Wilhelm Raabe
Sankt Thomas
Wilhelm Raabe

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6.

Die Galatea des Herrn Miguel Cervantes

Im Garten des Schlosses Pavaosa zwischen den beiden hohen Palmen lag Camilla Drago wieder in ihrer Hängematte; in der dritten Woche nach der Landung der Niederländer. Wie immer rauschte der Bach durch das blühende Dickicht, wie immer umtanzte er das ihm künstlich in den Weg gelegte schimmernde Gestein und wußte nichts davon, wie sehr sich die Welt jenseits der schützenden Mauern verändert hatte. Alle Vögel waren von den niederländischen und von den spanischen Geschützmeistern verjagt worden, und die glänzenden Pfauen, die Perlhühner, die tropischen Reiher mit den gestutzten Flügeln, die nicht fliehen konnten, saßen verschüchtert und angstvoll am Boden unter dem überhängenden Gesträuch. Auch die Señora Rosamunda Bracamonte saß am Boden auf einem niedrigen Kissen neben dem Lager der jungen Gebieterin, ließ die Kügelchen des Rosenkranzes durch die Finger gleiten und hatte ihre Gewänder so dicht an sich gezogen wie der geduckte Pfau seine Federnpracht.

»O Turm Davids, wie toben die Heiden!« stöhnte sie bei jeder neuen Explosion. »O Ursache der Fröhlichkeit, o geistliche Rose, elfenbeinerner Turm, schütze uns, bitte für uns! O Maria, Königin der Engel, der Patriarchen, der Apostel, der Märtyrer, der Propheten, der Jungfrauen, erhöre uns! Das muß wahr sein, mein Fräulein, Ihr seid vom Himmel mit einem kostbaren Schatz von Gleichmut ausgestattet – wie könnt Ihr so daliegen und kein Glied regen bei solchem Lärm und Schrecken? Ich glaube, wenn die Welt unterginge, Ihr würdet nicht mit dem Augenlid zucken. Wahrhaftig, ich glaube, Ihr schlaft mir ein trotz dem Spektakel – das muß ich sagen!«

»Ich schlafe nicht«, sprach Camilla mit sanfter Stimme. »Ich weiß nur nicht recht, was ich tun soll. Es ist so seltsam, ich höre freilich die Schlacht, aber hier schwebe ich ohne Körper in der blauen Luft. Ich rege die Hand nur mit Mühe, und doch bin ich so leicht, so leicht! Ich hatte ein böses Fieber lange Zeit – die Sonne war schuld daran; nun bin ich genesen, und der eiserne glühende Reif ist von meiner Stirn genommen. Die Schwere ist vom Feuer verzehrt worden – ich bin so glücklich!«

»Jesus, Doña Camilla, wie redet Ihr! O heilige Barbara, unsere besten Krieger sind auf der Mauer und dem Wall gefallen oder quälen sich mit ihren Wunden; – das Fieber regiert in Pavaosa, und Euer Herr Oheim sieht von Tag zu Tag finsterer drein: wie könnt Ihr reden von Glück, Doña Camilla Drago? In jedem Augenblick kann der Feind hereinbrechen, und sie werden kommen, die Heiden, wie sie über die Leute zu Palma und auf Gomera gekommen sind. Der Kapitän Giralto hat mir davon erzählt, ehe er wieder mit seinem Schiff vor der niederländischen Landung in See ging. Man hat keinen Menschen zu Trost und Ratschlag, seit der Kapitän sich im Flusse Gabon bei seinen Elefanten und Elefantenjägern verkrochen hat; ach, Doña Camilla, ich bin eine alte Jungfrau und habe Euch von den Windeln an nach besten Kräften gewartet, gewaschen und in allem Guten unterwiesen, nun macht das wieder gut und sprecht mit mir! Starrt nicht so in die Höhe, in die leere Luft; – habt Ihr denn wirklich Euere Lust daran, meine Herzensangst zu vergrößern? Anastasia ist gestern gestorben, Emerenciana ist von einem indischen Pfeil getroffen, Thomasiana sitzt mit ihren Krämpfen im Keller; bedenket, Ihr habt nur noch mich, also seid gut und reget Euch einmal, richtet Euch einmal auf und sprecht ein Wort, welches sich anfassen läßt!«

»Wo blieb mein Gedächtnis?« fragte Camilla. »Wie sagtest du, Liebe, daß der Feldherr vor der Stadt sich nenne?«

