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Meister Spörenwagen ging wieder zu seiner Arbeit, nachdem er den beiden von seiner Haustür aus nachgesehen hatte, bis das Gestrüpp und Gestein sie seinen Blicken entzog. Er hatte muntere, klare blaugraue Augen; aber dieselben blickten jetzt sehr ernst unter den zusammengezogenen buschigen Brauen hervor, als er nun murmelte:
»Über das liebe Fräulein, mein Fräulein Phöbe, verliere ich weiter kein Wort hierbei; aber – der Herr – ein nobler Herr – der gelehrte Mann, der vornehme Mann, weiß er es für alle Zeit ganz genau, was er da auf sich genommen hat heute morgen?«
Kopfschüttelnd ging er zu seiner Arbeit – seinem Anteil an der christlichen Wohltat, dem gesellschaftlichen Liebeswerk für den Räkel und seine Frau, zurück; Veit und Phöbe aber erreichten die Pfarre wieder und fanden den Freund und Bruder, den Pastor Prudens, immer noch in verdrießlich-sorgenvoller Ratlosigkeit in seiner Stube auf und ab schreitend.
»Ihr seid lange ausgeblieben! Nun, was habt ihr erreicht?«
Sie sagten ihm in den einfachsten Worten, wie sie ihr schweres Werk ausgerichtet hatten und auf welche Art der wilde Mann von der Vierlingswiese überredet worden war, die Leiche seines Weibes nicht zu einer Waffe in seinem Kampfe mit der Gesellschaft zu machen.
Betroffen, staunend, erschrocken sah der Pfarrer von dem Freunde auf die Schwester. Zum erstenmal in seinem Leben überkam ihn wohl die volle Deutlichkeit davon, welch ein Lebensweg dazu gehört haben mußte, dieses junge, kindliche Mädchen so ruhig todessicher zu machen. Er hatte auch wohl noch nie in seinem Leben ihren Namen so weich und zärtlich betont, als da er jetzt rief:
»Phöbe! Phöbe, welch eine seltsame Auskunft! Und du, Veit? Der Mann von den Pfaden der Welt, der hier nur vorübergeht und wohl nie wieder den Fuß an diesen Ort setzen wird! ... Laßt mich das doch erst überlegen – zurechtlegen! Hat das euch der Herr auf die Zunge gelegt und in die Seele gegeben, so wird es gewiß so recht sein, aber –«
»Meine Seele ist jetzt ganz ruhig, lieber Bruder«, sagte Phöbe lächelnd. »Und Spörenwagen will den Sarg so schön als möglich machen und kein Geld dafür annehmen, weder von der Gemeinde noch von – deinem – unserm Freunde.«
»Der Meister Spörenwagen? Des Mannes bitterster Feind?«
»Ein Gentleman-Sozialist, ein weiser und ein guter Mensch in der Wüste, Prudens!« rief Veit. »Wir fanden ihn schon an der Arbeit; und er hat über seinem Hobel mir ein Collegium philosophicum gehalten, wie es mir nie von einem Katheder und nur höchst selten vielleicht auf der Landstraße, an einer Straßenecke, auf dem Schiff oder bei sonstigen Zufallsgelegenheiten vorgetragen wurde. Dieser Meister Tischler hat mir ungemein gefallen, und ich bin gern mit meiner Bereitwilligkeit gegen sein früheres und besseres Anrecht zu diesem melancholischen Liebeswerk zurückgetreten. Es ist mir eine Ehre gewesen, diesem Mann die Vorhand zu lassen, und ich danke deiner lieben Schwester herzlich dafür, daß sie mir das Vergnügen seiner Bekanntschaft vermittelt hat.«
»So geschehe dieses nach euerm und Gottes Willen, ich werde mit dem Kantor und dem Totengräber reden«, rief der Pastor unruhvoll. »Du, mein Freund, hast dir für deine ferneren Schritte durch dieses Leben einen seltsam stillen Ruhepunkt in diesem Bergdorf zum Eigentum gemacht. Möge dir dein Erwerb zum Segen gereichen und das Gedenken an ihn nie zu einer Last werden!«
»Amen!« rief der Gastfreund heiter. –
Wir haben aus diesem Tage eigentlich wenig mehr von dem Verkehr unter den Leuten im Pfarrhause zu berichten. Der Gast kam, außer beim Mittagstisch, bis zum Abend kaum noch zu einem längern Gespräch mit seinen stillen Wirten. Der Pastor hielt sich in seiner Studierstube, und Phöbe schien der Unterhaltung mit dem neuen Freunde nunmehr sogar vorsätzlich aus dem Wege zu gehen. So war der letztere bis zum Abend so ziemlich auf sich allein angewiesen und benutzte die Muße, die nächste Umgebung des Dorfes und seines wunderlichen, darin erworbenen Grundbesitzes möglichst genau kennenzulernen. Das war wohl der Mühe wert, und es ging ihm kaum ein Schritt in der schönen Wildnis verloren. Aufs Geratewohl durchstrich Veit die Täler und stieg zu den Höhen empor, jetzt im dunkeln Walde zwischen rauschenden Wassern, jetzt über baumlose, steinige, mit phantastischen Steinblöcken bedeckte Heiden schreitend, bis er endlich bei sinkender Sonne von dem Gipfel einer steilrecht abfallenden Felswand aus die kleine Menschenansiedelung und ihren Friedhof wieder dicht vor sich hatte.
