Wilhelm Raabe
Der gute Tag
Wilhelm Raabe

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VI.

Es soll eines der merkwürdigsten und erhebendsten Schauspiele gewesen sein, den Kaiser Napoleon, den Ersten des Namens, nach gewonnener Schlacht mit den Händen auf dem Rücken um sein Wachtfeuer spazieren zu sehen. Das können wir dem Leser und der Leserin nicht zeigen; wohl aber etwas annähernd Stillvergnügt-Selbstbewußtes, nämlich Fräulein, so ungefähr zwischen zwölf und ein Uhr mittags.

Auch sie schritt mit den Händen auf dem Rücken hin und her, wenngleich nicht vor einem Beiwachtfeuer, sondern vor dem runden Tisch in ihrem Parthenon, ihrem Jungferngemach. Wie der fränkische Imperator hatte sie es verstanden, alle ihre Geschütze im richtigen Moment auf den richtigen Punkt zu konzentrieren, und jedesmal hatte sie den Gegner oder die Gegnerin dadurch klein gekriegt«. Nicht eine Bataille hatte sie gewonnen, sondern ein halb Dutzend. Vom Keller bis zum dritten Stock hatte sie jeden in die Höhe gesetzt, und was die Gefühle eines jeden im Hause gegen sie anbetraf, so ließen die kaum noch sich steigern, wie wir den Beweis dafür durch Vorlegung von Frau Ännchens Brief auch schriftlich gegeben zu haben glauben.

Nach allen Dimensionen hatte Fräulein bis jetzt ihren guten Tag ausgenutzt, und ein dumpfer, aber melodischer Klang, der von drüben, von der gegenüberliegenden Seite der Gasse her sich summend in ihre Phantasien schlang, machte dieselben noch holder und lieblich-ahnungsvoller.

Drüben strich Nachbar Blankow das Cello; und mitten in ihr zärtliches Horchen hinein sprach Fräulein:

»Wenn die Person mich noch zehn Minuten länger vergeblich warten läßt, so steige ich zu ihr hinauf. Ich begreife noch heute nicht, was mich damals bewogen hat, die Kreatur in mein Haus aufzunehmen. Daß ich sie aber noch bis zum ersten Juli drin behalten muß, das wird mein Tod sein, wenn ich sie nicht durch die Polizei loswerde. Na, das Leben werde ich ihr mit oder ohne Polizei bis zum nächsten Quartalwechsel nach Noten und ohne Noten sauer zu machen wissen; darauf kann sie sich verlassen. Sie?... Es! das naseweise, abscheuliche Geschöpf!«

Ob die volkstümliche Redensart: nach Noten – durch des Nachbars harmonische Kunst hervorgerufen wurde, können wir nicht sagen; aber jedenfalls war hier das dunkle Wölkchen vorhanden, das selbst am sonnigsten Sommertage zur Wolke werden kann und an einem ersten April sogar die unumstößliche Kalenderberechtigung hat, binnen fünf Minuten das ganze Himmelsgewölbe zu überspannen und das alte, gleichfalls volkstümliche Wort vom Aprilwetter, soweit es in seinen Kräften steht, vollgültig zu erhalten.

Noch ein Mieter hatte seine Aufwartung nicht gemacht, und dieser Mieter war eine Mieterin und wohnte zuoberst des Hauses, unter dem Dache; und jetzt reiben wir uns die Hände, denn wir sind da angelangt, wo wir uns haben wollten, deutlicher gesagt, längst gern gehabt hätten. Nachher werden sich hoffentlich viele andere Leute freuen, mit uns dagewesen zu sein, nämlich unter Fräuleins Dache. Wenn man uns aber darauf aufmerksam macht, daß wir eine Befriedigung durch ganz dieselben Worte an einer frühern Stelle kundgegeben haben, so behaupten wir, daß wir uns dessenungeachtet durchaus nicht wiederholen.