Die Señora schlug die Hände zusammen. »Kind, Kind«, rief sie, »das ist ein Jammer mit dir! Holofernes – nein, nein, van der Does nennt sich der Holofernes. Wir kennen ihn ja leider gut genug von der babylonischen Gefangenschaft her; er hat uns damals im Haag schon halb zu Tode gequält mit seiner Tabakspeife und seinem Bierkrug und seinem entsetzlichen Gelächter –«

»Recht, recht... wenn ich nur den Traum von der Wirklichkeit scheiden könnte, Rosamund. Da war auch der Knabe, der Sohn der guten Dame, in deren Hause wir lebten; – Georg hieß er, Georg van der Does –«

»Ihr habt ihn ja gesehen vom Turm del Oriente, den jungen Bösewicht! 's war damals schon ein sauberes Früchtchen; aber nunmehr ist's zum Abfallen reif. Wenn ich daran denke, welche Possen mir der Pillo, der Bribon spielte; wie er mit meinem besten Glockenrock und meiner Eckhaube die Vogelscheuche an der Landstraße hinter dem Garten ausstaffierte, so könnte ich selbst den heutigen Tag darüber vergessen. Gestern hat er unsern armen Leutnant Lamma niedergehauen; o ich wollte nur, ich hätte ihn einmal wieder vor meinen zehn Fingernägeln!«

Camilla lächelte und schüttelte den Kopf.

»Es ist lange her, seit wir dort auf den grünen Wiesen gingen. Einen Schäferroman würde Señor Miguel Cervantes wohl nicht aus unsern Abenteuern machen können, vielleicht aber eine treffliche Wunderkomödie.«

»Jesus, wie könnet Ihr in solchen Stunden so scherzen und von der Poeten sündigen Torheiten reden. Horcht, horcht, sie zersprengen einem die Ohren mit ihrem Geschrei.«

»Arme Galatea, für deinen Hirtenstab und deine süßen Liebesklagen ist die Insel Sankt Thomas jetzt freilich kein Aufenthalt; die tapfere Ximena Gomes, das Weib des Campeadors, würde sich besser in die Zeit zu schicken wissen. Ich liebe die Schäferin und die Schalmei.«

»Und der Herr Oheim hat Euch doch fast mit Gewalt von der Mauer herabführen müssen?!«

»Er hätte mich dort lassen sollen. Dort lebte ich wie die andern und mit den andern; da floß das Blut in meinen Adern; da war Schmerz und Entsetzen; aber auch Hoffnung und Triumph. Dort war der Rausch der Lebendigkeit; hier aber – hier, hier ist nur die Sonne und der Traum. Es ist kein Schmerz, keine Marter mehr in dem Feuer, das vom Himmel niederströmt, aber –«

Sie brach ab und ließ die Hand auf die Schulter der alten treuen Pflegerin herabsinken.

»Herzenskind«, schluchzte die Señora, »du zerbrichst mir das Herz; du bist viel grausamer als der Feind draußen vor dem Tore. Aber wart nur, laß uns nur erst diese abscheulichen niederländischen Ketzer vom Halse und dieser glutroten Insel los sein, ich werde schon ein Wörtlein mit dem Herrn Oheim reden. Der Kapitän Giralto kann mit seiner Brigantine doch auch nicht aus der Welt verschwunden sein; wir packen den Herrn Oheim mit oder gegen seinen guten Willen darauf und schiffen uns mit Kisten und Kasten ein. Da mag hier Statthalter des Königs werden, wer will; aber das beste wär's, man ließe das schwarze Dämonenvolk für sich mit seinen Affen und Schlangen und Zuckerrohr und Elefantenzähnen. Wir segeln ab, und den Weg kennen wir; o Herzenskind, ich bin ja zu Alcala de Henares geboren und habe den Herrn Rodriguez Cervantes und seine Frau Leonor de Cortinas recht gut gekannt als ein junges Ding; die Doña Galatea, welche ihr Sohn, der Miguel, geschrieben hat, ist mir freilich nicht so viel wert als mein Rosenkranz und englischer Gruß; aber da sie dir gefällt, Liebchen, so wollen wir leben wie sie, an einem kühlen Wasser, in kühlen Hainen, und singen und lachen und glücklich sein.«