Nicht nur vor sich, sondern auch unter sich. Im Heidekraut ausgestreckt sah er nicht ohne innerlichste Betroffenheit in die unendliche Weite und auf den winzigen Punkt da unten, wo eben ein einzelner Mensch den Spaten in den Boden stieß und das erste Rasenstück aus der Grasnarbe aushob.
»Wer dir vorgestern um diese Stunde hiervon gesagt haben würde, Veit von Bielow!« – –
Ja wie war das vorgestern um diese Tageszeit gewesen?
Da hatte auf einer andern, weitberühmten Berg- und Felsenhöhe mit anerkannt romantisch-prächtiger und anmutig-großartiger Aussicht sowohl in das Gebirge wie auf das offene Land ein ähnlich bunter Touristenzug wie der vom gestrigen Abend auf der Vierlingswiese vor dem vielstöckigen, palastähnlichen Gasthause angehalten und für den im Reisehandbuch anempfohlenen Sonnenuntergang, die Nacht und den möglichen heitern folgenden Sonnenaufgang Quartier genommen. Buntfarbiges Volk auch, doch was die Farbe der Kleider anbetraf, nicht ganz so bunt wie die Herrschaften von gestern. Viel vornehmere Leute, sehr vornehme Leute waren es gewesen, die da vorgestern abend vor dem Hotel ihre Wanderstäbe und Schirme abgestellt hatten oder von den Reittieren gestiegen waren. Und Veit Bielow war dort von den neuen Ankömmlingen als ein guter alter Bekannter, ja als ein langjähriger Freund jubelnd begrüßt worden und hatte der schönsten jungen Dame in der Gesellschaft die Hand küssen und ihr beim Absteigen von ihrem Maulesel behülflich sein dürfen. Er hatte auch seinen Platz bei Tische neben derselben erhalten. Das unvermutete Zusammentreffen mit dem beliebten, heitern, geistreichen Lebensgenossen hatte jedem im Kreise einen erhöhten Schwung gegeben; und es war für Stunden gewesen, als ob diesen allen nie ein Leid nahegetreten sei, als ob ihnen selbst ein Verdruß niemals nahetreten könne.
Auch war die Sonne wirklich prachtvoll untergegangen. Wahrlich als lachender Phöbus Apoll war der Feuerstern aus dem wolkenlosen Blau in den fernsten Duft und Dunst der Erde hinabgesunken, und der Professor und Freiherr hatte neben der schönen jungen Dame allein auf dem äußersten Felsvorsprung an der Brüstung gelehnt, und sie hatten in den Sonnenuntergang hinein von früherem Zusammentreffen
›in engen Hütten und im reichen Saal –
im leichten Zelt, auf Teppichen der Pracht
und unter dem Gewölb der hohen Nacht‹
geplaudert, Fräulein Valerie war sehr freundlich, ja fast herzlich und nicht nur wie immer schön und stattlich, sondern ausnahmsweise auch unendlich anmutig in ihrem Behagen gewesen.
