutsche ansprechen kann, Immermann und Platen.
Immermann, dessen ästhetische Weltanschauung ganz von den Klassikern und Romantikern herkam, konnte dennoch der Gewalt der Ereignisse nicht widerstehen, und begeistert schreibt er am 15. August 1830 an seinen in Paris weilenden Freund Michael Beer: »Nie hat ein Faktum so gewaltig und erschütternd auf mich gewirkt als dieses; es berührte mich wie ein Wunder und ich habe in diesen Wochen vor Aufregung noch zu keiner Arbeit kommen können. Daß sich nach all dem Sturm und Blut vor vierzig Jahren die Revolution wiederholt, nur noch imposanter als das erste Mal, ist ohne Beispiel in der Geschichte und zeigt die nicht zu berechnende Kraft des Jahrhunderts und der Nation.« Das Ereignis habe für ihn Aehnlichkeit mit der religiösen Bewegung des Mittelalters, und vielleicht sei auch das Politische das Agens der Zeit, wie es damals der Glaube gewesen sei. Daß Immermann, als die allgemeine Anteilnahme am politischen Leben das Interesse für die schöne Literatur verdrängte, schon bald seiner Befürchtung Ausdruck gab, das deutsche Volk könne, wenn es den Weg zu einer politischen Entwickelung einschlüge, darüber »das eigentliche Palladium des Landes: Philosophie, Poesie und deutsches Wissen verabsäumen« Vgl. Sigmund von Lempicki, Immermann's Weltanschauung, Berlin, 1910, S. 106 ff.; Harry Maync, Immermann, München, 1921, S. 256-273., ändert nichts an der Tatsache, daß der preußische Beamte, der strenge Monarchist Immermann den Ausbruch der Julirevolution begrüßte mit Worten, die ein Börne oder Heine hätte unterschreiben können, aber eben deshalb bilden seine Worte wertvolle Belege zur Charakterisierung der allgemeinen Zeitstimmung.
Schließen wir diese Uebersicht damit, daß wir auch noch Platen zu Worte kommen lassen Vgl. Heinrich Renck, Platens politisches Denken und Dichten, Breslau, 1910, S. 43-49.. In seiner Ode »An Karl den Zehnten« feiert dieser aristokratische Geist den Sieg der Revolution, am stärksten aber huldigt er dem neuen Zeitgeist in seinem Gedicht »An einen Ultra«, wenn er einem Anhänger des ancien régime zuruft:
»Du rühmst die Zeit, in welcher deine Kaste
Genoß ein ruhig Glück?
Was aber, außer einer Puderquaste,
Ließ jene goldne Zeit zurück?«
»Es führt die Freiheit ihren goldnen Morgen
Im Strahlenglanz herbei!
Im Finstern, sagst du, schlich sie lang verborgen,
Das war die Schuld der Tyrannei.«
Wir glauben durch diese Aussprüche von Zeitgenossen die vorhin zitierte Meinung eines Historikers, daß die Ruhe des Kirchhofs in Deutschland und Oesterreich so groß gewesen sei, daß sogar die Julirevolution hier keine Erregung verursacht habe, hinlänglich widerlegt zu haben, denn wenn Menschen von so verschiedener Observanz, wie diejenigen, welche wir zu Worte kommen ließen, sich über die Pariser Vorgänge so begeistert äußern, dann darf man wohl ohne Uebertreibung sagen: die deutsche Intelligenz von damals ist durch die Julirevolution, in der sie den Anfang einer Epoche der Tat erblickte, mächtig aufgerüttelt worden.
In dem Prozeß des allmählichen Uebergangs vom klassisch-romantischen Zeitalter zu dem des Realismus, ist die Julirevolution das revolutionäre Moment, denn das ganz veränderte Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit, Literatur und Leben, wird erst durch sie den Zeitgenossen klar bewußt.
Börne und Heine, die selbst Kinder jener Uebergangszeit sind, war es vorbehalten durch ihre politisch-literarische Tätigkeit »am sausenden Webstuhl der Zeit« kräftig mitzuwirken. Sie schienen, unmittelbar nach der Revolution, einem Doppelstern ähnlich, ein und dasselbe Ziel mit denselben Mitteln zu erstreben.