»Das war ein wilder Knabe dort in Holland«, sagte Camilla Drago. »Anfangs fürchtete ich mich ebenfalls vor ihm; aber wir vertrugen uns zuletzt doch recht gut. Georg van der Does – wer hätte gedacht, daß ich ihn je wiedersehen sollte? Er war recht lustig; er brachte mich immer gegen meinen Willen zum Lachen. O wir haben viel gelacht vor der Schlacht bei Turnhout, nicht wahr, Rosamund?«

»Es war recht angenehm«, sagte die Señora Bracamonte mit einem Seufzer und setzte im geheimen hinzu: »Das weiß der liebe Gott.«

»Er ist recht gewachsen; er ist ein Mann geworden. Nun liegt er mit seinen Landesgenossen vor der Stadt Pavaosa; er sollte mir Grüße bringen von der guten Mutter, von dem alten Hause, dem schattenvollen Garten, von den Leuten jenseits der Gasse, dem dicken Bäcker mit den vielen Kindern, wer weiß, wer weiß – statt dessen mußte er den armen Leutnant Lamma erschlagen; ach, es ist recht traurig, so jung zu sein wie wir und doch so vieles, so vieles erlebt zu haben.«

»Denkt nicht daran, denkt an die Heimat, und wie wir dort zufrieden und glücklich sein wollen, wenn diese ärgerlichen Tage hinter uns liegen«, rief die Señora. »Ihr träumet soviel, wie Ihr saget; nun, wer weiß, ob Ihr nicht demnächst am goldenen Tajo in dem Hüttchen Eurer Doña Galatea erwacht!«

»Es ist wahrlich nicht unmöglich«, murmelte Camilla; »wer weiß, ob ich nicht sogleich erwache, aber nicht am Tajo, sondern bei den Ursulinerinnen zu Lüttich; ich bin so gern bei den frommen Frauen – die Schwester Angelika erweckt mich immer mit einem Kuß – ich wollte, sie käme – ich wollte, ich säße schon aufrecht im Bettchen und hörte das Morgenlied der Vögel im Klostergarten und sähe das Weinlaub vor dem Fenster zittern.«

Der Lärm des Kampfes war allmählich schwächer geworden und zuletzt ganz verstummt. Die Angreifer mußten sich wieder einmal nach langer vergeblicher Arbeit zurückgezogen haben. Es näherten sich Schritte auf dem knirschenden Sande des Gartens; auch Don Franzisko Meneses kam von seinem bösen Tagewerk zurück.

Sehr wild sah der alte Kavalier aus; Gesicht und Hände waren vom Staube und Rauche geschwärzt, seine Ärmel an den Ellenbogen zerrissen, sein Brustharnisch war mit mancher Schramme bedeckt. Er trug den langen Degen in der Lederscheide unter dem Arme; er hatte die beiden Enden seines langen Schnurrbartes zwischen den Zähnen und zerkauete sie höchst grimmig; er stieß fast mit der Nase an die Bastseile der Hängematte seiner Nichte und endigte aufblickend mit einem tiefen Seufzer die lange Reihe seiner trüben Gedanken.

Als ein Mann von wenig Phantasie und noch weniger Worten sagte er sogleich, was er zu sagen hatte:

»Camilla, die Stadt ist nicht länger zu halten. Was wir tun konnten, ist geschehen; aber wir sind am Ende. Nun haben wir aber Nachricht bekommen vom Kapitän Giralto aus der Drei-Engel-Bai, dem hat ein Schnellsegler Botschaft gebracht von Sankt Jago am Kap Verde: die Armada von Coruña ist unterwegs, die geteilte niederländische Flotte anzugreifen. Sie ist bereits von Gomera südwärts gegangen, und es ist unsere Pflicht, den Feind bis zu ihrer Ankunft hier festzuhalten. Heute abend zünden wir die Stadt Pavaosa an und ziehen uns in das Schloß zurück; es ist ein böses Spiel; aber, Señora Bracamonte, wer nicht zu wählen hat, dem ist viel Kopfzerbrechen erspart, und das ist der Trost, den ich für Euch insbesondere mitgebracht habe.«

»Gott übe Barmherzigkeit an uns; Ihr seid sehr gütig, Herr Gobernador, und ich danke Euch herzlich«, sagte die Señora kläglich; Camilla Drago aber ergriff die Hand ihres Oheims und drückte sie stumm an die Lippen. Der alte Krieger wandte sich schnell um und sprach im Innersten seiner Seele wie die Señora Bracamonte: »Gott übe Barmherzigkeit an uns!«


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