»Und nun, da ich einmal wieder die Hand auf Sie gelegt habe«, hatte sie gesagt, als er ihr den Arm bot, um sie zur Abendtafel zu führen, »bleiben Sie gefälligst die nächsten Wochen drunten im Bad in meiner Nähe, mein werter Ritter Benedikt. Ich habe es dringend nötig, daß sich ein vernünftiger Mensch meiner zu Tode gelangweilten Seele annehme, Signor Professore. Papa hat uns diesmal mit einer Geleitschaft von Vettern, Cousinen und braven Freunden umgeben, die in Hinsicht auf ›Viel Lärm um nichts‹ nichts zu wünschen übrigläßt. Onkel Leonato ist fürchterlich, Hero wie immer lieb, aber kaum zu ertragen in ihrem holden Wechsel zwischen Herzweh und Kopfweh – eh, und Cousin Claudio aus Florenz trotz seinem zärtlichen Verhältnis zu unserm blonden Kinde mehr für den Zirkus Renz als sonst was geeignet und jedenfalls mir entsetzlich, einerlei, ob er mich von seinem Neigen von Herzen zu Herzen oder von seinen Pferden und Hunden unterhält. Das erstere gewöhnlich zu Fuß neben meinem Esel, das andere, noch furchtbarer, von oben herab für mein mäßiges Verständnis, aus dem Sattel des seinigen. Viel Lärmen um nichts! Viel Lärmen um nichts! Bringen Sie, bester Baron, uns keinen frischen Luftzug von Padua nach Messina mit, so gebe ich es auf, mich ferner für mein armes Dasein zu wehren. Also, nicht wahr, wie Sie mich vordem in Rom und Neapel aus den behandschuhten Klauen von Principe und Principessa – Conte, Contessa und Contessina gerettet haben, so werden Sie das auch jetzt an jenem da unter uns liegenden unheimlichen neuen Ort moderner geselliger Sommerqualen versuchen? Nicht so? Sie bleiben in unserer Nähe die nächsten Wochen durch und konservieren die arme Valerie noch einmal für das winterliche, hauptstädtische: ›Spielt auf, Musikanten!?‹«
»Wie Sie befehlen, meine Gnädigste. Vorausgesetzt, daß Sie mir morgen noch einen kurzen Abstecher – einen Schritt vom Weg – abseits von Ihrem Wege, Valerie, zulassen wollen.«
»Einen Abstecher? Einen Schritt von meinem Wege? Wenn Sie morgen nach auch hier überwundenem Sonnenaufgang mit mir zu Tal fahren dürfen? Wenn Sie mein Saumtier und mich an Klipp und Abhang, das eine vor dem Sturz in den Abgrund, das oder die andere vor dem Versinken in die unendliche Tiefe der Konversation ihrer Weggenossenschaft bewahren können?«
»Es ist ein Zufallswunsch, dessen Erfüllung mir hier so nahegelegt ist. Wie einem solch eine Adresse durch ein Zeitungsblatt in die Hände geweht wird. Ein Universitätsfreund aus längst versunkener Bildungsepoche sitzt mir da in einem abgeschiedenen, der Welt unbekannten Bergdorfe als Pfarrer.«
»Und Sie wünschen sich einen Hauch und Schein aus seiner möglichen Idylle mitzunehmen in den Verkehr mit uns? Nun, da wäre ich freilich die letzte, welche Ihnen das verdenken könnte. Aber bedingungslos zähle ich grade darum auf Ihr Wiedererscheinen übermorgen in unserer buntscheckigen Narrenwelt. Und dann berichten Sie mir so genau wie möglich von Ihrer Wald-, Fels- und Pastoren-Idylle und nehmen auch mich noch einmal möglichst tief mit hinein in dieselbige. Wie Ihr durchaus nicht genügend für mich motivierter Schritt vom Wege ausfallen mag, Sie werden mir jedenfalls von ihm etwas anderes mitbringen als Onkel Antonios antiquierte Gesandtschaftsattaché-Reminiszenzen aus Wien und Byzanz und Vetter Claudios unerträgliche Hoppegartenhistorien und geschmacklose Hero-und-Leander-Gefühlsäußerungen.« –
Nun überdachte Veit, jetzt allein mit sich in der tiefen Stille der Natur auf dieser andern Felsenkuppe über diesem Dorfe und Kirchhofe, von welcher Idylle er demnächst dort unten an der Wirtstafel im Aktienhotel zu erzählen haben werde, wenn er es nicht vorzog oder wenn es ihm nicht zu schwer gemacht wurde, über seine Beteiligung daran zu schweigen. Im ganzen, für den größern Kreis seiner guten Bekannten und Freunde und Freundinnen, hätte er sich wohl in der Überlegung beruhigen können, wie leicht es ist, mit Worten über etwas hinwegzukommen, wenn nicht das Schicksal selbst einem das Wort im gegebenen Augenblick tötend oder erlösend aus dem Munde und aus der Seele reißt.
Das letztere war's, was ihn nunmehr plötzlich im Sprung aus seiner Ruhe zwischen dem warmen Gestein, im Heidekraut und Duft der jungen Tannenanpflanzung um ihn her aufjagte:
Was für ein Gesicht konnte Valerie zu seiner Eigentumserwerbung zur Rechten und Linken des Weibes des Wilderers, des Räkels Volkmar Fuchs, machen?