Daß wir die Gelegenheit beschreiben, kann man dagegen nicht von uns verlangen; denn da wollten wir doch beinahe lieber zählen, wie oft sie bereits beschrieben worden ist. Aber der Mensch – der Mensch soll immer neu sein, gleichwie kein Blatt dem andern vollkommen ähnlich sein soll; – wenn wir nicht irren, gibt es darüber eine Anekdote, in der Leibniz und die Kurfürstin Sophie Charlotte die handelnden und zählenden Personen sind: wir können uns aber irren. –

Unter Fräuleins Dache ging ein anderes Fräulein, gleichfalls mit den Händen auf dem Rücken, gleichfalls hin und her, soweit es der Raum und das abgeschrägte Dach erlaubten. Ein Blondinchen war es, wenig über zwanzig Jahre alt, zierlich-elastisch, wohlformiert und durchaus nicht unlieblich anzuschauen, obgleich es heute seinen schlimmen Tag hatte.

Es können eben nicht alle auf einmal ihren guten haben, denn da würde dann freilich eine schöne Welt daraus werden – brr! Danken wir der Vorsehung, daß sie dieses einzurichten weiß und die Stimmungen in der Menschen Gemütern wechseln läßt gleich dem Wetter. Sterben müssen wir wohl doch; aber wir brauchen uns doch nun nicht, wie es ist, totzugähnen. Vivat die Vorsehung!

Dieses alles sagte und dachte das Fräulein unter dem Dache nicht. Die junge Dame beschäftigte sich vorwiegend mit dem Fräulein unten im Hause, summte zu ihren leichten Schritten leise einen Marsch und blieb nur von Zeit zu Zeit stehen, um einen Blick in das Spiegelchen zu werfen, das an der Wand neben einem Kinderbett hing.

Unser zweites Fräulein durfte sich am Morgen beim Erwachen recken und dehnen, wie sie wollte: sie paßte noch hinein in die Kinderbettlade.

Und sie war doch so sehr erwachsen! Sie war ein ganz gewiegtes Kind, Fräulein Adelgundas alleroberste Mieterin! Und jetzt blieb sie wieder stehen, legte die linke Hand auf die Brust, streckte die Rechte weit aus und sagte mit merkwürdiger Deutlichkeit:

»Auf diesen ersten April hab ich mich schon zwei Monate lang gefreut. Gott, o Gott, Schiller und Franz wissen es gar nicht, wie sehr sie recht haben, wenn sie sagen:

Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an,
Wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt –,

ich habe ihn, ich trage ihn, und ich kündige; und sie wird sich wundern! Du liebstes Leben, ich kann es gar nicht mit Worten ausdrücken, wie dankbar ich Franz bin. Ganz Berlin muß sich wundern, und – oh! – wie sich die alte Katze da unten wundern wird! Ach, ich weiß es gar nicht, ich kann es gar nicht sagen, wie dankbar ich dem lieben Gott bin; aber – ich lasse mich auch kirchlich trauen, das schwöre ich hier heilig und fest! Oh, wie sie sich wundern wird! Es könnte Katzen, Drachen und unverheiratete Hausbesitzerinnen regnen, und ich würde das Spiel des Lebens doch nur heiter ansehen! Aber es wäre auch zu undankbar gegen Franz, wenn ich es nicht täte.«

Sie sprach zu dem Fensterchen in dem schrägen Dache und warf eine entzückte Kußhand nach einem gegenüberliegenden Dachfenster, obgleich da drüben niemand zu erblicken war, der sie ihr zurückwerfen konnte. Wie häufig dieses früher geschehen war, können wir ebenfalls nicht zählen oder berechnen, und kann auch das keiner von uns verlangen. Selbst wenn das Zählen und Rechnen unsere starke Seite wäre, würden wir uns nicht darauf einlassen, und in diesem Falle am allerwenigsten.

