Wilhelm Raabe
Gedelöcke
Wilhelm Raabe

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Wilhelm Raabe

Gedelöcke


1.

Von der Stadt Kopenhagen und dem Kurator Herrn Jens Pedersen Gedelöcke

Teilweise auf der Insel Seeland und teilweise auf der Insel Amager liegt, wie mancher Schuljunge, aber nicht jeder Gelehrte weiß, die Stadt Kopenhagen, die Hauptstadt des Königreichs Dänemark, wohl versehen mit Fortifikationes sowohl auf der Land- wie auf der Seeseite, eine feine und schöne Residenz, und seit uralten Zeiten durch mannigfaltige Handels- und sonstige Interessen mit Deutschland im, wenn auch nicht zärtlichen, so doch recht angenehmen und freundnachbarschaftlichen Verhältnis. In dieser Stadt lebte zu Ende des siebenzehnten und zu Anfang des achtzehnten Säkulums christlicher Zeitrechnung ein Mann des Namens Jens Pedersen Gedelöcke, und daß er ebendaselbst starb, ist uns insofern erfreulich, als uns das Faktum den Hauptstoff zu gegenwärtiger in Wahrheit ungeschminkter, unverbrämter, unbefranster, kurz ungelogener Relation geliefert hat. Denn wäre er nicht gestorben, so hätte man ihn auch nicht begraben können, und wäre er nicht begraben worden, und zwar mehr als einmal, so wäre auch nicht Anno 1731 zu Cölln an der Spree die Historia von seinem »sonderbaren Glauben, Leben, erstaunenden Tode und merkwürdigen Begräbnis« zum erstenmal in Druck ausgegangen, und wir hätten dieselbe nicht im Jahre 1865 zu Stuttgart auf dem Trödelmarkt um neun Kreuzer »Furchtlos und trew« erstehen und zu eifrigem nächtlichen Studium nach Hause tragen können. Da wäre es uns denn auch ganz gewiß nicht beigefallen, anderer Skribenten Zeugnis und Meinung über den kuriosen Kasum einzuholen, um der Sache auf den Grund zu gehen, sintemalen es einen solchen Kasum gar nicht gegeben hätte. Und wenn uns somit viele und arge Mühe erspart worden wäre, so würde das liebe deutsche Publikum im ganzen und großen doch den meisten Schaden davongetragen haben, denn wahrlich kein Autor hätte ihm diesen Gedelöcke erfunden; der heutige lichte Tag, so über alle Maßen duldsam und ohne Vorurteile, würde es nicht gelitten haben.

Doch was stehen wir an der Tür? Jens Pedersen Gedelöcke führte während seines Lebens den Titel eines Kurators und wird also wohl auch einer gewesen sein, und daß er über andere Sorgen die für seinen Leib nicht außer acht ließ, ist über allen Zweifel erhaben und wurde, solange er sich des Daseins erfreute, durch seine wohltuende Erscheinung verbürgt. Denn wenn er von Statur mehr klein als groß war, so schob er doch ein ungemein behaglich Bäuchlein vor sich her; und daß er nicht durch das Leben hastig und atemlos lief oder mit Würdigkeit und Bedachtsamkeit langsam schritt, sondern es zierlich, ja gewissermaßen tänzelnd durchtrippelte, mußte ebenfalls für ein nicht zu verachtendes Zeichen innerlichster Satisfaktion genommen werden. Er trug, wie es sich für ihn ziemte, ein wohlanständiges, halbgelehrtes schwarzes Habit, eine wohlfrisierte, tadellose Perücke und den Hut unter dem Arm. Er legte sowohl im Gehen wie in der Konversation das rundliche Haupt ein wenig auf die rechte Schulter, und ein gewisses Blinzeln der kleinen, doch sehr hellen Augen ließ vermuten, daß er a priori wie a posteriori den Kreis seiner Erfahrungen wohl zu erweitern wisse, und das Fältchen in den Mundwinkeln deutete darauf hin, daß er seinen lieben Nachbarn, Freunden und Verwandten nicht alles kommuniziere, was er im Geiste bewege. Man wußte in der Stadt Kopenhagen, daß er mit dem Königlichen Professor der Geschichte, Herrn Ludwig Holberg, in einem sehr lebhaften Verkehr stehe, und was dieses zu bedeuten hatte, das konnte jedermann sagen, der sich an dem großen Gelehrten und kuriösen Humoristen ergötzte oder ärgerte; denn des Mannes Neigung und Freundschaft waren nicht so leicht zu gewinnen, und es erhielten sie nur diejenigen, welche auch wieder etwas dagegen zu bieten hatten. Wenn aber sehr große Leute auf den Kreuzwegen wie Wegweiser stehen, damit alles vorüberwandelnde Hornvieh sich bequem und ohngehindert daran reiben könne, so gehörte Gedelöcke nicht zu den sehr großen Leuten, denn an ihm rieb sich niemand ungestraft, weder im Hause noch in der Gasse, und in der Kneipe gar nicht. Er hatte ein feines Erbteil Mutterwitz mit auf den Lebensweg bekommen und zahlte gern und mit großer Freigebigkeit einem jeglichen, der dessen zu begehren schien, davon aus – einerlei ob ein mehr oder weniger selbstbewußter Schädel aus dem Wehr-, Lehr- oder Nährstande in der gegnerischen Perücke steckte. Am liebsten hatte er's, wenn er einem Mitgliede der höhern oder auch niedern Geistlichkeit in solcher Art einen kleinen Überschuß über das antagonistische Guthaben auf den Tisch zählen konnte, und die Konsequenzen davon hatte er ebenfalls zu tragen.