Er fuhr mit dem Taschentuch über die heiße Stirn, und einen Augenblick erfüllte ihn unumstößlich die Gewißheit, daß es besser sei, wenn er diesmal sein verpfändet gesellig Wort nicht einlöse und nicht dem Fräulein in den nächsten Wochen drunten im Bad als Begleiter durch den Alltag diene. Es überkam ihn sogar die Lust, seinen Stab und seine Tasche im Pastorenhause im Stich zu lassen und zu versuchen, ohne sie die nächste Eisenbahnstation zu erreichen.
Diese Stimmung konnte aber natürlich nicht anhalten. Am nächsten Morgen ist er mit Tasche und Wanderstab mit dabei gewesen, als man die Feh begrub. –
Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, als die Sonne eben erst über die Berggipfel heraufkam, hat man die Feh begraben, und ihr Mann hat keinen Einspruch mehr erhoben, sondern sich jetzt vom Anfang bis zum Ende sehr gut und sogar recht höflich und als Mann von Sitten und Anstand dabei betragen. Er hat Spörenwagens Werk und Beihülfe in der späten Abenddämmerung ohne Weiterungen angenommen und hat auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß der Meister in dem kleinen Gefolge am Morgen von der Vierlingswiese nach dem Kirchhofe mitging und das Hauptende des Sarges mit trug.
Wenige Leute sind bei dem Begräbnis zugegen gewesen. Für einen großen Teil der Dorfbevölkerung fand es eben zu früh statt; und übrigens hatte der Vorsteher gern Wort gehalten und seine ganze Autorität aufgeboten, alles, »was wohl schon bei Beinen war, aber sonst nichts bei der Sache zu schaffen hatte«, zu überreden, mit seiner Anteilnahme für diesmal zu Hause zu bleiben oder höchstens sich mit ihr hinter dem Zaune zu postieren.
An der Gruft, die Veit von Bielow gestern von dem Granitblock über dem Friedhof auf seinem Eigentume graben sah, hat auch Prudens Hahnemeyer sich mäßig gehalten und zu dem feierlichen liturgischen »Staub zu Staub, Asche zu Asche« nur wenige ungewöhnlich ruhige und freundliche Worte gesprochen. Sie haben alle ihre drei Hände voll Erde auf den armen Leib der Feh geworfen, und die Träger und der Totengräber haben die Grube rasch gefüllt. Dann sind sie alle gegangen, der Pastor Prudens, Spörenwagen, der Kantor und seine Leute. Und auch Volkmar Fuchs mit den Kindern hat sich scheu, gebändigt und wie beschämt zur Seite weggeschlichen und sich in den Wald geschlagen. Zurückgeblieben an dem fürs erste nur halb zugeschaufelten Grabe sind nur Phöbe und der flüchtige, aber von jetzt an mit ihr in so ernster Weise diesem Orte verbundene Gast ihres Daches.
Ob das hier nur bloß ein Symbol, ein Wahrzeichen, ein Merkmal blieb und der Räkel und seine Jungen dermaleinst sich hier niederlegten oder ob aus dem Zeichen eine Wirklichkeit wurde und Veit für sich und die Schwester aus Halah hier das letzte, sicherste Eigentumsrecht an die Erde erworben hatte: Nachbarn, Ruhegenossen außerhalb des Werkeltages waren sie geworden und blieben sie.
»So leben Sie wohl, Phöbe, liebe, liebe Phöbe; – wir werden uns wiedersehen!«
»Nach des Herrn Willen!« sagte die Schwester aus Halah kaum hörbar. »Er hat dies zugelassen und wird es uns nicht als eine Vermessenheit, als eine Sünde zurechnen. Er möge uns immer und an jedem Orte bereit finden für seinen Frieden und zu seiner Ruhe! Liebe Freunde müssen wir wahrlich nun uns bleiben für alle unsere Tage auf Erden.« –
Erst spät am Abend kam Professor von Bielow herab aus den Bergen und Wäldern. Da fand er sich im lichterglänzenden Kurhause unter dem Türvorhange des Tanzsaales lehnend und sah Valerie im Reigen glühend, lächelnd, die Locken schüttelnd an sich vorbeistreifen. Nie in seinem Leben hatte er so zwischen Wachen und Traum mit solchem innerlichsten Bangen auf ein schönes, tanzendes Mädchen hingesehen. –