»Wie bringe ich es ihr nun bei, daß sie den höchsten Genuß davon hat?« fragte sich die Kleine, wieder einmal vor ihrem Spiegel. »Platze ich damit heraus, oder komme ich ihr langsam damit angeschlichen, daß ihr die Überraschung nicht schadet?! Ei was, man macht es doch immer umgekehrt, als man es sich vorgenommen hat, und je fester, desto umgekehrter. Na, ich kann's abwarten, wie sich die Gelegenheit gibt; aber Zeit wird es jetzt; wenn ihre Sehnsucht nach mir so unbändig ist wie meine nach ihr, so hält sie es auch nicht länger aus, ohne nervös zu werden.«

Noch einen allerletzten Blick in den Spiegel und dann die Treppen hinunter gleich einem Stieglitz, der in seinem Bauer von einem Stänglein auf das andere hinüberspringt! –

»Ich störe doch nicht, Fräulein?« zwitscherte das junge lächelnde Vöglein, und Fräulein hielt in ihrem Marsche inne; – eine Wolke zog vor die Aprilsonne, und es wurde dunkel über ganz Berlin.

»Bitte, Fräulein Stieglitz! Sie wissen, heute kommen mir alle meine Hausgenossen recht.«

Es war ein unverkennbarer Nachdruck auf das Wort »alle« gelegt, und Fräulein Louischen fand denselbigen auch sofort heraus und legte, den Mund wie zu einem Pfiff spitzend, ein winziges, aber wunderhübsches Geldtäschchen auf den Tisch. Und da ihr kein Stuhl angeboten wurde, so ließ sie sich ganz unbefangen auf das Sofa sinken und lispelte:

»So angegriffen wie heute habe ich mich lange nicht gefühlt. Das Wetter ist es nicht, und Sie werden es auch kaum erraten, was es ist.«

»Hm!« meinte die jungfräuliche Bürgerin von Berlin.

»Nein, Sie erraten es nicht; aber ich will's Ihnen sagen, was mich so hinfällig gemacht hat... O, Fräulein, wenn Sie wüßten, was für eine schreckliche Nacht ich durchlebt habe! So schlimm wie in der letzten Nacht hab ich noch nie, nie, niemals vor einem Quartalwechsel geträumt.«

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein, so verschonen Sie mich mit Ihren Träumen«, erwiderte Fräulein scharf und spitzig, aber nichtsdestoweniger plötzlich ihrer eigenen Träume sich mit seltsamer Deutlichkeit erinnernd.

»O nein, bitte; ich muß Ihnen doch davon erzählen. Sie steigerten mich nämlich so schrecklich –«

»Ich steigerte Sie?«

»Ja, entsetzlich. Und ich lag zu Ihren Füßen und weinte, und dann stand ich mit einemmal wieder auf den Beinen, und es war mir so vergnügt zumute, und dann sprang ich um Sie herum und sagte: ›Wissen Sie, Fräulein‹, sagte ich, ›mich können Sie ruhig für das Lamm ansehen, von dem in meinem Kinderfreund steht:

Es schien sich vor dem Scheren
Wie andre nicht zu scheun,
Denn frühe Leiden lehren
Einmal geduldig sein!‹«

»Sie imper–«

»O nein; das stand nicht in meinem Kinderfreund, und ich sagte das auch nicht. Denken Sie aber – wissen Sie, was ich tat?«

»Nun?«

» Ich kündigte!«

»Ei, was Sie sagen?!« rief Fräulein Adelgunde (es geht uns immer ein Stich durch die Seele, wenn wir diesen Namen niederschreiben müssen!), wider ihren Willen fortgerissen von der so sehr lebendigen Darstellung.

»Ja, ich kündigte, und nachher tat mir das dann so sehr, sehr leid; denn so glückliche Stunden und Tage, wie ich da oben in dem fürchterlichen Loche unter Ihrem Dache zugebracht habe, werde ich wohl niemals wieder in meinem Leben erleben.«

Fräulein Adelgunde war kalt geworden, kalt wie das unerbittliche Fatum, das auch manchmal mancherlei Sottisen anhören muß und stets nur kurzweg durch die Tat darauf antwortet.

»Sie kündigten? Wahrhaftig?« fragte sie; doch das Weitere gehört zweifellos in ein siebentes Kapitel. Diese schöne Zahl stimmt auffallend mit der gegenwärtigen Stimmung und den nächstfolgenden Äußerungen und Vorgängen.


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