Es verdichtete sich allmählich der Nebel um den Leuchter und das Licht seiner Existenz, und wenn die hüpfende Flamme dadurch vergrößert wurde, so erschien sie doch auch ungewisser, undeutlicher. Was anfangs nur die nächste Nachbarschaft sich kaum ins Ohr zu flüstern wagt, das schreien plötzlich die Ziegel von den Dächern, und der, welchem der Verdruß auf den Kopf fällt, wundert sich wohl gar noch darob. Die Gerüchte aber, so anfingen, über den Kurator in Umlauf zu geraten, waren im Anfange, ehe sie sich zu der letzten, bestimmten Berüchtigung zusammengezogen hatten, sehr verschieden und wechselnd in den Mäulern der Leute, je nach der Persönlichkeit, welche sich mit Herrn Jens Pedersen Gedelöcke im Widerspruch fand.

Die, welche sich sehr weise dünkten, sprachen von alchimistischen Narreteien, von den blanken Reichstalern, die auf der Suche nach dem Philosophenstein und Menstruum universale sich im Rauchfange des Kurators verflüchtigten, und zitierten mit bedächtlichem Kopfschütteln:

»O schädlich Acidum, das Seelen corrodiret,
Sal sulphur und Mercur zur Höll praecipitiret!
Er suchet Sol im Koth und Lunam in der Erden;
Wie kann das ewig Licht ihm dort zu Theile werden?«

Die Giftigern wollten wissen, er schlage seine Frau Mette geborene Niels, sei ein stinkender Geizteufel, welcher um desto ärger daheim die Zähne fletsche, je manierlicher und kompläsanter er in den Gassen einhertrete. Die Giftigsten aber hielten einander an den Rockknöpfen fest oder steckten über dem Kaffeetisch die Dormeusen zusammen und zischelten einander zu, der Kurator Jens Pedersen Gedelöcke sei auch ein Zeichen, daß nicht nur dem dänischen Zion, sondern dem ganzen Universo die letzte und höchste Stunde nahe, ein Zeichen, wie die soeben von den Astronomis entdeckten Flecken am Sonnenball, so nach der Opinion aller frommen und nachdenklichen Leute ad prognostica propinqua des Jüngsten Tages gehörten. Diese guten Nachbarn und lieben Freunde wußten ganz genau und erfuhren immer besser, der Kurator streife allgemach sein Christentum ab wie die Schlange ihre Haut; er gehe zu seinem größten Seelenschaden nur noch mit den verstockten Juden, ihren Lehrern, Rabbinern und Büchern um, zum Tische des Herrn sei er schon seit Jahren nicht mehr gegangen, den Sonntag halte er nicht mehr heilig, wohl aber der Juden Sabbat, und vor dem Fleisch der Schweine habe er einen unchristlichen Ekel. Es waren bald nur wenige Leute in der guten Stadt Kopenhagen, welche nicht an sich oder andere die Frage stellten, ob dieses nicht unerhört sei und ob nicht zum allgemeinen Salut und zur Abwendung von Gottes Zorn das hochlöbliche Polizeigericht sich der Sache anzunehmen habe.

Daß dieses dritte Gerücht den meisten Anklang und Widerhall in der Stadt fand, war nicht zu verwundern; die besten Freunde hielten dagegen nicht stand, und wäre auch wohl schon früher von oben her ein Einsehen getan, wenn solches bei Lebzeiten seiner Königlichen Majestät, Herrn Friedrichs des Vierten, tunlich gewesen wäre. Dieser Monarch aber war zur Betrübnis aller gottseligen Leute nicht so leicht dazu zu bringen, in solchem Falle einen Spezialbefehl ergehen zu lassen; er war ein feiner, lustiger und polierter Herr, welcher seine Freude am Leben hatte und jeglichen Untertan für das Heil seiner Seele selber sorgen ließ. Wie konnte er, der sogar das Privilegium für das erste dänische Nationaltheater gab und den »politischen Kannegießer« selbst darin belachte, welcher von seinen französischen Komödianten mit sehr merkwürdigem Gusto den Tartüffe des Monsieur Molière agieren ließ, – dazu gebracht werden, einem Untertan ins Haus zu rücken, weil die Nachbarschaft behauptete, der Mann verrichte seine Andacht mit Gebärden, Neigungen des Hauptes und in einem leinenen Kragen, welche dem lutherischen christlichen Ritus und Zeremonial ein Greuel seien? Er tat's nicht, und der Kurator blieb in dem, was er tat, und dem, was er unterließ, insoweit unangefochten; aber es war ein Glück für ihn – Herrn Jens Pedersen Gedelöcke –, daß er, als Königliche Majestät in dem Jahre 1730 das Zeitliche segnete, über jegliche Anfechtung sich ebenfalls schleunigst erhob. Herr Christianus, des Namens der Sechste, stieg auf den dänischen Thron, der »dänischen Komödie Leichenbegängnis« wurde aufgeführt; die dänische Welt veränderte in jeder Weise ihr Gesicht; doch das ist unsere Geschichte.


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